Soziale Ungleichheit und Gesundheit - von Daten zu Taten
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A N A LY S E Soziale Ungleichheit und Gesundheit – von Daten zu Taten von Andreas Mielck 1 und Verina Wild 2 ABSTRACT Morbidität und Mortalität sind in Gruppen mit niedrigerem Morbidity and mortality are usually particularly high in sozioökonomischen Status zumeist besonders hoch. Doch groups with lower socioeconomic status. But what follows was folgt aus diesen empirischen Ergebnissen? Zu dieser from these empirical results? There is still a great need for Frage gibt es noch großen Diskussionsbedarf. So ist beispiels- discussion regarding this question. For example, a stron- weise eine stärkere Integration ethisch-normativer Analysen ger integration of ethical-normative analysis is necessary, notwendig, einschließlich eines differenzierten Umgangs including a differentiated approach to the concept of vul- mit dem Begriff Vulnerabilität. Bislang wird in Deutschland nerability. So far, there has hardly been any discussion in kaum darüber diskutiert, ob (und wenn ja, warum) diese ge- Germany about whether (and if so, why) health inequalities sundheitlichen Ungleichheiten wirklich ungerecht sind und are really unjust, and should therefore be reduced. There is daher verringert werden sollten. Großer Diskussionsbedarf also a great need for discussion regarding the development besteht auch bei der Entwicklung von Maßnahmen zur Ver- of measures to reduce health inequities. Progress can only ringerung dieser gesundheitlichen Ungleichheit. Fortschritte be expected on the basis of a close cooperation between sind nur auf Grundlage einer engen Zusammenarbeit zwi- normative and empirical science and practice. Considerable schen normativer und empirischer Wissenschaft und Praxis progress has been made in recent years, but there is still zu erwarten. Hier sind in den vergangenen Jahren erhebliche much to be done. The authors also turn to the question of Fortschritte erzielt worden, aber es bleibt noch viel zu tun. Im how the path from data to action could be structured. To Beitrag geht es auch um die Frage, wie der Weg von Daten this end they suggest a step-by-step plan for health policy zu Taten gestaltet werden könnte. Zu diesem Zweck schlagen decision-making. die Autoren einen Stufenplan für die gesundheitspolitische Entscheidungsfindung vor. Schlüsselwörter: gesundheitliche Ungleichheit, Integra- Keywords: health inequalities, integration of ethical- tion ethisch-normativer Analysen, gesundheitspolitische normative analyses, health policy measures, stepwise Maßnahmen, Stufenplan zur Entscheidungsfindung procedure from data to action 1 Einleitung talität auf. Diese gesundheitliche Ungleichheit ist in allen Altersgruppen zu sehen, sowohl bei Frauen als auch bei Vor rund 13 Jahren ist in dieser Zeitschrift bereits ein länge- Männern. rer Beitrag zum Thema „Soziale Ungleichheit und Gesund- – Die Frage nach den Ursachen ist nicht leicht zu beantwor- heit“ erschienen (Lampert und Mielck 2008). Im Mittelpunkt ten. Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich sagen: Der standen dort die folgenden Punkte: sozioökonomische Status prägt die Lebensbedingungen – Auch in Deutschland weisen die unteren Statusgruppen (zum Beispiel die Arbeits- und Wohnbedingungen) und (zum Beispiel niedrige Schulbildung, geringes Einkom- damit auch die gesundheitlichen Ressourcen und Belastun- men) zumeist eine besonders hohe Morbidität und Mor- gen, die mit diesen Lebensbedingungen verbunden sind. 1 Dr. phil. Andreas Mielck, Volkartstraße 18, 80634 München · Telefon: 089 166880 · E-Mail: andreas80634@gmail.com 2 Prof. Dr. med. Verina Wild, Ethik der Medizin · Universität Augsburg · Medizinische Fakultät · Universitätsstraße 2 · 86159 Augsburg · Telefon: 0821 598 3774 E-Mail: verina.wild@med.uni-augsburg.de © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15 7
A N A LY S E Konkrete Maßnahmen zur Verringerung der gesundheitli- ringert werden sollte. Genau darüber wird in der Public- chen Ungleichheit lassen sich so jedoch kaum ableiten. Er- Health-Ethik intensiv nachgedacht. forderlich wäre die Beantwortung weitergehender Fragen, zum Beispiel: Wie wird der Gesundheitszustand durch die Auch in der Sozial-Epidemiologie wird versucht, zwischen einzelnen Lebensbedingungen beeinflusst und wie stark ungerechten und nicht ungerechten gesundheitlichen Un- sind diese Effekte? Wo bieten sich gute Ansatzpunkte zur gleichheiten zu unterscheiden, basierend auf dem Vorschlag Verstärkung der gesundheitlichen Ressourcen beziehungs- der Public-Health-Wissenschaftlerin Margaret Whitehead (sie- weise zur Verringerung der gesundheitlichen Belastungen, he Mielck und Wild 2021): Als ungerecht (das heißt als Pro- auch und gerade für die Menschen aus der unteren Status- blem, das gelöst werden sollte) gelten demnach vor allem die gruppe? Hierzu liegen aber erst wenige Antworten vor. gesundheitlichen Ungleichheiten, die sich auf das „nicht frei- – Die Forderung nach Maßnahmen zur Verringerung der willig gewählte Verhalten“ zurückführen lassen und/oder auf gesundheitlichen Ungleichheit ist inzwischen auch in der die Arbeits- und Wohnbedingungen. Sie werden als „vermeid- Politik angekommen. Eine Umsetzung in konkrete gesund- bar und unfair“ bezeichnet. Theoretisch gut fundiert ist dieser heitspolitische Maßnahmen ist bisher jedoch erst ansatz- Vorschlag von Whitehead jedoch nicht. Bei genauerer Betrach- weise zu erkennen. tung muss zum Beispiel gefragt werden: Welche Verhaltens- weisen, Arbeits- und Lebensbedingungen sind frei gewählt Der jetzt vorgelegte Beitrag versteht sich als Fortführung und welche nicht? Wie lässt sich in einem konkreten Fall ent- und Vertiefung dieses älteren Beitrages. Dargestellt werden scheiden, wie groß der Anteil der Belastungen ist, der als nicht soll hier der aktuelle Stand der Diskussion, vor allem bezogen freiwillig gelten kann? Klare Antworten auf diese Fragen bietet auf die folgenden Punkte: der Vorschlag von Whitehead kaum. Es wird daher häufig und – interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Sozial-Epide- zu Recht kritisiert, dass dieser Ansatz einer gründlicheren theo- miologie und Public-Health-Ethik, retischen und ethischen Auseinandersetzung bedarf. – das Konzept Vulnerabilität, – empirische Analysen zur gesundheitlichen Ungleichheit in Genau hier kann die Public-Health-Ethik einen wichtigen Deutschland, Beitrag leisten durch ihren Bezug zur politischen Philosophie – Maßnahmen zur Verringerung der gesundheitlichen Un- und ihre umfassenden Kenntnisse der Gerechtigkeitstheorien. gleichheit (allgemeine Empfehlungen, Ansätze in Deutsch- Die Beantwortung der Frage „Welche gesundheitliche Un- land), gleichheit ist ungerecht?“ ist nicht einfach. Sie fällt unter- – Vorschlag für einen Stufenplan der gesundheitspolitischen schiedlich aus, je nachdem, welches Verständnis von Gerech- Entscheidungsfindung. tigkeit herangezogen wird, und je nachdem, wie Gerechtigkeit und Gesundheit miteinander in Beziehung gesetzt werden. Eine ausführlichere Diskussion ist in einem Buch zu finden, Hier gibt es unterschiedliche Ansätze und Möglichkeiten. Es das gerade publiziert wird (Mielck und Wild 2021). wird häufig betont, dass bei Überlegungen zum Thema „Ge- rechte Verteilung“ zwei Fragen zu unterscheiden sind: Was soll verteilt werden und wie soll das zu verteilende Gut verteilt werden? Zu jeder dieser Fragen liegen unterschiedliche theo- 2 Zusammenarbeit zwischen Sozial- retische Ansätze vor. Bei der ersten Frage sind das zum Beispiel Epidemiologie und Public-Health-Ethik die ressourcenorientierten Ansätze (Fokus auf Ressourcen wie Einkommen und Vermögen), die Capability-Ansätze (Fokus Wir können das Thema der sozialen und gesundheitlichen auf die Befähigung zum Beispiel durch schulische und beruf- Ungleichheit unseres Erachtens nur in Zusammenarbeit zwi- liche Bildung) und die Welfare-Ansätze (Fokus auf die Merk- schen Sozial-Epidemiologie und Public-Health-Ethik ange- male des subjektiv empfundenen Wohlergehens). Bei der hen. Wenn in einer empirischen Analyse gezeigt wird, dass zweiten Frage können zum Beispiel die folgenden Ansätze der Gesundheitszustand in der unteren Statusgruppe beson- unterschieden werden: Egalitarismus (Gleichverteilung), Prio- ders schlecht ist, dann wird oft gleich gefolgert, dass diese ritarismus (zum Beispiel Bevorzugung besonders benachtei- gesundheitliche Ungleichheit ungerecht sei und daher verrin- ligter Gruppen) und Suffizienz-Theorien (Ziel ist das Errei- gert werden müsse. Dem empirisch belegten Zusammenhang chen eines bestimmten Schwellenwertes). „Personengruppe A ist kränker als Personengruppe B“ wird durch die Bewertung als ungerecht also eine ethisch-norma- Weitere wichtige Ansätze sind im Bereich relationaler Ge- tive Bewertung zugeschrieben. Die Aufforderung zum Han- rechtigkeitstheorien zu finden (siehe Mielck und Wild 2021). deln wird sehr viel dringlicher, wenn eine Ungleichheit als Diese Ansätze stellen nicht so sehr die Verteilung von Gütern ungerecht erkannt wird. Erforderlich ist dabei eine sorgfälti- in den Vordergrund, sondern die Praxis gerechter sozialer ge Analyse der Frage, ob und warum die gefundene gesund- Beziehungen, Interaktionen und Institutionen, bei der alle heitliche Ungleichheit wirklich ungerecht ist und daher ver- Menschen als gleich respektiert werden (Heilinger 2019). Da- 8 © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15
A N A LY S E mit richtet sich das Augenmerk hier vor allem auf die struk- oder Gruppen eine übermäßig protektionistische und paterna- turellen Ungerechtigkeiten, das heißt, auf die Ungerechtigkei- listische Haltung einhergeht, die zu Stereotypisierung und ten, die integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Macht- Diskriminierung führen kann. Gleichzeitig wurde der Begriff verhältnisse und Interaktionsmuster sind: Strukturelle aber auch auf so viele Gruppen angewendet, dass er an norma- Ungerechtigkeiten entstehen durch die Art und Weise, wie tiver Kraft verloren hat. Die traditionell gebräuchliche Defini- Gesellschaften und Institutionen strukturiert sind und wel- tion von Vulnerabilität konnte somit die tatsächlich vulnerab- che Werte und Normen ihnen zugrunde liegen (etwa in Form len Personen nicht mehr präzise identifizieren und ihnen so- fest etablierter Hierarchien, Geschlechterverhältnisse und mit auch nicht den nötigen Schutz zukommen lassen. strukturell verfestigter sozioökonomischer Unterschiede). Strukturellen Ursachen von Ungleichheit und Ungerechtig- In den vergangenen Jahren wandte sich daher der Blick von keit entgegenzuwirken kann nicht allein durch Umverteilung der Identifikation vulnerabler Gruppen ab. Stattdessen wer- von Gütern geschehen, sondern verlangt strukturelle Refor- den verschiedene alternative Konzepte diskutiert, um die Ur- men. Entgegengewirkt werden sollte dabei auch der epistemi- sachen möglicher Vulnerabilitäten zu identifizieren und um schen Ungerechtigkeit, mit anderen Worten: Alle sollten die die daraus folgenden Verantwortungen und Pflichten zu be- gleiche Chance haben zur Beteiligung an den Diskussions- stimmen (Martin et al. 2014). Neuere Ansätze zum Umgang und Entscheidungsprozessen, auch die gesellschaftlich mar- mit Vulnerabilität versuchen also zumeist, die allgemeine Eti- ginalisierten Bevölkerungsgruppen. Es geht darum, ihre kettierung ganzer Gruppen zu vermeiden. So gibt es zwar ei- Stimmen zu hören, zu verstehen und genauso ernst zu neh- nerseits in der biologischen Grundausstattung von Menschen men wie die anderen Stimmen. Einige dieser Ansätze wurden angelegte Vulnerabilitäten. Andererseits sind aber auch die inzwischen auf den Bereich Gesundheit übertragen (siehe situationsabhängigen Vulnerabilitäten zu beachten, deren Ur- Mielck und Wild 2021). Sie bieten einen empirisch und theo- sachen eher in den sozialen und politischen Umständen zu retisch fundierten Ausgangspunkt für Diskussionen zum The- suchen sind (Luna 2009; Mackenzie et al. 2013). ma „Gerechtigkeit und Gesundheit“, insbesondere auch mit Blick auf die Frage nach Eigenverantwortung und ungleich Die für uns wichtigsten Aspekte aus der langjährigen Dis- verteilte Ausgangsbedingungen. kussion der Vulnerabilität sind folgende: – Wir möchten Vulnerabilitäten identifizieren, die zu sozia- ler und gesundheitlicher Ungleichheit führen beziehungs- weise aus ihr resultieren. Vulnerabilität verstehen wir da- 3 Das Konzept Vulnerabilität bei als erhöhtes populationsbezogenes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Allgemein formuliert lässt sich sagen: Je vulnerabler – also – Wenn wir von bestimmten Bevölkerungsgruppen spre- verletzlicher oder verwundbarer – jemand hinsichtlich des Ge- chen (zum Beispiel von Gruppen mit niedriger Schulbil- sundheitszustandes ist, desto wichtiger ist es, hier mit gesund- dung) stehen wir vor einem gewissen Dilemma: Auf der heitspolitischen Maßnahmen entgegenzuwirken. Das Konzept einen Seite müssen die vulnerablen Gruppen möglichst der Vulnerabilität wird in ethischen Diskussionen zu gesund- präzise identifiziert werden, um dann spezielle Maßnah- heitsbezogenen Themen häufig verwendet und auch schon seit men für sie entwickeln zu können. Auf der anderen Seite Langem kritisch diskutiert (Mackenzie et al. 2013). soll das aber ohne Stigmatisierung erfolgen. – Die Suche nach Vulnerabilitäten soll uns also in erster Ein historisch bedeutender Moment, Vulnerabilität als wich- Linie helfen, sensibel zu werden für die Frage, welche tiges Konzept im Bereich Medizin und Gesundheit zu etablie- strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen diese Bevöl- ren, war die Entwicklung des Nürnberger Kodex im Rahmen kerungsgruppen vulnerabel machen. Der Blick richtet sich der Nürnberger Ärzteprozesse. Der ethische Kodex sollte ver- somit auch auf die Frage, wie sich diese Bedingungen ge- hindern, dass menschenverachtende Versuche an besonders sundheitsförderlicher gestalten ließen und wer dazu wel- verletzlichen (also vulnerablen) Personen vorgenommen wer- chen Beitrag leisten könnte. den, wie etwa an Gefangenen. Als vulnerabel werden seitdem – Das Sprechen über sogenannte benachteiligte Gruppen ist in der Forschungsethik häufig bestimmte Gruppen von Men- immer mit dem Risiko behaftet, sie dadurch zusätzlich zu schen bezeichnet, die nicht in der Lage sind, ihre Entscheidung stigmatisieren. Auch in der Public-Health-Forschung und selbst frei zu treffen und/oder adäquat zu formulieren. -Praxis ist es daher wichtig, jeden Schritt so zu planen, dass Stigmatisierung reduziert wird. Geschehen kann das zum Ein großer Teil der anhaltenden kritischen Diskussion des Beispiel durch frühzeitige Partizipation der Gruppen, die Begriffs Vulnerabilität richtet sich zu Recht gegen die pau- erreicht werden sollen, und durch Vermeidung von For- schale Beurteilung von Personen oder Gruppen als vulnerabel mulierungen, die als Ausdruck wissenschaftlicher Über- (Levine et al. 2004; Luna 2009; Martin et al. 2014). Es wird heblichkeit empfunden werden können (Beispiel: „die Ziel- kritisiert, dass mit einer solchen Etikettierung von Personen gruppen ins Visier nehmen“). Wichtig ist es auch, immer © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15 9
A N A LY S E wieder darauf hinzuweisen, wie stark der Gesundheitszu- – Auf Basis neuer Daten muss fortlaufend gezeigt werden, stand durch die strukturell bedingten Lebensverhältnisse dass die Probleme der gesundheitlichen Ungleichheit kei- geprägt wird. nesfalls behoben sind. – Eine pauschale Aussage wie „Niedrige Schulbildung führt zu höherer Morbidität“ ist wenig hilfreich. Es könnte ja zum Beispiel durchaus sein, dass es hier erhebliche Un- 4 Empirische Analysen zur gesundheit- terschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen den un- lichen Ungleichheit in Deutschland terschiedlichen Altersgruppen, zwischen ländlichen und städtischen Regionen, hinsichtlich Versicherungsstatus, Im früheren Beitrag wurde betont (siehe Lampert und Mielck Hautfarbe oder Nationalität gibt. Wichtig wäre es daher 2008, 11): „Mittlerweile sind empirische Belege für den Zu- auch zu wissen, wo die Probleme der gesundheitlichen sammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit nur Ungleichheit besonders deutlich werden. noch von begrenztem Neuigkeitswert; sie bestätigen vor al- – Voraussetzung für die Entwicklung differenzierter Inter- lem einen bereits hinlänglich bekannten und weitgehend ventionsmaßnahmen ist, dass die Ursachen dieser Ungleich- akzeptierten Sachverhalt.“ heit bekannt sind. Das komplexe Gefüge der Ursachen ist jedoch nur schwer zu entwirren. Die Public-Health-Wissen- Die Analysen zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleich- schaften stehen hier vor einer enormen Herausforderung, heit konzentrieren sich auch heute noch zumeist auf die The- bezogen auf folgende drei Aspekte: erstens die Entwick- men Gesundheitsverhalten, gesundheitliche Versorgung, Be- lung entsprechender theoretischer Ansätze (einschließlich lastungen und Ressourcen in der Wohnumgebung und am ethisch-normativer Perspektiven), zweitens die Durchfüh- Arbeitsplatz, subjektive Wahrnehmung der Benachteiligung, rung empirischer Studien zur Überprüfung dieser Ansätze sowie Lebenslauf-Analysen. Die aktuellen Ergebnisse lassen und drittens die grundlegende Aufgabe, diskriminierenden sich so zusammenfassen: und stigmatisierenden Mustern entgegenzuwirken. – Gesundheitsgefährdendes Verhalten (zum Beispiel Rau- chen, geringe sportlich-körperliche Bewegung) ist in der unteren Statusgruppe besonders häufig zu beobachten. – In der unteren Statusgruppe gibt es besonders große Pro- 5 Verringerung der gesundheitlichen bleme bei der gesundheitlichen Versorgung. Es werden zum Ungleichheit: allgemeine Ansätze Beispiel weniger Vorsorge- und Früherkennungsuntersu- chungen in Anspruch genommen, weniger Fachärztinnen In den vergangenen Jahren ist intensiv darüber diskutiert und Fachärzte aufgesucht. Auch ist die Überlebenszeit nach worden, wie die gesundheitliche Ungleichheit verringert wer- einem Herzinfarkt kürzer als bei der oberen Statusgruppe. den könnte. Dabei wurden viele Empfehlungen entwickelt, – Die Belastungen durch Lärm und Luftverschmutzung sind die zwar auf einer relativ allgemeinen Ebene bleiben, aber dort besonders groß, wo überdurchschnittlich viele Men- bereits gut ausgearbeitet und begründet sind. Etwas näher schen aus der unteren Statusgruppe wohnen. eingegangen werden soll hier vor allem auf die vier folgenden – Die Belastungen am Arbeitsplatz sind in der unteren (weitere lassen sich zum Beispiel bei Siegrist 2021 finden). Statusgruppe zumeist besonders hoch, nicht nur bei den klassischen Belastungen (zum Beispiel Heben schwerer 5.1 Ansetzen bei den Ursachen der Ursachen Lasten, Lärm- und Staubexposition), sondern auch bei den psychosozialen Belastungen (zum Beispiel geringer Hand- Um die gesundheitliche Ungleichheit besser verstehen und lungsspielraum, geringe Anerkennung). dauerhaft verringern zu können, müssen wir die Ursachen – Schon wenn man sich sozial benachteiligt fühlt, ist dies ein der Ursachen in den Blick nehmen, da sind sich die Public- gesundheitlicher Risikofaktor. Health-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler einig. Die – Soziale und gesundheitliche Benachteiligung beginnt be- Formulierung „Ursachen der Ursachen“ macht deutlich, dass reits im frühen Kindesalter. nicht nur die unmittelbaren Ursachen einer Erkrankung be- trachtet werden sollten (zum Beispiel mangelnde sportliche Die neueren Studien zeigen zudem einen relativ klaren Betätigung), sondern auch die dahinterliegenden Ursachen Trend: Die gesundheitliche Ungleichheit ist in den vergange- (zum Beispiel unzureichende Sportangebote in der Wohnum- nen Jahren eher größer als kleiner geworden. Dies ist ein deut- gebung) und die Ursachen dieser Ursachen (zum Beispiel die licher Hinweise darauf, dass die Anstrengungen zur Verringe- strukturellen Ursachen für unzureichende Sportangebote in rung dieser Ungleichheit intensiviert werden sollten. der Wohnumgebung). Es bleibt wichtig, empirische Studien durchzuführen, und Besonders anschaulich wird dieser Ansatz im sogenannten zwar vor allem aus folgenden Gründen: Regenbogen-Modell von Göran Dahlgren und Margret White- 10 © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15
A N A LY S E E ABBILDUNG 1 Einflussfaktoren auf den individuellen Gesundheitszustand che und ökonomische Quelle: Dahlgren und Whitehead 1991; eigene Darstellung von Mielck; Grafik: G+G Wissenschaft 2022 , p olitis Rah iale me oz n be e s u ß e re L eb e n s b din in e e ä ll n, Erwerbslos dingu e gu e d u e i g e m d ivi ngung keit, nge g ng g In bed i es u n hn n dh l en Al d Wo v id u elle soziale Umw eit li c n d i e r Fa m e h u In ung in d ilie un lt d tz i n eV stü - de it s ter rN ers be U n s G e s u n dh e itsv a org . Ar l le e ich-sportliche rh e u ch e u ng z. B vid rperl Bew a ial ba soz ö e rsc ltegung z. B Indi .k z. B. n haft Alter, Geschlecht, Erbanlagen Viele Faktoren haben Einfluss auf den eigenen Gesundheitszustand. Je größer der Halbkreis um die Kernelemente Alter, Geschlecht und Erbanlagen ist, desto mehr Menschen lassen sich mit Maßnahmen auf der entsprechenden Ebene erreichen. head (1991). Zum ersten Mal vorgestellt wurde es zu Beginn Bezogen auf die Zielsetzung „Verringerung der gesundheitli- der 1990er-Jahre, inzwischen ist es wohl zu der am meisten chen Ungleichheit“ ließe sich also sagen: Alle Bereiche der zitierten Abbildung in der Public-Health-Diskussion gewor- Politik sollten ihren Beitrag zur Erreichung dieses Ziels leis- den (Abbildung 1). Die zentralen Aussagen sind: ten, das heißt nicht nur die Gesundheitspolitik, sondern zum – Wir sollten uns nicht nur auf die Änderung des Gesundheits- Beispiel auch die Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. verhaltens konzentrieren. Wichtiger wäre eine Änderung der Lebensbedingungen und der gesellschaftlichen Normen 5.3 Fokussierung der Maßnahmen auf die unteren und Praktiken, die das Gesundheitsverhalten prägen. – Änderungen an einem solch komplexen Gefüge werden Statusgruppen letztendlich nur möglich sein durch die entsprechenden Public-Health-Maßnahmen gehen häufig von einem bevöl- Weichenstellungen auf politischer Ebene, aber auch durch kerungsweiten Ansatz aus. Die Devise lautet: Die Verbesse- zivilgesellschaftliches Engagement und die partizipative rung des Gesundheitszustandes in der Gesamtbevölkerung Einbeziehung der jeweils betroffenen Gruppen. sollte im Mittelpunkt stehen. Diese Maßnahmen können jedoch zu einer Vergrößerung der gesundheitlichen Un- gleichheit führen. Zur Verringerung dieser Ungleichheit 5.2 Health in All Policies wird daher empfohlen, eher dem Risikogruppen-Ansatz zu In den Public-Health-Wissenschaften ist es unbestritten, dass folgen: Erreicht werden sollten vor allem die Personen, die alle Politikbereiche ihren Beitrag zur Gesundheitsförderung gesundheitlich besonders stark belastet sind, also zum Bei- leisten sollten beziehungsweise müssten (vergleiche das Re- spiel die Personen aus der unteren Statusgruppe. Maßnah- genbogen-Modell in Abbildung 1). Im englischen Sprach- men, die dem bevölkerungsweiten Ansatz folgen, können raum wird diese Diskussion unter dem Stichwort „Health in selbstverständlich wichtig sein. Betont wird hier jedoch: All Policies“ geführt, im deutschen Sprachraum zumeist un- Wir benötigen Maßnahmen, mit denen ganz gezielt ver- ter dem Stichwort „gesundheitsfördernde Gesamtpolitik“. sucht wird, den Gesundheitszustand in den unteren Status- © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15 11
A N A LY S E gruppen zu verbessern, denn hier gibt es noch erheblichen 6 Verringerung der gesundheitlichen Nachholbedarf. Ungleichheit: Ansätze in Deutschland 5.4 Kriterien für gute Praxis In Deutschland existieren bereits viele Maßnahmen, mit de- Die Maßnahmen zur Verringerung der gesundheitlichen nen gezielt versucht wird, den Gesundheitszustand in der Ungleichheit sollten sich an den wissenschaftlichen Emp- unteren Statusgruppe zu verbessern. Dabei handelt es sich fehlungen orientieren, die für diese Art von Maßnahmen zumeist um relativ kleine, regional und zeitlich begrenzte entwickelt worden sind. Erforderlich ist aber auch eine Maßnahmen, die hier nicht vorgestellt werden können. An Übersetzung in die Praxis, das heißt eine längerfristige dieser Stelle möchten wir nur auf einige Bestimmungen und Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis. So etwas Vereinbarungen eingehen, bei denen eine bundesweite, länger- ist selten, umso wichtiger ist daher eine Initiative, die im fristige Perspektive zu erkennen ist: Rahmen des Kooperationsverbundes „Gesundheitliche Chancengleichheit“ entstand. Dort ist im Jahr 2004 eine 6.1 Gesetzliche Bestimmung in § 20 SGB V Arbeitsgruppe gebildet worden, die sich zum Ziel gesetzt hat, Kriterien für „gute Praxis“ zu entwickeln. Dabei wurde In § 20 SGB V ist vorgeschrieben, dass die gesetzliche Kran- gezielt darauf geachtet, dass nicht nur Public-Health- kenversicherung einen Beitrag zur Verringerung der gesund- Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler beteiligt sind, heitlichen Ungleichheit leisten muss. Gefordert werden spe- sondern auch Fachleute aus der Praxis. Erstellt wurde eine zielle Gesundheitsförderungs- und Präventionsmaßnahmen Broschüre mit zwölf Kriterien für „gute Praxis“. In der zur Verbesserung des Gesundheitszustandes in der unteren Arbeitsgruppe werden diese Kriterien fortlaufend weiter- Statusgruppe. Aufgenommen in das Sozialgesetzbuch wurde entwickelt. Im Juli 2021 ist die vierte Version dieser dieser § 20 im Jahr 2000, die aktuelle Fassung steht im Prä- zwölf Kriterien für „gute Praxis“ erschienen. Sie kann über ventionsgesetz aus dem Jahr 2015. die Internetseite gesundheitliche-chancengleichheit.de/ good-practice bestellt werden. 6.2 Bundesweiter Kooperationsverbund Angesprochen werden in der Broschüre die folgenden gesundheitsziele.de zwölf Themen: Zielgruppenbezug, Konzeption der Maßnah- Im bundesweiten Kooperationsverbund gesundheitsziele.de me, Setting-Ansatz, Empowerment, Partizipation, niedrig- arbeiten seit dem Jahr 2000 viele Institutionen und Verbände schwellige Arbeitsweise, Multiplikatoren-Konzept, Nachhal- zusammen an der gemeinsamen Entwicklung nationaler Ge- tigkeit, integriertes Handlungskonzept, Qualitätsmanage- sundheitsziele. Auch hier wird die Relevanz der gesundheit- ment, Dokumentation und Evaluation, Wirkungen und Kosten lichen Ungleichheit betont. Alle Maßnahmen zur Erreichung der Maßnahme. Die inhaltliche Aussage dieser zwölf Kriterien der nationalen Gesundheitsziele sollen einen Beitrag zur Ver- soll hier an zwei Beispielen verdeutlicht werden: ringerung der gesundheitlichen Ungleichheit leisten. – Setting-Ansatz: Die Maßnahme sollte darauf abzielen, die Umweltbedingungen im Setting (das heißt in den jeweili- 6.3 Bundesweiter Kooperationsverbund gen Lebenswelten) gesundheitsförderlicher zu gestalten. Dabei sollte es also primär um die Änderung des Settings „Gesundheitliche Chancengleichheit“ gehen (zum Beispiel Kita, Schule, Wohn- und Arbeitsum- Auf Initiative der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä- gebung) und nicht um die Änderungen des Gesundheits- rung (BZgA) ist im Jahr 2003 ein bundesweiter Kooperations- verhaltens im Setting. verbund gestartet worden, der sich gezielt für die Verbesse- – Partizipation: Die Entscheidungsbefugnisse sollten so weit rung des Gesundheitszustandes in den unteren Statusgrup- wie möglich an die Adressaten der Maßnahme übertragen pen einsetzt. Er wächst stetig weiter, nicht nur bezogen auf werden, und zwar in allen Phasen der Planung und Um- die Zahl der Kooperationspartner, sondern auch hinsichtlich setzung. Die Adressaten sollten also so weit wie möglich der Aufgaben und Arbeitsbereiche. Seit 2012 nennt er sich selbst entscheiden können, welche Maßnahme wie durch- Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“. geführt wird. Aktivitäten sind zum Beispiel: – die Einrichtung einer „Koordinierungsstelle gesundheitli- Die zwölf Kriterien sind in der Praxis weithin akzeptiert che Chancengleichheit“ in jedem der 16 Bundesländer, und wurden zum Beispiel auch in den „Leitfaden Prävention“ – die Schaffung einer Praxisdatenbank zu den Maßnahmen, der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen, das heißt als die sich gezielt für die Gesundheitsförderung in den unte- Qualitätskriterien für die Maßnahmen, die von der gesetzli- ren Statusgruppen einsetzen, chen Krankenversicherung finanziert werden können (siehe – die Qualitätsentwicklung dieser Maßnahmen, vor allem durch gkv-spitzenverband.de). Entwicklung der zwölf Kriterien für „gute Praxis“ (siehe 5.4), 12 © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15
A N A LY S E E ABBILDUNG 2 Stufenplan zur gesundheitspolitischen Entscheidungsfindung a Ist die empirische Analyse zu Art und Ausmaß dieser gesundheitlichen Ungleichheit aus methodischer Sicht aussagekräftig? Ja Nein b Ist der Handlungsbedarf bei dieser gesundheitlichen Ungleichheit besonders groß? · Kann diese gesundheitliche Ungleichheit als ungerecht angesehen werden? · Sind die sozialen und ökonomischen Folgen hier besonders schwerwiegend? Ja Nein c Gibt es eine Interventionsmaßnahme, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verringerung dieser gesundheitlichen Ungleichheit führen würde? Ja Nein d Ist diese Interventionsmaßnahme aus ethischer Sicht vertretbar? Quelle: Mielck und Wild 2021; Grafik: G+G Wissenschaft 2022 Ja Nein e Sind die zu erwartenden Kosten dieser Maßnahmen angemessen, verglichen mit den zu erwartenden Effekten? Ja Nein Planung und Durchführung dieser Maßnahmen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit – der Aufbau eines kommunalen Partnerprozesses zur För- gleichheit aufzeigen, münden letztlich in die beiden Fragen: derung dieser Aktivitäten in den Kommunen. – Bei welcher gesundheitlichen Ungleichheit ist der gesund- heitspolitische Interventionsbedarf besonders groß? – Was könnte beziehungsweise sollte zur Verringerung die- ser gesundheitlichen Ungleichheit getan werden, wie und 7 Vorschlag für Stufenplan zur gesund- durch wen? heitspolitischen Entscheidungsfindung Letztlich geht es also immer um die praktische Umsetzung Die wissenschaftliche Diskussion zum Thema „Gesundheitli- in politisches Handeln. Es ist ein Weg von Daten zu Taten. che Ungleichheit“ ist selbstverständlich kein Selbstzweck. Bisher ist erstaunlich wenig darüber nachgedacht worden, Alle empirischen Analysen, die eine gesundheitliche Un- wie dieser Weg konkret aussehen könnte. Wir möchten daher © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15 13
A N A LY S E einen eigenen Vorschlag zur Diskussion stellen, im Mittel- – Der Stufenplan geht nicht darauf ein, welche Schritte möglich punkt stehen dabei fünf Fragen (Abbildung 2): wären, wenn eine dieser fünf Fragen mit Nein beantwortet a) Ist die empirische Analyse zu Art und Ausmaß der erho- wird. Ein Nein könnte aber sehr fruchtbar sein. Es könnte benen gesundheitlichen Ungleichheit aus methodischer zu einer Verbesserung der Analysen führen und damit auch Sicht aussagekräftig? zu einer genaueren Spezifizierung der gesundheitlichen Un- b) Ist der Handlungsbedarf bei dieser gesundheitlichen Un- gleichheit, die verringert werden soll. gleichheit besonders groß? Mit anderen Worten: Kann die- se gesundheitliche Ungleichheit als ungerecht angesehen Der hier vorgeschlagene Stufenplan soll dabei helfen, die werden? Und sind die sozialen und ökonomischen Folgen erforderliche Diskussion zu strukturieren. Hervorzuheben hier besonders schwerwiegend? sind dabei einige grundsätzliche Punkte: c) Gibt es eine Interventionsmaßnahme, die mit hoher Wahr- – Trotz der vielen offenen Fragen und des weiterhin beste- scheinlichkeit zu einer Verringerung dieser gesundheitli- henden großen Diskussionsbedarfs: Konkrete Fortschritte chen Ungleichheit führen würde? sind nur zu erwarten, wenn das jeweils zur Verfügung d) Ist diese Interventionsmaßnahme aus ethischer Sicht ver- stehende Wissen so gut wie möglich in praktische Maß- tretbar? nahmen umgesetzt wird und wenn die Erkenntnisse und e) Sind die zu erwartenden Kosten dieser Maßnahme ange- Lösungsvorschläge dann kontinuierlich überprüft wer- messen, verglichen mit den zu erwartenden Effekten? den. – Auf dem Weg von Daten zu Taten ist nicht nur die Ex- Diese fünf Fragen bieten unseres Ermessens einen guten pertise der Wissenschaft gefragt, sondern auch die der Rahmen für die weitere Diskussion. Der Stufenplan sollte je- gesundheitspolitischen Akteurinnen und Akteure vor Ort. doch weiterentwickelt werden. Weitere wichtige Fragen wä- Je stärker sie eingebunden werden, desto eher wird es ren zum Beispiel: Welche gesundheitlichen Ungleichheiten möglich sein, Interventionsmaßnahmen fundiert zu pla- sind bisher selten erfasst beziehungsweise erforscht worden, nen und durchzuführen. und wie gut werden sie in der hier vorliegenden Studie be- – Einzubeziehen ist selbstverständlich auch die Expertise rücksichtigt? Wie gut ist bereits vor Beginn der empirischen der Personen, deren Gesundheitszustand verbessert wer- Studie auf mögliche Vulnerabilitäten geachtet worden und den soll, das heißt, ihre Partizipation sollte in allen Phasen wie gut wurde darauf geachtet, Stigmatisierungen zu vermei- der Entscheidungsfindung gewährleistet sein. den? Der hier vorgeschlagene Stufenplan versteht sich daher vor allem als Anregung zur weiteren Diskussion. Der Weg von Daten zu Taten kann durch ein schrittweises Vorgehen anhand eines klar strukturierten Stufenplans un- Die Fragen a) bis e) könnten der Reihe nach durchlaufen seres Erachtens erheblich erleichtert werden; über solche werden, das heißt, wenn eine Frage mit Ja beantwortet werden Stufenpläne wird bisher jedoch kaum diskutiert. Unser Vor- kann, kann sich der Blick auf die nächste Frage richten. Und schlag kann und soll nicht mehr sein als ein erster Aufschlag, wenn alle Fragen mit Ja beantwortet werden können, lassen sich das heißt eine Anregung zur weiteren Diskussion. gut begründete Maßnahmen zur Verringerung der gesundheit- lichen Ungleichheit ableiten. In der praktischen Anwendung werden dabei selbstverständlich viele Hürden zu überwinden sein, zum Beispiel: 8 Ausblick – Die bei jeder Frage zu treffende Unterscheidung zwischen Ja und Nein ergibt sich nicht quasi automatisch aus der Ge- Im Fokus der wissenschaftlichen Diskussion steht nicht samtbetrachtung aller angesprochenen Argumente. Die Argu- mehr die bloße Beschreibung gesundheitlicher Ungleichhei- mente, die dafür beziehungsweise dagegen sprechen können, ten mithilfe empirischer Analysen. Heute richtet sich der müssen bewertet, gewichtet und gegeneinander abgewogen Blick mehr auf die Frage, ob tatsächlich alle Vulnerabilitäten werden. Wenn letztlich mit Ja (beziehungsweise mit Nein) in diesem Bereich adäquat in den Blick genommen wurden entschieden wird, ist diese Entscheidung daher nie endgültig, und wie die gesundheitlichen Ungleichheiten verringert sie ist immer offen für weitere Diskussion und Revision. werden könnten. Wichtige Schritte auf diesem Weg von Da- – Bei jeder der fünf Fragen ist ein Begriff hervorgehoben, der ten zu Taten sind bereits gemacht worden, auch in Deutsch- die Abwägung, die bei dieser Entscheidungsfindung erforder- land, viele weitere liegen aber noch vor uns. In allen Berei- lich ist, besonders deutlich macht. Bei der ersten Frage ist es chen von Gesundheitsförderung, Prävention und gesund- zum Beispiel das Wort „aussagekräftig“. Hier wäre zu klären: heitlicher Versorgung wäre zu fragen, ob und wie die Welche methodischen Schwächen weist die empirische Stu- strukturell bedingten sozialen (und die damit verbundenen die auf und wie stark wird die Aussagekraft der Studie da- gesundheitlichen) Ungleichheiten verringert werden könn- durch geschwächt? Auch hier müssen Standpunkte bewertet, ten. Davon sind wir jedoch noch weit entfernt, und große gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Lücken tun sich auch in der wissenschaftlichen Diskussion 14 © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15
A N A LY S E auf, zum Beispiel bei der interdisziplinären Zusammenar- Levine C et al. (2004): The Limitations of “Vulnerability” as a Protec- beit zwischen Sozial-Epidemiologie und Public-Health- tion for Human Research Participants. American Journal of Bioethics, Ethik. Vol. 4, No. 3, 44–49 Luna F (2009): Elucidating the Concept of Vulnerability: Layers not Die Diskussion zum Thema „Gesundheitliche Ungleich- Labels. International Journal of Feminist Approaches to Bioethics, heit“ hat nichts an Aktualität verloren, ganz im Gegenteil. In Vol. 2, No. 1, 121–139 der Covid-19-Pandemie ist erneut deutlich geworden, wie eng Mackenzie C, Rogers W, Dodds S (Hrsg.) (2013): Vulnerability: New soziale und gesundheitliche Benachteiligung miteinander Essays in Ethics and Feminist Philosophy. Oxford University Press verbunden sind. Das Risiko einer Infektion mit dem neuen Martin AK, Tavaglione N, Hurst S (2014): Resolving the Conflict: Coronavirus (SARS-CoV-2) ist in den unteren Statusgruppen Clarifying “Vulnerability” in Health Care Ethics. Kennedy Institute of zumeist auffallend hoch, zum Beispiel aufgrund der hier häu- Ethics Journal, Vol. 24, No. 1, 51–72 fig besonders beengten Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Auch Mielck A, Wild V (2021): Gesundheitliche Ungleichheit – Auf dem die negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen der In- Weg von Daten zu Taten. Fragen und Empfehlungen aus Sozial-Epide- fektionsschutzmaßnahmen treffen die unteren Statusgrup- miologie und Public-Health-Ethik. Weinheim: Beltz Juventa Verlag pen zumeist besonders stark (intensiv darüber diskutiert Siegrist J (2021): Gesundheit für alle? Die Herausforderung sozialer wird zum Beispiel im Kompetenznetzwerk Public Health Ungleichheit. Darmstadt: wbg Academic Covid-19 und im Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit“). Inzwischen liegen dazu auch erste em- pirische Analysen aus Deutschland vor. Wie kaum anders zu (letzter Zugriff auf alle Internetquellen: 10. Dezember 2021) erwarten zeigen sie, dass die unteren Statusgruppen von den gesundheitlichen Folgen der Pandemie zumeist verstärkt be- troffen sind (siehe Mielck und Wild 2021). Erforderlich wäre unseres Erachtens daher eine erhebliche Intensivierung der Anstrengungen zur Verringerung der gesundheitlichen Un- gleichheit. Literatur Dahlgren G, Whitehead M (1991): Policies and Strategies to Promote Thomas Lampert, der bei dem GGW-Beitrag von 2008 die Federfüh- Social Equity in Health. Background Document to WHO – Strategy rung hatte, hätte diese Analyse sicher gerne mit uns geschrieben. Paper for Europe. Stockholm: Institute for Future Studies Zu unserer großen Bestürzung ist er jedoch im Dezember 2020 gestorben. Wir schreiben diesen Beitrag im Gedenken an ihn. Er hat Heilinger J-C (2019): Cosmopolitan Responsibility: Global Injustice, das Thema „Soziale Ungleichheit und Gesundheit“ immer in den Relational Equality, and Individual Agency. Berlin, Boston: De Gruyter Mittelpunkt seiner umfangreichen Arbeit gestellt, die Diskussion Lampert T, Mielck A (2008): Gesundheit und soziale Ungleichheit. mit seinen zahlreichen empirischen Analysen untermauert und Eine Herausforderung für Forschung und Politik. Gesundheit und weitergeführt. Wir haben ihm viel zu verdanken. Gesellschaft Wissenschaft, Jg. 8, Heft 2, 7–16 DIE AUTOREN Dr. phil. Andreas Mielck, Jahrgang 1951, studierte Soziologie in Hamburg (Dr. phil.) und Epidemiologie in Chapel Hill, North Carolina, USA (Master of Public Health). Von 1989 bis Ende 2020 arbeitete er als Sozial-Epidemiologe am Helmholtz Zentrum München im Institut für Gesund- heitsökonomie und Management im Gesundheitswesen. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit konzentrierte er sich vor allem auf das Thema „Gesundheitliche Ungleichheit“. Sein Interesse galt dabei nicht nur den empirischen Analysen, sondern auch den gesundheitspolitischen Folgerungen aus diesen Analysen. Prof. Dr. med. Verina Wild, Fotos: privat, Yves Krier Jahrgang 1977, studierte Medizin an der Georg-August-Universität Göttingen und arbeitete als Ärztin in der Inneren Medizin. Seit 2008 ist sie in Forschung und Lehre im Bereich Bioethik/Medizinethik/Public-Health-Ethik/Globale Gesundheitsethik tätig. Zunächst arbei- tete sie am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich. 2018 wurde sie stellvertretende Institutsdi- rektorin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, LMU München, seit 2020 ist sie Professorin für Ethik der Medizin an der Universität Augsburg. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf Public-Health-Ethik und Theorien der Gesundheitsgerechtigkeit. © GGW 2022 · Mielck und Wild: Soziale Ungerechtigkeit und Gesundheit – von Daten zu Taten · Jg. 22, Heft 1 (Januar), 7–15 15
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