Perle 1: Hausaufgaben haben eine wichtige Funktion - LVB
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12 Perlenfischen Von Roger von Wartburg Perle 1: Hausaufgaben haben eine wichtige Funktion Wo: FM1 Today Wer: Prof. Dr. Bernhard Hauser von der PH St. Gallen, interviewt von Krisztina Scherrer Wann: 24. Januar 2020 © kerkezz – stock.adobe.com wenn sie die Sprache nicht können. Die Lern- zeit könnte man so nutzen, dass die Kinder, die zu Hause keine Unterstützung erhalten, dort eine für die Hausaufgaben erhalten. […] Die Idee wäre, dass die Kinder in der Schule unter- stützt werden. Dass es genug Lehrpersonen oder Hausaufgabenhilfen gibt, die immer nach der Schule etwa eine halbe Stunde für die Schü- ler da sind. […] Es ist ein Teil vom Leben, dass man verschiede- ne Aufgaben bewältigen muss. […] Man muss den Weg in das Erwachsenenleben lernen. Die Jugendlichen sind sonst zu wenig robust, zu wenig in der Lage, Drucksituationen auszuhal- ten und dann ist der Gesellschaft nicht gedient. […] «Ich finde es gut, dass man über Hausaufgaben nachdenkt. Hausaufgaben waren […] noch nie das Hauptmedium, um Die Hausaufgaben selber aber haben eine Funktion: Einer- mit den Eltern zu kommunizieren. Das Hauptmedium sind seits sind das starke Übungszeiten, in der Kinder sozusagen Gespräche, Begegnungen oder Elternabende. Aber […] Sachen auswendig lernen, die wichtig auswendig zu lernen Hausaufgaben sind ein täglicher Begegnungsort zwischen sind. Andererseits haben sie auch die Funktion, dass die Schule und Familien. Es ist, finde ich, ein wichtiger Teil, um Kinder in der Selbstregulation zulegen. […] Sich selber re- die Kinder gemeinsam zu unterstützen. […] gulieren, heisst, zwischendurch etwas zu machen, obwohl man lieber etwas anderes machen würde. Die Selbstregu- Man hat die Idee, dass alle gleich viel Zeit in das ausserschu- lation ist eine dieser Fähigkeiten, die am wichtigsten für lische Lernen, da gehören auch die Hausaufgaben dazu, den Schulerfolg und beruflichen Erfolg sind. Da haben die investieren. Aber damit die Chancenfairness herzustellen, Hausaufgaben eine wichtige Funktion, weil Kinder das in ist eine naive Idee. Bildungsnahe Eltern bieten ihren Kin- diesem Zusammenhang erlernen können. […] dern vieles andere an: Sie lesen miteinander, gehen in Mu- seen oder beobachten die Natur. Mit den Hausaufgaben Ich befürworte nicht, dass man die Hausaufgaben abschafft reduziert man die Chancenfairness nicht. Denn bildungs- und in eine reine Übungs- und Lernzeit umwandelt. Es nähere Familien fragen ihre Kinder: «Was hast du in der braucht das Element, das Ringen mit den Erwachsenen – Schule gemacht?» Wenn sie merken, dass die Kinder einen den Lehrerinnen und Lehrern und vor allem mit den Eltern. Rückstand haben, üben sie zu Hause. Es wird die Unter- «Gehe ich zuerst Fussball spielen oder muss ich zuerst Haus- schiede wahrscheinlich möglicherweise noch akzentuieren aufgaben machen ...», es ist ein Bestandteil davon, ob man und nicht reduzieren.» in einer späteren oder weiteren Ausbildung Erfolg hat. […] Eltern von eher bildungsfernen Kindern oder Familien, die unsere Kultur nicht kennen, sind im Nachteil. Vor allem Weitere Perlen auf S. 18, 26 und 30
18 Perle 2: Gymnasien fürchten sich vor einer Rangliste Wo: Sonntagszeitung Wer: Simone Luchetta Wann: 2. Februar 2020 In vielen Kantonen läuft in diesen Tagen die Anmeldefrist schafft hätten), dann im Studium erfolgreicher gewesen fürs Gymnasium ab. Die künftigen Gymnasiastinnen und wären. Gymnasiasten müssen sich entscheiden, welche Mittelschu- le sie besuchen wollen. Gewählt wird nach Erreichbarkeit, In Zug und Luzern ist die Diskussion solcher Fragen möglich, Fächerangebot, Schulklima oder -grösse. Auch die Qualität weil die Studienverläufe der Schulabgänger transparent ist ein Thema. Die Vermutung: Nicht alle Schulen bereiten sind. Auch die Hochschulabschlussquoten des Kollegiums ihre Maturanden gleich gut auf ein Studium vor. St. Fidelis in Nidwalden, des Gymnasiums in Appenzell, des Kollegi Altdorf und der Kantonsschulen in Trogen, Glarus Einen konkreten Hinweis liefert die Studienerfolgsquote. und Schaffhausen können diskutiert werden: Weil das BFS Mit ihr misst der Bund, wie viele Absolventen eines Gym- die Studienerfolgs- und Studienabbruchquoten der Kanto- nasiums später ein Hochschulstudium abschliessen. Das ne veröffentlicht, entspricht bei Kantonen mit nur einer Bundesamt für Statistik (BFS) erfasst auch, wie viele Matu- Mittelschule der Wert präzis der Quote dieser Schule. randen einer Schule ein Studium abbrechen oder das Fach wechseln. Luzern hat diese Zahlen im Jahr 2018 erstmals Insgesamt sind so derzeit die Daten von fast 20 Gymnasien veröffentlicht, letztes Jahr ist Zug nachgezogen. in acht Kantonen offengelegt. Die der restlichen Schulen hält der Bund unter Verschluss. Das gefällt nicht allen: An- Die Luzerner Auswertungen zeigen frappante Unterschie- drea Gmür, heute Luzerner Ständerätin (CVP), hatte noch de zwischen den Kantonsschulen beim Bachelor-Studium, als Nationalrätin deren Publikation verlangt, die Motion mit Quoten zwischen 75 (Kantonsschule Reussbühl) und 86 wurde im letzten Juni aber von der kleinen Kammer abge- Prozent (Kanti Willisau). Das heisst, dass drei Viertel aller lehnt. Absolventen des Gymis Reussbühl, die zwischen 2009 und 2011 ein Studium aufgenommen hatten, nach spätestens Das Argument der Bildungskommission und des Bundesra- fünf Jahren einen Bachelor-Abschluss hatten; bei der länd- tes: Wenn die Zahlen zentral publiziert würden, käme es lichen Kantonsschule Willisau waren es 86 Prozent. zu einer Rangliste der Gymnasien, die nichts aussagte, weil nicht Vergleichbares miteinander verglichen würde. Zudem Unter 70 Prozent ist der Wert der Privatschule St. Klemens, sagten Erfolgs- und Studienabbruchzahlen allein nichts aus während die Maturitätsschule für Erwachsene noch deut- über die Qualität eines Bildungsinstituts. Zusätzlich spiel- licher zurückliegt: Nicht einmal jeder zweite Maturand der ten Faktoren wie Herkunft oder die Wahl des Studienfachs MSE macht einen Bachelor. Das lasse sich damit erklären, mit. Deshalb bleibt es den Kantonen überlassen, ob sie die dass die Abgänger in der Regel älter seien und schon einen Rohdaten anfordern und publizieren wollen. Beruf hätten, und deshalb ein Studium eher abgebrochen werden könne, sagt Aldo Magno, Leiter der Luzerner Auch der Zuger Bildungsdirektor Michael Truniger und Dienststelle für Gymnasialbildung. Aldo Magno, Leiter der Luzerner Dienststelle für Gymnasi- albildung, sind sich dieser Problematik bewusst: «Es wäre Ein ähnliches Bild in Zug: Die beiden kantonalen Gymnasi- ein eklatanter Fehlschluss, einen kausalen Zusammenhang en weisen mit 83 respektive 86 Prozent eine gute Quote zwischen der Qualität einer Schule und den Studienverläu- aus und sind relativ ausgeglichen. Das private Institut Mon- fen herstellen zu wollen», sagt Magno. Beide haben in der tana in Zugerberg liegt deutlich zurück. Kommunikation deshalb speziell darauf hingewiesen, dass etwa das Einzugsgebiet, also der sozioökonomische Hin- Der Befund wirft die Frage auf, ob Privatschulen ein Qua- tergrund der Familien, einer Schule ebenso einen Einfluss litätsproblem haben. Ralph Späni, Rektor des Instituts auf den Studienverlauf haben könne. Magno: «Entspre- Montana, sieht den Grund darin, dass rund ein Drittel sei- chend sollte sich die Frage des Wettbewerbs unter den ner internationalen Schülerschaft im Ausland studiert und Schulen kaum stellen.» somit in der Statistik nicht erfasst sei. «Zudem haben kos- tenpflichtige Privatschulen häufig Absolventen, die an den Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die verbreitete Angst vor staatlichen Schulen nicht zugelassen wurden oder das Gym- einer Rangliste unbegründet ist. In beiden Kantonen habe nasium abgebrochen hatten.» Mit anderen Worten sei es die Veröffentlichung der Quoten kaum Reaktionen ausge- nicht klar, ob diese Maturanden mit einem Abschluss an löst. Truniger: «Der Bericht ist in Fachgremien auf Interesse einer kantonalen Schule (wenn sie diesen Abschluss ge- gestossen, darüber hinaus habe er aber nicht zu verstärk-
2019/20-03 19 «Es wäre ein eklatanter Fehlschluss, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Qualität einer Schule und den Studienverläufen herstellen zu wollen.» Aldo Magno © tumsasedgars – stock.adobe.com ten Rückfragen geführt». Es ist auch nicht zu einem ver- gau, wo ein Postulat es verlangt, und Zürich haben eine schärften Wettbewerb zwischen den Schulen gekommen, Publikation ins Auge gefasst, halten sich bezüglich eines noch habe man eine Veränderung der Anmeldezahlen be- Termins aber bedeckt. Die meisten Kantone aber denken merkt. Das bestätigt eine stichprobenartige Umfrage unter nicht daran, zu publizieren, und argumentieren wie der den Gymnasien. Bund. Zug wie Luzern geben an, die Daten fürs interne Monito- Kein Verständnis für dieses Desinteresse der Stände hat ring und die Qualitätssicherung angefordert, aufbereitet Rudolf Minsch, der Chefökonom des Wirtschaftsdachver- und mit den Rektoren diskutiert zu haben: «Wir finden die bands Economiesuisse. Diese Informationen gäben wert- Daten auch «publikationswürdig», weil die öffentliche volle Rückschlüsse auf die Qualität der Ausbildung an den Hand brutto 130 Millionen Franken jährlich in die Luzerner Gymnasien: «Dass die Hälfte der Kantone die Daten nicht Mittelschulen investiert. Entsprechend ist es von öffentli- heranziehen, vermittelt den Eindruck, dass sie gar nicht chem Interesse, zu wissen, ob die Zielsetzungen des Gym- wissen wollen, wie gut ihre Schülerinnen und Schüler an nasiums erreicht werden», sagt der Luzerner Magno. Zu- den Hochschulen abschneiden. Die Kantone weichen der dem helfe Transparenz, Spekulationen und Gerüchten Qualitätsdiskussion aus.» Dabei könnten die Informationen vorzubeugen. zu einer Steigerung der Qualität beitragen, ist der Wirt- schaftsprofessor überzeugt, und gehörten deshalb veröf- So sehen es lange nicht alle Kantone. Die Hälfte interessiert fentlicht. sich schlicht nicht für die Quoten. Eine Nachfrage beim BFS hat ergeben, dass lediglich 13 Kantone die Rohdaten über- Der Widerstand gegen eine Offenlegung beim Bund ist haupt bestellt haben: Aargau, Appenzell Ausserrhoden, indes enorm. Diese Zeitung hat gestützt auf das Öffent- Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Freiburg, Graubünden, Lu- lichkeitsgesetz, laut dem alle Personen grundsätzlich Zu- zern, Nidwalden, Obwalden, Solothurn, Thurgau, Zug und gang zu jeder Information und jedem Dokument der Bun- Zürich. Das Tessin gibt an, die Daten verlangt, aber noch desverwaltung haben, beim BFS eine Anfrage auf Heraus- nicht erhalten zu haben. gabe der Studienerfolgsquoten der Mittelschulen gemacht – sie wurde abgelehnt. Andere haben die Analyse der Rohdaten noch nicht abge- schlossen. Kleinere Kantone wie Schwyz, Appenzell Aus- Mit der Begründung, dass die Zahlen zu rein statistischen serrhoden oder Glarus sind überfordert mit der Aufberei- Zwecken erhoben worden seien und deshalb das Statistik- tung mangels statistischer Ressourcen. Lediglich der Aar- geheimnis zur Anwendung gelange und dem Öffentlich-
20 © Stockwerk-Fotodesign – stock.adobe.com © Stockwerk-Fotodesign – stock.adobe.com Statistikgeheimnis wichtiger als Öffentlichkeitsgesetz Ohne Transparenz keine Rückschlüsse Das Datenschutzgesetz verbietet es, Daten zu Eine zentrale Auswertung und Publikation durch den veröffentlichen, die Rückschlüsse auf Personen, Bund würde gemäss Chefökonom des Wirtschafts- Unternehmen oder auch einzelne Schulen erlaube. dachverbands Economiesuisse Staub aufwirbeln. keitsgesetz in diesem Fall vorgehe. Zudem verbiete es das Unistudium schmeissen. Interessant wäre es, diese Zahlen Datenschutzgesetz, Daten zu veröffentlichen, die Rück- für die Mittelschulen zu kennen: Gibt es Schulen, die das schlüsse auf Personen, Unternehmen oder auch einzelne Maturazeugnis zu grosszügig vergeben? Schulen erlaube. Antworten auf solche Fragen bleiben mangels Transparenz Diese Argumentation steht indes im Widerspruch zur Tat- weitgehend im Dunkeln, die Angst vor einer Rangliste ist sache, dass das BFS wie erwähnt schon heute mit der Öff- zu gross. Sie lässt Bund und Kantone bei der Datenaufbe- nung der Abbruch- und Erfolgsdaten nach Kantonen Rück- reitung auch je andere Methodiken anwenden. Sie rechnen schlüsse auf einzelne Gymnasien erlaubt. Der Durchschnitt mit einer unterschiedlichen Anzahl Jahre bis zum Bachelor aller Kantone liegt bei 10 Prozent. Wenn Schaffhausen die oder mit drei, vier oder neun Studieneintritts-Jahrgängen. kleinste Abbruchquote von 5,5 Prozent aufweist, entspricht Mit dem Resultat, dass die Quoten überkantonal nicht prä- das dem Wert der einzigen Kanti im Kanton. Wenn Genf zis miteinander verglichen werden können. mit 15 Prozent die meisten Abbrecher stellt, verstecken sich hinter der Zahl 14 Gymnasien. Die Unterschiede hier zu Eine zentrale Auswertung und Publikation durch den Bund kennen, wäre interessant. könnten Abhilfe und schweizweit Transparenz schaffen. Rudolf Minsch vom Wirtschaftsverband Economiesuisse Der Wohnkanton scheint Einfluss auf den Studienverlauf rechnet damit, dass eine solche Veröffentlichung Staub zu haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang die kan- aufwirbeln würde, wie es eine ETH-Studie vor gut zehn tonale Maturitätsquote beizuziehen, also den Anteil der Jahren getan hat: «Aber nur im ersten Jahr. Schon bald Schüler eines Kantons, die ein Gymnasium abschliessen. würde man die Zahlen als das interpretieren, was sie sind: Vieles deutet in unserer groben Analyse darauf hin, dass ein wichtiger – aber nicht der einzige – Indikator für die – vor allem in der Westschweiz und im Tessin – mit der Qualität an Schweizer Gymnasien.» Einen Indikator mehr, Maturaquote auch die Abbrüche zunehmen. Das heisst, den Eltern und Schüler bei der Wahl des Gymis miteinbe- dass in Kantonen wie Genf oder Tessin, wo mehr als jeder ziehen könnten. oder jede Dritte das Gymi absolviert, später auch viele das Weitere Perlen auf S. 26 und 30
26 Perle 3: Wie Tech-Unternehmer um Mark Zuckerberg den Schulunterricht weltweit umbauen wollen – und Daten von Schülern sammeln Wo: NZZ am Sonntag Wer: Ursina Haller Wann: 2. Februar 2020 Mark Zuckerberg, Bill Gates und Reed Hastings haben ein denen alle dasselbe lernten, ungeachtet individueller Inte- gemeinsames Hobby. Es könnte die gesamte heranwach- ressen oder Bedürfnisse. Deine Generation hingegen wird sende Generation prägen und lässt sich nur mit dem Kon- Technologie haben, die versteht, wie ihr am besten lernt tostand eines Tech-Milliardärs ausüben. Der CEO von Face- und auf welche Dinge ihr euch konzentrieren müsst.» Ein book, der Gründer von Microsoft und der Netflix-Chef Jahr später sagte der Facebook-CEO in einer Rede, er wol- machen sich in ihrer Freizeit daran, den Unterricht an ame- le in diesem Jahrzehnt erst einen Grossteil der amerikani- rikanischen Schulen umzubauen. schen Schulen mit personalisiertem Lernen ausstatten und es dann Schülern weltweit zugänglich machen. Mark Zuckerberg testet seine Vorstellung von computer- gestütztem Lernen an 380 Schulen. Bill Gates rief mit seiner Wohltätige Projekte prägen das unterfinanzierte amerika- Stiftung eine Datenbank ins Leben, die Profile mit persön- nische Bildungswesen seit je. Doch die neue Generation lichen Daten von 11 Millionen Schülern anlegen sollte. Und von Philanthropen unterscheidet sich von der vorherge- Reed Hastings finanzierte ein Mathematik-Lernprogramm, henden. Larry Cuban, emeritierter Professor für Erzie- das auf einem ähnlichen Algorithmus wie Netflix basiert. hungswissenschaften, sagt: «Ein Grossteil des Geldes, das Rasch und ohne öffentliche Kontrolle verbreiten die Unter- gegenwärtig in das Bildungswesen gepumpt wird, stammt nehmer aus dem Silicon Valley so eine breite Palette von von Tech-Unternehmern. Sie sind überzeugt, dass sich alles Technologien, die für Schüler und Lehrpersonen weitrei- durch Technologie lösen lässt – auch Herausforderungen chende Konsequenzen haben. im Klassenzimmer. Das ist problematisch.» Die neuen Bil- dungsreformer vergässen nämlich, wie wichtig zwischen- Besonders sogenannte «intelligente tutorielle Systeme», menschliche Beziehungen im Unterricht seien. Tatsächlich die den Unterricht mithilfe künstlicher Intelligenz individu- fühlen sich Schülerinnen und Schüler, die vorwiegend com- alisieren, treiben die Tech-Unternehmer mit hohem Tempo putergestützt unterrichtet werden, überfordert und kla- voran. An US-Schulen wird diese computergestützte Art gen über Kopfschmerzen oder Stressgefühle. Aber dazu des Lernens bereits vermehrt angewendet. Und sie soll – später. wenn es nach Zuckerberg geht – den Schulbetrieb weltweit umgestalten. Geht es nach den Tech-Philanthropen, sollen digitale Me- dien leisten, was Lehrpersonen aus Zeitgründen bisher un- 2015 schrieb er in einem Brief an seine neugeborene Toch- möglich war: die individuellen Lernbedürfnisse der Schüler ter: «Unsere Generation wuchs in Schulzimmern auf, in zu erfüllen, indem nicht alle Kinder dasselbe im gleichen © Olivier le Moal – stock.adobe.com
2019/20-03 «Lieber Herr Zuckerberg, das Summit-Lernprogramm hat unserer Schule 27 viel Leid und Not gebracht. Wir bitten Sie, es sofort einzustellen. Es eliminiert zwischenmenschliche Interaktion, die Unterstützung durch Lehrkräfte, die Diskussionen mit Mitschülern – die Dinge, die wir brauchen, um unser kritisches Denken zu formen.» Akila Robinson und Kelly Hernandez, Sekundarschülerinnen aus New York Tempo und mit denselben Methoden lernen. Eigentlich ein berg vorangetriebenes Lernsystem erhält besonders sinnvoller Wunsch. Doch das Engagement ist nicht unei- schlechte Noten. Im November 2018 erhielt der Facebook- gennützig. Den Tech-Unternehmern wird vorgeworfen, Gründer einen Brief. Akila Robinson und Kelly Hernandez, sich unter dem Vorwand der Philanthropie Zugang für den zwei Sekundarschülerinnen aus New York, schrieben: «Lie- Verkauf ihrer Produkte zu verschaffen. Denn der neue ber Herr Zuckerberg, das Summit-Lernprogramm hat unse- Lernansatz setzt voraus, dass jedes Kind mit einem eigenen rer Schule viel Leid und Not gebracht. Wir bitten Sie, es Gerät ausgerüstet ist und sich in die Ökosysteme der Tech- sofort einzustellen. Es eliminiert zwischenmenschliche In- Firmen einbindet. Und er wirft heikle Fragen hinsichtlich teraktion, die Unterstützung durch Lehrkräfte, die Diskus- Datenschutz auf. sionen mit Mitschülern – die Dinge, die wir brauchen, um unser kritisches Denken zu formen.» Intelligente Lernsysteme funktionieren wie jene Instrumen- te, mit denen die Technologieunternehmen ihr Geld ma- Zuvor waren Robinson und Hernandez zusammen mit hun- chen. Wie Netflix oder Facebook erheben die Programme dert Mitschülern auf die Strasse gegangen und hatten die Daten über Lernende aufgrund von deren Aktivitäten und Abschaffung des Lernsystems an ihrer Schule gefordert. Sie Klicks. Algorithmen leiten daraus Muster ab. Diese wieder- kritisierten, dass sie den Grossteil des Schultages vor dem um werden in massgeschneiderte Lernpfade übersetzt. Computer verbringen müssten und dass Schüler und Lehr- kräfte beim Umgang mit der Plattform überfordert seien. Das funktioniert beispielsweise so: Das System definiert Kompetenzen, die für die Lösung einer Mathe-Aufgabe Zuckerberg hatte 2015 angekündigt, Facebook arbeite neu benötigt werden. Kann ein Kind die Aufgabe nicht lösen, mit «Summit Learning» zusammen. Die Plattform begleitet merkt sich das Programm die fehlende Kompetenz. Wenn Schüler ab der Mittelstufe durch ein individualisiertes Lern- das Kind mehrmals einen ähnlichen Fehler macht, regist- angebot in Fächern wie Mathematik, Englisch oder Ge- riert das Programm eine Wissenslücke und stellt automa- schichte und nimmt Tests ab. Eine Schule im Silicon Valley tisch Aufgaben zur Aufarbeitung des Vorwissens bereit. hatte mit der Entwicklung des Systems begonnen, Zucker- Die Software erkennt mit der Zeit auch, ob ein Schüler den berg stellte ein Facebook-Team zur Verfügung, das es wei- Stoff besser anhand von Videos oder anhand schriftlicher terentwickelt und anderen Schulen zugänglich gemacht Anleitungen lernt. Sie passt das Lernangebot an und be- hat. 2016 wendeten in den USA bereits hundert Schulen gleitet Schüler durch alle Schritte einer Problemlösung. die kostenlose Software an. Heute erreicht sie unter dem Intelligente Systeme definieren auch die Rolle von Lehr- neuen Namen «The Learning Program» 72’000 Schüler an kräften neu: Sie sollen nicht länger Wissen vermitteln, son- 380 Bildungseinrichtungen, viele liegen in unterfinanzier- dern als Mentoren zwischen Programm und Schüler wirken. ten Schulbezirken. Bill Gates und Amazon-Gründer Jeff Bezos haben sich als Geldgeber dazugesellt. Netflix-Chef Reed Hastings verglich dieses Zusammenspiel einmal mit einem Röntgengerät. Das von ihm finanzierte Das Lernsystem aus dem Silicon Valley trifft nicht nur in Mathe-Lernprogramm «Dreambox» zeichnet bis zu 50’000 New York auf Ablehnung. Auch an Schulen in Kansas, Con- Datenpunkte pro Schüler und Stunde auf und gewährt den necticut oder Pennsylvania protestierten Schüler, Eltern Lehrkräften Einblick in die Daten. Wie ein Röntgengerät und Lehrer gegen Summit Learning. Jugendliche klagten, dem Arzt helfe, seinen Patienten zu behandeln, könne das sie litten seit der Einführung des Programms an Kopf- Programm dem Lehrer helfen, den Schüler zu durchschau- schmerzen und Stressgefühlen. Eltern bemängelten, das en und ihn individuell zu fördern, sagte Hastings der «New System leite die Kinder auf Websites mit unangebrachten York Times». Inhalten. Lehrer beschwerten sich über ein schlechteres Unterrichtsklima. In den USA kritisieren Experten die übereilte Verbreitung der neuen Technologie. Und auch bei Schülerinnen und Auch Bedenken über die umfangreiche Datensammlung Schülern, die unfreiwillig als Testpersonen dienen, kommt wurden laut. Daten sind der Treibstoff adaptiver Systeme. das Bildungsexperiment nicht gut an. Ein von Mark Zucker- Um zu funktionieren, müssen sie die Lernaktivitäten von
28 © Jürgen Fälchle – stock.adobe.com Schülern fortwährend aufzeichnen. Summit Learning be- Anliegen nicht warten müssen. Sie können mich jederzeit teuert, die Daten seien sicher. Bisher gibt es keinen Hinweis erreichen und müssen sich nicht mit Fragen beschäftigen, auf Missbrauch. Die Nähe zu Facebook und dessen proble- die für sie nicht relevant sind.» Unsozial sei das Lernen mit matischen Datenpraktiken stimmt Eltern jedoch misstrau- der Plattform nicht: Sie entlaste ihn von zeitraubenden Tä- isch. Sie fürchten sich vor der unkontrollierten Verbreitung tigkeiten wie Prüfungskorrekturen, wodurch er letztlich und langfristigen Speicherung der Daten ihrer Kinder: De- mehr Zeit für seine Schüler habe. taillierte Profile von Schülerinnen und Schülern könnten künftig für Zwecke verwendet werden, die derzeit noch An der Schule in Sunnyvale werden Lerninhalte ausschliess- nicht absehbar sind. lich computergestützt über das intelligente System vermit- telt, das angeeignete Wissen wird in Projektarbeiten ver- Es ist etwa zu befürchten, dass solche Daten künftig über tieft. Die Schulleiterin Anica Bilisoly sagt: «Mit Frontalun- Berufschancen entscheiden. Arbeitgeber könnten den Ver- terricht sprechen wir höchstens 30 Prozent der Schüler an, lauf der Schulbildung detailliert einsehen und daraus alle anderen sind entweder gelangweilt oder überfordert. schliessen, ob eine Bewerberin fleissig und gewissenhaft Technologie hingegen kann jeden Schüler auf seinem Lern- war. Mit umfassenden Schülerprofilen droht die Gefahr, niveau ansprechen.» Soziale und kreative Kompetenzen dass Jugendliche ihre Vergangenheit nie mehr loswerden fördert die Schule mit Exkursionen, Gruppenaktivitäten können. In den USA wird bereits an Projekten gearbeitet, oder Projektarbeit. Die Lehrkräfte absolvieren wöchentlich die auf die langfristige Speicherung und Aufbereitung von eine Weiterbildung. Die Zahlen sprechen für sich: An nati- Schülerdaten abzielen. 2014 wurde ein solches nach hefti- onalen Leistungstests schneiden die Schüler überdurch- gen Elternprotesten gestoppt. Die Non-Profit Organisation schnittlich gut ab. «Inbloom» hatte rund 400 Informationselemente über Schüler aus neun Bundesstaaten gesammelt. Das Startka- Der Erziehungswissenschaftler Larry Cuban, der die Schule pital für das Projekt stammte von der Stiftung von Bill und untersucht hat, sagt: «Hier funktioniert das computerge- Melinda Gates. stützte Lernen, weil es Teil eines ganzheitlichen Ansatzes ist. Übernimmt man lediglich den technologischen Teil, so Ortstermin in Sunnyvale im Silicon Valley. Die Schule, an wie es sich die Philanthropen aus dem Silicon Valley vorstel- der Zuckerbergs Summit Learning entwickelt wurde, hat len, funktioniert es nicht. Sie unterschätzen die Komplexi- zum Besuchstag eingeladen. In den Klassenzimmern surrt tät, die im Klassenzimmer herrscht.» die Klimaanlage, die Pulte sind zu Inseln angeordnet, an den Wänden hängen Motivationssprüche und Projektar- Summit Learning hat nach den Protesten angekündigt, die beiten. Die Kinder einer 5. Klasse sitzen einander gegen- Lernsoftware vorerst nicht weiter zu verbreiten. Man ar- über, alle haben einen Laptop vor sich. Die Primarschüler beitet an Verbesserungen. Mark Zuckerberg hält das nicht absolvieren gerade eine Geschichtslektion mit dem intelli- davon ab, zu einem wichtigen Akteur im Bildungswesen zu genten Lernsystem. Jedes der rund zwanzig Kinder lernt werden. Durch seine scheinbar gemeinnützige Organisati- etwas anderes: Ein Mädchen klickt sich durch einen Test on «Chan Zuckerberg Initiative» hat er 50 Millionen Dollar zum Thema Naturkatastrophen. Ihre Sitznachbarin trägt in die kostenpflichtige Lern-App Byju investiert. Sie erreicht Kopfhörer und schaut ein Video über die Entstehung der in Indien 33 Millionen Schüler und gilt im Bildungssektor Globalisierung. Ein Knabe überarbeitet einen Aufsatz zum als die App mit dem höchsten Marktwert. Zudem ist er Thema. Investor von Altschool, einem Unternehmen, das eine ähn- liche Lernplattform wie Summit Learning entwickelt. Kürz- Auch der Lehrer sitzt vor einem Computer. Ihm zeigt ein lich schloss es seine Testschulen in San Francisco. Die Schü- Verwaltungs-Cockpit die Lernaktivität der einzelnen Schü- ler sollen während des Unterrichts Bewegungstracker ge- ler: Wer arbeitet gerade woran? Wer muss eine Prüfung tragen haben und gefilmt worden sein – um das System wiederholen? Daneben ein Chat-Portal mit Fragen der intelligenter zu machen. Das war selbst den Eltern im Sili- Schüler. Der Lehrer sagt: «Der Vorteil ist, dass sie mit ihren con Valley zu viel. Weitere Perle auf S. 30
30 Perle 4: Haben Jüngere schlechtere Chancen in der Schule? Wo: Tages-Anzeiger Wer: Simon Graf Wann: 4. Februar 2020 Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, erkennt ver- den drei Jahren nicht in allen Bereichen aufholen. In blüffende Zusammenhänge. So wurde 1985 auch der rela- Deutsch fällt es ihnen leichter als in Mathematik. tive Alterseffekt entdeckt, der den Sport bis heute prägt. Der kanadische Psychologe Roger Barnsley besuchte ein Interessant wäre, ganze Studienjahrgänge nach Geburts- Juniorenspiel der Lethbridge Broncos, als seine Frau Paula daten zu analysieren. Die «Schweiz am Wochenende» er- im Matchprogramm blätterte und ihr auffiel, dass der rechnete im Oktober 2017, dass es an Basler Gymnasien fast Grossteil der Spieler im Januar, Februar oder März geboren zehn Prozent mehr Jugendliche hat, die in den ersten sechs war. Im Sport wird meist nach Jahrgang unterteilt, und die Monaten eines Schuljahrgangs geboren sind. Und titelte: Älteren starten oft mit einem Vorteil, der zu einer Auf- «Geburtsmonat beeinflusst Karrierechance». wärtsspirale führen kann, der sie weit trägt. Bis heute tüf- teln Clubs und Verbände nach Gegenmitteln, um nicht Bildungsforscher Moser relativiert: «In der Schule wirkt sich spätgeborene Talente zu verpassen. das relative Alter nicht so stark aus wie im Sport. Denn hier ist es nur ein Faktor von vielen.» Zu nennen wären soziale Der relative Alterseffekt beschränkt sich aber nicht auf den Herkunft, Sprache oder Unterstützung der Eltern. Moser Sport. Er ist überall dort feststellbar, wo in Altersgruppen führt aus: «In der Schule haben wir einen Schnitt durch die eingeteilt wird, also auch gesamte Population, bei dort, wo es uns alle be- ambitionierten Jungsport- trifft: in der Schule. So sagt lern eine selektive Gruppe Urs Moser, Titularprofessor von Talentierten und Be- am Institut für Bildungs- geisterten. Und die meis- © Konstantin Yuganov – stock.adobe.com evaluation der Universität ten Eltern stehen hinter Zürich: «Ende Kindergar- diesem Projekt.» Das Um- ten, Anfang Schule kann feld ist kompetitiver, was fast ein Jahr einiges ausma- den relativen Alterseffekt chen. Die Älteren haben begünstigt. beim Schuleintritt bessere kognitive, motivationale Viel könne man als Schule und emotionale Vorausset- auch nicht unternehmen zungen.» gegen diesen Effekt, sagt Moser. «Es braucht ein Das Phänomen ist interna- Stichdatum für Schüler, nur tional breit erforscht. Ge- schon aus organisatori- mäss einer englischen Stu- schen Gründen.» Er hat die aus dem Jahr 2013 («When you are born matters») er- aber festgestellt, dass die Tendenz zum früheren Einschu- zielten die Jüngeren eines Schuljahrgangs nicht nur tiefere len oder Überspringen von Klassen abgenommen hat. Noten, sie entwickeln sich auch sozial-emotional schlechter «Früher dachte man: Wenn ein Kind schon im Kindergarten und haben weniger Selbstvertrauen. Als Lösung wird unter lesen kann, kann es eine Klasse überspringen. Heute be- anderem vorgeschlagen, die Jüngeren und ihren Selbst- trachtet man auch die sozialen Faktoren. Man hat beim wert zu stärken, indem man abgestuft nach Alter einen Überspringen von Klassen die Erfahrung gemacht, dass dies Notenbonus vergibt. Ein Modell, das indes nicht praktika- emotional zu Problemen führen kann. Nun schaut man bel erscheint. vielmehr, dass man innerhalb der Klasse individualisiert.» In der Schweiz wurde der relative Alterseffekt in der For- Inzwischen schlägt das Pendel in die andere Richtung: Man schung bis dato kaum berücksichtigt. Moser wirkte an einer wartet lieber noch ein Jahr mit dem Einschulen, stellt das 2008 publizierten Studie mit, bei der unter anderem die Kind zurück. So kann man den relativen Alterseffekt aus- Leistungskurve der Kinder nach relativem Alter ermittelt dribbeln – anders als im Sport, wo der Jahrgang ab natio- wurde. Dabei ergab sich, dass die älteren Schüler generell naler und internationaler Ebene verbindlich ist. einen Startvorteil haben, den die Jüngeren in den folgen-
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