Strafe ohne Gesetz? - ContraLegem
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M Strafe ohne Gesetz? Lukas Götti Zu den illegalen Ordnungsbussen für Einkaufstourismus am Schweizer Zoll I. Ausgangslage derungen. Am 1. April 2020 stand die Fassung Am 1. April 2020 machte die Regionalpolizei vom 28. März 2020 der Verordnung in Kraft. Zurzibiet mit einem Facebook-Post auf Plakate Darin wurde zwar durchaus einigen Personen- aufmerksam, welche von den Grenzbehörden kategorien der Grenzübertritt untersagt und an den Grenzübergängen aufgehängt worden für den Fall der Nichtbeachtung dieses Verbotes waren. Darauf war folgendes zu lesen (vgl. auch Strafen angedroht, allerdings gerade nicht zofingertagblatt.ch): für den sogenannten Einkaufstourismus. «Ausreisen zum Zweck des Wareneinkaufs sind Art. 3 Abs. 1 der Verordnung bestimmte zum nicht gestattet. Wareneinkäufe werden bei der besagten Zeitpunkt nämlich, dass allen Personen Einreise in die Schweiz zurückgewiesen, inkl. aus einem Risikoland oder -region die Einreise Ordnungsbusse.» (!) in die Schweiz verweigert wird, sofern sie nicht u. a. über das Schweizer Bürgerrecht (lit. Dem Foto des Plakats hatte die Regionalpolizei a) oder über ein Reisedokument und einen Zurzibiet folgende Erläuterung beigefügt: Aufenthaltstitel, namentlich eine schweizeri- sche Aufenthaltsbewilligung verfügten (lit. b). «Wie die Grenzwache mitteilt, sind ab sofort Ausreisen zum Zweck von Wareneinkäufen nicht Bürgerrecht und Aufenthaltsbewilligung sind mehr gestattet! Dies betrifft vor allem deutsche aber nicht alle, sondern lediglich die erstge- Staatsangehörige, welche eine Schweizer Auf- nannten Rechtsgründe, die eine Verweigerung enthaltsbewilligung besitzen.» der Einreise ausschliessen. Art. 3 Abs. 1 listete Schnell wurde die Frage laut, auf welcher gesetz- für den Zeitpunkt des 1. April 2020 noch eine lichen Grundlage dieses Verbot und die für ganze Reihe von weiteren Einreisegründen auf, seine Übertretung angedrohten Ordnungsbus- wozu u. a. auch die blosse Absicht auf Durch- sen erlassen worden sind. Dieser Frage und den reise (lit. e), gewerblichen Warentransport (lit. darauf gegebenen Antworten geht der vorlie- d) oder auch nur die Zusicherung einer Auf- gende Aufsatz nach. enthaltsbewilligung gehörten (lit. b 2.). Von einem Ausreiseverbot ganz allgemein, oder zu II. Bussen für Einkaufstourismus gestützt irgendwelchen spezifischen Zwecken, sei es zur auf die Covid-19-Verordnung 2? Angehörigenpflege, Kinderbesuch, Warenein- Bei der Suche nach einer gesetzlichen Grund- kauf oder selbst zwecks Angelausflugs, sagte lage für Bussen im Zusammenhang mit der die Verordnung überhaupt nichts; ein solches Pandemie kommt natürlich zunächst die Covid- Ausreiseverbot war in ihr also gar nicht vor- 19-Verordnung 2 (SR 818.101.24; fortan Ver- gesehen. ordnung) in Frage. Die Verordnung stand vom 13. März bis 22. Juni 2020 in Kraft, also rund Die Verordnung konnte also nicht als gesetz- drei Monate und erfuhr in dieser Zeit 25 Än- liche Grundlage dienen. Nicht nur verbot sie ContraLegem | 2021 /2 | G ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70 64
M schlicht niemandem die Ausreise, sondern sie mit Schweizer Pass oder Aufenthaltsbewilligung erlaubte Personen mit Schweizer Aufenthalts- nach Schweizer Recht «theoretisch» frei ein- und bewilligung oder Bürgerrecht (u. a.) sogar ex- ausreisen durften. Im Artikel wurde allerdings plizit und unabhängig vom Zweck die Einreise zur Frage, ob deutsche Staatsangehörige mit in die Schweiz. Wohnort in der Schweiz «Einkaufstourismus» betreiben dürften, eine Aussage Bundesrätin Wer eine Aufenthaltsbewilligung besass durfte Karin Keller-Suters vom Vortag (also 1. April) mithin am 1. April 2020 – zumindest nach zitiert, wonach es für Reisen ins Ausland einen Schweizer Recht – unter der Verordnung un- «zwingenden Reisegrund» geben müsse und beschränkt häufig und vollständig unabhängig das erfasse laut Keller-Suter «Sicher nicht vom Zweck aus- und einreisen. Eine gesetzliche Einkaufstourismus oder weil sie sich gerade Grundlage für Ordnungsbussen wegen Ein- langweilen.» (vgl. hierzu: youtube.com). kaufstourismus, die «vor allem deutsche Diese Aussagen waren von der Verordnung schlicht nicht gedeckt. Die einzige relevante Anpassung des fraglichen Art. 3 der Verordnung Die bundesrätlichen auf den 2. April 2020 war dessen Abs. 1bis, der für Menschen mit Grenzgängerbewilligung die Äusserungen in den Einreise (erneut, gerade nicht die Ausreise!) nur noch aus «beruflichen Gründen» zuliess. Medien widerspra- Davon abgesehen war dieser Art. 3 aber unver- ändert und damit durfte jeder Mensch mit chen also unmittel- Schweizer Pass oder Aufenthaltsbewilligung bar und direkt dem ohne einen zwingenden Reisegrund ins Ausland reisen und wieder in die Schweiz zurückkehren. ureigenen, kurz zuvor Und das auch dann, wenn die Reise nur dem Einkaufen diente oder gar lediglich zur Linde- erlassenen Verord- rung von Langeweile. Zumindest gestützt auf nungsrecht. Schweizer Recht (und darum geht es vorliegend, denn ausländische Rechts- und Zollordnungen vermögen daran nichts zu ändern). Die bundesrätlichen Äusserungen in den Me- Staatsangehörige» anvisiere, fand sich in der dien widersprachen also unmittelbar und direkt Verordnung nicht. dem ureigenen, kurz zuvor erlassenen Ver- ordnungsrecht. Dass als Folge davon beträcht- Es überrascht also wenig, dass die Sache innert liche Verwirrung entstand, überrascht nicht weniger Tage beträchtliche mediale Aufmerk- wirklich. So hält denn auch der Artikel des samkeit erhielt. Am 3. April 2020 berichtete Zofinger Tagblatts unter dem Titel «Ab sofort – als soweit im Nachhinein ersichtlich – erstes drohen Ordnungsbussen» – zunächst noch Medium das Zofinger Tagblatt über den hier zu völlig korrekt – fest, dass aufgrund des neuen Beginn erwähnten Facebook-Beitrag der Regio- Art. 3 Abs. 1bis und des bereits zuvor bestehen- nalpolizei Zurzibiet (vgl. zofingertagblatt.ch). de Art. 3 Abs. 4 der Verordnung, neu Bussen Das Zofinger Tagblatt kam zwar anfänglich für Grenzgänger vorgesehen seien, die sich nicht noch durchaus zum korrekten Schluss, dass an die Reisebestimmungen hielten. Gleich im aufgrund der Verordnung, auch in der zum nächsten Satz aber lässt sich das Tagblatt aber Zeitpunkt der Veröffentlichung in Kraft ste- wieder verwirren. Denn der Mediensprecher henden Version vom 2. April 2020, Menschen der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) ContraLegem | 2021 /2 | G ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70 65
M antwortete auf die Frage «Wer zum Einkaufen und Präzisierungen vom 17. April werde das ins Ausland fährt, wird also ab sofort gebüsst?» Bussenregime nun «explizit» geregelt. mit Ja. Das entsprach so aber schlicht nicht der Gesetzeslage. Dass der Bundesrat und seine Art. 1 StGB (eine Bestimmung, man kann es Verwaltung die eigentlich einfache Frage, wer nicht oft genug wiederholen, mit Verfassungs- denn nun wann genau wofür eine Ordnungs- rang!) bestimmt ausdrücklich, dass Strafen – busse riskiere, nicht korrekt beantworten und Bussen und Ordnungsbussen sind Strafen konnten, mag an mangelhafter Kenntnis des (vgl. BGer 6B_855/2018, E. 1.5, allerdings mit selbst erlassenen Rechts liegen, was angesichts Ausnahme des Art. 6 OBG, vgl. hierzu Stefan der beinahe hysterischen Frequenz der Ände- Maeder, Sicherheit durch Gebühren? AJP 2014, rungen der Covid-19-Verordnung 2 nicht ver- 679-691) – überhaupt nur ausdrücklich, also wundern würde. Letztlich bleiben aber die explizit angedroht werden dürfen. Eine geheim- Gründe dieser Unkenntnis gleichgültig. Sie nisvoll-verspielt zwischen den Zeilen der Ver- müssten aber strafrechtlich beachtlich sein: ordnung hervorschimmernde, implizite Straf- Wenn derjenige, der eine Regel erlässt, ihren drohung ist von vornherein unzulässig. Inhalt nicht korrekt wiederzugeben vermag, so geht es wohl nicht an, diese Kenntnis dem Regelunterworfenen einfach zuzuschreiben. III. Einkaufstourismus bleibt verboten? In der Folge hat der Bundesrat auf den 17. April Eine geheimnisvoll- 2020 einen Art. 3a in die Verordnung eingefügt, der nun das Verbot von Einkaufstourismus verspielt zwischen einführte. Zudem wurde Art. 10f um Abs. 1 lit. d ergänzt, der für Verstösse gegen diesen Art. den Zeilen der Verord- 3a Busse androhte. Ausserdem wurde das nung hervorschim- Ordnungsbussenverfahren für Verstösse gegen das Verbot des Einkaufstourismus anwendbar mernde, implizite erklärt (Art. 10f Abs. 4 und 5 der Verordnung). Strafdrohung ist von Begleitet wurde die Änderung der Verordnung vornherein unzuläs- von einer Medienmitteilung, die den im Lichte der eben erläuterten Rechtslage doch überra- sig. schenden Titel trug: «Coronavirus: Einkaufs- tourismus bleibt verboten» (vgl. admin.ch). Überraschend ist das, weil bisher Einkaufs- tourismus eben gerade nicht verboten war und ergo auch nicht verboten «bleiben» konnte. IV. Unhaltbare Rechtfertigungen Wenn aber der Bundesrat der Überzeugung Mehr und mehr unter medialem Druck nahmen war, Einkaufstourismus sei bereits verboten, auch die Rechtfertigungsversuche der Behörden fragt sich doch ernstlich, warum dann die immer groteskere Ausmasse an. Denn offenbar Einführung des fraglichen Art. 3a notwendig wurden Personen mit Schweizer Bürgerrecht gewesen war. Tatsächlich ist Einkaufstourismus oder Aufenthaltsbewilligung auch aus anderen erst am 17. April 2020 erstmals verboten wor- Gründen, als wegen Einkaufstourismus Ord- den. Nur am Rande sei vermerkt, dass die nungsbussen auferlegt. Da hierfür überhaupt Formulierung der Medienmitteilung zumindest nie eine gesetzliche Grundlage bestand, ver- merkwürdige anmutet, durch die Anpassungen suchte sich die EZV mit Behauptung zu rechtfertigen, das bestrafte Verhalten sei zwar ContraLegem | 2021 /2 | G ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70 66
M nicht ausdrücklich verboten, es sei aber «nicht einer Einsatzorganisation ist der sogenannte im Sinne des Bundesrates» (vgl. srf.ch). Der After-Action-Review. Da sitzt man zusammen fragliche Medienbericht vom Schweizer Radio und sagt, was hat gut funktioniert und was hat und Fernsehen stammt vom 8. Mai 2020. Zu schlecht funktioniert und ich kann ihnen ver- diesem Zeitpunkt stand die Verordnung vom sichern, da werden auch solche Fragen mit hi- 30. April 2020 in Kraft. An den einschlägigen neinkommen. Art. 3 und 3a hatte sich seit dem 17. April nichts Zweitens, nein, das war in der Anfangssituati- Relevantes geändert. Insofern drückte sich am on notwendig. Sie erinnern sich, dass Herr 8. Mai 2020 der Sinn des Bundesrates klar in Bundesrat Berset immer gesagt hat, wir sind in seiner Verordnung aus und zwar dahingehend, einem Prozess drin. In der Anfangssituation dass Personen, die über das Schweizer Bürger- war die Situation an den Grenzen sehr unüber- recht oder eine Aufenthaltsbewilligung (u. a.) sichtlich, es war ein belastetes System, man verfügen, nicht gebüsst werden durften, sofern wusste noch nicht genau, wie sieht das Risiko sie die Grenze nicht im Rahmen einer «aus- aus. Jetzt hat sich das System eingespielt und schliesslich dem Einkaufstourismus» dienenden aus dem Grund hat man dann natürlich auch Reise überquerten. die Praxis entsprechend angepasst. Und ganz konkret auf ihre Frage: nein, dort werden keine Zu diesen Bussen, die Personen mit Schweizer Bussen verhängt. Man hat ja auch die Rechts- Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung grundlage geändert. Die ursprüngliche Grund- ohne Rechtsgrundlage auferlegt wurden, muss- lage, das war ein relativ allgemein gehaltener te auch der oberste Schweizer Zöllner, Dr. Artikel, Art. 127 des Zollgesetzes. Inzwischen Christian Bock Stellung nehmen. Am Point de hat man ein Ordnungsbussentatbestand erhoben Presse vom 11. Mai 2020 wurde ihm folgende und dem auch Rechnung getragen. Wenn sie ein Frage gestellt (vgl. youtube.ch): einfaches Beispiel möchten, es ist wie im Strassenverkehrsrecht. Im Strassenverkehrs- «Ich habe zwei Fragen an Herr Bock zu der recht haben sie allgemeine Bussenartikel und Praxis am Zoll der Bussen generell. Es war so, sie haben zu einer Vereinfachung des Verfahrens dass in den ersten Wochen zumindest nach der dann einen Ordnungsbussentatbestand. Bis sie Grenzschliessung, Menschen mit Schweizer Pass aber zu einem Ordnungsbussentatbestand oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz kommen, brauchen sie eine gewisse kasuistische, Bussen verhängt erhielten. Diese Bussen wurden eine Fallerfahrung und die haben wir jetzt von Rechtsgelehrten als unzulässig beurteilt, entsprechend bekommen.» also es fehlt die rechtliche Grundlage dazu. Wie kam es zu dieser Praxis und wie ist es heute, Daraus ergeben sich primär zwei Fragen. erhalten Menschen die Ausflüge machen ins Nämlich (1), ob Art. 127 Zollgesetz (ZG) für den Ausland eine Busse, auch wenn sie nicht einge- Zeitraum vor der Einführung des Verbots des kauft haben?» Einkaufstourismus in der Verordnung als ge- setzliche Grundlage herangezogen werden kann Die Antwort von Herrn Bock lautet wie folgt: und, (2) ob die Analogie zu Art. 90 SVG korrekt ist. «Also das erste: Sie sagen es richtig, es wird von Rechtsgelehrten als unzulässig erachtetet. Ich V. Bussen für Einkaufstourismus gestützt darf das als Jurist sagen: Zwei Juristen, drei auf das Zollgesetz? Meinungen. Das wird man nachher sehen, ob Innerhalb von Art. 127 ZG kommen – mit fest das einer gerichtlichen Überprüfung standhält. zusammengekniffenen Augen – höchstens die Auch wir werden selbstverständlich unsere Absätze 1 und 2 in Frage. Sie lesen sich, unter Praxis kritisch überlegen. Sehen sie, wir sind der Marginalie „Ordnungswidrigkeiten“, wie eine Einsatzorganisation und etwas Schönes in folgt: ContraLegem | 2021 /2 | G ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70 67
M 1 Sofern nicht der Tatbestand einer Zollwi- Ohne dass auf einen Tatbestand in einer ande- derhandlung erfüllt ist, wird mit Busse bis ren Norm verwiesen wird, die den abstrakten zu 5000 Franken bestraft, wer vorsätzlich Tatbestand der Blankettstrafnorm konkretisiert oder grobfahrlässig verstösst: und damit genügen präzise umschreibt, dass eine Befolgung – und entsprechend im umge- a. gegen eine Vorschrift der Zollgesetzge- kehrten Fall auch der Vorwurf der Nicht-Befol- bung, eines völkerrechtlichen Vertrags gung – überhaupt erst möglich werden, besteht oder gegen eine ihrer Ausführungsbestim- für einen Vorwurf der Nicht-Befolgung schlicht mungen, soweit ein Erlass die Übertretung keine gesetzliche Grundlage. Wollte man das dieser Vorschrift für straf bar erklärt; anders sehen, so wäre das etwa so, als würde oder man auf der Strafandrohung nach Art. 292 b. gegen eine unter Hinweis auf die StGB beharren, wäre aber nicht in der Lage, die Strafdrohung dieses Artikels an ihn ge- Verfügung anzugeben, die das relevante Ver- richtete Verfügung. halten umschreibt. 2 Widerhandlungen gegen mündliche Anord- Analog und deutlicher gesprochen: Würde eine nungen des Personals der EZV oder gegen Behörde Menschen mit Bussen bestrafen, weil Anordnungen, die durch Signale oder Tafeln sie einen auf einer Stange aufgehängten Hut getroffen werden, werden mit Busse bis zu nicht grüssten – worauf die Behörde mit ent- 2000 Franken bestraft. Für die Anordnung sprechenden Plakaten hinweisen würde - , ist kein Hinweis auf die Strafdrohung dieses könnte sich die Behörde nicht mit einem Verweis Artikels erforderlich. auf Art. 292 StGB rechtfertigen. Art. 292 StGB Art. 127 ZG ist eine Blankettstrafnorm, also ist nur anwendbar, wenn die Behörde von eine Strafnorm, die zwar eine Strafe androht, vornherein die Kompetenz hat, per Verfügung aber für die (konkrete) Umschreibung der allfälligen Passanten eine Hutgrüsspflicht Tathandlung auf eine andere Norm verweist. aufzuerlegen. Hat sie das nicht, nützt ein Eine Blankettstrafnorm enthält typischer- Verweis auf Art. 292 StGB nichts. Analog – und weise zwar durchaus einen Tatbestand, aller- damit analog falsch – ist aber die Argumenta- dings in stark abstrakter Form. So auch bei Art. tion der EZV mit Art. 127 ZG. 127 Abs. 1 lit. b ZG wo, ganz ähnlich wie bei Art. 292 StGB, der Tatbestand mit dem Verstoss Lässt man diese Einwände fürs Erste beiseite gegen eine an den Täter gerichtete Verfügung und schaut sich die Referenzpunkte, die Art. umschrieben wird. Einen konkreteren, und 127 ZG erwähnt, an, verbessert sich das Bild damit überhaupt erst befolgbaren Tatbestand allerdings nicht: liefert eine Blankettstrafnorm in der Regel mit dem Verweis auf eine andere Norm. Art. 127 Abs. 1 lit. a ZG verweist auf die Zoll- gesetzgebung, die völkerrechtlichen Verträge Damit wird aber der Verweis auf Art. 127 ZG sowie die dazugehörigen Ausführungsvor- von vornherein suspekt, denn damit dieser schriften. Art. 127 Abs. 1 lit. b ZG verweist Verweis irgendetwas leisten kann, muss zu- dagegen auf Verfügungen und Art. 127 Abs. 2 gleich eine andere Norm genannt werden. ZG schliesslich verweist auf mündliche An- Blankettstrafnormen können alleine schliess- ordnungen oder auf Signale oder Tafeln. lich gar keine Straf barkeit begründen. Wenn also die EZV als gesetzliche Grundlage für Ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Ausreise Bussen wegen Einkaufstourismus eine Blankett- zum Zwecke des Einkaufstourismus untersagen strafnorm angibt (Art. 127 ZG), weiss man schon würde, existiert nicht. Am ehesten kommen alleine deshalb, dass damit nur die Hälfte der noch die folgenden völkerrechtlichen Verträge gesetzlichen Grundlage angegeben worden ist. in Frage: (1) das Abkommen vom 21. Juni 19992 ContraLegem | 2021 /2 | G ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70 68
M zwischen der Schweizerischen Eidgenossen- Anwendung, wenn (1) eine Übertretung nach schaft einerseits und der Europäischen Gemein- einem Gesetz oder einer Verordnung begangen schaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits wird, die von Art. 1 OBG aufgelistet werden, über die Freizügigkeit und (2) die Verordnung und (2) der Übertretungstatbestand nach Art. (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments 1 Abs. 2 OBG in einer der in Art. 15 OBG ge- und des Rates vom 9. März 2016 über einen nannten Listen aufgeführt ist, sowie (3) keine Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der der Ausnahmen der Art. 4 OBG oder 1 Abs. 3 Grenzen durch Personen (Schengener Grenz- OBG vorliegt. Sind diese Voraussetzungen ge- kodex). Beide aber zielen viel eher auf einen geben, wird das vereinfachte Ordnungsbussen- möglichst ungehinderten Grenzverkehr. Man verfahren nach OBG angewandt. Dabei handelt wird also kaum Glück haben, wenn man da eine es sich um Strafrecht, weswegen auch die gesetzliche Grundlage für das Verbot von strafrechtlichen Grundsätze gelten, mit der Einkaufstourismus mit zugehöriger Ordnungs- einzigen Ausnahme, dass aufgrund von Art. 1 busse sucht. Abs. 5 OBG Vorleben und persönliche Verhält- nisse der beschuldigten Person nicht berück- Auch die Zollgesetzgebung, also das ZG, enthält sichtigt werden. keine Bestimmung, die es der EZV erlauben würde, Ausreisen für bestimmte Aktivitäten Ein Beispiel wäre etwa das Fahren mit einem zu untersagen. Daher erübrigt sich auch die Motorrad auf einem Trottoir, was laut Ziffer Suche nach Ausführungsvorschriften. Damit 301 der Bussenliste 1 in Anhang 1 der OBV mit ist Art. 127 Abs. 1 lit. a ZG nicht anwendbar einer Ordnungsbusse von 100 CHF bestraft und auch die Verfügungen aus Abs. 1 lit. b und wird. Dieser Ordnungsbussentatbestand legt die Anordnungen, ob mündlich oder per Tafeln, die Ordnungsbusse für die Missachtung von fallen weg. Denn auch für Verfügungen und Art. 43 Abs. 2 SVG fest. Und hier liegt auch der Anordnungen von Seiten der Behörden, wäre kleine, aber feine Unterschied zum gewagten wiederum eine gesetzliche Grundlage not- zollbehördlichen Analogieschluss zwischen wendig. Ordnungsbussen im Strassenverkehr und den Einkaufstourismus-Ordnungsbussen an der Als Abgrenzungsbeispiel und zur Illustration, Grenze: Das Fahren mit einem Motorrad auf wofür Art. 127 ZG zulässigerweise vorgesehen einem Trottoir ist erstens ohne OBG bereits wäre, mag folgende Überlegung genügen: Die verboten (Art. 43 Abs. 2 SVG) und zweitens auch Zollbehörden dürfen gestützt auf Art. 101 ZG ohne OBG bereits mit Strafe bedroht (Art. 90 Personen anlässlich des Grenzübertritts an- Abs. 1 SVG). Das OBG und die OBV verändern halten. Gestützt auf diese Norm dürfen sie diesbezüglich nur, dass der Bussenbetrag anordnen, dass die betreffende Person ihr festgelegt ist und im vereinfachten Ordnungs- Fahrzeug anhält, abstellt, aussteigt und sich bussenverfahren ausgesprochen wird, statt in im Hinblick auf zollbehördliche Abklärungen einem ordentlichen Strafverfahren. in die Räumlichkeiten der Zollbehörde begibt. Weigert sich eine angehaltene Person solchen Ganz anders hingegen die Ordnungsbussen für Anordnungen Folge zu leisten, kommt eine Einkaufstourismus, für die vor dem 17. April Bestrafung nach Art. 127 ZG in Frage. eben gerade keine gesetzliche Grundlage exis- tierte und für die daher auch nicht eine «ge- VI. Analogie zum Strassenverkehrsgesetz wisse kasuistische, eine Fallerfahrung» ent- Auch die Analogie zum Strassenverkehrsgesetz stehen kann. Kasuistik bedingt eine gesetzliche überzeugt nicht. Ordnungsbussen im Strassen- Grundlage. Eine Behörde hingegen, die an den verkehrsrecht sind im Anhang 1 der Ordungs- Landesgrenzen stationiert, anderen Menschen bussenverordnung (OBV) geregelt. Sie kommen ohne gesetzliche Grundlage Geld abnimmt, laut Ordnungsbussengesetz (OBG) dann zur ContraLegem | 2021 /2 | G ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70 69
M betreibt rechtlich betrachtet nicht Kasuistik, sprechende Bericht ist am 25. Juni 2021 sondern höchstens ungerechtfertigte Bereiche- publiziert worden (abruf bar unter: parlament. rung und Wegelagerei. ch). VII. Wie weiter? Das rechtsstaatliche Trauerspiel mit der an den Das Bundesstrafgericht hatte sich kürzlich mit Grenzen der Schweiz (und der Legalität) «Ka- der Sache zu befassen und kam zum Schluss, suistik» betreibenden «Einsatzorganisation» dass den Ordnungsbussen für Einkaufstouris- wird hoffentlich eine Ausnahme bleiben. mus bis zum Erlass von Art. 3a der Verordnung jede gesetzliche Grundlage fehlte (vgl. hierzu srf.ch). Die zeitweilig recht intensive Berichterstattung hat auch die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates (GPK-S) auf das Vorgehen der Zollverwaltung aufmerksam werden lassen. Die GPK-S kündigte in ihrem Jahresbericht 2020 vom 26. Januar 2021 (abruf bar unter: parla- ment.ch, zitierte Stelle S. 78 f.) an sich «[…] insbesondere mit den von der EZV ausgesprochenen Bussen, der Kommunikation der EZV während der Krise und der Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden sowohl bei der Vorbereitung der Um- setzung der Beschlüsse als auch bei deren prakti- schen Umsetzung vor Ort zu befassen». Der ent- Vgl. auch die Videos auf unserem Youtube-Kanal: - ContraLegem Aktuell, Nr. 1a - Strafe ohne Gesetz. - ContraLegem Aktuell, Nr. 1b - Strafe ohne Gesetz. ContraLegem | 2021 /2 | G ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70 70
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