Strafe ohne Gesetz? - ContraLegem

 
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Strafe ohne Gesetz?
Lukas Götti

Zu den illegalen Ordnungsbussen für Einkaufstourismus am Schweizer Zoll

I.     Ausgangslage                                                   derungen. Am 1. April 2020 stand die Fassung
Am 1. April 2020 machte die Regionalpolizei                           vom 28. März 2020 der Verordnung in Kraft.
Zurzibiet mit einem Facebook-Post auf Plakate                         Darin wurde zwar durchaus einigen Personen-
aufmerksam, welche von den Grenzbehörden                              kategorien der Grenzübertritt untersagt und
an den Grenzübergängen aufgehängt worden                              für den Fall der Nichtbeachtung dieses Verbotes
waren. Darauf war folgendes zu lesen (vgl.                            auch Strafen angedroht, allerdings gerade nicht
zofingertagblatt.ch):                                                 für den sogenannten Einkaufstourismus.

      «Ausreisen zum Zweck des Wareneinkaufs sind                     Art. 3 Abs. 1 der Verordnung bestimmte zum
      nicht gestattet. Wareneinkäufe werden bei der                   besagten Zeitpunkt nämlich, dass allen Personen
      Einreise in die Schweiz zurückgewiesen, inkl.                   aus einem Risikoland oder -region die Einreise
      Ordnungsbusse.»                                                 (!) in die Schweiz verweigert wird, sofern sie
                                                                      nicht u. a. über das Schweizer Bürgerrecht (lit.
Dem Foto des Plakats hatte die Regionalpolizei
                                                                      a) oder über ein Reisedokument und einen
Zurzibiet folgende Erläuterung beigefügt:
                                                                      Aufenthaltstitel, namentlich eine schweizeri-
                                                                      sche Aufenthaltsbewilligung verfügten (lit. b).
      «Wie die Grenzwache mitteilt, sind ab sofort
      Ausreisen zum Zweck von Wareneinkäufen nicht
                                                                      Bürgerrecht und Aufenthaltsbewilligung sind
      mehr gestattet! Dies betrifft vor allem deutsche
                                                                      aber nicht alle, sondern lediglich die erstge-
      Staatsangehörige, welche eine Schweizer Auf-
                                                                      nannten Rechtsgründe, die eine Verweigerung
      enthaltsbewilligung besitzen.»
                                                                      der Einreise ausschliessen. Art. 3 Abs. 1 listete
Schnell wurde die Frage laut, auf welcher gesetz-                     für den Zeitpunkt des 1. April 2020 noch eine
lichen Grundlage dieses Verbot und die für                            ganze Reihe von weiteren Einreisegründen auf,
seine Übertretung angedrohten Ordnungsbus-                            wozu u. a. auch die blosse Absicht auf Durch-
sen erlassen worden sind. Dieser Frage und den                        reise (lit. e), gewerblichen Warentransport (lit.
darauf gegebenen Antworten geht der vorlie-                           d) oder auch nur die Zusicherung einer Auf-
gende Aufsatz nach.                                                   enthaltsbewilligung gehörten (lit. b 2.). Von
                                                                      einem Ausreiseverbot ganz allgemein, oder zu
II.    Bussen für Einkaufstourismus gestützt                          irgendwelchen spezifischen Zwecken, sei es zur
       auf die Covid-19-Verordnung 2?                                 Angehörigenpflege, Kinderbesuch, Warenein-
Bei der Suche nach einer gesetzlichen Grund-                          kauf oder selbst zwecks Angelausflugs, sagte
lage für Bussen im Zusammenhang mit der                               die Verordnung überhaupt nichts; ein solches
Pandemie kommt natürlich zunächst die Covid-                          Ausreiseverbot war in ihr also gar nicht vor-
19-Verordnung 2 (SR 818.101.24; fortan Ver-                           gesehen.
ordnung) in Frage. Die Verordnung stand vom
13. März bis 22. Juni 2020 in Kraft, also rund                        Die Verordnung konnte also nicht als gesetz-
drei Monate und erfuhr in dieser Zeit 25 Än-                          liche Grundlage dienen. Nicht nur verbot sie

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schlicht niemandem die Ausreise, sondern sie                          mit Schweizer Pass oder Aufenthaltsbewilligung
erlaubte Personen mit Schweizer Aufenthalts-                          nach Schweizer Recht «theoretisch» frei ein- und
bewilligung oder Bürgerrecht (u. a.) sogar ex-                        ausreisen durften. Im Artikel wurde allerdings
plizit und unabhängig vom Zweck die Einreise                          zur Frage, ob deutsche Staatsangehörige mit
in die Schweiz.                                                       Wohnort in der Schweiz «Einkaufstourismus»
                                                                      betreiben dürften, eine Aussage Bundesrätin
Wer eine Aufenthaltsbewilligung besass durfte                         Karin Keller-Suters vom Vortag (also 1. April)
mithin am 1. April 2020 – zumindest nach                              zitiert, wonach es für Reisen ins Ausland einen
Schweizer Recht – unter der Verordnung un-                            «zwingenden Reisegrund» geben müsse und
beschränkt häufig und vollständig unabhängig                          das erfasse laut Keller-Suter «Sicher nicht
vom Zweck aus- und einreisen. Eine gesetzliche                        Einkaufstourismus oder weil sie sich gerade
Grundlage für Ordnungsbussen wegen Ein-                               langweilen.» (vgl. hierzu: youtube.com).
kaufstourismus, die «vor allem deutsche
                                                                      Diese Aussagen waren von der Verordnung
                                                                      schlicht nicht gedeckt. Die einzige relevante
                                                                      Anpassung des fraglichen Art. 3 der Verordnung

Die bundesrätlichen                                                   auf den 2. April 2020 war dessen Abs. 1bis, der
                                                                      für Menschen mit Grenzgängerbewilligung die
Äusserungen in den                                                    Einreise (erneut, gerade nicht die Ausreise!)
                                                                      nur noch aus «beruflichen Gründen» zuliess.
Medien widerspra-                                                     Davon abgesehen war dieser Art. 3 aber unver-
                                                                      ändert und damit durfte jeder Mensch mit
chen also unmittel-                                                   Schweizer Pass oder Aufenthaltsbewilligung
bar und direkt dem                                                    ohne einen zwingenden Reisegrund ins Ausland
                                                                      reisen und wieder in die Schweiz zurückkehren.
ureigenen, kurz zuvor                                                 Und das auch dann, wenn die Reise nur dem
                                                                      Einkaufen diente oder gar lediglich zur Linde-
erlassenen Verord-                                                    rung von Langeweile. Zumindest gestützt auf

nungsrecht.                                                           Schweizer Recht (und darum geht es vorliegend,
                                                                      denn ausländische Rechts- und Zollordnungen
                                                                      vermögen daran nichts zu ändern).

                                                                      Die bundesrätlichen Äusserungen in den Me-
Staatsangehörige» anvisiere, fand sich in der                         dien widersprachen also unmittelbar und direkt
Verordnung nicht.                                                     dem ureigenen, kurz zuvor erlassenen Ver-
                                                                      ordnungsrecht. Dass als Folge davon beträcht-
Es überrascht also wenig, dass die Sache innert                       liche Verwirrung entstand, überrascht nicht
weniger Tage beträchtliche mediale Aufmerk-                           wirklich. So hält denn auch der Artikel des
samkeit erhielt. Am 3. April 2020 berichtete                          Zofinger Tagblatts unter dem Titel «Ab sofort
– als soweit im Nachhinein ersichtlich – erstes                       drohen Ordnungsbussen» – zunächst noch
Medium das Zofinger Tagblatt über den hier zu                         völlig korrekt – fest, dass aufgrund des neuen
Beginn erwähnten Facebook-Beitrag der Regio-                          Art. 3 Abs. 1bis und des bereits zuvor bestehen-
nalpolizei Zurzibiet (vgl. zofingertagblatt.ch).                      de Art. 3 Abs. 4 der Verordnung, neu Bussen
Das Zofinger Tagblatt kam zwar anfänglich                             für Grenzgänger vorgesehen seien, die sich nicht
noch durchaus zum korrekten Schluss, dass                             an die Reisebestimmungen hielten. Gleich im
aufgrund der Verordnung, auch in der zum                              nächsten Satz aber lässt sich das Tagblatt aber
Zeitpunkt der Veröffentlichung in Kraft ste-                          wieder verwirren. Denn der Mediensprecher
henden Version vom 2. April 2020, Menschen                            der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV)

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antwortete auf die Frage «Wer zum Einkaufen                             und Präzisierungen vom 17. April werde das
ins Ausland fährt, wird also ab sofort gebüsst?»                        Bussenregime nun «explizit» geregelt.
mit Ja. Das entsprach so aber schlicht nicht der
Gesetzeslage. Dass der Bundesrat und seine                              Art. 1 StGB (eine Bestimmung, man kann es
Verwaltung die eigentlich einfache Frage, wer                           nicht oft genug wiederholen, mit Verfassungs-
denn nun wann genau wofür eine Ordnungs-                                rang!) bestimmt ausdrücklich, dass Strafen –
busse riskiere, nicht korrekt beantworten                               und Bussen und Ordnungsbussen sind Strafen
konnten, mag an mangelhafter Kenntnis des                               (vgl. BGer 6B_855/2018, E. 1.5, allerdings mit
selbst erlassenen Rechts liegen, was angesichts                         Ausnahme des Art. 6 OBG, vgl. hierzu Stefan
der beinahe hysterischen Frequenz der Ände-                             Maeder, Sicherheit durch Gebühren? AJP 2014,
rungen der Covid-19-Verordnung 2 nicht ver-                             679-691) – überhaupt nur ausdrücklich, also
wundern würde. Letztlich bleiben aber die                               explizit angedroht werden dürfen. Eine geheim-
Gründe dieser Unkenntnis gleichgültig. Sie                              nisvoll-verspielt zwischen den Zeilen der Ver-
müssten aber strafrechtlich beachtlich sein:                            ordnung hervorschimmernde, implizite Straf-
Wenn derjenige, der eine Regel erlässt, ihren                           drohung ist von vornherein unzulässig.
Inhalt nicht korrekt wiederzugeben vermag, so
geht es wohl nicht an, diese Kenntnis dem
Regelunterworfenen einfach zuzuschreiben.

III. Einkaufstourismus bleibt verboten?
In der Folge hat der Bundesrat auf den 17. April                            Eine geheimnisvoll-
2020 einen Art. 3a in die Verordnung eingefügt,
der nun das Verbot von Einkaufstourismus
                                                                            verspielt zwischen
einführte. Zudem wurde Art. 10f um Abs. 1 lit.
d ergänzt, der für Verstösse gegen diesen Art.
                                                                            den Zeilen der Verord-
3a Busse androhte. Ausserdem wurde das                                      nung hervorschim-
Ordnungsbussenverfahren für Verstösse gegen
das Verbot des Einkaufstourismus anwendbar                                  mernde, implizite
erklärt (Art. 10f Abs. 4 und 5 der Verordnung).
                                                                            Strafdrohung ist von
Begleitet wurde die Änderung der Verordnung                                 vornherein unzuläs-
von einer Medienmitteilung, die den im Lichte
der eben erläuterten Rechtslage doch überra-                                sig.
schenden Titel trug: «Coronavirus: Einkaufs-
tourismus bleibt verboten» (vgl. admin.ch).
Überraschend ist das, weil bisher Einkaufs-
tourismus eben gerade nicht verboten war und
ergo auch nicht verboten «bleiben» konnte.                              IV. Unhaltbare Rechtfertigungen
Wenn aber der Bundesrat der Überzeugung                                 Mehr und mehr unter medialem Druck nahmen
war, Einkaufstourismus sei bereits verboten,                            auch die Rechtfertigungsversuche der Behörden
fragt sich doch ernstlich, warum dann die                               immer groteskere Ausmasse an. Denn offenbar
Einführung des fraglichen Art. 3a notwendig                             wurden Personen mit Schweizer Bürgerrecht
gewesen war. Tatsächlich ist Einkaufstourismus                          oder Aufenthaltsbewilligung auch aus anderen
erst am 17. April 2020 erstmals verboten wor-                           Gründen, als wegen Einkaufstourismus Ord-
den. Nur am Rande sei vermerkt, dass die                                nungsbussen auferlegt. Da hierfür überhaupt
Formulierung der Medienmitteilung zumindest                             nie eine gesetzliche Grundlage bestand, ver-
merkwürdige anmutet, durch die Anpassungen                              suchte sich die EZV mit Behauptung zu
                                                                        rechtfertigen, das bestrafte Verhalten sei zwar

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nicht ausdrücklich verboten, es sei aber «nicht                            einer Einsatzorganisation ist der sogenannte
im Sinne des Bundesrates» (vgl. srf.ch). Der                               After-Action-Review. Da sitzt man zusammen
fragliche Medienbericht vom Schweizer Radio                                und sagt, was hat gut funktioniert und was hat
und Fernsehen stammt vom 8. Mai 2020. Zu                                   schlecht funktioniert und ich kann ihnen ver-
diesem Zeitpunkt stand die Verordnung vom                                  sichern, da werden auch solche Fragen mit hi-
30. April 2020 in Kraft. An den einschlägigen                              neinkommen.
Art. 3 und 3a hatte sich seit dem 17. April nichts
                                                                           Zweitens, nein, das war in der Anfangssituati-
Relevantes geändert. Insofern drückte sich am
                                                                           on notwendig. Sie erinnern sich, dass Herr
8. Mai 2020 der Sinn des Bundesrates klar in
                                                                           Bundesrat Berset immer gesagt hat, wir sind in
seiner Verordnung aus und zwar dahingehend,
                                                                           einem Prozess drin. In der Anfangssituation
dass Personen, die über das Schweizer Bürger-
                                                                           war die Situation an den Grenzen sehr unüber-
recht oder eine Aufenthaltsbewilligung (u. a.)
                                                                           sichtlich, es war ein belastetes System, man
verfügen, nicht gebüsst werden durften, sofern
                                                                           wusste noch nicht genau, wie sieht das Risiko
sie die Grenze nicht im Rahmen einer «aus-
                                                                           aus. Jetzt hat sich das System eingespielt und
schliesslich dem Einkaufstourismus» dienenden
                                                                           aus dem Grund hat man dann natürlich auch
Reise überquerten.
                                                                           die Praxis entsprechend angepasst. Und ganz
                                                                           konkret auf ihre Frage: nein, dort werden keine
Zu diesen Bussen, die Personen mit Schweizer
                                                                           Bussen verhängt. Man hat ja auch die Rechts-
Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung
                                                                           grundlage geändert. Die ursprüngliche Grund-
ohne Rechtsgrundlage auferlegt wurden, muss-
                                                                           lage, das war ein relativ allgemein gehaltener
te auch der oberste Schweizer Zöllner, Dr.
                                                                           Artikel, Art. 127 des Zollgesetzes. Inzwischen
Christian Bock Stellung nehmen. Am Point de
                                                                           hat man ein Ordnungsbussentatbestand erhoben
Presse vom 11. Mai 2020 wurde ihm folgende
                                                                           und dem auch Rechnung getragen. Wenn sie ein
Frage gestellt (vgl. youtube.ch):
                                                                           einfaches Beispiel möchten, es ist wie im
                                                                           Strassenverkehrsrecht. Im Strassenverkehrs-
    «Ich habe zwei Fragen an Herr Bock zu der
                                                                           recht haben sie allgemeine Bussenartikel und
    Praxis am Zoll der Bussen generell. Es war so,
                                                                           sie haben zu einer Vereinfachung des Verfahrens
    dass in den ersten Wochen zumindest nach der
                                                                           dann einen Ordnungsbussentatbestand. Bis sie
    Grenzschliessung, Menschen mit Schweizer Pass
                                                                           aber zu einem Ordnungsbussentatbestand
    oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz
                                                                           kommen, brauchen sie eine gewisse kasuistische,
    Bussen verhängt erhielten. Diese Bussen wurden
                                                                           eine Fallerfahrung und die haben wir jetzt
    von Rechtsgelehrten als unzulässig beurteilt,
                                                                           entsprechend bekommen.»
    also es fehlt die rechtliche Grundlage dazu. Wie
    kam es zu dieser Praxis und wie ist es heute,                     Daraus ergeben sich primär zwei Fragen.
    erhalten Menschen die Ausflüge machen ins                         Nämlich (1), ob Art. 127 Zollgesetz (ZG) für den
    Ausland eine Busse, auch wenn sie nicht einge-                    Zeitraum vor der Einführung des Verbots des
    kauft haben?»                                                     Einkaufstourismus in der Verordnung als ge-
                                                                      setzliche Grundlage herangezogen werden kann
Die Antwort von Herrn Bock lautet wie folgt:
                                                                      und, (2) ob die Analogie zu Art. 90 SVG korrekt
                                                                      ist.
    «Also das erste: Sie sagen es richtig, es wird von
    Rechtsgelehrten als unzulässig erachtetet. Ich
                                                                      V.    Bussen für Einkaufstourismus gestützt
    darf das als Jurist sagen: Zwei Juristen, drei
                                                                            auf das Zollgesetz?
    Meinungen. Das wird man nachher sehen, ob
                                                                      Innerhalb von Art. 127 ZG kommen – mit fest
    das einer gerichtlichen Überprüfung standhält.
                                                                      zusammengekniffenen Augen – höchstens die
    Auch wir werden selbstverständlich unsere
                                                                      Absätze 1 und 2 in Frage. Sie lesen sich, unter
    Praxis kritisch überlegen. Sehen sie, wir sind
                                                                      der Marginalie „Ordnungswidrigkeiten“, wie
    eine Einsatzorganisation und etwas Schönes in
                                                                      folgt:

ContraLegem | 2021 /2 | G
                         ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70                                                   67
M

    1
     Sofern nicht der Tatbestand einer Zollwi-                        Ohne dass auf einen Tatbestand in einer ande-
    derhandlung erfüllt ist, wird mit Busse bis                       ren Norm verwiesen wird, die den abstrakten
    zu 5000 Franken bestraft, wer vorsätzlich                         Tatbestand der Blankettstrafnorm konkretisiert
    oder grobfahrlässig verstösst:                                    und damit genügen präzise umschreibt, dass
                                                                      eine Befolgung – und entsprechend im umge-
        a. gegen eine Vorschrift der Zollgesetzge-
                                                                      kehrten Fall auch der Vorwurf der Nicht-Befol-
        bung, eines völkerrechtlichen Vertrags
                                                                      gung – überhaupt erst möglich werden, besteht
        oder gegen eine ihrer Ausführungsbestim-
                                                                      für einen Vorwurf der Nicht-Befolgung schlicht
        mungen, soweit ein Erlass die Übertretung
                                                                      keine gesetzliche Grundlage. Wollte man das
        dieser Vorschrift für straf bar erklärt;
                                                                      anders sehen, so wäre das etwa so, als würde
        oder
                                                                      man auf der Strafandrohung nach Art. 292
        b. gegen eine unter Hinweis auf die                           StGB beharren, wäre aber nicht in der Lage, die
        Strafdrohung dieses Artikels an ihn ge-                       Verfügung anzugeben, die das relevante Ver-
        richtete Verfügung.                                           halten umschreibt.
    2
     Widerhandlungen gegen mündliche Anord-
                                                                      Analog und deutlicher gesprochen: Würde eine
    nungen des Personals der EZV oder gegen
                                                                      Behörde Menschen mit Bussen bestrafen, weil
    Anordnungen, die durch Signale oder Tafeln
                                                                      sie einen auf einer Stange aufgehängten Hut
    getroffen werden, werden mit Busse bis zu
                                                                      nicht grüssten – worauf die Behörde mit ent-
    2000 Franken bestraft. Für die Anordnung
                                                                      sprechenden Plakaten hinweisen würde - ,
    ist kein Hinweis auf die Strafdrohung dieses
                                                                      könnte sich die Behörde nicht mit einem Verweis
    Artikels erforderlich.
                                                                      auf Art. 292 StGB rechtfertigen. Art. 292 StGB
Art. 127 ZG ist eine Blankettstrafnorm, also                          ist nur anwendbar, wenn die Behörde von
eine Strafnorm, die zwar eine Strafe androht,                         vornherein die Kompetenz hat, per Verfügung
aber für die (konkrete) Umschreibung der                              allfälligen Passanten eine Hutgrüsspflicht
Tathandlung auf eine andere Norm verweist.                            aufzuerlegen. Hat sie das nicht, nützt ein
Eine Blankettstrafnorm enthält typischer-                             Verweis auf Art. 292 StGB nichts. Analog – und
weise zwar durchaus einen Tatbestand, aller-                          damit analog falsch – ist aber die Argumenta-
dings in stark abstrakter Form. So auch bei Art.                      tion der EZV mit Art. 127 ZG.
127 Abs. 1 lit. b ZG wo, ganz ähnlich wie bei
Art. 292 StGB, der Tatbestand mit dem Verstoss                        Lässt man diese Einwände fürs Erste beiseite
gegen eine an den Täter gerichtete Verfügung                          und schaut sich die Referenzpunkte, die Art.
umschrieben wird. Einen konkreteren, und                              127 ZG erwähnt, an, verbessert sich das Bild
damit überhaupt erst befolgbaren Tatbestand                           allerdings nicht:
liefert eine Blankettstrafnorm in der Regel mit
dem Verweis auf eine andere Norm.                                      Art. 127 Abs. 1 lit. a ZG verweist auf die Zoll-
                                                                      gesetzgebung, die völkerrechtlichen Verträge
Damit wird aber der Verweis auf Art. 127 ZG                           sowie die dazugehörigen Ausführungsvor-
von vornherein suspekt, denn damit dieser                             schriften. Art. 127 Abs. 1 lit. b ZG verweist
Verweis irgendetwas leisten kann, muss zu-                            dagegen auf Verfügungen und Art. 127 Abs. 2
gleich eine andere Norm genannt werden.                               ZG schliesslich verweist auf mündliche An-
Blankettstrafnormen können alleine schliess-                          ordnungen oder auf Signale oder Tafeln.
lich gar keine Straf barkeit begründen. Wenn
also die EZV als gesetzliche Grundlage für                            Ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Ausreise
Bussen wegen Einkaufstourismus eine Blankett-                         zum Zwecke des Einkaufstourismus untersagen
strafnorm angibt (Art. 127 ZG), weiss man schon                       würde, existiert nicht. Am ehesten kommen
alleine deshalb, dass damit nur die Hälfte der                        noch die folgenden völkerrechtlichen Verträge
gesetzlichen Grundlage angegeben worden ist.                          in Frage: (1) das Abkommen vom 21. Juni 19992

ContraLegem | 2021 /2 | G
                         ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70                                                68
M

zwischen der Schweizerischen Eidgenossen-                              Anwendung, wenn (1) eine Übertretung nach
schaft einerseits und der Europäischen Gemein-                         einem Gesetz oder einer Verordnung begangen
schaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits                          wird, die von Art. 1 OBG aufgelistet werden,
über die Freizügigkeit und (2) die Verordnung                          und (2) der Übertretungstatbestand nach Art.
(EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments                              1 Abs. 2 OBG in einer der in Art. 15 OBG ge-
und des Rates vom 9. März 2016 über einen                              nannten Listen aufgeführt ist, sowie (3) keine
Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der                           der Ausnahmen der Art. 4 OBG oder 1 Abs. 3
Grenzen durch Personen (Schengener Grenz-                              OBG vorliegt. Sind diese Voraussetzungen ge-
kodex). Beide aber zielen viel eher auf einen                          geben, wird das vereinfachte Ordnungsbussen-
möglichst ungehinderten Grenzverkehr. Man                              verfahren nach OBG angewandt. Dabei handelt
wird also kaum Glück haben, wenn man da eine                           es sich um Strafrecht, weswegen auch die
gesetzliche Grundlage für das Verbot von                               strafrechtlichen Grundsätze gelten, mit der
Einkaufstourismus mit zugehöriger Ordnungs-                            einzigen Ausnahme, dass aufgrund von Art. 1
busse sucht.                                                           Abs. 5 OBG Vorleben und persönliche Verhält-
                                                                       nisse der beschuldigten Person nicht berück-
Auch die Zollgesetzgebung, also das ZG, enthält                        sichtigt werden.
keine Bestimmung, die es der EZV erlauben
würde, Ausreisen für bestimmte Aktivitäten
                                                                       Ein Beispiel wäre etwa das Fahren mit einem
zu untersagen. Daher erübrigt sich auch die
                                                                       Motorrad auf einem Trottoir, was laut Ziffer
Suche nach Ausführungsvorschriften. Damit
                                                                       301 der Bussenliste 1 in Anhang 1 der OBV mit
ist Art. 127 Abs. 1 lit. a ZG nicht anwendbar
                                                                       einer Ordnungsbusse von 100 CHF bestraft
und auch die Verfügungen aus Abs. 1 lit. b und
                                                                       wird. Dieser Ordnungsbussentatbestand legt
die Anordnungen, ob mündlich oder per Tafeln,
                                                                       die Ordnungsbusse für die Missachtung von
fallen weg. Denn auch für Verfügungen und
                                                                       Art. 43 Abs. 2 SVG fest. Und hier liegt auch der
Anordnungen von Seiten der Behörden, wäre
                                                                       kleine, aber feine Unterschied zum gewagten
wiederum eine gesetzliche Grundlage not-
                                                                       zollbehördlichen Analogieschluss zwischen
wendig.
                                                                       Ordnungsbussen im Strassenverkehr und den
                                                                       Einkaufstourismus-Ordnungsbussen an der
Als Abgrenzungsbeispiel und zur Illustration,
                                                                       Grenze: Das Fahren mit einem Motorrad auf
wofür Art. 127 ZG zulässigerweise vorgesehen
                                                                       einem Trottoir ist erstens ohne OBG bereits
wäre, mag folgende Überlegung genügen: Die
                                                                       verboten (Art. 43 Abs. 2 SVG) und zweitens auch
Zollbehörden dürfen gestützt auf Art. 101 ZG
                                                                       ohne OBG bereits mit Strafe bedroht (Art. 90
Personen anlässlich des Grenzübertritts an-
                                                                       Abs. 1 SVG). Das OBG und die OBV verändern
halten. Gestützt auf diese Norm dürfen sie
                                                                       diesbezüglich nur, dass der Bussenbetrag
anordnen, dass die betreffende Person ihr
                                                                       festgelegt ist und im vereinfachten Ordnungs-
Fahrzeug anhält, abstellt, aussteigt und sich
                                                                       bussenverfahren ausgesprochen wird, statt in
im Hinblick auf zollbehördliche Abklärungen
                                                                       einem ordentlichen Strafverfahren.
in die Räumlichkeiten der Zollbehörde begibt.
Weigert sich eine angehaltene Person solchen
                                                                       Ganz anders hingegen die Ordnungsbussen für
Anordnungen Folge zu leisten, kommt eine
                                                                       Einkaufstourismus, für die vor dem 17. April
Bestrafung nach Art. 127 ZG in Frage.
                                                                       eben gerade keine gesetzliche Grundlage exis-
                                                                       tierte und für die daher auch nicht eine «ge-
VI. Analogie zum Strassenverkehrsgesetz
                                                                       wisse kasuistische, eine Fallerfahrung» ent-
Auch die Analogie zum Strassenverkehrsgesetz
                                                                       stehen kann. Kasuistik bedingt eine gesetzliche
überzeugt nicht. Ordnungsbussen im Strassen-
                                                                       Grundlage. Eine Behörde hingegen, die an den
verkehrsrecht sind im Anhang 1 der Ordungs-
                                                                       Landesgrenzen stationiert, anderen Menschen
bussenverordnung (OBV) geregelt. Sie kommen
                                                                       ohne gesetzliche Grundlage Geld abnimmt,
laut Ordnungsbussengesetz (OBG) dann zur

ContraLegem | 2021 /2 | G
                         ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70                                               69
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betreibt rechtlich betrachtet nicht Kasuistik,                        sprechende Bericht ist am 25. Juni 2021
sondern höchstens ungerechtfertigte Bereiche-                         publiziert worden (abruf bar unter: parlament.
rung und Wegelagerei.                                                 ch).

VII. Wie weiter?                                                      Das rechtsstaatliche Trauerspiel mit der an den
Das Bundesstrafgericht hatte sich kürzlich mit                        Grenzen der Schweiz (und der Legalität) «Ka-
der Sache zu befassen und kam zum Schluss,                            suistik» betreibenden «Einsatzorganisation»
dass den Ordnungsbussen für Einkaufstouris-                           wird hoffentlich eine Ausnahme bleiben.
mus bis zum Erlass von Art. 3a der Verordnung
jede gesetzliche Grundlage fehlte (vgl. hierzu
srf.ch).

Die zeitweilig recht intensive Berichterstattung
hat auch die Geschäftsprüfungskommission
des Ständerates (GPK-S) auf das Vorgehen der
Zollverwaltung aufmerksam werden lassen. Die
GPK-S kündigte in ihrem Jahresbericht 2020
vom 26. Januar 2021 (abruf bar unter: parla-
ment.ch, zitierte Stelle S. 78 f.) an sich «[…]
insbesondere mit den von der EZV ausgesprochenen
Bussen, der Kommunikation der EZV während der
Krise und der Zusammenarbeit der verschiedenen
Behörden sowohl bei der Vorbereitung der Um-
setzung der Beschlüsse als auch bei deren prakti-
schen Umsetzung vor Ort zu befassen». Der ent-

Vgl. auch die Videos auf unserem Youtube-Kanal:
- ContraLegem Aktuell, Nr. 1a - Strafe ohne Gesetz.

- ContraLegem Aktuell, Nr. 1b - Strafe ohne Gesetz.

ContraLegem | 2021 /2 | G
                         ötti, Strafe ohne Gesetz? | S. 6 4 - 70                                              70
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