Streiks im öffentlichen Nahverkehr: Negative Folgen für Verkehr, Umwelt und Gesundheit - ifo Institut
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Streiks im öffentlichen Nahverkehr: Negative Folgen für Verkehr, Umwelt und Gesundheit Forschungsergebnisse 31 Stefan Bauernschuster*, Anita Fichtl, Timo Hener und Helmut Rainer Streiks in der Luftfahrt und bei der Deutschen Bahn1 haben in jüngster Vergangenheit zu großem Unmut in der Bevölkerung geführt. Denn Streiks in diesen Verkehrsunternehmen der Daseinsvor sorge betreffen nicht nur die bestreikten Unternehmen selbst, sondern große Teile der Gesell schaft. In einer aktuellen Forschungsstudie2 haben wir die negativen Auswirkungen von Streiks im öffentlichen Nahverkehr für die Bevölkerung untersucht. Dafür haben wir detaillierte Daten über 77 Streiks im Nahverkehr in den fünf größten deutschen Städten – Berlin, München, Hamburg, Köln, Frankfurt – in den Jahren 2002 bis 2011 gesammelt. Die Hauptergebnisse sind: Das Verkehrs aufkommen nimmt an Streiktagen im morgendlichen Verkehr um 6% zu. Dadurch steigt das Stau volumen an, und die Pendler verbringen 11% mehr Zeit auf den Straßen auf ihrem Weg zur Arbeit. Hochgerechnet verlieren Autopendler an einem Streikmorgen in jeder Stadt 26 289 Stunden. Ver kehrsunfälle häufen sich durch das erhöhte Verkehrskommen während der morgendlichen Stoß zeiten um 20%. Umweltschäden zeigen sich unter anderem an erhöhter Feinstaubbelastung, die morgens an Streiktagen um 26% höher liegt als an normalen Tagen. Diese erhöhte Schadstoffbe lastung der Luft führt bereits kurzfristig zu Gesundheitsproblemen. Anhand von Krankenhaussta tistiken sehen wir, dass an Streiktagen häufiger Atemwegsprobleme, vor allem bei kleinen Kindern, diagnostiziert werden. Insgesamt haben Streiks im öffentlichen Nahverkehr weitreichende Folgen für die Allgemeinheit, in Form von erhöhtem Verkehrsaufkommen, mehr Unfällen, höherer Umwelt belastung bis hin zu gesundheitlichen Problemen. Die Kosten von Streiks im öffentlichen Nahver kehr für die Allgemeinheit übersteigen die Kosten der bestreikten Unternehmen allein durch die Effekte, die wir in dieser Studie messen, um ein Vielfaches. Streiks in Unternehmen der Im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsor- Daseinsvorsorge ge fanden lange Zeit nur sehr selten Streiks statt. Die großen Unternehmen der Da- Streiks sind als Mittel zur Durchsetzung ta- seinsvorsorge waren in Staatshand und rifpolitischer Interessen verfassungsrecht- beschäftigten Beamte, die in Deutschland lich geschützt. Die Koalitionsfreiheit (Art. 9 dem Streikverbot unterliegen. Seit der in Abs. 3 GG) erlaubt Arbeitskampfmaßnah- den 1990er Jahren ausgelösten Privatisie- men, um »Parität am Verhandlungstisch zu rungswelle werden jedoch auch in der Da- erreichen und damit eine funktionierende seinsvorsorge vermehrt Arbeitskampf- Tarifautonomie sicherzustellen.«3 Das Bun- maßnahmen beobachtet. Die Drittbetrof- desarbeitsgericht verlangt bei der Beurtei- fenheit in der Daseinsvorsorge kann eine lung von Streiks Verhältnismäßigkeit. 4 Grenze der Rechtmäßigkeit von Streiks Streiks müssen dem Ultima-Ratio-Prinzip sein. Wann ein Streik bei erheblicher Be- unterliegen und dürfen das Gemeinwohl troffenheit der Allgemeinheit als nicht mehr nicht offensichtlich verletzen.5 von der Koalitionsfreiheit gedeckt und als * Prof. Dr. Stefan Bauernschuster ist Inhaber des unverhältnismäßig anzusehen ist, bedarf Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre mit Schwer- punkt Wirtschaftspolitik an der Universität Passau. im Zweifelsfall der richterlichen Prüfung 1 Zum Stand 20. November 2014 hat die Gewerk- des Einzelfalls. Arbeitsrecht ist weitgehend schaft der Lokführer in diesem Jahr bereits sechs Mal gestreikt, die Vereinigung Cockpit im Luftver- Richterrecht. Die Gerichtsurteile zeigen, kehr bereits acht Mal. dass die Richter die Grenze für die Recht- 2 Der vorliegende Artikel basiert auf dem noch unveröffentlichten Arbeitspapier von Bauern- mäßigkeit von Streiks weit ziehen. Exemp schuster, Hener und Rainer (2014). Auf Anfrage larisch sei auf den bundesweiten Lokfüh- kann eine Vorabversion der Studie von den Auto- rerstreik 2007 und den Streik der Vorfeld- ren bezogen werden. 3 Grundsatzurteil, BVerfG v. 26. Juni 1991 – 1 BvR lotsen auf dem Frankfurter Flughafen 2012 779/85, zitiert nach ErfK/Linsenmaier GG Art. 9 verwiesen. Beide Streiks betrafen Reisen- Rn. 70. 4 Grundsatzurteil, BAG v. 21. April 1971 – GS 1/68. de und Pendler als unbeteiligte Dritte. Die 5 Weitere Grenzen sind die Wahrung der Friedens- Deutsche Bahn AG hat 2007 gerichtlich pflicht und die Tarifbezogenheit, nach der Arbeits- kämpfe nur zur Durchsetzung von Tarifforderun- versucht, einstweilige Verfügungen gegen gen durchgeführt werden dürfen. Politische den bundesweiten Streik der Gewerk- Streiks sind in Deutschland beispielsweise ver boten. Vgl. Grenzen der Rechtsmäßigkeit von schaft der Lokführer (GdL) zu erwirken, Streiks: ErfK/Linsenmaier GG Art. 9 Rn. 112–134. und war nicht erfolgreich. Das Landesar- ifo Schnelldienst 24/2014 – 67. Jahrgang – 22. Dezember 2014
32 Forschungsergebnisse beitsgericht Sachsen stellte bei der Prüfung Abb. 1 der Verhältnismäßigkeit ein Mindestmaß an Anzahl der eintägigen Streiks im Zeitraum 2002–2011 Versorgung durch Notdienste fest und erklär- Streiktage pro Jahr Streiktage pro Monat te den Streik für rechtmäßig.6 Das Arbeitsge- 30 20 richt Frankfurt erklärte 2012 den Streik von 25 15 200 Vorfeldlotsen am Frankfurter Flughafen 20 10 ebenfalls als rechtmäßig und verlautete in der 15 10 Urteilsbegründung: »Dieser Streik war weder 5 5 unverhältnismäßig noch hat er die Arbeits- 0 0 kampfparität verletzt.«7 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Jan. Feb. März Apr. Mai Juni Juli Aug.Sept. Okt. Nov. Dez. Streiktage pro Wochentag Streiktage pro Stadt Im Gegensatz zur richterlichen Rechtspre- 30 20 chung bringen breite Teile der Öffentlichkeit 25 15 und Politik Streiks in Unternehmen der Da- 20 15 10 seinsvorsorge weniger Verständnis entge- 10 gen. Derzeit werden verschiedene Hand- 5 5 lungsoptionen diskutiert, um das Arbeits- 0 0 kampf- und Tarifrecht durch gesetzliche Re- So. Mo. Di. Mi. Do. Fr. Sa. Berlin Frankfurt Hamburg Köln München gelungen zu normieren. Zum einen liegt ein Anmerkungen: Die Abbildungen zeigen die Anzahl an eintägigen Streiks, betrachtet nach Jahren, Monaten, Wochentagen und betroffenen Städten. politischer Vorschlag vor, die Tarifeinheit per Quelle: ifo Institut. Gesetz wiederherzustellen und damit zumin- dest Konkurrenzstreiks verschiedener Gewerkschaften im auch Streiks bei U-Bahnen, Trambahnen und Bussen. Um selben Unternehmen zu verhindern.8 Zum anderen kursieren alle Streiktage im Zeitraum von 2002 bis 2011 zu identifizie- Vorschläge, die Folgen von Tarifkonflikten vor allem im Be- ren, haben wir überregionale und regionale Tageszeitungen reich der Daseinsvorsorge durch zusätzliche Regeln zu ent- sowie Pressemitteilungen von Gewerkschaften und Nahver- schärfen. Beispielsweise werden eine verpflichtende Ankün- kehrsunternehmen systematisch ausgewertet.10 Wir konzent digungspflicht von Streiks oder obligatorische Schlichtungs- rieren uns in den Analysen auf eintägige Streiks.11 Außerdem versuche vor dem Arbeitskampf diskutiert (vgl. Rieble 2005; beziehen wir nur Streiks mit ein, die auch die morgendlichen SVR 2010; Monopolkommission 2010; Franzen et al. 2012). und abendlichen Pendelstunden von 5:00 Uhr morgens bis 20:00 Uhr abends betreffen. Insgesamt verbleiben in der Stichprobe 77 eintägige Streiks über alle fünf Städte hinweg. Streiks im öffentlichen Nahverkehr in den fünf Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Verteilung der größten deutschen Städten von 2002–2011 Streiks nach Jahren, Monaten, Wochentagen und Städten. Die Folgen von Streiks in Unternehmen der Daseinsvorsorge Die meisten eintägigen Streiks im Zeitraum von 2002 bis für die Allgemeinheit sind potenziell groß, jedoch ist die Evi- 2011 gab es in München mit 19 Streiks, gefolgt von Köln denz von derartigen negativen Folgen bestenfalls lückenhaft.9 sowie Hamburg und Frankfurt. In Berlin beobachten wir mit Diese Forschungslücke versuchen wir, mit unserer Studie zu zwölf Tagen die wenigsten Streiktage (vgl. Abb. 1, Graphik schließen. Als Grundlage für unsere Analysen zu möglichen rechts unten). Betrachtet man die Streiktage über die Jahre, negativen Auswirkungen von Streiks auf die Allgemeinheit erkennt man, dass in jedem Jahr eintägige Streiks auftreten, haben wir einen einzigartigen Datensatz zu Streiks in den wobei die meisten im Jahr 2007 liegen (vgl. Abb. 1, Graphik öffentlichen Nahverkehrsnetzen von Berlin, Frankfurt am links oben). Zudem finden eintägige Streiks in fast allen Mo- Main, Hamburg, Köln und München aufgebaut. Der öffentli- naten statt; lediglich im Juni und November wurde in unse- che Nahverkehr spielt in diesen Städten eine herausragende rem Beobachtungszeitraum nicht gestreikt (vgl. Abb. 1, Gra- Rolle in der Verkehrsinfrastruktur. Es besteht jeweils ein dich- phik rechts oben). Weiterhin zeigt sich, dass in unserem tes Netz an Bussen, Trambahnen, U- und S-Bahnen. Der Datensatz Streiks an allen Tagen von Montag bis Freitag Streikdatensatz beinhaltet sowohl Streiks bei S-Bahnen als auftreten; an Samstagen und Sonntagen wurde hingegen nicht gestreikt (vgl. Abb. 1, Graphik links unten). 6 LAG Sachsen v. 2. November 2007 – 7 SaGa 19/07, vgl. ErfK/Linsen- maier GG Art. 9 GG, Rn. 134. 7 ArbG Frankfurt/Main v. 25. März 2013 – 9 Ca 5558/12, zitiert nach 10 Dabei wurden nur Streiks aufgenommen, für die wir kongruente Informa- Beck-online news, becklink 1025629. LAG Hessen v. 5. Dezember 2013 tionen aus zwei unterschiedlichen Datenquellen gefunden haben. Insge- – AZ 9 Sa 592/13 bestätigte das Urteil der Vorinstanz. samt ist nicht auszuschließen, dass wir nicht alle relevanten Streiks in der 8 Vgl. z.B. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/gesetzentwurf-zur- Datenbank erfasst haben. Falls dem so ist, wären unsere Ergebnisse tarifeinheit-im-zweifel-fuer-die-grossen-1.2194574, zuletzt aufgerufen sogar nach unten verzerrt, wenn wir Streiktage als Nicht-Streiktage ange- am 19. November 2014. nommen haben. 9 Vgl. Exel und Riefeld (2001) und Anderson (2014). Sie untersuchen die 11 Länger dauernde Streiks könnten sich von eintägigen Streiks unter ande- Effekte von Streiks im öffentlichen Transportsystem und finden ein erhöh- rem dadurch unterscheiden, dass es zu anderen Anpassungseffekten bei tes Verkehrsaufkommen und Verspätungen, die alle Autofahrer betreffen. den Pendlern kommt. ifo Schnelldienst 24/2014 – 67. Jahrgang – 22. Dezember 2014
Forschungsergebnisse 33 Streiks im öffentlichen Nahverkehr: Abb. 2 Mögliche Auswirkungen auf die Schematische Übersicht möglicher negativer Auswirkungen von Streiks und verwendete Datenquellen Allgemeinheit Stau Opportunitäts– Wenn im öffentlichen Nahverkehr gestreikt (anonymisierte GPS- kosten Daten von TomTom- (durch Verspätungen) wird, erwarten wir, dass einige Menschen Navigationsgeräten) auf alternative Verkehrsmittel umsteigen, 77 Streiks im Verkehrs- öffentlichen Unfälle was zu einer Erhöhung des Verkehrsauf- (Nahverkehr aufkommen (Unfallstatistik der kommens und in Ballungsgebieten zu Staus (Informationen zu (stundengenaue Daten von 33 Statistischen Landesämter) Gesundheit Streiks basieren auf führen kann. Dies hat wiederum Auswirkun- Zeitungsartikeln und Verkehrszählstellen, Bundesanstalt für (Krankenhaus- Pressemitteilungen) statistiken der Straßenwesen) gen auf die Fahrtzeiten von Pendlern und Luftver- Statistischen Landesämter) möglicherweise auch auf die Anzahl der Ver- schmutzung kehrsunfälle. Mehr Verkehr sollte auch zu (stundengenaue Daten von 47 Messstationen, höherer Luftverschmutzung führen. Höhere Umweltbundesamt) Luftverschmutzung wiederum kann selbst Quelle: ifo Institut. kurzfristig gesundheitsschädigende Wirkun- gen entfalten. In Abbildung 2 sind diese möglichen negati- keiten in Kauf; wieder andere lassen ihre Fahrt komplett ven Auswirkungen von Streiks im öffentlichen Nahverkehr ausfallen. Kommt es durch Streiks zu einem höheren Ver und die jeweilige verwendete Datenquelle schematisch dar- kehrsaufkommen auf den Straßen, kann dies wiederum zu gestellt. Staus und damit zu längeren Fahrtzeiten und Verspätungen führen. In der empirischen Analyse untersuchen wir die Effekte der Streiks auf die beschriebenen Ergebnisvariablen. Dazu ver- Das Verkehrsaufkommen in Deutschland wird von der Bun- wenden wir ein generalisiertes Differenz-in-Differenzen-Mo- desanstalt für Straßenwesen (BASt) mit Hilfe automatischer dell und rechnen die Effekte von unterschiedlichen Tages- Fahrzeugzählstellen gemessen. Für unsere Analyse verwen- zeiten, Wochentagen, Kalenderwochen und Jahren her- den wir für den Zeitraum von 2002 bis 2011 stundengenaue aus. Damit werden sowohl uhrzeit- und wochentagspezi- Daten von 33 Dauerzählstellen an Bundesautobahnen, die fische Besonderheiten als auch saisonale Unterschiede wir als die wichtigsten Zubringerstraßen in den fünf unter- und langfristige Trends berücksichtigt. Darüber hinaus suchten Städten identifiziert haben. Wir konzentrieren uns rechnen wir grundsätzliche Unterschiede zwischen Städten auf die Anzahl der Pkw, die an diesen Zählstellen gemessen heraus und kontrollieren für Ferientage und für die lokale werden. In der morgendlichen Stoßzeit von 6:00–10:00 Uhr Wettersituation. Um diese Wettereffekte zu berücksichti- passieren durchschnittlich knapp 3 900 Autos pro Stunde gen, greifen wir auf tages- und stadtgenaue Daten des eine Zählstelle. Unsere Schätzungen zeigen, dass an Streik- Deutschen Wetterdienstes zu Temperatur, Windgeschwin- tagen ca. 230 Autos mehr pro Stunde gezählt werden. Das digkeit, Regenmenge, Schneefall und den Tagen seit dem entspricht einem Anstieg des morgendlichen Verkehrsvolu- letzten Regen zurück. mens von 6%. Über den ganzen Tag betrachtet, werden 4% mehr Autos registriert. Effekte von Streiks auf Verkehrsaufkommen und Erhöhter Straßenverkehr an Streiktagen führt in den Bal- Verspätungen lungsräumen zu einer geringeren Fließgeschwindigkeit und damit zu Verspätungen. Basierend auf anonymen GPS-Da- In deutschen Ballungsräumen macht sich rund ein Drittel ten von TomTom, stehen uns für das Jahr 2010 und 2011 aller Berufspendler jeden Morgen mit öffentlichen Verkehrs- tagesgenaue Werte zur Fließgeschwindigkeit des Verkehrs mitteln auf den Weg zur Arbeit.12 In absoluten Zahlen sind für das gesamte Straßennetz der fünf Städte zur Verfügung. das allein in Berlin, Hamburg und München 8 Millionen Pas- Aus den Einzeldaten wird für jede Straße die Fahrtdauer sagiere pro Tag bzw. 2,9 Milliarden Passagiere pro Jahr.13 zu verschiedenen Zeitpunkten bestimmt. Pro Stadt und Kommt es aufgrund eines Streiks zu substanziellen Beein- Tag ergibt sich daraus die durchschnittliche Abweichung trächtigungen des öffentlichen Nahverkehrssystems, steigen der Fahrtdauer von einer freien Fahrt auf derselben Strecke Berufspendler oft auf Alternativen wie das Auto oder das in Prozent. Diese Maßzahl wird von TomTom als »Conges Fahrrad um. Andere benutzen weiterhin den öffentlichen tion Index«, also »Stau-Index«, bezeichnet. Neben diesem Nahverkehr und nehmen die streikbedingten Unannehmlich Gesamtstau-Index stehen weitere spezifischere Stau-Indi- zes zur Verfügung, zum Beispiel für die morgendliche oder 12 Eigene Schätzungen mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels, Ver abendliche Rushhour. Unsere Schätzungen zeigen, dass sion 29, SOEP, 2013, doi:10.5684/soep.v29. sich die Fahrtzeiten aller Autofahrer an Streiktagen um 13 Vgl. Internetseiten der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG), des Hambur- ger Verkehrsverbund (HVV) und des Münchner Verkehrs- und Tarifver- durchschnittlich 11% in der morgendlichen Rushhour und bunds (MVV). um 4% im Tagesschnitt verlängern. ifo Schnelldienst 24/2014 – 67. Jahrgang – 22. Dezember 2014
34 Forschungsergebnisse Effekte von Streiks auf Verkehrsunfälle und bensjahre durch eine zu hohe Feinstaubbelastung verloren Unfallfolgen (vgl. Watkiss et al. 2005). Die Auswirkungen eines streikbedingt erhöhten Verkehrsauf- Um die Effekte von Streiks auf Luftverschmutzung zu mes- kommens auf Verkehrsunfälle sind theoretisch nicht eindeu- sen, verwenden wir Daten des Umweltbundesamtes (UBA).14 tig. Durch die erhöhte Zahl an Auto-, Motorrad- und Fahr- Insbesondere greifen wir auf Informationen von 47 Luftver- radfahrern sowie Fußgängern im Straßenverkehr könnte schmutzungs-Messstationen zurück. Diese liefern uns stun- auch die Anzahl an Unfällen ansteigen. Auf der anderen dengenaue Daten zur Belastung der Umgebungsluft mit Koh- Seite können die Verkehrsteilnehmer in den verstopften Stra- lenmonoxid (CO), Stickstoffmonoxid (NO), Stickstoffdioxid ßen auch nicht mehr so schnell fahren; folglich sollten zu- (NO2), Ozon (O3), Schwefeldioxid (SO2) und Feinstaub (PM10 mindest sehr schwere Unfälle mit Todesfolge zurückgehen. und PM2,5). Die Ergebnisse unseres generalisierten Diffe- Letztlich ist es also eine empirische Frage, wie sich das renz-in-Differenzen-Modells zeigen, dass das streikbedingt streikbedingt erhöhte Verkehrsaufkommen auf die Anzahl erhöhte Verkehrsaufkommen die Feinstaubbelastung an von Unfällen auswirkt. Streiktagen in den Morgenstunden um 26% ansteigen lässt. Im Tagesverlauf ist die durchschnittliche Belastung mit inha- Für unsere Untersuchung nutzen wir Registerdaten der Un- lierbaren Feinstaubpartikeln um 17% erhöht. Die Wahr- fallstatistik der Statistischen Landesämter, in der detaillierte scheinlichkeit, die erlaubten EU-Grenzwerte für Feinstaub zu Daten zu allen polizeilich erfassten Unfällen enthalten sind, übersteigen, ist an Streiktagen doppelt so hoch wie an an- wobei wir die Einzeldaten auf Tages-Stadt-Ebene aggregie- deren Tagen. Auch die Konzentration mit Stickstoffmonoxid ren. Die Ergebnisse des ökonometrischen Schätzmodells (NO) und Stickstoffdioxid (NO2) steigt deutlich zwischen 7% zeigen, dass durch das erhöhte Verkehrsaufkommen an und 15% an. Luftverschmutzung kann bereits kurzfristig ne- Streiktagen die Häufigkeit von Verkehrsunfällen um 20% im gative Auswirkungen auf die Gesundheit haben, insbeson- morgendlichen Berufsverkehr und um 8% im Tagesschnitt dere bei Menschen, die aufgrund von Vorerkrankungen oder zunimmt. Die Anzahl der bei Verkehrsunfällen Verletzten eines schwachen Immunsystems besonders anfällig sind. steigt in gleicher Höhe an. Zusätzlich ziehen wir Daten der Anhand der Krankenhausdaten sehen wir, dass an Streikta- Krankenhausstatistiken der Statistischen Landesämter her gen tatsächlich die diagnostizierten Fälle an Atemwegser- an, in denen alle Krankenhauseinweisungen mit detaillierten krankungen um 18% erhöht sind. Kinder unter fünf Jahren Angaben zu festgestellten Diagnosen tagesgenau enthalten sind davon besonders betroffen. sind. Die Schätzergebnisse weisen darauf hin, dass an Streiktagen bis zu 11% mehr Patienten mit Oberschenkel- brüchen und bis zu 25% mehr Patienten mit Unterschen- Zusammenfassung der Hauptergebnisse kelbrüchen eingewiesen werden – typische Verletzungen von Verkehrsunfällen. An einem Streiktag ... →→steigt das Verkehrsaufkommen in der morgendlichen Effekte von Streiks auf Luftverschmutzung und Stoßzeit um 6%, über den ganzen Tag betrachtet um Gesundheitsfolgen 4%, →→verlängern sich die Fahrtzeiten von Auto-Pendlern Der Straßenverkehr ist einer der größten Emittenten von durchschnittlich um 11% am Morgen, über den ganzen Schadstoffen, die über die Luft in die Atemwege von Men- Tag betrachtet um 4%, schen gelangen. In Deutschland zeichnet der Personenver- →→verlieren Pkw-Fahrer durchschnittlich 26 289 Stunden kehr auf der Straße durchschnittlich für fast die Hälfte der in jeder Stadt während der morgendlichen Rushhour, Kohlenmonoxid-Emissionen (CO) und ein Fünftel der Stick →→steigen die Anzahl an Verkehrsunfällen und die dadurch oxid-Emissionen (NOx) verantwortlich (vgl. Statistisches Bun- auftretenden Verletzungen um 20% am Morgen, über desamt 2003). In Großstädten trägt der Straßenverkehr 30% den ganzen Tag betrachtet um 8%, zur Feinstaubbelastung bei (vgl. Viana et al. 2008). Unter →→steigt die Luftverschmutzung mit Feinstaubpartikeln Feinstaub fallen alle Partikel kleiner als 10 µm (PM10). Je (PM10) um 26% am Morgen, über den ganzen Tag be- kleiner die Partikel sind, desto lungengängiger und damit trachtet um 17% und giftiger sind sie für den Menschen. Partikel kleiner als 2,5 µm →→steigen diagnostizierte Atemwegsstörungen in Kran- (PM2,5) gelten daher als besonders schädlich. Medizinische, kenhäusern um 18%, wobei vor allem Kinder unter biologische und epidemiologische Studien zeigen, dass fünf Jahren betroffen sind. Schadstoffbelastungen der Luft sogar kurzfristig zu Atem- wegserkrankungen und Herz-Kreislauf-Störungen führen 14 Nähere Informationen online verfügbar unter: http://www.umweltbundesamt.de/daten, zuletzt aufgerufen am 10. No können sowie langfristig das Krebsrisiko erhöhen. Nach vember 2014. Weitere Daten wurden freundlicherweise durch das EU-Schätzungen werden jährlich kumuliert 3,7 Millionen Le- Umweltbundesamt zur Verfügung gestellt. ifo Schnelldienst 24/2014 – 67. Jahrgang – 22. Dezember 2014
Forschungsergebnisse 35 Hochrechnung entstandener Kosten Eine Gegenüberstellung zeigt, dass allein die Schäden von Streiks im öffentlichen Nahverkehr für die Allgemeinheit, die Durch einen Streik im öffentlichen Nahverkehr entsteht nicht durch diese Verspätungen entstehen, die Kosten der be- nur dem bestreikten Unternehmen Schaden, sondern es streikten Unternehmen um ein Vielfaches übersteigen. Die- fallen auch immense Kosten für die Allgemeinheit an. Eine se geschätzte Größenordnung stellt sicherlich eine Unter- exakte Quantifizierung der durch Streiks entstandenen grenze dar, da weder die Verspätungskosten von Kunden Schäden für die gesamte Volkswirtschaft ist kaum möglich. des öffentlichen Nahverkehrs miteinbezogen werden noch Allerdings können wir unter Hochrechnung der in unserer die Kosten von negativen Luftverschmutzungs- und Ge- Studie erlangten Ergebnisse aufschlussreiche Informationen sundheitsfolgen oder die Kosten, die indirekt beeinträchtig- darüber erhalten, in welchem Verhältnis die hier identifizier- ten Unternehmen durch Streiks entstehen. ten streikbedingten Kosten für die Stadtbevölkerung zu den Kosten der bestreikten Unternehmen stehen. Schlussbetrachtung Dem Nahverkehrsunternehmen entstehen durch einen Streik insbesondere direkte Kosten durch entgangene Fahrscheiner- Unsere Ergebnisse zeigen, dass Streiks im öffentlichen Nah- löse. Andere Kosten, wie das Erstellen eines Notfahrplans, verkehr substanzielle Schäden für die Allgemeinheit mit sich sowie eventuell geringere Betriebskosten können aus Mangel bringen. Streiks verursachen ein höheres Verkehrsaufkom- an Daten nicht näher beziffert werden. Um die direkten Kosten men auf den Straßen, welches Staus und damit längere Fahrt- durch entgangene Fahrscheinerlöse zu quantifizieren, verwen- zeiten nach sich zieht. Von diesen Effekten sind nicht nur die den wir als Berechnungsgrundlage die Jahresumsatzerlöse Verkehrsteilnehmer, die an diesem Tag dem Streik bewusst der jeweiligen Verkehrsgesellschaften in Berlin, Hamburg, ausgewichen sind, betroffen, sondern alle Verkehrsteilnehmer. München, Köln und Frankfurt am Main für das Jahr 2011 und Das erhöhte Verkehrsaufkommen führt auch zu mehr Unfällen die darin enthaltenen Einnahmen aus dem Verkauf von Bar und zu einem Anstieg der Luftverschmutzung, welche wie- tickets (Einzeltickets, Kurzstreckentickets und Tageskarten).15 derum bereits kurzfristig negative Auswirkungen auf die Ge- Unter der Annahme, dass an einem eintägigen Streiktag ein sundheit auslöst. Die Tarifpartner selbst werden diese Kosten durchschnittlicher Verkauf an Bartickets stattgefunden hätte, von Streiks für die Gesellschaft typischerweise nicht vollstän- wird als streikbedingter Einnahmeausfall 1/365 des Jahreser- dig in ihrem Entscheidungskalkül berücksichtigen. Um die löses durch Bartickets zugrunde gelegt. Der durchschnittliche Schäden für die Allgemeinheit zu begrenzen, werden daher, Verlust liegt in den fünf Städten bei 310 000 Euro pro Tag. Dies wie eingangs beschrieben, verschiedene Handlungsoptionen stellt eine Obergrenze dar, da man davon ausgehen kann, in Politik und Wissenschaft diskutiert. Die Vorschläge zielen dass ein Teil der Personen die geplante Reise trotz eines direkt oder indirekt auf gesetzliche Regelungen ab, das Tarif- Streiks durchführt, wenn ein Ersatzfahrplan angeboten wird, und Arbeitskampfrecht zu modifizieren und damit das Streik- und ein anderer Teil die Reise an einem anderen Tag nachholt. recht mehr oder minder einzuschränken. Das ist ein verfas- sungsrechtlich schwieriges Unterfangen und unter Experten Die gesellschaftlichen Kosten werden hauptsächlich durch umstritten. Bei der Beurteilung der Frage, bis zu welchem das zusätzliche Verkehrsaufkommen und die Verspätungen Ausmaß eine Einschränkung des Streikrechts verfassungs- an einem Streiktag bestimmt. Den Wert, den eine Person rechtlich zulässig ist bzw. wann ein Streik durch die Koali dieser Zeit zumisst, kann nach dem Opportunitätskosten- tionsfreiheit geschützt und verhältnismäßig ist, sollten jeden- ansatz mit dem Bruttoinlandsprodukt pro geleistete Arbeits- stunde bestimmt werden. Die durchschnittliche Fahrtzeit von falls nicht nur die Kosten der bestreikten Unternehmen, son- Autopendlern liegt bei 23 Minuten, wobei pro Stunde im dern auch die negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung Durchschnitt 635 000 Autopendler unterwegs sind. Ihre berücksichtigt werden. Mit dieser Studie leisten wir hier einen Fahrtzeiten verlängern sich an einem Streiktag um knapp konkreten Beitrag: Unsere Analysen des Umfangs negativer 11% in der morgendlichen Stoßzeit. Das entspricht Auswirkungen von Streiks im öffentlichen Nahverkehr für die 26 289 Stunden, die an einem Streiktag im morgendlichen Bevölkerung liefern eine empirisch fundierte Grundlage für Berufsverkehr durchschnittlich in jeder Stadt verloren gehen. politische und juristische Diskussionen über die Verhältnis- Unter Gewichtung der unterschiedlichen Pendlerzahlen in mäßigkeit von Streiks im öffentlichen Nahverkehr. den fünf Städten und der jeweiligen Höhe des Bruttoinlands produkts pro Stadt und Stunde16 ergibt sich daraus ein Schaden von 1,3 Millionen Euro. Literatur 15 Angaben aus den Geschäftsberichten der fünf Verkehrsgesellschaften. Anderson, M.L. (2014), »Subways, Strikes, and Slowdowns: The Impacts of 16 Eigene Berechnungen, basierend auf Daten der Statistischen Ämter des Public Transit on Traffic Congestion«, American Economic Review 104(9), Bundes und der Länder 2011, »Zahl der Erwerbstätigen«, »Bruttoinlands 2763–2796. produkt«, »Zahl der geleisteten Arbeitsstunden«, http://vgrdl.de und http://aketr.de. Das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt pro Stunde Bauernschuster, St., T. Hener und H. Rainer (2014), »When Labor Disputes liegt in Berlin bei 40,3 Euro, in Hamburg bei 56,3 Euro, in München bei Bring Cities to a Standstill: The Impact of Public Transit Strikes on Traffic, 56,4 Euro, in Köln bei 48,6 Euro und in Frankfurt bei 58,1 Euro. Accidents, Air Pollution, and Health«, mimeo. ifo Schnelldienst 24/2014 – 67. Jahrgang – 22. Dezember 2014
36 Forschungsergebnisse Exel, J. van und P. Rietveld (2001), »Public Transport Strikes and Traveller Behavior«, Transport Policy 8(4), 237–246. Franzen, M., G. Thüsing und Chr. Waldhoff (2012), »Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte in der Daseinsvorsorge«, online verfügbar unter: http://www.cfvw.org/stiftung/projektbereich-zukunft-der-arbeit/arbeitskampf/ gesetzentwurf, zuletzt aufgerufen am 19. November 2014. Monopolkommission (2010), Mehr Wettbewerb, wenig Ausnahmen – Acht zehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2008/2009, Nomos-Ver- lag, Baden-Baden. Müller-Glöge, R., U. Preis und I. Schmidt (Hrsg.) (2015), Erfurter Kommen tar zum Arbeitsrecht, 15. Auflage, C.H. Beck, München, (zit.: ErfK/Bearbei- ter Gesetz Rn.). Rieble, V. (2005), »Modernisierung des Arbeitskampfrechts zu einem Tarifver- handlungsrecht«, Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 38(2/3), 218–229. SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2010), Jahresgutachten 2010/2011: Chancen für einen stabi len Aufschwung, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2003), Energieverbrauch und Luftemissionen des Sektors Verkehr – Band 12 der Schriftenreihe Beiträge zu den Umwelt- ökonomischen Gesamtrechnungen, Wiesbaden. Viana, M., T.A.J. Kuhlbusch, X. Querol, A. Alastuey, R.M. Harrison, P.K. Hop- ke, W. Winiwarter, M. Vallius, S. Szidat, A.S.H. Prévôt, C. Hueglin, H. Bloe- men, P. Wahlin, R. Vecchi, A.I. Miranda, A. Kasper-Giebl, W. Maenhaut und R. Hitzenberger (2008), »Source Apportionment of Particulate Matter in Europe: A Review or Methods and Results«, Aerosol Science 39, 827–849. Watkiss, P., St. Pye und M. Holland (2005), CAFE CBA: Baseline Analysis 2000 to 2020, AEAT/ED51014/Baseline Issue 5. ifo Schnelldienst 24/2014 – 67. Jahrgang – 22. Dezember 2014
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