Studie in unverlässlichem Erzählen
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Studie in unverlässlichem Erzählen am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und Henry James’ The Turn of the Screw Unverlässliches Erzählen ist ein Phänomen, das bis heute Gegenstand zahlreicher Arbeiten geworden ist, jedoch trotz aller Forschung noch in relativ vagen Kategorien definiert ist. Die Kontradiktionen der verschiedenen Forschungsergebnisse resultieren aus der Vielfalt der Texte, die sich eines unverlässlichen Erzählers bedienen. Unterschiedliche Erzählertypen im Text, Wirkungsabsichten des Autors und Normensysteme der Rezipientengesellschaft verursachen eine Breite, die sich kaum in präzise allgemeingültige Merkmale fassen lässt. So ist beispielsweise eine weit verbreitete Meinung, dass unverlässliches Erzählen mit einem Ich-Erzähler 1 einhergeht, der häufig Wahnvorstellungen unterliegt und sich nach und nach im Text entlarvt, wie zum Beispiel Edgar Allan Poes Erzähler in The Tell-Tale Heart. Dass dies nicht unbedingt zutreffen muss, lässt sich an E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann festmachen, in dem es zwar einen Ich-Erzähler gibt, die Unverlässlichkeit jedoch auch seitens des Protagonisten liegt und nicht nur einzig und allein beim Erzähler, der auch keinerlei Zeichen von madness aufweist. Madness als Kriterium für unverlässliches Erzählen ist also nur bedingt anwendbar, genauso wie die Forderung nach einem Ich-Erzähler. So oder ähnlich verhält es sich mit weiteren Kriterien, die in verschiedenen Forschungsarbeiten als Maßstäbe unverlässlichen Erzählens genannt werden. Ziel ist es nun, die Funktions- und Wirkungsweisen von unverlässlichem Erzählen am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und Henry James’ The Turn of the Screw zu zeigen und daraus Schlüsse über die Universalität der analysierten Parameter für das Phänomen unverlässliches Erzählen zu ziehen. Unverlässliches Erzählen tritt besonders während bzw. ab der Epoche der Romantik auf, so dass ein Zusammenhang zu romantischen Wirkungsabsichten nahe liegend zu sein scheint. So ist letztlich auch Poe, bzw. sein Verhältnis zum teilweise durch die Erzählperspektive mysteriös erscheinenden Tod schöner Frauen 2 , stellvertretend für diese Strömung. In diesem Kontext interessiert nun vor allem die Frage, inwiefern unverlässliches Erzählen den Effekt von „lustvollem Schauern“ 3 – einem Zentralmotiv der Romantik – begünstigen kann. Ähnlich wie Poe bedienen sich auch James und Hoffmann der Möglichkeit des Übernatürlichen, worauf sie ihre Erzählung in der zu analysierenden Mehrdeutbarkeit gründen, auch wenn in ihren Texten das Übernatürliche weitgehend substanzlos bleibt und somit weder beweisbar noch widerlegbar wird. Aus diesen Überlegungen leitet sich demnach zusätzlich die Frage ab, ob es sich bei unverlässlichem Erzählen um ein graduelles Phänomen handelt, bei dem es gewisse Grauzonen gibt. Im Fokus der Analyse unverlässlichen Erzählens steht in erster Linie – und was wäre nahe liegender – der Erzähler. Schließlich bestimmt er die Perspektive, die dem Leser auf die erzählte Geschichte geboten wird, sei es als eine am Geschehen direkt beteiligte Figur oder als außen stehender Berichterstatter. Dabei sind Überschneidungen möglich, so dass sich ein zunächst außen stehender Erzähler im späteren Verlauf der Geschichte als eine mit dem Protagonisten identische Person herausstellt, wobei diese Doppelung nicht notwendigerweise überraschend sein muss. Allgemein wird die Auffassung vertreten, dass sich bestimmte Erzählerperspektiven besser für unverlässliches Erzählen eignen, bzw. stärker auf Unverlässlichkeit hinweisen als andere 4 . Dagmar Busch vertritt beispielsweise die Meinung: „Unzuverlässige Erzähler sind häufig autodiegetische Erzähler, die einen Abschnitt ihres Lebens erzählen, in den sie noch immer stark 1 Der Terminus „Erzähler“ wird hier geschlechtsneutral verwendet. 2 Vgl. Poes Essay The Philosophy of Composition, in dem er die Konzeption romantischer Schauerliteratur am Beispiel seines Gedichtes The Raven erläutert, sowie den Bezug zu seinen Werken wie Ligeia, Eleonora und Berenice. 3 Vgl. Praz, Mario. Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. dtv. 31988. Kapitel I.2 S.45-50. 4 Vgl. z.B. Lodge, David. „The Unreliable Narrator“. In: The Art of Fiction. London: Penguin. 1992. S.154. “Unreliable Narrators are invariably invented characters who are part of the stories they tell. An unreliable ‘omniscient’ narrator is almost a contradiction in terms”. 1
emotional involviert sind“ 5 . Diese Sichtweise beschreibt recht zutreffend die Situation in Henry James’ Turn of the Screw, denn hier ist es eine weibliche Erzählerin, die die Geschichte aus ihrer Perspektive – in schriftlicher Form – wiedergibt und dabei zugleich Protagonistin ihrer eigenen Erzählung ist. Und in diesem Fall handelt es sich um einen emotional an die Ereignisse gebundenen Erzähler, wahrscheinlich auch noch während der fiktiven Niederschrift, denn „versetzt sich ein Erzähler in sein früheres Erleben und gibt seine damalige Sicht wieder, wird auch die Darstellung des eigenen damaligen Bewußtseins Raum einnehmen“ 6 . So erscheint die Erzählung als eine Art Verarbeitung der Erlebnisse der Protagonistin während ihrer Zeit als Gouvernante im Hause Bly. Dass ihre Variante der Ereignisse deutlich subjektiv eingefärbt ist, lässt sich an den vielen Kommentaren, Bewertungen und Reflexionen ablesen. Häufig werden die erzählten Elemente als Gedanken und Erinnerungen der Protagonistin geschildert, die Glaubwürdigkeit scheint dabei zunächst nicht in Frage zu geraten. Zu Beginn ihrer Erzählung schildert sie überwiegend neutral und eher deskriptiv die geographischen und architektonischen Begebenheiten des Hauses Bly. Ein erstes Anzeichen für eine emotionale Befangenheit gegen ihren neuen Arbeitsort erhält der Leser jedoch durch ihren Kommentar „[I] found myself doubtful again, felt indeed sure I had made a mistake“ 7 . Hier zeigt sich schon, dass der Erzähler Entscheidungsschwierigkeiten hat, bzw. Schwierigkeiten die einmal getroffene Entscheidung – nämlich die Arbeitsstelle trotz der ungewöhnlichen Konditionen anzunehmen – zu akzeptieren. Die Gouvernante ist sich bewusst, die Stelle vor allem aus finanziellen Interessen angetreten zu haben und schon ergeben sich daraus für sie erste Bedenken. Allerdings sind diese Zweifel nicht so elementar, dass sie gleich auf Unverlässlichkeit hinweisen, eher auf einen etwas labilen Charakter, der sich zu schnell zu viele Sorgen zu machen scheint. Dieses Image des schwankenden Gefühllebens wird durch das Zusammentreffen mit den Kindern bekräftigt. Hier wirkt die Gouvernante in ihrem Auftreten und ihrer Reflexion über ihre neuen Schützlinge beinahe euphorisch, bezeichnet sie als „engelhaft“ 8 und freut sich gleich nach einem Tag darauf „sie zu formen“ 9 . Im Vergleich zu ihrer anfänglichen Befangenheit, ihren Zweifeln und Ängsten erscheint dieser Gemütswandel ein wenig zu kontrastiv, beim Leser entsteht allmählich der Eindruck einer instabilen Persönlichkeit, die auf äußere Gegebenheiten eine ungewöhnlich starke Affektioniertheit zeigt. Die sich schon am Anfang der Geschichte in der geschilderten abgemilderten Form zeigenden Schwankungen werden mit den fortschreitenden Ereignissen zunehmend stärker und so verhält es sich antiproportional mit der Glaubwürdigkeit des Erzählers. Je größer die Schwankungen werden, desto eher beginnt der Leser an der Verlässlichkeit der Gouvernante zu zweifeln. Allerdings ist die schwindende Glaubwürdigkeit nicht an eine „fortschreitende unfreiwillige Selbstentlarvung des Erzählers“ 10 gebunden, d.h. eine zunehmende Verwicklung in Widersprüche, die nach und nach die Wahrheit offen legen, sondern vielmehr an das Hineinsteigern der Protagonistin in ihre Ideenwelt, die sie konstant aufbaut. Innerhalb ihrer Erzählung verhält sich die Gouvernante stringent und weist keine Ansätze von Widersprüchen, Kennzeichen beginnenden Wahnsinns, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauchs auf, was das Belegen der Unverlässlichkeit für den Leser erschwert. Dass der Leser dennoch an einem Punkt der Geschichte an der Glaubwürdigkeit des Erzählers zu zweifeln beginnt, liegt daran, dass sich die von der Gouvernante als – wenn auch widerspruchsfrei – „wahr“ geschilderten Vorfälle nicht mit dem bestehenden Weltwissen und Normverständnis des Rezipienten vereinbaren lassen. Die Auferstehung oder Geistwerdung von Toten, die Besessenheit und Bösartigkeit zweier Kinder sowie die weiteren mysteriösen Vorfälle im Hause Bly werden vom 5 Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.43. 6 Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht“. S.41. 7 James, Henry. The Turn of the Screw. London: Penguin. 1994. S.14. 8 ebd. S.16. orginal: „angelic“. 9 ebd. S.16. original: „to form“. 10 Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.6. 2
Erzähler aus seiner subjektiven Perspektive heraus zwar als tatsächlich geschehen dargestellt und mit voller Überzeugung vorgelebt, jedoch wird kein Leser tatsächlich bereit sein, die Erlebnisse der Gouvernante im außerliterarischen Raum als wahr zu akzeptieren. Vielmehr mag darin ein übersteigertes Geltungsbedürfnis gesehen werden, hält sich die Gouvernante schließlich gar für die Retterin der Kinder. Unreliable narration wird demnach in diesem Fall vor allem durch die Kontrastierung der Erzählperspektive mit dem bestehenden gesellschaftlichen Normbild hervorgerufen. Während der Erzähler in seiner Sicht der Dinge gefangen bleibt und sich durch seine Selbstberufung noch zusätzlich und wenn auch unbewusst willentlich darauf einlässt, kann der Leser sich aus dem Bann des Erzählers lösen, distanziert bleiben und die Unverlässlichkeit des Erzählers aus einer anderen Perspektive überblicken. In Hoffmanns Der Sandmann bietet sich ein ähnliches Problem, allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein übernatürliches Phänomen, das die Bereitschaft des Leser die Geschehnisse zu glauben beinträchtig, sondern die große Unwahrscheinlichkeit, dass der Anwalt Coppelius und der Wetterglashändler Coppola ein und dieselbe Person sind. Hinzu kommt, dass in Der Sandmann das Geschehen multiperspektivisch dargestellt wird und nicht bloß von einer Rahmenhandlung umgeben ist, wie in The Turn of the Screw. Die drei Briefe, die der Erzählung als Beginn vorangestellt werden, bieten bereits unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Geschehen und zwei mögliche Erklärungen für das Sandmann-Phänomen. Während Nathanael zunächst davon überzeugt ist, Coppelius sei eben der Sandmann seiner Kindheit und weiter an die Gestalt glaubt, bietet Clara eine rationalistische Erklärung wonach Nathanael seiner Einbildung gefolgt sei, was dieser in einem weiteren Brief auch zunächst akzeptiert. Gerade in diesem Wechsel der Perspektive, die Nathanael auf das Geschehen nimmt und wiedergibt sieht Ellis ein deutliches Anzeichen von Unverlässlichkeit. Er behauptet: „In this form of narrative, we have only one source of evidence as to what really happened to Nathanael: […] a man who may suffer from paranoid delusions, […] we have reached a point at which the narrative form strongly suggests that the first letter is delusional, and the second and third explain how” 11 . Der Erzähler hält sich an diesem Punkt der Geschichte noch zurück, überlässt den Leser erst einmal sich selbst und erläutert erst später seine Absicht, die Geschichte in künstlerischer Form wiederzugeben. Außer diesem Anspruch gibt er keine Wertung des Geschehens ab. Laut Jürgen Walter wäre dies eine mögliche Form des unverlässlichen Erzählens, denn er behauptet die Erzählung „suggeriert […] einen informierten Erzähler, baut ihn auch als deutenden, wertenden Kommentator auf, um ihn aber dann gerade diese Funktion immer wieder an entscheidenden Stellen nicht erfüllen zu lassen“ 12 . Während also die Unverlässlichkeit bei Henry James gerade aus dem von Erzähler Gesagten herrührt, entsteht die Unverlässlichkeit in E.T.A. Hoffmanns Fall vor allem aus dem Nicht-Gesagten. Somit lässt sich wie schon in der Einleitung erwähnt zeigen, dass verschiedene Erzähltechniken auf unterschiedliche Weise den gleichen Effekt hervorrufen können. Es gibt keinen allein gültigen Erzählertypus, der für unverlässliches Erzählen vorzuziehen ist. Sowohl der tagebuchartige Niederschrift-Erzähler, als auch der Leser orientierte Künstler-Erzähler kreieren den Effekt von Unverlässlichkeit, wenn auch jeder auf seine Weise und unterstützt vom sie umgebenden Kontext. Unverlässlichkeit kann also auf verschiedene Weisen erreicht werden, „der Erzähler jedenfalls tut nichts dazu, dem Leser in irgendeiner Weise Eindeutigkeit zu signalisieren“ 13 . Neben diesen textimmanenten Signalen gibt es auch auf meta- und paratextueller Ebene Hinweise auf unverlässliches Erzählen. Die betrifft im Falle der beiden analysierten Texte vor allem deren Aufbau, der in sehr verschieden ist. Gemeinsam ist ihnen lediglich ihr segmentierter Grundaufbau. Im Falle von Henry James’ The Turn of the Screw ist zwar die eigentliche Erzählung 11 Ellis, John. „Clara, Nathanael and the Narrator: Interpreting Hoffmann’s ‹‹Der Sandmann››“. In: German Quaterly 54. 1981. S.5. 12 Walter, Jürgen. „Das Unheimliche als Wirkungsfunktion. Eine rezeptionsästhetische Analyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung ‹‹Der Sandmann››“. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 30. 1984. S.23. 13 Schröder, Irene. „Das innere Bild und seine Gestaltung. Die Erzählung ‹‹Der Sandmann›› als Theorie und Praxis des Erzählens“. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 9. 2001. S.26. 3
chronologisch, stringent und ohne Zeitsprünge, jedoch ist sie von einer Rahmenhandlung umgeben, die die eigentliche Geschichte noch einmal in einen speziellen Kontext einbettet. Hier erfährt der Leser etwas über den Erzählanlass und das fiktive Publikum an das die Geschichte gerichtet ist. Hier bietet sich ein erster Ansatzpunkt zur Identifikation oder Distanzierung. Rahmenhandlungen sind daher für die Frage der Verlässlichkeit des Erzählers von zentraler Bedeutung, denn sie geben Zusatzinformationen, die Rezipienten zur Bewertung des später Erzählten hinzuziehen können. In The Turn of the Screw sind diese Informationen jedoch teilweise zweideutig. Einerseits berichtet der Vermittler des fiktiven Manuskriptes, das im Weiteren die Haupthandlung trägt, von der späteren Tätigkeit der Gouvernante in seinem Haushalt und schildert sie als kompetent. Hier scheinen keine Zweifel daran zu bestehen, dass die Autorin des Manuskriptes sich für ihren Beruf eignet, auch scheint sie keine Folgen aus der später erzählten Geschichte erlitten zu haben, wie zum Beispiel nervliche Erkrankungen oder ähnliches. Die Glaubwürdigkeit der Gouvernante wird also in der Einführung nicht in Frage gestellt; der Leser mag demnach geneigt sein ihren Ausführungen zu glauben. Andererseits wird aber auch durch den Kontext der Gesellschaft, in der die Geschichten erzählt werden, schon klar, dass es sich im Folgenden um eine Geistergeschichte handeln wird. Dies wird auch schon paratextuell vom Klappentext suggeriert, in dem es heißt: „The Turn of the Screw is a subtle and unconventional ghost story“ 14 . Bereits hier gerät die noch gar nicht begonnene Erzählung mit dem Normensystem des Rezipienten in Konflikt, da das Buch als Geistergeschichte vermarktet wird. Durch diese Vorausdeutung erhält der Leser allerdings auch schon die Möglichkeit sich auf das Folgende einzustellen und somit eventuell eine bereits entschiedene Sichtweise darauf anzulegen. Die Frage die sich stellt ist, ob der Rezipient bereit ist das Vorhandensein der Geister von vorne herein zu akzeptieren und das Erzählte als „märchenhaft“ zu lesen oder ob er sich gegen eine solche Lesart stellt, dann wird er die Ausführungen der Gouvernante kritisch verfolgen und versuchen ihre Ideenwelt zu widerlegen. Einführungen in Erzählungen geben somit nicht immer eindeutige Weisungen zur Lesart des Gesagten. Vielmehr bieten sie Informationen, die der Rezipient zu seiner weiteren Lektüre nutzen kann. Auch in Hoffmanns Der Sandmann wird durch das Präsentieren der drei Briefe und die darauf folgende Passage des Erzählerkommentars eine Art Einführung in die Erzählung gegeben, die ebenfalls verschieden gesehen werden kann. Ellis kommentiert unter Bezugnahme auf Belgardt die Einleitung durch den Erzähler folgendermaßen: Belgardt attributed to it a technical function, that of involving the reader more fully in the story, establishing a close relationship between reader and story. But the trouble with this view is that the actual effect of the excurses seems to be, if anything, the reverse of that stated. For in drawing attention to the question of how to tell a story, the narrator tends to remind the reader of the fact that this is a literary text, i.e., fiction; the bizarre quality of the whole passage puts more distance, not more closeness between narrator and reader, and the narrator’s bantering tone undermines the reader’s commitment to the world of the story, breaking the illusion of its self-sufficiency. 15 Somit ist die Verlässlichkeit des Erzählers und die Bereitschaft des Rezipienten das Erzählte als glaubwürdig zu empfinden zwar nicht abhängig von den Zusatzinformationen, kann dadurch aber beeinflusst werden. Der Grad der Beeinflussung kann dabei variieren, je nachdem wie stark der Erzähler auf seine Verlässlichkeit besteht und wie sehr der Leser dem Glauben schenken will. So proklamieren beide Erzählungen durch ihre Einleitungen einen Authentizitätsanspruch, indem sie als „gefundene“ oder „erhaltene“ Aufzeichnung bzw. Briefe vorgebracht werden. So erhebt der Erzähler der Rahmenhandlung in James’ The Turn of the Screw lediglich einen Vermittleranspruch während der Erzähler von Hoffmanns Der Sandmann eingesteht aus der gefundenen Geschichte seine eigene künstlerische Darstellung zu machen. Mit diesen Ankündigungen weisen die Erzähler auch schon den Weg zur Bewertung des Erzählten. Der Erzähler der Rahmenhandlung bei James 14 James, Henry. The Turn of the Screw. London: Penguin. 1994. 15 Ellis, John. „Clara, Nathanael and the Narrator: Interpreting Hoffmann’s ‹‹Der Sandmann››“. In: German Quaterly 54. 1981. S.2. 4
schiebt somit alle Verantwortung von sich; er addiert nichts, lässt nichts weg und ändert auch sonst nichts an der Geschichte. Unverlässlichkeiten müssen somit einzig und allein dem Erzähler der Binnenhandlung zugeschrieben werden. Unverlässlichkeiten in Hoffmanns Der Sandmann hingegen können nicht mehr nur alleine Nathanael und seinem psychischen Zustand angelastet werden, sondern auch dem künstlerischen Umgang des Erzählers mit den Ereignissen. Ebenfalls von großer Wichtigkeit ist ein weiteres paratextuelles Element, nämlich die in einer editorischen Notiz hinzugefügten Passagen, die Hoffmann vor Erscheinen des Werkes aus dem Text gestrichen hatte. Sie enthalten wichtige Informationen, die eine Deutung in eine bestimmte Richtung fördern können. So wird in der ersten gestrichenen Passage auf den Verbleib von Coppelius Bezug genommen, der nach dem Tod des Vaters noch einmal zu Nathanael zurückgekehrt und das Sandmann-Motiv der herausgerissenen Augen an der Schwester des Jungen vorführt. Eine erneute Rückkehr als Wetterglashändler Coppola würde vor diesem Hintergrund weit weniger unwahrscheinlich erscheinen. Para- und metatextuelle Elemente können also Einfluss auf die Interpretation eines Textes geben, doch allein sind sie nicht ausschlaggebend. Sie können allenfalls Tendenzen vorgeben und in die eine oder andere Richtung weisen aber tatsächlich belegbar werden die einzelnen Lesarten erst anhand textimmanenter Signale in Kombination mit para- und metatextuellen Signalen. Nachdem bisher die Bedeutung der Rahmen- bzw. Metahandlung analysiert wurde bleibt nun die Frage zu klären, inwiefern die Erzählung selbst dazu beiträgt, den Erzähler als unverlässlich darzustellen. Neben dem bereits geschilderten Konfliktpotenzial, das die Einleitungen zum Werte- und Normensystems des Lesers bieten, gibt es auch innerhalb der Texte eine Reihe von Anzeichen, die dem Leser Hinweise für das Vorhandensein von unverlässlichem Erzählen bieten. Erst durch die Untersuchung der textuellen Signale kann die Frage beantwortete werden, anhand welcher Kriterien unverlässliches Erzählen festgemacht werden kann und wie dadurch die unterschiedlichen Lesarten eines Textes zustande kommen. Unverlässliches Erzählen erlaubt naturgemäß verschiedene Lesarten, je nachdem welchen Signalen der Leser mehr oder weniger Bedeutung schenkt – was durchaus sowohl bewusst als auch unbewusst geschehen kann – sofern er sie überhaupt als Signale der Unverlässlichkeit zu identifizieren in der Lage ist. Für The Turn of the Screw ergeben sich auf diese Weise gleich fünf mögliche Lesarten, abhängig davon wie die beiden Hauptinterpretationsfragen „Sind die Geister real?“ und „Sind die Kinder korrumpiert worden?“ bewertet werden: Sind die Geister real? Sind die Kinder korrumpiert worden? 1. Möglichkeit nein ja (von der Gouvernante) 2. Möglichkeit ja ja (von der Gouvernante) 3. Möglichkeit ja ja (von den Geistern) 4. Möglichkeit ja nein 5. Möglichkeit nein nein Aus den fünf verschiedenen Kombinationen und Möglichkeiten ergeben sich aber nur drei tatsächliche Lesarten, nämlich Nr. 1-3. Zu diesem Schluss kommt auch José Antonio Alvarez Amorós 16 . Wäre Möglichkeit 5 zutreffend, würde es weder Geistererscheinungen (real oder eingebildet) noch ein auffälliges Verhalten der Kinder geben und die Geschichte würde schlicht nicht existieren. Ähnlich verhielte sich auch mit Möglichkeit 4. In diesem Fall gäbe es zwar „reale Geister“, aber weder die Gouvernante noch die Kinder würden eine Reaktion darauf zeigen und ein Konfliktpotenzial würde nicht existieren. In diesem Fall würde die Geschichte höchstens satirische Züge wie in Oscar Wilde’s The Canterville Ghost annehmen, in dem sich das Übernatürliche wenig 16 “This means that there are three types of world model”; Alvarez Amorós, José. „Possible-World Semantics, Frame Text, Insert Text and Unreliable Narration. The Case of The Turn of the Screw”. In: Style. 25.2. 1991. S.44. 5
erfolgreich um seine Anerkennung als Furcht einflößende Gestalt bemüht. Die Tatsache, dass also nur die Lesarten 1-3 in Betracht kommen, den angestrebten Effekt zu erzielen, verdeutlicht die Bedeutung der zweiten Frage „Sind die Kinder korrumpiert worden?“. Nur wenn auf diese Frage die Antwort „ja“ lautet, ergibt sich eine konflikt- und spannungsgeladene Geschichte – und zwar unabhängig von der Frage nach der Echtheit der Geister. Für den Leser bleibt die Frage nach der Ursache des auffälligen Verhaltens der Kinder und um diese Ursache zu klären, müssen die textuellen Signale für die Unverlässlichkeit des Erzählers untersucht werden. Nur durch sie kann der Leser Aufschluss darüber erhalten, ob tatsächlich von der Beteiligung eines übersinnlichen Phänomens auszugehen ist, oder ob es sich doch eher um die Psychosen einer hypernervösen Gouvernante handelt, die mit ihrem Verhalten die Kinder verunsichert. Auch bei Hoffmanns Der Sandmann ergeben sich aus nur zwei zentralen Fragen gleich vier verschiedene Lesarten. Um genau zu sein, müsste man sagen, dass es sich um eine einzige zentrale Frage handelt, nämlich „Sind Coppola und Coppelius identisch?“, die sich dann allerdings – und erst das ermöglicht die unterschiedlichen Lesarten – aufspaltet in Realität und Nathanaels Phantasiewelt. Sind Coppola und Coppelius Sind Coppola und Coppelius in in der Realität identisch? Nathanaels Phantasie identisch? 1. Möglichkeit ja ja 2. Möglichkeit nein ja 3. Möglichkeit ja nein 4. Möglichkeit nein nein Wie schon bei The Turn of the Screw können auch hier zwei Lesarten ausgeschlossen werden, da sich sonst kein Konflikt ergeben würde (3 und 4). Nur wenn Nathanael die vermeintliche Identität der beiden (?) Männer erkennt, kann es zu seinem Wahnsinnsausbruch (madness) kommen, unabhängig davon, ob es sich um eine tatsächliche oder nur eine gedachte Übereinstimmung handelt. Die Antwort auf die erste Frage entscheidet nur darüber, ob Nathanael tatsächlich von Coppelius in den Wahnsinn getrieben wird (1) oder ob er aus sich heraus verrückt wird, ohne dass Coppelius ihm je wieder begegnet ist und der Wetterglashändler in irgendeiner Weise mit ihm in Verbindung steht. Wie kann es sein, dass sich dem Leser nun zwei verschiedene Erklärungen für Nathanaels Verhalten bieten, obwohl die Frage ob zwei Männer identisch sind und sein können eigentlich leicht zu beantworten sein müsste? Im Nachwort heißt es: „Der Autor selbst trägt offenbar wenig dazu bei, Handlungen und Figuren festzulegen [… Der Leser] wird weit besser über ihre subjektive Einschätzung der Lage und ihre Beziehungen zueinander als über die tatsächlichen Vorgänge informiert“ 17 An dieser Stelle der Analyse, wo nicht ohne weiteres entschieden werden kann, welche Deutung die naheliegendste ist oder ob es sich sogar um eine totale Lesarten-Ambiguität handelt, bei der keine Lesart mehr als die andere begründet ist, treten nun die textimmanenten Mittel unverlässlichen Erzählens in Kraft. Handelt es sich dabei um sehr ähnliche oder sogar gleiche Mittel, so könnten diese möglicherweise als universell gültig angesehen werden, da James’ The Turn of the Screw und Hoffmanns Der Sandmann von einander sehr verschieden sind. Würden sich die Kriterien auf beide Texte in gleicher Weise anwenden lassen, so würde dies beispielsweise dafür sprechen, dass sie wohl auf einen Text mit einem Erzähler der Betrachter- und Gegenfigur in sich vereint (Gouvernante), wie auch auf einen Text in dem Betrachterfigur (Erzähler) und Gegenfigur (Nathanael) getrennt von einander sind, anwendbar sind. Um dies zu beantworten ist eine genauere Untersuchung der in beiden Texten angewendeten Mittel zum Erreichen unverlässlichen Erzählens notwendig. 17 Nachwort in: Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus. Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2005. S.66. 6
In der Forschung gibt es eine breite Auswahl von Texten, die mögliche Charakteristika unverlässlichen Erzählens aufführen. Manche behandeln dabei eher allgemeinere Kriterien, andere gehen mehr ins Detail. Eine Auswahl von Signalen, die als Indikatoren für unverlässliches Erzählen gelten können, bietet neben vielen anderen auch Ansgar Nünning, auch wenn seine Auswahl meiner Meinung nach in manchen Punkten Anlass zur Kritik gibt. Bevor eine Analyse der Signale durchgeführt wird gibt die folgende Tabelle 18 anhand der von Nünning genannten Kriterien eine Auflistung über die tatsächlich gefundenen Signale in The Turn of the Screw und Der Sandmann 19 : Signal Der Sandmann The Turn of the Screw explizite Widersprüche des ─ 9 „that her description of the Erzählers masculine ghost at a time when she knows nothing of the valet should be identifiable as the valet by the housekeeper” 20 verbale Äußerungen und 9 Erklärung der Sand- 9 alle anderen beteiligten Körpersprache anderer manngeschichte durch die Figuren bestreiten die Geister; Figuren als Korrektiv Mutter; Claras Erklärungen z.B. Flora: ‘I see nobody. I see nothing. I never have.’ (101) multiperspektivische Auf- 9 Wechsel von Nathanaels zu 9 Rahmenhandlung mit fächerung des Geschehens Claras Sicht und zur eigenem Erzähler um die Darstellung der Geschehnisse eigentliche Erzählung der durch den Erzähler Gouvernante Häufung von sprecher- 9 9 zentrierten Äußerungen Häufung von Leseranreden 9 z.B.: „günstiger Leser“, ─ und bewußten Versuchen der „geneigter Leser“; „weil ich dich, Rezeptionslenkung o mein Leser! gleich geneigt machen musste, Wunderliches zu ertragen“ (S.19) syntaktische Zeichen für einen 9 Gedankenstriche, Ausrufe, 9 z.B.: ‘You don’t see her hohen Grad an emotionaler Wiederholungen z.B.„Hui-hui- exactly as we see?–you mean to Involviertheit (z.B. Ausrufe, hui!-Feuerkreis-Feuerkreis! say you don’t now - now? She’s Ellipsen, Wiederholungen) Dreh dich Feuerkreis-lustig- as big as a blazing fire. Only look dearest woman, look-!’ (S.100) lustig!“ (S.38) explizite, autoreferentielle, 9 Erzähleranspruch „manche ─ metanarrative Thematisierung Gestalt, wie ein guter der eigenen Glaubwürdigkeit Portraitmaler, so aufzufassen, dass du es ähnlich findest ohne das Original zu kennen“ (S.19) eingestandene Unglaub- 9 Erzähler gesteht 9 z.B. “Of what first würdigkeit, Erinnerungs- Schwierigkeiten den obigen happened when I was left lücken und Hinweise auf Anspruch auch tatsächlich alone I had no subsequent kognitive Einschränkungen erfüllen zu können (S.19) memory” (S.101) eingestandene oder situativ 9 Erzähler bezeichnet 9 Gouvernante ist sich ihrer bedingte Parteilichkeit Nathanael als seinen„Freund“ Hingezogenheit zu den (S.17) Kindern bewusst paratextuelle Signale 9 zusätzliche Passagen in der 9 Klappentext (s.o.) editorischen Notiz 18 erstellt (gekürzt) nach: Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv- narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. S.27f. 19 Alle Zitate beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgaben. 20 Wilson, Edmund. „The Ambiguity of Henry James“: In: The Triple Thinkers: Twelve Essays on Literary Subjects. London. 1952. S.104. 7
Die Tabelle zeigt, dass sowohl Der Sandmann als auch The Turn of the Screw ein fast komplettes Set von Mitteln zur Darstellung von unverlässlichem Erzählen aufweisen. Die wenigen Kriterien, die nicht erfüllt sind, lassen sich teilweise recht einfach erklären. So wurde im Fall von Hoffmanns Der Sandmann die Reclamausgabe zu Grunde gelegt, die sich häufig eines Text-Zitates als Klappentext bedient, so dass hier nicht unbedingt die Ankündigung einer Geistergeschichte wie bei der Penguin Ausgabe von The Turn of the Screw zu erwarteten war. Solche paratextuelle Kriterien können von Ausgabe zu Ausgabe differieren und sind somit vielleicht nur bedingt geeignet zuverlässige Auskunft über den zu erwartenden Gehalt von Unverlässlichkeit zu geben. Ebenfalls problematisch erscheint mir das Kriterium „Häufung von Leseranreden und bewußten Versuchen der Rezeptionslenkung“. Es lässt sich zwar mühelos auf Der Sandmann anwenden: Hoffmanns Erzähler wendet sich auf Seite 18 in jedem (!) Satz direkt an seinen Leser; Bei The Turn of the Screw versagt dieses Kriterium jedoch völlig. Allerdings nicht etwa, weil der Erzähler sich als eine vertrauensvolle Person erweist, die nicht versucht Einfluss auf den Leser zu nehmen, sondern vielmehr weil der Text als eine selbstreflexive Niederschrift durch die Gouvernante angelegt ist. Ähnlich der Tagebuchform ist auch hier kein Adressat eingeplant, d.h. die Tatsache, dass die Rezipientenbeeinflussung fehlt, ist kein willentlicher Entschluss des Erzählers, sondern einfach eine logische Folge aus der gewählten Form. Somit ist dieses Kriterium bei der Unterschiedlichkeit der Textformen keinesfalls einfach als universell anzusehen. Wenn überhaupt, so könnte in der Rahmenhandlung nach Beeinflussungen des Lesers gesucht werde. Die Tatsache, dass schon vor Beginn der eigentlichen Erzählung der Erzähler der Rahmenhandlung berichtet, dass die Gouvernante auch nach ihrem Aufenthalt in Bly weiterhin als Gouvernante tätig geworden ist, könnte eine solche Beeinflussung sein, ist jedoch ein auf weitem Feld zu allein stehendes Argument um das ganze Kriterium für The Turn of the Screw brauchbar zu machen. Als aussagekräftige Kriterien erweisen sich vor allem diejenigen, die näher am Text und weniger abhängig von der Form sind, wie zum Beispiel „multiperspektivische Auffächerung des Geschehens“ und „verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv“, die eng miteinander verbunden sind. Je mehr Figuren und Perspektiven dem Rezipienten ihre Sicht auf die Dinge bieten und dem Erzähler in seiner Darstellungsweise widersprechen, desto eher wird der Leser anfangen zu zweifeln. Er folgt nicht länger nur den Ausführungen eines Einzelnen, sondern liest aus der Summe der Einzelmeinungen einen allgemeinen Trend ab, wie etwa die Höhe der Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Vertreter vor Nathanaels Tür um den Sandmann- Coppelius handelt, oder die Möglichkeit, dass die Geister nicht nur in der Phantasie der Gouvernante existieren. Clara, Lothar, Mrs Grose und die Kinder sind allesamt Indikatoren, die die eventuelle Inkorrektheit des Erzählten aufzeigen. Je vehementer sie sich gegen die Erzählermeinung stellen und je mehr sie mit ihrer Meinung dem Normsystem des Rezipienten entsprechen, desto höher erscheint die Unverlässlichkeit des Erzählers. Anhand der Kombination der beiden Merkmale „multiperspektivische Auffächerung des Geschehens“ und „verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv“ zeigt sich also, dass die Unverlässlichkeit stark abhängig von der Menge der gefundenen Signale und ihrer Kombination ist. Je mehr Kriterien auf einen Text bzw. seinen Erzähler anwendbar sind, desto größer wird der Leser die Unverlässlichkeit empfinden. Nünnings Kriterien erweisen sich also als mögliche Parameter zur Bestimmung des Grades von unverlässlichem Erzählen. Manche der genannten Kriterien sind dabei fast uneingeschränkt anwendbar, andere nur bedingt. Hierbei ist vor allem die Form des Textes zu beachten, die eventuell von vornherein verschiedene Kriterien ausschließt. Außerdem ist die Anzahl und Häufung der Kriterien von Bedeutung. Das Vorhandensein einiger weniger Kriterien mag noch nicht ausreichen, um einen Erzähler oder einen Text als unverlässlich zu klassifizieren, erst das Zusammentreffen und die Ballung verschiedener Kriterien verleiht einer solchen Behauptung Nachdruck 21 . Gerade dann 21 Vgl. Allrath, Gaby. „‘But why will you say that I am mad?’ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.78: „Während die Signalwirkung eines isolierten Einzelaspekts eines narrativen Textes noch keinen hinreichenden Schluß auf die mögliche unreliabilty der 8
wenn alle drei Ebenen – textimmanente, metatextuelle und paratextuelle – vom Text bedient werden, liegt der Schluss auf eine unverlässliche Erzählung besonders nahe. Betrachtet man also die von Nünning beschriebenen Merkmale nicht als festgelegte Liste, die es abzuarbeiten gilt um unverlässliches Erzählen zu analysieren, sondern als Pool möglicher Kriterien, von denen mal die eine mal die andere Kombination anwendbar ist, bietet die Tabelle einen guten Ansatzpunkt zur Detektion und Gradmessung unverlässlichen Erzählens. Dass unverlässliches Erzählen seine Blüte gerade zur Zeit der Romantik erlebte, ist nicht weiter verwunderlich, denn sein Effekt entspricht voll und ganz dem Zeitgeschmack. Sieht man die Romantik als Reaktion auf die Aufklärung, so muss auch das unverlässliche Erzählen als Reaktion auf den nüchternen Stil der Aufklärung gesehen werden. Klarheit und Eindeutigkeit wurden durch Vagheit und Mehrdeutigkeit ersetzt. Durch diese Auffächerung der Möglichkeiten bietet sich dem Leser ein breiterer Spielraum der Phantasie, die in der Aufklärung stark eingeschränkt war. Nun ist es möglich Träume, Visionen, Hoffnungen und Ängste in der Literatur darzustellen, die in der Realität keinen Platz mehr hatten. Unheimliche Phänomene wie das Wiedererscheinen des Sandmanns oder die mögliche Existenz der Geister in The Turn of the Screw widersprechen zwar den aufklärerischen Gedanken, nicht jedoch den romantischen, die gerade in der „Lust an der Angst“ 22 den größten Reiz sahen. Die Literatur wird mit ihren Geistergeschichten und Mysterien somit zum Projektionsraum für das von der Aufklärung unterdrückte Verlangen nach übersinnlichen Erscheinungen. Die Schlussfolgerung von Barbara Neymeyr – „Die Sandmann- Phobie entwickelt sich für Nathanael deshalb zu einem so bedrohlichen Ausmaß, weil sinnliche Wahrnehmung und Imagination, Realität und Phantasie in ihr untrennbar miteinander verschmolzen sind“ 23 – greift diesen Aspekt auf. Hier wird noch einmal ganz deutlich der große Gegensatz von Aufklärung („Realität“) und Romantik („Phantasie“) herausgehoben, der mit Hilfe der unverlässlichen Erzählung überbrückt werden kann. So bieten The Turn of the Screw und Der Sandmann sowohl eine realistische als auch eine phantastische Lesart, je nach Sinn des Lesers. Ein „aufgeklärter“ Leser wird versuchen bei der Gouvernante und Nathanael psychopathologische Symptome zu erkennen, während ein „romantischer“ Leser eher bereit sein wird den Visionen der Protagonisten zu glauben. Beide Lesarten und ihre Austauschbarkeit werden jedoch nur durch den unverlässlichen Erzähler, der Lesartenvariationen zulässt, ermöglicht. Auch Ricarda Schmidt ordnet Hoffmanns Werk der Romantik zu und zwar „sowohl was ihre Ästhetik wie ihre Semantik anbelangt“ 24 . Und auch wenn Schmidt zunächst die Destruktion des Individuums kritisiert, da diese zunächst scheinbar der romantischen Idee von Einheit und Harmonie des Subjekts zu widersprechen scheint, so handelt es sich gerade dabei um einen zentrales Motiv der Romantik, nämlich der „Untrennbarkeit von Lust und Leid“ 25 . Wenn Kritik am romantischen Gehalt von Hoffmanns Werk geübt werden soll, so bietet eher Clara einen möglichen Ansatzpunkt. Sie ist mit ihrer realistischen Art und ihrem „scharf sichtenden Verstand“ 26 Nathanaels Gegenbild und entspricht mit ihren Erklärungen den Gedanken der Aufklärung. Anders als Nathanael ist sie nicht aufbrausend, euphorisch gefühlsbetont, sondern wird als „kalt, gefühllos, prosaisch gescholten“ 27 . Auch fungiert sie als Gegensatz zum Sandmann-Mythos. Gerade die mythische Erzählung der Mutter, die so folgenreiche Auswirkungen auf Nathanael hat, ist ein Erzählung erlaubt, legt erst die Häufung solcher Singale eine solche Interpretation nahe, wobei sich die einzelnen Signalisierungsmöglichkeiten gegenseitig überlagern und verstärken“. 22 Titel eines Essays von Alewyn, Richard. „Die Lust an der Angst“. In: Probleme und Gestalten. Frankfurt: Insel Verlag. 1974. 23 Neymeyr, Barbara. „Narzißtische Destruktion. Zum Stellenwert von Realitätsverlust und Selbstentfremdung in E.T.A. Hoffmanns Nachtstück ‹‹Der Sandmann››“. In: Poetica 29. 1997. S.505. 24 Schmidt, Ricarda. „Narrative Strukturen romantischer Subjektivität in E.T.A. Hoffmanns ‹‹Die Elixiere des Teufels›› und ‹‹Der Sandmann››“. In: Germanisch-Romanische Monatszeitschrift 80. 1999. S.160. 25 Praz, Mario. Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. dtv. 31988. S.46. 26 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus. Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2005. S.21. 27 ebd. S.20. 9
typisch romantisches Element, das jedoch durch einen „aufklärerischen Antwortbrief“ 28 von Clara an Nathanael geleugnet und nüchtern erklärt wird. Doch auch hier kommt der unverlässliche Erzähler Hoffmanns romantischem Werk zu Hilfe. Denn einerseits kommt am Ende zwar Nathanael – als Sinnbild für die Romantik – ums Leben und Clara – als Sinnbild für die Aufklärung – wird gerettet. Aber andererseits wird Claras Schicksal nicht eindeutig geklärt, denn am Schluss des Textes heißt es nur: Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, dass Clara das ruhige häusliche Glück noch fand 29 Auch hier bleibt die Ausdrucksweise des Erzählers vage: man will etwas gesehen haben aus dem etwas zu schließen wäre. Es bleibt unklar wen der Erzähler mit „man“ bezeichnet und ob es sich dabei um eine verlässliche Quelle handelt. Außerdem leitet er seine Schlussfolgerung aus dem gehörten auch nur mit „wäre“, nicht mit „ist“ ein. Diese konjunktivische Darstellung kann keineswegs als verlässlich angesehen werden und somit ist nicht wirklich klar, was aus Clara geworden ist. Sollte das Erzählte wahr sein, so hätte Clara tatsächlich ihr Glück gefunden und der Text würde ein wenig wie der Triumph der Aufklärung klingen. Doch andererseits muss auch gesehen werden, dass es Clara zwar eventuell gelingt glücklich zu werden, nicht jedoch ihren Geliebten Nathanael vor dem Wahnsinn und seinem daraus resultierenden Tod zu retten. Die Macht der Aufklärung erscheint in diesem Licht recht eingeschränkt. Wieder einmal bleibt die Beurteilung und Wertung dem Leser selbst überlassen. Durch die Unverlässlichkeit des Erzählten werden verschiedene Varianten möglich und offen gehalten. Anhand der beiden Beispiele The Turn of the Screw und Der Sandmann kann also der hohe Stellenwerte unverlässlichen Erzählens für die Romantik gezeigt werden. Die Unverlässlichkeit eines Erzählers darf also keineswegs als Unvermögen gedeutet werden, sondern muss als eine Auffächerung der Möglichkeiten gesehen werden. Es erlaubt Variationen, Perspektivwechsel, die Existenz des Übernatürlichen und die Kombination von scheinbaren und wirklichen Gegensätzen. Die Phantasie des Lesers wird aufs höchste angeregt und aus der Vielfalt der Elemente, Motive und Stilmittel wird er diejenigen beachten, die seinem (Zeit-)Geschmack am ehesten entsprechen. Zusammenfassen lässt sich sagen, dass die durchgeführten Analysen gezeigt haben, dass nicht ein Faktor, sondern das Zusammenkommen verschiedener Signale die Glaubwürdigkeit des Erzählers bestimmt. Dominierend ist vor allem die Perspektive des Erzählers, der das Geschehen steuert und deshalb von Claus Sommerhage auch als „der heimliche Protagonist“ 30 bezeichnet wird. Aber auch eine eventuell vorhandene Metahandlung, sowie die textimmanenten Signalen sind bestimmend für die Verlässlichkeit einer Erzählung. Zusätzlich können noch paratextuelle Elemente, wie Klappentext, Vorwort, Nachwort, usw. und vor allem das Werte- und Normenverständnis des Rezipienten Einfluss auf den Zweifel an der Verlässlichkeit eines Erzählers nehmen. Auch Nünning hat das Zusammenwirken der verschiedenen Signale in seinem Essay herausgestellt, so dass sowohl für Henry James’ The Turn of the Screw als auch für E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann zusammenfassend gilt: textuelle Signale können den Rezipienten dazu veranlassen, die Glaubwürdigkeit eines Erzählers in Zweifel zu ziehen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich bestimmte Anzeichen häufen und wenn mehrere Indikatoren zusammen auftreten. Dennoch ist nochmals hervorzuheben, daß textinterne Unstimmigkeiten […] allein nicht ausreichen, 28 Sommerhage, Claus. „Hoffmanns Erzähler. Über Poetik und Psychologie in E.T.A. Hoffmanns Nachtstück ‹‹Der Sandmann››“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106. 1087. S.515. 29 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus. Der Sandmann. S.42 30 Sommerhage, Claus. „Hoffmanns Erzähler“ S.513. 10
um die Frage zu klären, ob bzw. in welchem Maße die Glaubwürdigkeit einer Erzählinstanz zweifelhaft erscheint […] letztlich hängt es vom Rezipienten ab, in welcher Weise textinterne Widersprüche oder Unstimmigkeiten im Rezeptionsprozeß aufgelöst werden. 31 Um den Effekt von unverlässlichem Erzählen zu erzeugen, müssen also verschiedene Kriterien auf unterschiedlichen Ebenen zur gleichen Zeit erfüllt sein. Sowohl innerhalb des Textes als auch außerhalb des Textes muss es Konfliktpotenzial und Widersprüche geben, die sich schließlich zu Unglauben und Zweifeln beim Leser formieren. Erst durch die gleichzeitige Aktivierung dieser unterschiedlichen Aspekte erscheint ein Text oder sein Erzähler als unverlässlich, was als universales Prinzip angesehen kann. Die einzelnen Kriterien (zum Beispiel nach Nünning), die dann schließlich innerhalb des Textes, wie hier am Beispiel von James’ The Turn of the Screw und Hoffmanns Der Sandmann gezeigt, vom Leser ausgemacht werden, können als Parameter angesehen werden, die mal mehr und mal weniger für einen Text gültig sind, abhängig von seiner Konzeption und Umsetzung. Generell gilt: Auf je mehr unterschiedliche Texte sie sich anwenden lassen, desto allgemeingültiger sind sie. Dennoch gibt es kein Kriterium, das universell gültig ist. Unverlässliches Erzählen gewinnt demnach seine Vielfältigkeit aus der Vielfältigkeit seiner Merkmale und ihrer Kombinationen. Damit wäre auch die eingangs gestellt Frage nach der Gradualität der Parameter geklärt und mit Rimmon-Kenan wie folgt zu beantworten: „There can, of course, be different degrees of unreliabilty“ 32 . Vom Grad der Unverlässlichkeit lässt sich häufig auch die Variationsbreite der Lesarten ablesen. Zwar kann man nicht einfach behaupten: „Je höher der Grad an Unverlässlichkeit, desto höher die Anzahl der Lesarten“, aber in leicht modifizierter Weise lässt sich doch sagen: „Je höher der Grad an Unverlässlichkeit, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass eine hohe Anzahl von verschiedenen Lesarten möglich ist“. Allerdings spielen neben der Unverlässlichkeit des Erzählten noch weitere Faktoren, wie zum Beispiel die Autorintention hinein, so dass der Zusammenhang von unverlässlichem Erzählen und Lesartenreichtum nicht unbedingt eindeutig bestimmbar ist. Jedoch sind die beiden Aspekte aufgrund der sich bietenden Möglichkeiten eng miteinander verbunden. Gerade wegen der großen Spielräume, die unverlässliches Erzählen bietet, entspricht es dem Zeitgeschmack der Romantik. Die unterschiedlichen Lesarten, das Anregen der Phantasie und die typischen Elemente wie mystery, Schauer und Euphorie werden durch dieses Erzähltechnik bedient und entsprechen somit dem romantischen Zeitgeschmack in einem hohen Grad. Abschließend kann man sagen, dass beide Werke, The Turn of the Screw und Der Sandmann, sich zwar unterschiedlicher Parameter bedienen und ihrem Aufbau verschieden sind, jedoch letzten Endes den gleichen Effekt – „die Entdeckung des Grauens als Quelle von Lust und Schönheit“ 33 – im Leser erzielen und somit typische Werke des unverlässlichen Erzählens während der Romantik darstellen. 31 Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. S.28f. 32 Rimmon-Kenan, Slomith. Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London, New York: Methuen. 1983. S.100. 33 Praz, Mario. Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik. dtv. 31988. S.45. 11
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