DAS MODIANO PROJEKT Modiano und die drei Funktionen des Namens nach Barthes Modiano und die Geburt der Stimme aus dem schwachen Charakter nach ...

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Christina Pawlowitsch

                           DAS MODIANO PROJEKT

Modiano und die drei Funktionen des Namens (nach Barthes)            2
Modiano und die Geburt der Stimme aus dem schwachen Charakter (nach Lukács)   19
Zaubertinte (Modiano nach Propp)         27

Bibliographie       51
Christina Pawlowitsch

                        Modiano und die drei Funktionen des Namens
                                      (nach Barthes)

Patrick Modiano, Villa Triste,
Gallimard, 1975

Patrick Modiano, Rue des Boutiques Obscures,
Gallimard, 1978

Patrick Modiano, Dora Bruder,
Gallimard, 1997

Patrick Modiano, Accident nocturne,
Gallimard, 2003

Patrick Modiano, L’herbe des nuits,
Gallimard, 2012

                                                               I.

Die gesamte Suche nach der Verlorenen Zeit kommt – poetisch gesehen – aus den Namen, sagt
Roland Barthes über Prousts Romanzyklus.1

Barthes setzt als anerkannt voraus, dass Die Suche die Geschichte der Komposition eines Romans
ist. »In drei Akten«, wie er präzisiert: Akt 1, der junge Erzähler erkennt in sich den Wunsch zu
schreiben. Akt 2 – der Hauptteil dessen, was als die verlorene Zeit bezeichnet werden kann –
handelt von der Unfähigkeit zu schreiben. Akt 3, als der Held das Vorhaben zu schreiben schon
aufgegeben hat, und sich so desillusioniert auf die Matinée der Herzogin Guermantes begibt,
findet er am tiefsten Punkt des Rückzugs, »durch eine wahrhaft dramatische Umkehrung«, wie
Barthes sagt, die Fähigkeit zu schreiben (le pouvoir d’écrire) – jener Teil des Romans, den Proust
die Die Wiedergefundene Zeit nennt.2

Die Fähigkeit zu schreiben, so analysiert Barthes, eröffnet sich dem Helden durch eine
Bewegung, die sich ebenso in drei Momenten vollzieht. Der erste Moment, in Barthes Zerlegung,
zerfällt wiederum in drei Momente – drei Episoden des Aufblitzens der Erinnerungen (trois
1 Roland Barthes: Proust et les noms, in: Le degré zéro de l’écriture suivi de Nouveau essais critiques, Éditions du Seuil, Paris
1972 [im Lauftext beziehen sich Barthes Zitate, wenn nicht anders vermerkt, auf diesen Text, nach dieser Fassung, in
eigener Übersetzung, mit Seitenzahl in Klammern], hier 124. Der Text erschien zuerst in: To Honor Roman Jakobson,
Essays on the Occasion of his Seventieth Birthday, De Gruyter Mouton, Den Haag, 1967.
2 Mit dieser Lesart schließt sich Barthes einigen der heute zu Klassikern gewordenen, zur Zeit des Entstehens des

Textes aber durchaus neueren Auseinandersetzung mit Proust an; insbesondere jener von Gilles Deleuze in Proust et
les signes (1964), die Barthes zitiert, aber auch jener von Jean Rousset in Forme et signification (1962), wie etwa Antoine
Compagnon in »Proust et moi«, einem kurzen Aufsatz zu Barthes’ Proust Rezeption, (in: Autobiography, Historiography,
Rhetoric. A Festschrift in Honor of F. P. Bowman, Rodopi, Amsterdam, 1994) ausführt.

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réminiscences), ausgelöst durch drei Zufälle bei der Ankunft des Erzählers im Stadtpalais der
Guermantes (ein unebener Pflasterstein im Innenhof, den sein Fuß berührt; das Geräusch eines
kleinen Löffels, der gegen einen Teller schlägt; eine Serviette, die ein Diener ihm reicht). Die
dadurch ausgelösten Erinnerungen (der Markusdom; drei Bäume aus dem Zug betrachtet, die
den letzten Anstoß dazu gegeben hatten, das Schreiben aufzugeben; Balbec, ein von Proust
erfundener Ort am Meer in der Normandie) bescheren dem Erzähler Augenblicke des Glücks,
die, so Barthes, »es nun zu verstehen gilt, wenn man sie bewahren oder zumindest nach Belieben
abrufen können möchte« (119). Der zweite Moment dieses Zur-Fähigkeit-des-Schreibens-
Kommen besteht darin, dass sich der Erzähler der Suche nun daran macht, systematisch jene
Zeichen, die er empfangen hat, zu verstehen, was ihn, in Barthes Interpretation, zugleich dazu
bringt, »die Welt und das Buch – das Buch als Welt und die Welt als Buch« zu verstehen (119).3 Ein
letztes Hindernis, so Barthes, stellt sich dem Erzähler der Suche aber noch: auf die geladenen
Gäste blickend – die er seit einiger Zeit aus den Augen verloren hatte – merkt er, dass sie alle
gealtert sind. Die Zeit, die ihm die Fähigkeit zu Schreiben gegeben hat, so fasst Barthes die
Gedanken des Erzählers zusammen, droht im gleichen Moment, sie ihm zu entreißen: »Wird er
lange genug leben, um sein Werk zu schreiben?« »Ja,« – und damit schließt sich die Bewegung –
»wenn er sich dazu entschließt, sich von der Welt zurückzuziehen; sein mondänes Leben zu
verlieren, um sein Leben als Schriftsteller zu retten« (119).

Proust hat, sagt Barthes, um Die Suche nach der Verlorenen Zeit schreiben zu können, selbst die
Phasen einer solchen Initiierung durchlaufen. Auf den Wunsch zu schreiben, im Lycée geformt,
wäre, so Barthes, »eine lange Phase, gewiss nicht der Unmöglichkeit des Schreibens, wohl aber
eines gewissen Herumtastens« (119) gefolgt. Viele der großen Einheiten dessen, was später Die
Suche nach der Verlorenen Zeit werden sollte, wie etwa die Beziehungen zwischen den Charakteren
und die Schlüsselmomente des Romans, erklärt Barthes mit Hinweis auf frühere Schriften
Prousts, wären schon lange vorhanden gewesen. Es mangelte Proust aber für lange Zeit der, in
Barthes’ Worten, »der alles begründende Akt«, der ihm schließlich erlauben würde von 1909 bis
zu seinem Tod (1922), um den Preis eines Rückzugs ähnlich jenem, den der Erzähler ankündigt,
die sieben Bände der Suche nach der Verlorenen Zeit zu schreiben. »Was also«, fragt Barthes, »ist
jener Zufall, nicht biografischer sondern schaffender Natur, der ein Werk, das zwar schon
entworfen und durchdacht, aber noch nicht geschrieben ist, zusammenfügt?«

        Was ist der neue Zement, der jenen vielen unstetigen, verstreuten Einheiten eine große,
        syntagmatische Einheit geben wird? Was ist es, das Proust erlaubt, sein Werk niederzuschreiben?
        Mit einem Wort, was ist es, das der Schriftsteller findet in Symmetrie zu den Erinnerungen, die
        der Erzähler auf der Matinée der Guermantes erkundet und ausschöpft? (120)

Es sind, sagt Barthes, die Namen – die Eigennamen der Personen und Orte.

Die drei Funktionen des Namens nach Barthes

Barthes entwickelt diese Analyse – und darauf besteht er – nicht biographisch; nicht in, wie er
sagt, »Analogie«, sondern in »Homologie« zu den Erfahrungen des Erzählers der Suche nach der
Verlorenen Zeit. Der Erzähler der Suche, erklärt Barthes, ist jemand, der schreiben wird, und somit
jemand, der in der Sphäre der Existenz und nicht in der Sphäre der Sprache verhaftet ist: »er ringt
mit der Psychologie, nicht mit einer Technik«. »Marcel Proust hingegen« – und es ist nicht

3Barthes verwendet gelegentlich große Anfangsbuchstaben, um hervorzuheben, dass ein Wort auf einen abstrakten
Begriff verweist; hier: »le Livre, le Livre comme monde et le monde comme Livre«. Da eine solche Hervorhebung im
Deutschen verschwindet, ist in der hier vorgenommenen Übersetzung das entsprechende Wort kursiv gesetzt.

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zufällig, dass Barthes an dieser Stelle den Autor der Suche bei seinem vollen Namen nennt –
»schreibt: er ringt mit den Kategorien der Sprache, und nicht mit jenen des Verhaltens« (121).

Die Erinnerung, behauptet Barthes, kann, da sie der Welt des Bezeichneten (und nicht des
Bezeichnenden) angehört, nicht direkt als gestaltende Einheit des Diskurses dienen. Was Proust
jedoch braucht, so Barthes, ist genau das: ein »wahrhaft poetisches Element« (in dem Sinn, den
Jakobson diesem Begriff gegeben hat, wie er hinzufügt), das aber, wie die Erinnerung, die Kraft
hat, »das Wesen der Bestandteile des Romans« (l’essence des objets romanesques) zu begründen.
Es gibt, so schließt Barthes sein Argument, »eine Klasse von sprachlichen Einheiten, die jene
konstitutive Kraft auf höchstem Niveau besitzt«: »Es ist jene der Eigennamen« (121).

Der Eigenname, sagt Barthes, hat genau jene drei Eigenschaften, die der Erzähler der Suche der
Erinnerung zugesteht:

    -    Die Fähigkeit der Verwesentlichung (le pouvoir d‘essentialisation), da er nur ein einziges
         Bezeichnetes hat.

    -    Die Fähigkeit zum Zitat (le pouvoir de citation), da man mit ihm die ganze Wesenheit, die
         er verkörpert, aufrufen kann.

    -    Die Fähigkeit zur Erkundung (le pouvoir d‘exploration), da man ihn ebenso »entfalten«
         kann wie eine Erinnerung.

Barthes schenkt dem letzten Punkt, der Fähigkeit zur Erkundung, besonderes Augenmerk. Der
Eigenname ist nämlich, sagt Barthes, nicht nur ein Index (das heißt, ein Pfeil, der auf ein
Bezeichnetes gerichtet ist), sondern, wie das gewöhnliche Wort, auch ein Zeichen. Und als Zeichen
will der Name dechiffriert werden; bietet sich einer Erforschung an (122).4

Der Name, erklärt Barthes, bezeichnet einerseits immer ein milieu, »in das man eintauchen und in
dessen Verheißungen man sich baden kann«. Der Name Guermantes etwa, sagt Barthes, »deckt mit
einem Schlag alles ab, was die Erinnerung, der Gebrauch und die Kultur in ihn hineinlegen
mögen«. Zugleich ist der Name, in Barthes Worten, aber auch »ein wertvolles Objekt,
komprimiert und einbalsamiert, das geöffnet werden muss, wie eine Blume« (122). Das heißt für
Barthes insbesondere – das folgt aus seinen weiteren Ausführungen – dass der Name eine
onomatopoetische Einheit ist, die aus Silben, die einen bestimmten Klang haben, besteht, und
die, oft vermittelt über ein Drittes, bestimmte Assoziationen hervorrufen kann (bei Proust sind es
oft, wie Barthes bemerkt, die Farben).

Proust hat – dieses faktische Detail muss mitgedacht werden – eine ganze Reihe der Namen in
der Suche nach der Verlorenen Zeit erfunden. »Ob es Laumes, Argencourt, Villeparisis, Combray oder
Doncières wirklich gibt oder nicht«, führt Barthes aus, »sie repräsentieren nichtsdestoweniger (und
das ist es, worauf es ankommt) was man als eine ›frankophonische Plausibilität‹ bezeichnen
könnte: was sie tatsächlich bezeichnen ist: Frankreich, oder richtiger gesagt, eine gewisse
›Französischheit‹« (127).

Der Erzähler der Suche nach der Verlorenen Zeit nimmt die Dechiffrierung der Namen praktisch auf.
Seine Assoziationen zu dem Namen Guermantes (die mehrere Seiten einnehmen) kreisen um das
Bild des Turmes eines mittelalterlichen Schlosses, das er in orange- oder gelbgetönten Lichtern

4Barthes folgt in der Anerkennung des sinnenthaltenden (signifiant) und nicht nur zeigenden (indiciel) Charakters des
Eigennamens, wie er in einer Note vermerkt (129), unter anderem Claude Lévi-Strauss’ Entwicklungen zum
Eigennamen, wie dieser sie in La Pensée sauvage (Paris, Plon, 1952, 285) unternommen hat.

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evoziert. Das tatsächliche (das heißt, in der Fiktion tatsächliche) Stadtpalais der Guermantes
erscheint ihm »lichtdurchströmt wie sein Name«. »Balbec« verbindet sich für ihn mit zwei
Bedeutungen, die ihm – und das zeigt das Geschick Prousts, die Wesentlichkeit eines Namens zu
erzeugen – aus Erzählungen in der Erzählung zugetragen werden: »Balbec« ist einerseits »ein von
Stürmen heimgesuchter Ort am Ende der Erde«; andererseits, eine Kirche im halb gotischen,
halb romanischen Stil.

Eine semantische Monstrosität

Der Eigenname bei Proust ist nach Barthes also auch Zeichen. Ein Zeichen besonderer Art aber,
denn der Proustsche Name, sagt Barthes, »kennt keinerlei selektive Beschränkung, der
syntagmatische Zusammenhang, in den der gebettet ist, ist ihm gleichgültig; er ist also, auf
bestimmte Weise, eine semantische Monstrosität« (122).

Die Entfaltung der Namen durch den Erzähler, vergisst Barthes nicht zu bemerken, verläuft in
Wirklichkeit natürlich in umgekehrter Richtung zu jener Bewegung, durch die der Schreiber diese
Namen gewählt hat: »der eine decodiert, der andere codiert, aber es handelt sich um das gleiche
System, ein auf die eine oder andere Weise begründetes System, das sich auf ein Verhältnis der
Imitation zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten stützt« (124-125). Das »semische
Spektrum des Namens«, versichert Barthes, ist dabei natürlich variabel in der Zeit, »je nach der
zeitlichen Verortung seines Lesers, der Bedeutungselemente hinzufügt und abtrennt, genauso wie
die natürliche Sprache in ihrer Diachronie« (123).

Diese doppelläufige Bewegung zwischen Autor und Erzähler, so könnte man hinzufügen, setzt
sich natürlich auf den Leser fort. Und in der Tat sagt Barthes : »Der Name ist tatsächlich
katalysierbar; 5 man kann ihn ausfüllen und verwässern, man kann die Ritzen seiner semantischen
Panzerung mit unendlich vielen Hinzufügungen glätten«:

         Gerade weil sich der Eigenname einer Katalyse von unendlichem Reichtum darbietet,
         kann man sagen, dass – poetisch gesehen – die ganze Suche aus einigen Namen kommt.
         (124)

                                                                II.

Wenn man sagen kann, dass Prousts Suche nach der Verlorenen Zeit aus den Namen herauskommt, so
kann man sagen, dass Modianos Romane auf dieses Prinzip reduziert sind; dieses Prinzip in
reiner, minimalistischer Form vorführen. Bei Modiano sind die Namen – die poetische

5 In der Einführung in die strukturelle Analyse der Erzählung bezeichnet Barthes als Katalyse jene Elemente einer
Erzählung, die der Welt des Erzählten angehören (also Handlungen oder Charaktereigenschaften der Akteure in der
Erzählung), deren Funktion aber nicht, oder nicht nur, darin besteht, die Handlung (die Abfolge dessen, was Barthes
die kardinalen Einheiten nennt) voranzubringen, sondern, die ihre Funktion vor allem darin haben, den Kontakt
zwischen dem Erzähler und dem Leser zu nähren. Erwähnenswert im gegenwärtigen Zusammenhang (Proust et les
noms erschien zuerst in einer Festschrift zu Ehren Roman Jakobsons) ist, dass Barthes diesen Begriff der Katalyse
von Jakobsons phatischer Funktion der Sprache ableitet. Siehe: Roland Barthes: Introduction à l’analyse structural des
récits, in Communications 8, Recherches sémiologiques (1966): 1-27 [Zitate im Lauftext in eigener Übersetzung nach dieser
Fassung, unter Barthes 1966, Introduction, mit Seitenzahl in Klammern]; hier 10. Siehe auch: Roman Jakobson:
Linguistics and poetics, in: Style in Language, herausgegeben von T. Sebeok, 350-377, MIT Press, Cambridge MA, 1960.

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Operation, die sich über die Namen vollzieht – der wesentliche Bestandteil des Romans
überhaupt.

Es wird manchmal gesagt, Modiano würde immer den gleichen Roman schreiben: Ein Erzähler,
der reminiszierend durch Paris geht, auf der Suche nach einer Person, oder besser im Aufspüren
der Erinnerung an eine Person.6 In der Tat, es geht bei Modiano immer um eine Rückkehr, und
das Beschreiten der Wege, die er, oder die Person, die er zu ergründen sucht, in der
Vergangenheit zurückgelegt hat, soll ihm dem Verstehen dieser Person, oder dessen, was damals
wirklich geschah, näher bringen. Es ist aber nicht immer, oder nicht nur, Paris.7 In Villa Triste ist
der Schauplatz der Rückkehr eine Stadt an einem See an der französisch-schweizerischen Grenze;
in Rue des Boutiques Obscures ist es Megève, in den französischen Alpen; in Dimanches d’août, Nizza
und ein Ort an der Marne; in Voyage de Noces, Mailand und die Côte d‘Azur.

In manchen Fällen weiß der Erzähler, dass die Person, der er nachgeht, aus dem Leben
geschieden ist: Voyages de noces, Dora Bruder, Dans le café de la jeunesse perdue. In manchen Fällen ist
dies eine Vermutung: Rue des Boutiques Obscures, Dimanches d‘août. In anderen Fällen geht der
Erzähler in der Annahme – stillschweigend oder explizit – dass die Person, deren Beweggründe
es aufzuspüren gilt, anderswo, oder unter einer anderen Identität, ihr Leben fortgesetzt hat:
Quartier perdu, L’herbe des nuits.

In manchen Fällen ist die Person, die er sucht, er selbst – er selbst unter einem anderen Namen,
in einem früheren Leben, das er aus Gründen, die ihm selbst verborgen sind und über die er sich
nun Klarheit verschaffen will, verlassen hat, oder zu verlassen gezwungen war. In deutlichster
Form ist das so in Rue des Boutiques Obscures, wo der Erzähler, Guy Roland, als die Detektiv-
Agentur, für die er gearbeitet hat, schließt, sich daran macht, in seinem eigenen Fall zu ermitteln,
das heißt, herauszubekommen, wer er war, bevor er Guy Roland wurde. Gewiss aber, die Suche
nach der anderen Person ist immer auch der Versuch, einen Teil seines eigenen Lebens, eines
Teils dessen, was er geworden ist, zu verstehen. Und umgekehrt, dort wo die Suche nach sich
selbst oder den Bedingtheiten seines eigenen Lebens im Zentrum steht, führt diese Suche über
die Suche nach einer anderen Person oder anderen Personen: Rue des Boutiques Obscures, Quartier
perdu, Accident nocturne.

In manchen Fällen ist die Person, die er sucht, nie real für ihn gewesen, sondern existiert für ihn
nur weil ihm ein Schnipsel aus der Vergangenheit, das von der Existenz dieser Person zeugt, in
die Hände fällt: Dora Bruder und auch Encre sympathique, Modianos bisher zuletzt erschienener
Roman. In Encre sympathique ist Teil des Rätsels gerade, ob er diese Person gekannt hat oder nicht
– eine Motivation, die er erst nach und nach dem Leser, und, so könnte man meinen, auch sich
selbst gegenüber zugibt. Und in der Tat gibt es Hinweise darauf, dass der Erzähler von Encre
sympathique in Fleisch und Blut die gleiche Person wie der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures
ist.8

6
  Patrick Modiano selbst hat sich manchmal in diesem Sinn geäußert. In einem Artikel in Le Monde, anlässlich des
Erscheinens von Encre Sympathique, wird Modiano zitiert mit der Aussage »den Eindruck zu haben, immer ein
bisschen das gleiche Buch zu schreiben« und dass man von seinen Romanen »die Titel unterdrücken und sie als
einen langen Text publizieren könnte«. Siehe den Artikel von Raphaëlle Leyris, Patrick Modiano: »Je préfère écrire à la
dérobée«, in Le Monde, Online-Ausgabe vom 2. Oktober 2019, aktualisiert am 3. Oktober 2019.
7 Der Rolle der Stadt Paris in Modianos Werk wurde vielfach Beachtung geschenkt. Siehe, zum Beispiel, Béatrice

Commengé: Le Paris de Patrick Modiano, Alexandrines, Paris 2015; oder Gilles Schlesser: Paris dans les pas de Patrick
Modiano, Parigramme, Paris 2019.
8 Die Auswahl der hier erwähnten Romane Modianos ist nicht zufällig, doch aber den Umständen geschuldet. Dieser

Artikel wurde im März 2020, in Wien, während der Zeit der Quarantäne geschrieben. Ich habe jene Romane
herangezogen, die ich in meiner Wohnung hatte.

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Die drei Funktionen des Namens bei Modiano

Modianos Erzähler sucht nicht das Schreiben. Er ist nicht jemand, der danach sucht, seine
Erinnerungen auszudrücken: Er ist jemand, der seine Erinnerung überhaupt sucht. Genauer gesagt,
jemand, der versucht, die Logik, oder wenn man so will, das System seiner Erinnerungen, und
damit dessen, was er geworden ist, zu ergründen. Und dieser Prozess vollzieht sich für ihn ganz
wesentlich über – die Namen. Wir, als Leser, wissen das durch die Wiederholung der Namen:
weil diese Namen, an bestimmten Stellen der Erzählung, auf eine bestimmte Weise
ausgesprochen und dann in eben dieser Form wiederholt werden.

GAY ORLOW, von der der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures lange Zeit meint, dass sie
seine Geliebte war. FREDDIE HOWARD DE LUZ, der er vielleicht selbst war. JIMMY
PEDRO STERN, alias Pedro McEnvoy, der er am Ende meint, gewesen zu sein, womit nicht
mehr Gay Orlow sondern DENISE COUDREUSE zu seiner früheren Geliebten wird.

Diese Namen dienen dem Erzähler von Rue des Boutiques Obscures dazu, die Eckpunkte seiner
Suche aufzuspannen. Für den Leser spielen sich im System dieser Namen die kardinalen
Elemente der Erzählung ab.9 Diese Namen funktionieren wie eine Form (leer am Beginn), die der
Erzähler mit sich durch die Erzählung trägt, und in die alles hinein- und abgelegt wird, was er im
Laufe seiner Suche über diese Personen ausfindig machen kann – all das, wenn man so will, was
ihre Wesentlichkeit ausmacht. Es ist diese Wesentlichkeit der Person, die erforscht wird, und der
Name dient dazu dieser Wesentlichkeit, die sich im Laufe der Erzählung konstituiert, eine Form
zu geben, durch die sie aufgefangen werden kann (eine Form, wie eine Schüssel), durch die sie
aber auch immer wieder auf- und zurückgerufen werden kann. Mit einem Wort: Modiano benützt
hier die ersten beiden Funktionen des Namens nach Barthes: die Fähigkeit, Wesentlichkeit
auszurücken und die Fähigkeit zum Zitat. Zugleich bildet das wiederkehrende, innere Vorsagen
und Aufrufen der Namen einen Rhythmus, der der Erzählung unterliegt. Der Name tritt bei
Modiano in einer wahrhaft poetischen Funktion auf.

Linguistisch, oder formal, ist die poetische Funktion des Namens bei Modiano dadurch
gekennzeichnet, dass die Namen voll ausgesprochen werden: »Gay Orlow« – nicht »Gay«,
»Denise Coudreuse« – nicht »Denise«. Wenn wir »Denise Coudreuse« lesen, wissen wir, dass hier
nicht von der (in der Fiktion) realen Person Denise Coudreuse gesprochen wird, sondern von all
dem, wofür dieser Name für den Erzähler steht – für die Wesentlichkeit der Person, und, mehr
als das, auch für die Wesentlichkeit des Erzählers Erinnerungen an diese Person: in der Tat für
die ganze Zeit in seinem Leben (die ganze »Epoche«), in der er diese Person gekannt hat, oder
zumindest ihr Name ihn begleitet hat. Anders gesagt: »Denise Coudreuse« im Diskurs des
erzählenden Erzählers hat eine andere Funktion als »Denise« im Mund des erzählten Erzählers,
wenn dieser sich, zum Beispiel, mit jemandem über »Denise« unterhält, aber auch, wenn der
erzählende Erzähler indirekt als der erzählte Erzähler spricht.

Der poetische und strukturgebende Effekt der Namen wird bei Modiano oft dadurch unterstützt,
dass der Name in Großbuchstaben geschrieben wird, oder, stärker noch, in der Realität der
Erzählung in Großbuchstaben geschrieben auftritt:

                                                   C. M. HUTTE
                                                Private Ermittlungen

9Zum Begriff der kardinalen Funktionen siehe Barthes’ Einführung in die strukturelle Analyse der Erzählung (Barthes
1966, Introduction, 6-11); Anmerkung 5.

                                                         -7-
Erfahren wir von dem Erzähler von Rue des Boutiques Obscures (Seite 14), steht an der Tür der
Agentur, die nun geschlossen ist.

        Betrifft: ORLOW, Galina, genannt »Gay« ORLOW.
        Geboren: in Moskau (Russland), 1914, als Tochter von Kyril ORLOW und Irène
        GIORGIADZE.
        Staatsangehörigkeit: staatenlos. (Rue des Boutiques Obscures, 53)

Steht in einem Brief, in dem Hutte ihn wissen lässt, was er über Gay Orlow herausfinden konnte.

Es kommt also zu einer Ikonisierung der Namen.

Ein anderes erzählerisches Mittel, das Modiano gerne einsetzt, ist, dass ein Name in der
Erzählung buchstabiert wird:

        Ich war erleichtert, dass sie meinen Namen wiederholte, denn ich hatte ihn nicht richtig
        verstanden, als sie ihn zum ersten Mal ausgesprochen hatte. Ich wollte ihn auf der Stelle
        aufschreiben, aber ich war mir nicht sicher, wie man ihn schrieb.
        – Ich mag die Art und Weise, wie Sie meinen Namen aussprechen, sagte ich zu ihr. Das ist nicht
        so leicht für eine Französin ... Aber, wissen Sie, wie man ihn schreibt? [...] Ich hatte einen
        spielerischen Ton angeschlagen. Sie lächelte.
        – M ... C ... großes E ... V ... O ... Y, buchstabiert sie. (Rue des Boutiques Obscures, 119)

Der Erzähler hat an dieser Stelle den Namen «McEvoy» zum ersten Mal gehört. War er dieser
McEnvoy? Das Buchstabieren des Namens hat hier also nicht nur die phatische Funktion, den
Namen »McEnvoy« hervorzuheben, sondern auch die kardinale Funktion, dass der Erzähler in
den Besitz des Wissens um diesen Namen kommt.

Bemerkenswert bei Modiano ist, dass die ersten beiden Funktionen des Namens – die Fähigkeit
Wesentlichkeit auszurücken und die Fähigkeit zum Zitat – direkt in der Welt des Erzählten (und
nicht im Diskurs des Erzählers) verankert sind: die Namen erfüllen diese Funktionen direkt für den
Erzähler in seinem Verhältnis zu der in der Erzählung realen Welt – und dadurch erst übertragen sie sich
auf den Leser.

Anders, zunächst scheinbar, was die dritte Funktion des Namens nach Barthes betrifft: Modianos
Erzähler (anders als Prousts Erzähler) betätigt sich nicht an der «Entfaltung» der Namen. Der
Erzähler hat, wenn er sich den Namen DENISE COUDREUSE vorsagt, keine Assoziation zu
dem Klang von »DENISE« oder »COUDREUSE«. Er leitet daraus auch keine Bedeutung ab, die
mit der Herkunft oder Geschichte oder dem sozialen Hintergrund der Person zu tun haben
könnte.

Richtiger gesagt aber: die Entfaltung der Namen ist nicht Teil des Diskurses des Erzählers. Der
Erzähler hat solche Assoziationen vielleicht, aber er sagt sie uns nicht. Er entfaltet sie nicht vor
oder für uns. Damit ist diese Funktion aber (so wie die ersten beiden) einerseits komplett in die
Fakten des Erzählten gelegt, andererseits aber auch komplett (und stillschweigend) auf den Leser
übertragen.

Wenn es bei Modiano zu einer Auslegung oder Entfaltung der Namen kommt, dann ist diese in
der Regel in die Erzählung eingebettet:
        – Das ist komisch, auf einmal fällt mir der Namen des Franzosen ein, den Gay in Amerika
        kennengelernt hatte.
        Wie hieß er? fragte ich mit zitternder Stimme.

                                                 -8-
– Howard ... Das war sein Nachname ... nicht sein Vorname ... Warten Sie ... Howard »de«
         irgendwas ....
         Ich blieb stehen und beugt mich zu ihm.
         – Howard »de« was? ...
         – De ... de ... de Luz. L ... U ... Z ... Howard de Luz ... Howard de Luz ... der Name hat mich
         gewundert ... halb englisch .... halb französisch ... oder spanisch.
         – Und der Vorname?
         – Ja, das ...
         Er machte eine Geste, die zum Ausdruck brachte, das das über seinen Mächten stand.
         (Rue des Boutiques Obscures, 64)

Hervorzuheben ist hier, dass es nicht der Charakter des Erzählers ist, der diese »Entfaltung« des
Namens vornimmt, sondern der andere; der mit dem der Erzähler spricht.

Seine Namen, Modiano muss sie gut gewählt – oder erfunden - haben.10 Denn wenn auch der
Erzähler in Modianos Romanen sich nicht in der Entfaltung der Namen ausübt, so heißt das
nicht, dass Patrick Modiano diese Namen nicht für ihren Klang oder die Assoziationen, die man
in sie legen kann, gewählt hätte. Wenn auch der Erzähler in Modianos Romanen sich nicht in der
Entfaltung und Erforschung der Namen betätigt, so heißt das nicht, dass der Leser es nicht tut,
wenn ihm ein »entfaltbarer«, oder wie man mit Barthes sagen könnte, ein »katalysierbarer«, Name
angeboten wird. Und Modiano weiß und antizipiert das. (Ob bewusst oder in seinem praktischen
Wissen als Schreiber ist hier gleichgültig.) Modiano vertraut darauf, dass der Leser sich in der
Entfaltung der Namen ganz automatisch, ohne das Zutun des Erzählers, engagiert; dazu keine
Anleitung, kein Vorbild braucht.

Modiano setzt, so könnte man auch sagen, auf die Unsichtbare Hand, die durch die Namen
wirksam werden kann:

GAY ORLOW – der Name alleine ruft natürlich immer wieder die Fakten, die wir über diese
Person erfahren haben, auf: »geboren in Moskau, 1914«, »staatenlos«, »1936 aus den Vereinigten
Staaten von Amerika nach Frankreich gekommen». GAY ORLOW steht »für ein bestimmtes
Milieu«, um mit Barthes zu sprechen; aber auch für einen Teil Geschichte.

DENISE COUDREUSE steht, um auch hier mit Barthes zu sprechen, für eine »gewisse
Französischheit«, für ein bestimmtes Milieu, das hier aber nicht, wie bei Proust, die mit dem
Boden verbundene Aristokratie, sondern die französische Mittelschicht ist.

Modiano versteht es, das erzählerische Potential der Namen auch dadurch auszunützen, dass
eine Person den Namen wechselt:

         HOWARD DE LUZ (Jean Simety) und Madame, geborene MABEL DONAHUE in Valbreuse,
         [...] (Rue des Boutiques Obscures, 74)

Diese Anzeige findet der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures in einer der alten Ausgaben des
Bottin mondain, die in der nun verlassenen Agentur von Hutte aufgestellt sind.11 »War das mein
Vater?« fragt er sich in diesem Moment, in dem er immer noch meint, Freddie Howard de Luz
gewesen zu sein. Diese Hypothese wird er später aufgeben, zu Gunsten jener, dass er Jimmy
Pedro Stern ist, den er bisher für einen Freund seines früheren Selbst gehalten hat. Dank Huttes

10»Man muss sie [die Namen] aber auch richtig wählen – oder finden,« sagt Barthes (124).
11Bottin mondain, jährliche Publikation, die Anzeigen über Familien, die einer bestimmten höheren Gesellschaft
angehören, veröffentlicht.

                                                        -9-
Beziehungen zur französischen Administration gelingt es ihm, mehr Informationen über Jimmy
Pedro Stern zu bekommen:

       Betrifft: STERN, Jimmy, Pedro.
       Geboren: in Thessaloniki (Griechenland), am 30. September 1912, als Sohn von Georges STERN
       und Giuvia SARANO.
       Nationalität: griechisch.
       Heirat mit Denise Yvette Coudreuse, französischer Nationalität, am 3. April 1939, am Standesamt
       des XVII. Arrondissements in Paris. [...]
       In den Hotelregistern gibt es eine einzige Eintragung, aus dem Februar 1939, welche belegt, dass
       Monsieur Jimmy Pedro Stern zu jener Zeit an folgender Adresse wohnte:
       Hôtel Lincoln [...]
       Die Eintragung im Register der Hotels Lincoln führt folgenden Vermerk:
       Name: STERN, Jimmy, Pedro.
       Adresse: 2, Via delle Botteghe Oscure, Rom (Italien).
       Beruf: Schneider
       Monsieur Jimmy Stern soll 1940 verschwunden sein. (Rue des Boutiques Obscures, 179)

Jimmy Pedro Stern wurde später jener MCEVOY, der 1943 genauso wie Denise Coudreuse bei
dem Versuch, illegal die französisch-schweizerische Grenze zu übertreten, verschwand – das
entschließt sich der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures jedenfalls zu glauben.

In manchen Fällen ist es bei Modiano aber auch gerade die Unauffälligkeit oder das Nicht-
Beschrieben-Sein eines Namens, das als erzählendes Element wirkt:

GUY ROLAND, der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures trägt einen Namen, wie er für den
Ort und die Zeit, in der der Charakter angesiedelt ist, belangloser nicht sein könnte. Dass das sein
wahrer Name nicht sein kann, legt die Erzählung nahe. Das Faktum, einen belanglosen,
durchschnittlichen, Namen gewählt zu haben, wird also zu einem erzählenden Detail. (Wer ist
dieser Guy Roland aber wirklich? Wie ist er zu seinem Namen gekommen? Wie und warum ist
der dazu gekommen, für Hutte zu arbeiten?)

C. M. HUTTE: ein ungewöhnlicher Name, den man nicht einzuordnen weiß. Französisch? Aus
der Schweiz? Aus Holland? Aus Deutschland? Die Abkürzung eines längeren Namens?

Modiano verwendet die Differenz zwischen »Denise Coudreuse« und »Denise« auch als
dynamisches Element: In dem Moment, als der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures zu der
Ansicht gekommen ist, dass er Jimmy Pedro Stern, alias Pedro McEvoy, war, meint er, Fetzen
der Erinnerung wieder zu finden. Wenn er als die in diesen Erinnerungen handelnde, sehende,
redende und denkende Person spricht, dann ist es »Denise«. (Wie zuverlässig sind diese
Erinnerungen aber? Als er noch meinte, Freddie Howard de Luz gewesen zu sein, gab es Ansätze
zu einem solchen Aufflackern von Erinnerungen beim Besuch des Hauses, in dem Freddie
Howard de Luz als Kind gelebt hat – Empfindungen, die er später umdeuten musste.)

Am Ende von Rue des Boutiques Obscures wird der Erzähler dazu gekommen sein, zu glauben, sich
zu erinnern, was damals geschah: er geht mit einem der Männer, die sie über die Grenze bringen
sollen; Denis mit dem anderen. Nach einer Weile bedeutet ihm der Mann, mit dem er durch den
Schnee stapft, zu warten. Sie wären nahe der Grenze, er würde vorgehen, um zu sehen, ob die
Luft rein wäre. Nach wenigen Minuten wird Jimmy Pedro Stern klar, dass der Mann nicht
zurückkommen wird: »Warum habe ich Denise in diese Falle mit hineingezogen? Ich versuchte
mit aller Kraft, den Gedanken zu unterdrücken, dass Wrédé sie auch zurücklassen würde und
dass nichts von uns beiden übrig bleiben würde.« (Rue des Boutiques Obscures, 231)

                                                - 10 -
Am Ende von Rue des Boutiques Obscures steht eine Suche, die noch weiter zurückführen wird: Der
Erzähler findet, wieder Dank Huttes Beziehungen, die Spur von Freddie Howard de Luz auf
einer Insel im Pazifik. Als er dort ankommt, erfährt er, dass jener Mann, den er für seinen Freund
in einem früheren Leben hält, seit einigen Tagen als vermisst gilt. Sein Boot wurde unbemannt an
der Küste gefunden:

        Ich dachte an Freddie. Nein, er war sicher nicht im Meer verschwunden. Er hatte ohne Zweifel
        beschlossen, die letzten Taue zu kappen, und hielt sich auf einem der Atolle versteckt. Ich würde
        ihn letztendlich schon finden. Und dann blieb mir noch ein Weg, den ich nicht unversucht lassen
        konnte: mich an meine alte Adresse in Rom, die Nummer 2 der Via delle Botteghe Oscure, zu
        begeben. (Rue des Boutiques Obscures, 251)12

Man kann auf Modiano direkt übertragen, was Barthes über Proust sagt:

        Das System der Namen in Händen zu halten, das kommt für Proust, und das kommt für uns,
        dem gleich, die wesentlichen Bedeutungen des Buches in Händen zu halten – das Gerüst seiner
        Zeichen, seine zu Grunde liegende Syntax. (128)

Die Orte

Was bei Modiano für die Namen von Personen gilt, gilt auch für die Namen von Orten –
Straßen, Plätzen, und Gebäuden: la place des Pyramides, l’Hôtel-Dieu, la Voie-Verte, la porte
d’Orléans, Jouy-en-Jossas, la rue du Docteur-Kurzenne, la place du Trocadéro – so die Stationen
der Suche des Erzählers von Accident nocturne, vom Ort des Unfalls, über seine Erinnerungen an
einen ähnlichen Unfall in seiner Kindheit (ausgelöst durch diesen neuen Unfall), bis zu dem Ort,
wo er die Fahrerin des Wagens, JACQUELINE BEAUSERGENT, wiederfindet.

So wie die Namen der Personen sind die Namen der Orte nicht nur ein Index, der auf den
bestimmten Ort verweist, sondern sie erhalten durch die Wiederholung eine poetische Funktion.
Dieser Effekt wird, ähnlich wie für die Personen, dadurch verstärkt, und in der Tat markiert, dass
der Name voll ausgesprochen wird, wann immer das zur Anwendung kommen kann : »Jouy-en-
Jossas«, und nicht nur »Jouy«; »rue du Docteur-Kurzenne« und nicht nur »rue Kurzenne«; »la
place du Trocadéro« und nicht nur »Trocadéro«.13

Dass die Namen der Orte bei Modiano eine wichtige Rolle spielen, ist auch dadurch ausgedrückt,
dass drei seiner Romane als Titel die Namen von Orten tragen: La place de l’étoile, Rue des Boutiques
Obscures, und Villa Triste.

Das erste Beispiel, La place de l’étoile, ist eigentlich keines. Denn, La place de l’Étoile, mit É groß
geschrieben, das ist zwar ein Platz in Paris, doch das ist wörtlich auch »der Platz des Sterns«.
Patrick Modiano stellt dem Roman folgende, wie er angibt, »jüdische Geschichte« voran, die auf
der wörtlichen Bedeutung des Namens aufbaut:

        Im Juni 1942 wendet sich ein deutscher Offizier an einen jungen Mann und fragt: »Pardon, Monsieur, où se
        trouve la place de l’Étoile? [Verzeihen Sie, mein Herr, wo befindet sich der Platz des Sterns?]«

        Der junge Mann zeigt auf die linke Seite seiner Brust.

12 Rom als Fluchtpunkt, der an eine Art von Ursprung führt, dieses Thema ist auch in anderen von Patrick Modianos
Romanen präsent, so etwa in Un crique passe und Encre sympathique.
13 Jouy-en-Jossas und die rue du Docteur-Kurzenne, die in diesem Ort liegt, kommen in mehreren von Modianos

Romanen und auch in seiner autobiografischen Schrift Un pedigree vor.

                                                        - 11 -
Die Schreibweise im Titel mit kleinem Anfangsbuchstaben von »étoile«, ein Detail das leicht
übersehen wird, bedeutet also, dass der Titel auf die in dieser Geschichte thematisierte Bedeutung
abzielt.14 (Ist McEvoy in Rue des Boutiques Obscures, mit »E, groß geschrieben«, wie der Erzähler
ausdrücklich darauf hingewiesen wird, ein verdeckter Hinweis darauf, dass man die Wichtigkeit
der Kein- oder Großschreibung nicht unterschätzen sollte?)

La via delle Botteghe Oscure – »la rue des Boutiques Obscures« – oder auf Deutsch, »die Gasse der
dunklen Stätten« oder »Werkstätten« – ist eine Gasse in Rom, die ihren Namen daher hat, dass
unter ihr die, zu ihrer Zeit schon halbunterirdischen, Gewölbe eines antiken Theaters liegen, in
denen im Mittelalter tatsächlich fensterlose – also »dunkle« – Werkstätten eingerichtet waren.
Eine historische Bedeutung, die im Roman, so kann man vermuten, eventuell dadurch anklingt,
dass Jimmy Stern von Beruf Schneider war. Botteghe Oscure hat darüber hinaus aber eine andere
historisch markante Bedeutung: In der Via delle Botteghe Oscure in Rom war für lange Zeit der Sitz
der Italienischen Kommunistischen Partei. Auch erwähnt sei, dass es von 1948 bis 1959 eine
Literaturzeitschrift mit dem Namen Botteghe Oscure gab, die ebenfalls in dieser Gasse in Rom ihren
Sitz hatte.

                            Umschlag der Literaturzeitschrift Botteghe Oscure , XX, 1957.

Villa Triste – »traurige Villa« – wurde in Italien im Zweiten Weltkrieg verwendet, um jene
Gebäude zu benennen, in denen systematisch Folterungen stattfanden.15 »Villa triste« klingt aber
auch wie »vie à triste« – »trauriges Leben«.16

In Modianos Roman ist »Villa Triste« der Name einer verlassenen Villa in einem Ort am See,
wohin sich der Erzähler als junger Mann unter dem falschen Namen »Victor Chmara« – »Comte
Victor Chmara« – aus Paris geflüchtet hat, »mit der Idee, dass die Stadt zu gefährlich wurde“ für
Leute wie ihn, weil »eine Polizei-Staat Stimmung dort herrschte«, »Bomben explodierten«, »und
es zu viele Razzien gab«. Es war, fügt er hinzu, der Krieg, den man mit der Vorsilbe Algerien
bezeichnete (14). Den Schlüssel zum Hause am See hat Chmara vom Besitzer des Hauses selbst,

14 Auf der Titelseite der Originalausgabe bei Gallimard steht der Titel in Großbuchstaben: »LA PLACE DE
L‘ÉTOILE«. Auf der erste bedruckten Seite im inneren des Buches jedoch steht der Titel als »La place de l’étoile«.
Die im folgenden erschienen Taschenbuchausgaben in der Reihe folio geben den Titel auf der Titelseite folgerichtig
als »La place de l’étoile« an.
15 Modianos zweiter Roman, La ronde de nuit, spielt hauptsächlich in einer solchen »Villa Triste« im noblen 16.

Arrondissement in Paris. In Modianos drittem Roman, Boulevards des ceintures, wird »Villa Triste« als Codewort für
einen Ort, wo die Gestapo Leute hinbringen lässt, verwendet.
16 Auf diese Interpretation hingewiesen hat mit Yves-Michel Gozlan.

                                                       - 12 -
René Meinthe – »Dr. René Meinthe«, der oft über lange Strecken aus der Stadt am See
verschwindet, um »Geschäften« nachzugehen. Meinthe, der sich selbst auch als »die Königin der
Belgier« bezeichnet, ist ein undurchdringbarer, exzentrischer bis zwielichtiger Charakter, der sich
Chmara gegenüber aber wohlwollend verhält. Im Vordergrund ist Villa Triste die Geschichte der
Affäre eines Sommers zwischen dem Erzähler und einer jungen Schauspielerin, die auch mit
Meinhte befreundet ist. Je nachdem, ob ein Leser die historische Bedeutung von »Villa Triste«
kennt oder nicht, wird er den Roman, anders lesen und auszuwerten wissen. Modiano lässt diese
Variabilität zu, indem er die historische Bedeutung des Namens »Villa Triste« eben nicht
ausspricht.

Wie für die Namen der Personen setzt Modiano auf das geschriebene Wort (das in der Welt des
Erzählten geschriebene Wort) um die poetische Funktion des Namens zu unterstreichen. Der
Name »Villa Triste« taucht in der Erzählung zum ersten Mal auf, als der Erzähler zum ersten Mal
das Haus betritt:

       Auf das Einfahrtstor, von dem der weiße Lack absplitterte, hatte Meinthe (das hat er selbst mir
       gestanden) in schwarzer Farbe – von linkischer Hand – geschrieben: VILLA TRISTE. (Villa
       Triste, 150)

Im Haus angekommen, bemerkt der Erzähler:

       In der Tat, diese Villa strahlte keine Fröhlichkeit aus. Nein. Dennoch fand ich zunächst, dass ihr
       die Bezeichnung »triste« schlecht stand. Letztendlich habe ich aber verstanden, dass Meinthe
       Recht gehabt hatte, wenn man nämlich in dem Klang des Wortes »triste« etwas Zartes und
       Kristallenes finden konnte. (Villa Triste, 150)

Wir finden den Erzähler hier also – rar bei Modiano – explizit bei der Interpretation eines
Namens. Was aber sagt uns die Tatsache, dass der Erzähler sich hier in der onomatopoetischen
Interpretation dieses Namens ausübt? Sagt uns dies nicht vielmehr, dass der Erzähler nichts über
die historische Bedeutung des Namens (die schwerer wiegen sollte) weiß? Meinthe hingegen, der
»VILLA TRISTE« in schwarzer Schrift auf das Tor geschrieben hat, scheint diese Bedeutung des
Namens zu kennen. Diese Interpretation ist zumindest möglich. Wenn man sie zulässt, dann
sieht man, dass die onomatopoetische Entfaltung des Namens hier nicht l’art pour l’art ist,
sondern ein funktionales Element in der Erzählung – weil sie dazu dient, einen gewissen
Wissenszustand oder eine gewisse Haltung der handelnden Personen anzudeuten.

                                                   III.

Die drei Funktionen des Namens – die Fähigkeit zur Verwesentlichung, die Fähigkeit zum Zitat
und die Fähigkeit zur Entfaltung – man erinnert sich, Barthes stellt sie in »Homologie« zu den
drei Funktionen auf, die Proust (sein Held) in der Erinnerung findet.

Modiano hat – praktisch – den Beweis erbracht, dass nicht nur der Name, sondern jedes sprachliche
Schnipsel diese drei Funktionen erfüllen kann, wenn es richtig eingebettet ist.

                                                 - 13 -
Das des Namens fähige sprachliche Schnipsel

Am deutlichsten ist das in Dora Bruder ausgeführt, wo die Suche – und damit die Erzählung –
durch den Fund eines solchen Schnipsels überhaupt erst ausgelöst wird. Der Erzähler stößt beim
Durchblättern einer alten Ausgabe von Paris-Soir, der Ausgabe vom 31. Dezember 1941, auf
folgende Anzeige:

         »GESUCHT WIRD ein Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1 m. 55, ovales Gesicht, grau-braune
         Augen, grauer Herbstmantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune
         Halbschuhe. Um Hinweise wird erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 14, Boulevard
         Ornano, Paris.«

Der Erzähler ist Dora Bruder real nie begegnet. Sie entsteht für ihn nur aus diesem Zeugnis der
Geschichte. Sie ist für ihn nur dieser Name und diese Beschreibung. Diese Anzeige spannt für
ihn in der Tat eine kleine Erzählung auf, wie man – Barthes paraphrasierend – sagen könnte, und
er macht sich daran, diese Erzählung sozusagen zu vervollständigen.17 Dora Bruder, das sei
angemerkt, hat in Wirklichkeit gelebt, und auch diese Anzeige hat es tatsächlich gegeben.

Warum springt dem Erzähler (warum springt Patrick Modiano) diese Anzeige beim
Durchblättern jener alten Ausgabe von Paris-Soir in die Augen? Ist es der Name »Dora Bruder«?
Etwas in der onomatopoetischen Qualität dieses Namens? Etwas in seiner Bedeutung? Ein Leser,
der die Bedeutung des deutschen Wortes »Bruder«, oder auch nur desselben Wortes in einer dem
Deutschen verwandten Sprache, kennt (in der Tat erfährt der Leser, dass Dora Bruders Vater aus
Wien kommt), wird diesen Namen nicht lesen können, ohne an die Bedeutung des Wortes zu
denken. Kennt, ahnt, spürt der Erzähler (Patrick Modiano) diese Bedeutung? Wenn ja, er sagt sie
uns nicht. Und er buchstabiert auch nicht die Bedeutung aus, die man in »Dora« erkennen
könnte: Dora – d’ora – aus Gold – »Du, meine liebe«, »Du, mein lieber Bruder«: »Dora Bruder« –
»Du, mein liebes Geschwister«.

Auch in Accident nocturne spielt ein solches sprachliches Schnipsel eine zentrale Rolle: »ein Auto
der Marke Fiat, blass-grüner Farbe« – »une automobile de marque fiat, couleur vert d’eau«, wie es
in dem Unfallbericht, der dem Erzähler von einem Unbekannten gereicht wird und den er
unvorsichtigerweise unterschreibt, heißt. »Fiat couleur vert d’eau« wird, wie »Jacqueline
Beausergent« oder »rue du Docteur-Kurzenne«, durch seine Wiederholung in den Stand eines
poetischen Elements gehoben.

         Ich zögerte mein Abendessen so lange wie möglich hinaus [...] Gegen zehn Uhr setzte sich die
         Besitzerin mit ihren Freunden an einen Tisch im hinteren Teil des Saals [...] Sie würden eine Partie
         Karten spielten. Eines Abends schlug sie mir sogar vor, mich zu ihnen zu setzen. Doch das war
         die Stunde, zu der ich meine Suche fortsetzen musste. FIAT COULEUR VERT D’EAU. [...] Es
         schien mir, dass es bei Nacht und nicht bei Tag sein würde, dass ich schließlich den FIAT
         COULEUR VERT D’EAU finden würde. (Accident nocture, 109)

Der Erzähler sagt uns nicht wie »Fiat couleur vert d’eau« für ihn klingt. So wie er sich diese
Worte vorsagt, scheint für ihn aber auch von ihrem Klang eine gewisse Faszination auszugehen.
Ist es das »vert d’eau«? »Vert d’eau«, das auch wie »verre d’eau« – ein Glas Wasser – klingen
kann? Gewiss ist: es ist Patrick Modiano, der diesem Auto seine Farbe gegeben hat. »Fiat couleur
vert« hätte nicht die gleiche poetische Kraft.18

17 »Die Erzählung ist ein langer Satz, so wie jeder Satz, auf seine Weise, der Entwurf einer kleinen Erzählung ist«,
sagt Barthes (Barthes 1966, Introduction, 4); siehe Anmerkung 5.
18 »Vert d’eau« ist als Farbbezeichnung im Französischen seit über hundert Jahren gebräuchlich. So wird es etwa in

einem Katalog zur Bestimmung der Farben von Pflanzen, Blättern und Früchte aus dem Jahr 1905 als ein sehr helles

                                                       - 14 -
Dass »Fiat couleur vert d’eau« in Accident nocturne als poetisches Element funktioniert ist aber
auch linguistisch-pragmatisch markiert, ähnlich wie das für die Namen durch das volle
Aussprechen von Vorname und Zuname passiert, dadurch nämlich, dass der Erzähler auch dort
diese Phrase verwendet, wo »Fiat« alleine oder »Auto« reichen würde (weil durch den Kontext
schon festgelegt ist, dass es um dieses Auto geht).

                                                              Vert d’eau

                                    Die Farbe »vert d’eau«. Bild: Christina Pawlowitsch

Eine bemerkenswerte Umkehrung tritt hier aber ein: »Fiat couleur vert d’eau« ist nicht bloß des
Zitats fähig, wie der Name: es ist ein Zitat – aus dem Bericht! Dieses Zitat funktioniert hier als
sprachliche Form (als Gefäß), in die die ganze Bedeutung des Unfalls – die nämlich ist, die
Erinnerung an diesen früheren Unfall erweckt zu haben – hineingelegt und damit immer wieder
abgerufen werden kann. Es ist mit einem Wort hier also so, dass das Zitat des Namens fähig wird.

Die Verdinglichung von sprachlichen Schnipseln

Wert festgehalten zu werden ist auch, dass in beiden der hier besprochenen Fälle, Dora Bruder und
Accident nocturne, die jeweilige sprachliche Einheit, die die Suche auslöst beziehungsweise
vorantreibt, dem Erzähler tatsächlich auf einem Stück Papier in die Hände fällt: die Anzeige in
der Zeitung, der Unfallbericht. Diese sprachlichen Schnipsel existieren also in einer
gegenständlichen Form.

Und damit ist mehrerlei erreicht: Erstens es ist gerade Kraft ihrer tatsächlichen,
vergegenständlichten Form, dass diese sprachlichen Schnipsel die Fähigkeit haben, über die Zeit
zu reisen (in Dora Bruder, eine längere Zeitspanne von einige Jahrzehnten; in Accident nocture, eine
kurze Zeitspanne von eigen Tagen), und daraus die Fähigkeit beziehen, jene kardinale Funktion
auszuüben, die sie für die Erzählung ausüben, nämlich die Suche und damit den Roman
überhaupt auszulösen, beziehungsweise das entscheidende Element der Suche zu liefern.

Zweitens aber auch: Wir als Leser lesen diese Worte im Buch zum ersten Mal, als der Erzähler in
der erzählten Welt, sie von dem Stück Papier liest; wir lesen sie sozusagen mit ihm von diesem
Stück Papier. Und daher sind diese sprachlichen Schnipsel so hoch funktional als phatisches
Element: Wenn der Erzähler diese Worte in Gedanken wiederholt, dann ist es auch für uns ein

Grün, »das an die mehr oder weniger durchsichtige Farbschattierung von großen Massen klaren Wassers erinnert«
beschrieben. Siehe: Henri Dauthenay, Répertoire de couleurs pour aider à la détermination des couleurs des fleurs, des feuillages et
des fruits : publié par la Société française des chrysanthémistes et René Oberthür ; avec la collaboration principale de Henri Dauthenay, et
celle de MM. Julien Mouillefert, C. Harman Payne, Max Leichtlin, N. Severi et Miguel Cortès, vol. 2, Paris, Librairie
horticole, 1905, 25

                                                                  - 15 -
echtes Wiederholen, ein Erinnern an den Moment, in dem wir diese Worte zum ersten Mal in
dem Buch, das wir in Händen halten, gelesen haben.

Einfaltung statt Entfaltung

Ganz gleich ob es sich um die Namen von Personen oder Orten oder um solche zum Namen
gewordene sprachliche Schnipsel handelt: die Funktion der Entfaltung verläuft bei Modiano
immer in umgekehrter Richtung relativ zu jener, in der Barthes diese Operation sich bei Proust
vollziehend sieht. Bei Modiano wird die Bedeutung eines Namen oder eines sprachlichen
Schnipsels in der Regel nicht entfaltet, zumindest nicht im Diskurs des Erzählers, sondern es wird
dem Leser das Material gegeben (nämlich die Welt des Romans), das ihm erlaubt, eine gewisse
Bedeutung in diesen Namen, beziehungsweise dieses sprachlichen Schnipsel, hineinzulegen; das
heißt also, seine Bedeutung nicht zu entfalten, sondern eine Bedeutung in sie einzufalten. Eine
doppelte Umkehrung also: vom Erzähler auf den Leser, und von der Entfaltung zur Einfaltung.

Die Kehrseite der semantischen Monstrosität – und die Rolle des Romans

Nach Tagen der Suche spricht der Erzähler den Satz: »JE CHERCHE UNE VOITURE FIAT
COULEUR VERT D’EAU« – »ICH SUCHE EIN AUTO DER MARKE FIAT, BLASS-
GRÜNER FARBE« einem Papagei in einem Restaurant in dem Viertel um den Trodacéro, von
dem er meint, dass Jacqueline Beausergent dort wohnt, vor. Der Papagei, so sagt uns der
Erzähler, lernte den Satz schnell, auch wenn seine Art, ihn zu wiederholen, »kürzer und
effektiver« war: »VOITURE FIAT COULEUR VERT D’EAU« (108).

Es scheint zwar nicht dank des Papageis zu sein, aber es wird tatsächlich in dem Viertel um den
Trocadéro sein, dass der Erzähler schließlich, so wie er erwartet hatte, eines Nachts, das Auto
und seine Fahrerin, Jacqueline Beausergent wiederfindet – ein Finden aber, das nicht die
Erkenntnis bringt, die er erhofft hatte: Jacqueline Beausergent ist viel jünger als er dachte; zu
jung, um die Frau zu sein, die an jenem ersten Unfall – in Jouy-en-Jossas in der rue du Docteur-
Kurzenne – beteiligt war.

                        La place du Trocadéro in Paris. Foto: Christina Pawlowitsch

Das Restaurant in dem der Papagei saß, die »Closerie de Passy«, so sagt uns der Erzähler, gibt es
nicht mehr. Aber, so fügt er hinzu:

                                                  - 16 -
Papageien werden sehr alt. Vielleicht sitzt dieser hier, mehr als dreißig Jahre später, auf einem
        Sprösschen in einem anderen Café, in einem anderen Viertel, und wiederholt immer noch meinen
        Satz, ohne dass ihn jemand verstehen oder ihm auch nur zuhören würde. (Accident nocturne, 109)

Patrick Modiano zeigt hier – in der Praxis des Romans – im sprachlichen Schnipsel die
umgekehrte Seite dessen auf, was Barthes dem Namen als »semantische Monstrosität«
bescheinigt: seine semantische Panzerung, seine Abgeschlossenheit. Denn: genauso wie der
Name, wie Barthes sagt, durch den Kontext nicht modifiziert wird, sondern beharrlich auf diese
eine Wesentlichkeit verweist, genauso kann er diese Wesentlichkeit letztendlich nicht erzeugen.
Die Wesentlichkeit, auf die ein Name oder ein im Rang des Namens stehendes sprachliches
Schnipsel zeigt, muss dem verschlossen bleiben, der diesen Namen zwar hört, aber nicht die
Wesentlichkeit kennt, auf die er verweist.

Was Modiano letztendlich mit seinen Romanen tut, oder was Romane vielleicht im allgemeinen
tun, liegt, so könnte man sagen, genau darin, Wesentlichkeiten zu produzieren – jene
Wesentlichkeiten, auf die die Namen und die im Rang des Namens stehenden sprachlichen
Schnipsel am Ende des Buches verweisen werden. Modiano hat den Roman auf diese Operation
heruntergerbrochen. Und damit seine eigene Form des Romans geschaffen.

Das Material dieser Produktion, das sollte nicht vergessen werden, ist die Sprache allein. Wie
Barthes in der Einführung zur strukturellen Analyse der Erzählung sagt:

        Die Leidenschaft, die uns beim Lesen eines Romans entzünden mag, ist nicht die einer »Vision«
        (in der Tat »sehen« wir nichts), es ist die des Sinns [...] Was in der Erzählung »passiert« ist, vom
        (realen) referentiellen Standpunkt aus gesehen, streng genommen: nichts. Was »stattfindet« ist die
        Sprache allein, ... (Barthes 1966, Introduction, 26-27)

Der Roman als großes sprachliches Schnipsel

In einer Reihe von Modianos Romanen gibt es faktische Hinweis darauf, dass der Erzähler, in der
Welt des Erzählten, jemand ist, der schreibt, berufsmäßig sozusagen. Oft steht diese schreibende
Existenz des Erzählers in einer gewissen Distanz zu der schreibenden Existenz des Autors,
Patrick Modiano. In Quartier perdu etwa ist der Erzähler Autor von Kriminalromanen; in Voyage de
noces, Reisereporter. In L‘herbe des nuits, erfahren wir, dass der Erzähler als junger Mann, wie er als
Charakter in der Erzählung vorkommt, ein Manuskript geschrieben hat, welches verloren
gegangen ist.

Die schreibende Existenz des Erzählers ist bei Modiano (anders als bei Proust) aber nicht das
Problem des Romans, zumindest nicht im Diskurs des Erzählers. Modianos ist ein ›stiller‹
Erzähler. Genauso wie er sich nicht an der Entfaltung der Namen betätigt, teilt er sich in der
Regel auch nicht über das Schreiben mit. Wenn Gedanken oder Bekenntnisse über das Schreiben
vorkommen, dann sind diese – wie auch die Entfaltung der Namen – in der Regel in das Erzählte
eingebaut: »Zerbricht Dir nicht den Kopf, Jean. Sie werden Dein Manuskript schon
wiederfinden«, sagt Dannie, die junge Frau, die er, wie er erklärt, aus Rücksicht immer nur bei
ihrem Vornamen nennt, zu dem Erzähler von L’herbe des nuits:

        Und sie fügte hinzu, dass ich mir wirklich umsonst zu viel Mühe gab. Es würde genügen, in den
        Schachteln der Buchhändler an der Seine zu wühlen, und einen dieser alten Romane
        herauszuziehen, deren wenige Leser schon seit langem tot waren, und von deren Existenz kein
        Lebender auch nur eine Ahnung hatte. Und sie dann abzuschreiben, mit der Hand, und zu sagen,
        dass man der Autor davon war. (L’herbe des nuits, 167)

                                                   - 17 -
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