Suizide in Deutschland: Ergebnisse der amtlichen Todesursachenstatistik
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Leitthema Bundesgesundheitsbl 2022 · 65:3–10 Torsten Schelhase https://doi.org/10.1007/s00103-021-03470-2 H11 Gesundheitsstatistiken, Statistisches Bundesamt, Zweigstelle Bonn, Bonn, Deutschland Eingegangen: 5. Juli 2021 Angenommen: 29. November 2021 Online publiziert: 28. Dezember 2021 © Der/die Autor(en) 2021 Suizide in Deutschland: Ergebnisse der amtlichen Todesursachenstatistik entsprechend der Internationalen Statis- land gegeben. Dies beinhaltet nicht nur Zusatzmaterial online tischen Klassifikation der Krankheiten einen Überblick über die absoluten Zah- Zusätzliche Informationen sind in der und verwandter Gesundheitsprobleme len, sondern auch eine nähere Betrach- Online-Version dieses Artikels (https://doi. (ICD-10) der Weltgesundheitsorgani- tung verschiedener Aspekte wie Suizid in org/10.1007/s00103-021-03470-2) enthalten. sation (WHO) verarbeitet, was eine Abhängigkeit vom Alter und Geschlecht. internationale Vergleichbarkeit ermög- Neben der Darstellung der aktuell vor- Einleitung licht. Letzter großer Pluspunkt ist die liegenden Ergebnisse des Berichtsjahres jährliche Vollerhebung aller Todesfälle. 2019 werden auch Zeitvergleiche abge- In Deutschland geschieht ca. jede Stun- Im Text wird ausschließlich der wert- bildet. Ergebnisse für das Berichtsjahr de ein Suizid, jeden Tag, an 365 Tagen freie Begriff „Suizid“ verwendet, grund- 2020 lagen beim Verfassen dieses Aufsat- im Jahr. Mit rund 1 % aller Todesfälle sätzlich stehen für den Begriff des Suizids zes noch nicht vollständig und vollplau- stellt der Suizid damit keine unbedeu- verschiedene andere Synonyme zur Ver- sibilisiert vor. Auf die bis dato verfügba- tende Todesursache dar, trotzdem wur- fügung: Die ICD-10 der WHO sieht als ren, vorläufigen Daten zum Berichtsjahr de er in der Vergangenheit oft tabuisiert, Bezeichnung „vorsätzliche Selbstbeschä- 2020, die im Zuge der Monatsberichte zum Teil auch ignoriert. Informationen digung“ vor, oft werden aber auch je nach seit Juli 2021 veröffentlicht werden, wird zu Suiziden und anderen Todesursachen Perspektive Begriffe wie Selbstmord, daher nur kurz eingegangen. entstammen vor allem der Todesursa- Selbsttötung oder Freitod gebraucht. chenstatistik. Die Auswertung dieser Da- In seinem Urteil vom 26.02.2020 [1] Die Todesursachenstatistik ten liefert wichtige Hinweise auf relevante hat das Bundesverfassungsgericht im in Deutschland: Historie, Gesundheitsindikatoren wie Sterbeziffer, Zusammenhang mit dem sogenannten Rechtsgrundlage und Methodik verlorene Lebensjahre und vermeidbare assistierten Suizid verdeutlicht, dass das Sterbefälle. Sie ist Basis für die Todes- allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Historie ursachenforschung, die die Zusammen- Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 hänge zwischen verschiedenen Einfluss- Grundgesetz) ein Recht auf selbstbe- Die Angst vor ansteckenden Krankhei- faktoren wie Alter, Geschlecht, regionale stimmtes Sterben umfasst. „Dieses Recht ten war einer der wichtigsten Anlässe, Besonderheiten in der Sterblichkeit und schließt die Freiheit ein, sich das Leben Daten zu Todesursachen aufzuzeichnen diesbezügliche Veränderungen im Laufe zu nehmen und hierbei auf die freiwilli- [2]. Aus diesem Grund hat die Todesur- der Zeit untersucht. Aus diesen Ergeb- ge Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in sachenstatistik eine recht lange Traditi- nissen heraus werden Empfehlungen für Wahrnehmung dieses Rechts getroffe- on, erste Aufzeichnungen für eine Aus- kommende Handlungsfelder und Strate- ne Entscheidung des Einzelnen, seinem wahl von zum Tode führenden Krank- gien für die epidemiologische Forschung, Leben entsprechend seinem Verständnis heiten liegen seit der zweiten Hälfte des die Prävention und die Gesundheitspo- von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit 19. Jahrhunderts vor, seit 1892 besteht litik abgeleitet. Ziel ist es, die Lebenser- der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, eine „echte“ Statistik im Sinne einer um- wartung und Lebensqualität der Bevölke- ist im Ausgangspunkt als Akt autono- fangreichen Erhebung. rung durch präventive und medizinisch- mer Selbstbestimmung von Staat und Mit der Umstellung des ersten aus- kurative Maßnahmen zu erhöhen. Gesellschaft zu respektieren.“ Damit führlichen Verzeichnisses für Deutsch- Dabei bietet die Todesursachenstatis- wird auch unterstrichen, dass der Suizid land auf die ICD der WHO Anfang der tik folgende Vorteile: Zum einen stellt strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden 1930er-Jahre wurden die Daten interna- die Kontinuität der Erhebung sicher, kann. tional vergleichbar. Daten, die in Anleh- dass dem Nutzer Daten aus weit zurück- In diesem Beitrag wird ein Überblick nung an die ICD generiert wurden, liegen reichenden Zeiträumen zur Verfügung über die Ergebnisse der Todesursachen- in schriftlicher Form ab dem Jahr 1950 stehen. Zum anderen werden die Daten statistik in Bezug auf Suizide in Deutsch- und in digitaler Form ab 1980 vor. Auf- Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022 3
Leitthema grund der sich ständig ändernden Rah- Methodik Exkurs: Todesbescheinigung menbedingungen (medizinischer Fort- Die Regelungen zur Leichenschau und schritt, Veränderung der Arbeits- und Die relevanten Informationen zur Todes- damit auch zur Todesbescheinigung ob- Lebensverhältnisse etc.) wird die ICD re- ursachenstatistik entstammen der Todes- liegen aufgrund der Länderkompetenz gelmäßig angepasst. Seit 1998 wird in bescheinigung, auf der der leichenschau- den einzelnen Ländern. Dies hat zur Fol- Deutschland die stark revidierte und er- ende Arzt die medizinischen Ursachen ge, dass jedes Bundesland auf der Grund- weiterte ICD in der Fassung der 10. Re- für den Tod vermerkt. Der Ablauf gestal- lage des Bevölkerungsstatistikgesetzes ei- vision (ICD-10) angewendet. Die bereits tet sich wie folgt: Im Falle eines Todes gene Regelungen für die Leichenschau entwickelte neue Version (ICD-11) wird muss die Person von einem Arzt unter- erlassen hat, die in einigen Punkten von- in den nächsten Jahren in Deutschland sucht und für tot erklärt werden. Da- einander abweichen. umgesetzt. bei erfasst er in der Todesbescheinigung Der leichenschauende Arzt vermerkt Auch in der ehemaligen Deutschen unter anderem diejenigen Ursachen, die auf der Todesbescheinigung unter ande- Demokratischen Republik (DDR) wur- verantwortlich für den Tod waren, so- rem die zum Tode führenden Ursachen. de offiziell die ICD der WHO als Klassi- wie Begleiterkrankungen. Anschließend Dies geschieht papierbasiert und hand- fikationsgrundlage verwendet. Politische geht die Todesbescheinigung an das Stan- schriftlich als Klartext, nicht in Form von Gründe haben jedoch dazu geführt, dass desamt des Sterbeortes, um fehlende de- ICD-Codes. Die dokumentierten Todes- das Thema Suizid kleingehalten wurde mografische Angaben zu ergänzen. Der ursachen sind alle Krankheiten oder Ver- [3]. Daher sind Vergleiche der Zahlen vertrauliche Teil mit den Angaben zu den letzungen, die den Tod verursacht haben bis zum Jahr 1990 schwierig. Todesursachen wird im nächsten Schritt oder dazu beigetragen haben, einschließ- an das Gesundheitsamt versendet, wo un- lich anderer Diagnosen, die aus Sicht des Rechtsgrundlage ter anderem die Informationen auf Plau- Arztes relevant sind. Ergänzt werden die sibilität und Vollständigkeit geprüft wer- Angaben durch die Nennung von Zeitab- Der Gesetzgeber hat 1980 den geltenden den sollen. Nach Prüfung der Angaben ständen zwischen dem Beginn des jewei- Rahmen für die Todesursachenstatistik geht die Todesbescheinigung an das zu- ligen Krankheitszustandes und dem To- durch das „Gesetz über die Statistik der ständige statistische Landesamt, wo die deseintritt und die Umstände des Todes Bevölkerungsbewegung und die Fort- Daten im Rahmen der Todesursachen- (bspw. Unfall). Die Definition der zum schreibung des Bevölkerungsstandes“ statistik aufbereitet werden. Parallel dazu Tode führenden Krankheiten soll sicher- (Bevölkerungsstatistikgesetz)1 geschaf- wird die im Standesamt erstellte Ster- stellen, dass nur bedeutende Angaben auf fen. Ziel des Gesetzes ist es, weitreichende befallzählkarte mit den demografischen der Todesbescheinigung stehen, triviale Informationen zur bevölkerungspoliti- Angaben der Person direkt an das statis- Diagnosen wie Herz-Kreislauf-Versagen schen Lage zu erhalten, um darauf tische Landesamt geschickt. oder Atemstillstand sollen nicht Gegen- aufbauend mit Maßnahmen der Ge- Die Aufbereitung der Daten für die stand der Todesbescheinigung sein. sundheitspolitik und der Wissenschaft Todesursachenstatistik geschieht nach Abbildung Z1 (siehe Onlinemateri- sowohl die allgemeine Sterblichkeit zu dem weltweit gültigen Regelwerk der al) zeigt den Vordruck der WHO zur minimieren als auch die Lebenserwar- WHO und beinhaltet die Auswahl des Todesbescheinigung. Dieser ist als Min- tung der Menschen zu erhöhen. In §1 Grundleidens und seine Umschlüsse- destanforderung zu sehen und kann er- des Gesetzes heißt es zum Zweck, dass lung in ICD-Codes entweder manuell weitert und angepasst werden. Wichtig für die Statistik der natürlichen Bevöl- oder elektronisch. Nach Aggregation der ist, dass die Todesbescheinigung keinen kerungsbewegung unter anderem die Landesergebnisse werden diese an das Raum für unzusammenhängende Tex- Sterbefallstatistik einschließlich Todes- Statistische Bundesamt gesandt, das aus te gibt. Elementarer Bestandteil ist daher ursachenstatistik als Tatbestand erfasst den Länderergebnissen ein Bundeser- die Struktur, anhand welcher der leichen- werden soll (§1 1.d). Ein weiteres Ziel gebnis macht und dieses veröffentlicht. schauende Arzt die Todesursachen ein- des Gesetzes ist, die Bestandteile der Damit handelt es sich bei der Todesursa- trägt und die eine Kausalkette von der Bevölkerungsentwicklung und der Be- chenstatistik um eine klassische dezen- Krankheit, die initial ursächlich den Tod völkerungsverschiebung zu ermitteln trale Statistik, zudem basiert sie auf einer ausgelöst hat, bis hin zur unmittelbaren (Begründung zum zuvor gültigen Gesetz Vollerhebung, da jeder Todesfall erfasst Todesursache darstellt. In Teil 1 werden vom 04.07.1957; Bundestagsdrucksache wird. Aufgrund dessen wird auf die Dar- oben die unmittelbaren Todesursachen Nr. 3005 vom 12.12.1956). stellung von Konfidenzintervallen und vermerkt und weiter darunter diejenigen Signifikanztests verzichtet. Ursachen, welche die unmittelbaren Ur- Die Ergebnisse werden in der Regel sachen bedingt haben (Kausalkette). In im August nach Abschluss des Berichts- Zeile 1.d wird die initiale Ursache ein- jahres veröffentlicht, wobei der Schwer- getragen, die ursächlich für den Tod war punkt auf der deskriptiven Darstellung und alle anderen nachfolgenden Ursa- 1 Zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes der Ergebnisse der Todesursachenstatis- chen bedingt hat. Hierbei handelt es sich vom 09.06.2021 (Bundesgesetzblatt Teil I tik liegt. um das sogenannte Grundleiden. Das S. 1649). Grundleiden ist jene Erkrankung, die den 4 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022
Zusammenfassung · Abstract Sterbeprozess in Gang gesetzt hat. Daher Bundesgesundheitsbl 2022 · 65:3–10 https://doi.org/10.1007/s00103-021-03470-2 kommt ihm eine besondere Bedeutung © Der/die Autor(en) 2021 zu, da aktuell nur diese Ursache in die Todesursachenstatistikeinfließt(unikau- T. Schelhase sale Todesursachenstatistik). Suizide in Deutschland: Ergebnisse der amtlichen Die Qualität der Todesursachenstatis- Todesursachenstatistik tik steht und fällt damit mit den Informa- tionen, die der leichenschauende Arzt auf Zusammenfassung Die Todesursachenstatistik ist die elemen- Schwerpunkt auf das Jahr 2019 an. Diese der Todesbescheinigung dokumentiert. tare Basis zur Ermittlung von wichtigen werden in Abhängigkeit von den Merkmalen Der Suizid ist insofern eine Besonder- Indikatoren wie Sterbeziffern, verlorenen Alter, Geschlecht, Region und Methode abge- heit, da er in einigen Fällen nicht leicht Lebensjahren und vermeidbaren Sterbefällen bildet. Vergleiche mit älteren vorliegenden zu erkennen ist. Ein Sprung von einem sowie deren Veränderungen im Laufe Daten seit 1980 werden herangezogen. In Gebäude mit vorherigem Abschiedsbrief der Zeit. Ihre Ergebnisse fließen in die einem Ausblick auf die Weiterentwicklung der epidemiologische und medizinische Todesursachenstatistik werden die Gründe ist einem Suizid leicht zuzuordnen, ein Forschung ein und geben wichtige Hinweise für aktuelle Schwachstellen im Ablauf der Suizid mittels Tabletten hingegen ist nicht für notwendige Präventionsprogramme und Datenerhebung und Lösungsmöglichkeiten immer direkt ersichtlich. Erschwerend die Gesundheitspolitik im Allgemeinen. aufgezeigt. kommt hinzu, dass gerade bei Personen In diesem Beitrag wird zunächst ein Überblick höheren Alters ein Suizid nicht direkt über die Historie, die Rechtsgrundlage und Schlüsselwörter die Methodik der Todesursachenstatistik ICD-10 · Sterberate · Sterbealter · Suizidme- in den Fokus des untersuchenden Arztes gegeben. Daran schließt die Darstellung thoden · Qualitätsverbesserung kommt, da es sich dabei aufgrund des der Daten zu Suiziden in Deutschland mit hohen Alters durchaus um „erwartete“ Todesfälle handeln kann. Daher sind die hier dargestellten Ergebnisse als Unter- Suicides in Germany: results from the official cause of death grenze der tatsächlichen Zahl der Suizide statistics zu sehen. Abstract The cause of death statistics is an elementary year 2019. These data are mapped based on Ergebnisse der Todes- basis for determining important indicators the characteristics of age, gender, region, ursachenstatistik such as death rates, years of life lost, and and method of suicide. Comparisons with avoidable deaths as well as their changes over older data available since 1980 are made. Allgemeiner Überblick time. The results are used in epidemiological The outlook gives an overview of the further and medical research and provide important development of the cause of death statistics, Im Jahr 2019 starben in Deutschland recommendations for prevention programs the reasons for current weaknesses in the data and for health policy in general. collection process, and possible solutions. insgesamt 939.520 Personen, davon This article first gives an overview of the 9041 Personen durch Suizid. Das ent- history, legal basis, and methodology of the Keywords spricht einem Anteil von knapp 1 %. Im cause of death statistics in Germany. This ICD-10 · Mortality rate · Age at death · Suicide langfristigen Vergleich mit den Ergeb- is followed by the presentation of the data methods · Quality improvement nissen des Berichtsjahres 1980 ist bei der on suicides in Germany with a focus on the Zahl der Suizide ein deutlicher Rückgang um 51,0 % zu verzeichnen (1980: 18.451 Verstorbene durch Suizid; . Tab. 1). Unter den insgesamt 9041 durch Sui- ehemals 63,9 % auf nun 75,7 %. Darüber Auch im mittelfristigen Vergleich zeigt zid verstorbenen Personen im Jahr 2019 hinaus zeigt sich im langfristigen Ver- sich, dass ein Rückgang weiterhin an- waren 6842 Männer und 2199 Frau- gleich der Jahre 1980 und 2019 auch, dass hält: So waren es im Jahr 1998 noch en – der Suizid ist mit einem Anteil der Rückgang der Suizidzahlen bei Frau- insgesamt 11.644 Personen, die ihrem von 75,7 % deutlich männerdominiert. en stärker (–67,0 %) als bei den Männern Leben vorzeitig ein Ende gesetzt ha- Zum Vergleich: Der Anteil der Männer (–42,0 %) ausgefallen ist. ben. Dieser grundsätzliche Rückgang im und Frauen in der Gesamtbevölkerung Die Abbildung absoluter Zahlen gibt Vergleich zu den Ergebnissen von 1980 ist fast gleich und lag im Jahr 2019 bei zunächst einen Überblick über das Aus- und 1998 ist zwar als positiv zu bewer- 49,3 % Männern (41.037.613) und 50,7 % maß der Fälle. So ist die Aussage, dass ten, diese Entwicklungen unterliegen Frauen (42.129.098). Damit war Suizid über 9000 Todesfälle auf einen Suizid jedoch jährlichen, teils zufallsbeding- für ca. jeden 68. Sterbefall bei Männern zurückzuführen sind, für viele Leser ten Schwankungen: So schwankt die und ca. jeden 215. Sterbefall bei Frauen besser greifbar als eine Aussage anhand Veränderungsrate der absoluten Anzahl die Todesursache. von Sterbeziffern (Zahl der Sterbefälle der Suizide verglichen zum Vorjahr von Der Anteil der Männer an den Suizi- bezogen auf die Bevölkerung). Die ab- –7,4 % (Vergleich 1986 zu 1985) bis hin den war nicht immer so hoch: Verglichen soluten Zahlen sagen jedoch nichts über zu +4,2 % (Vergleich 2010 zu 2009). mit den Daten ab 1980 zeigt sich, dass das Risiko aus, an bestimmten Ursachen dieser Anteil stetig angewachsen ist, von zu versterben. Ein Sterberisiko hängt Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022 5
Leitthema Tab. 1 EntwicklungderSterbefallzahlendurchSuizidinDeutschlandvon1980 bis2019nachGe- Tab. 2 Entwicklung der altersstandar- schlecht und Anteilen (vor 1990 einschließlich der offiziell genannten Zahlen aus der ehemaligen disierten Sterbeziffer bei Suizid nach Ge- DDR). (Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik, 2021) schlecht 1998 bis 2019 in Deutschland (Stan- Jahr Anzahl der Suizide Anteile an insgesamt dardbevölkerung „Deutschland 2011“. Ster- beziffer: Sterbefälle pro 100.00 Einwohner). Insgesamt Männer Frauen Männer [%] Frauen [%] (Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesur- 1980 18.451 11.789 6662 63,9 36,1 sachenstatistik, 2021) 1981 18.825 12.192 6633 64,8 35,2 Jahr Insgesamt Männer Frauen 1982 18.711 12.274 6437 65,6 34,4 1998 15,4 24,0 8,0 1983 18.417 11.921 6496 64,7 35,3 1999 14,7 22,4 7,9 1984 17.677 11.610 6067 65,7 34,3 2000 14,5 22,5 7,6 1985 17.571 11.797 5774 67,1 32,9 2001 14,5 22,3 7,6 1986 16.269 10.792 5477 66,3 33,7 2002 14,5 22,0 7,8 1987 16.625 11.124 5501 66,9 33,1 2003 14,4 22,0 7,5 1988 15.590 10.527 5063 67,5 32,5 2004 13,7 21,1 7,0 1989 14.567 9922 4645 68,1 31,9 2005 13,0 19,9 6,8 1990 13.924 9534 4390 68,5 31,5 2006 12,3 18,8 6,3 1991 14.011 9656 4355 68,9 31,1 2007 11,8 18,1 5,9 1992 13.458 9326 4132 69,3 30,7 2008 11,7 17,9 5,9 1993 12.690 8960 3730 70,6 29,4 2009 11,9 18,3 5,8 1994 12.718 9130 3588 71,8 28,2 2010 12,3 18,7 6,2 1995 12.888 9222 3666 71,6 28,4 2011 12,6 19,5 6,1 1996 12.225 8728 3497 71,4 28,6 2012 12,2 18,4 6,3 1997 12.265 8841 3424 72,1 27,9 2013 12,4 18,6 6,3 1998 11.644 8575 3069 73,6 26,4 2014 12,4 18,8 6,2 1999 11.157 8080 3077 72,4 27,6 2015 12,1 17,9 6,4 2000 11.065 8131 2934 73,5 26,5 2016 11,7 17,6 5,8 2001 11156 8188 2968 73,4 26,6 2017 10,9 16,5 5,3 2002 11.163 8106 3057 72,6 27,4 2018 11,0 16,6 5,3 2003 11.150 8179 2971 73,4 26,6 2019 10,6 15,9 5,1 2004 10.733 7939 2794 74,0 26,0 2005 10.260 7523 2737 73,3 26,7 [4]. Dadurch ist eine Betrachtung von 2006 9765 7225 2540 74,0 26,0 Todesursachen und Krankheiten aus 2007 9402 7009 2393 74,5 25,5 epidemiologischer Sicht möglich, ohne 2008 9451 7039 2412 74,5 25,5 dass die Ergebnisse bspw. durch Verän- 2009 9616 7228 2388 75,2 24,8 derungen in der Bevölkerungsstruktur 2010 10.021 7465 2556 74,5 25,5 verfälscht werden. 2011 10.144 7646 2498 75,4 24,6 Bei der Betrachtung der altersstan- 2012 9890 7287 2603 73,7 26,3 dardisierten Sterbeziffer zeigt sich fol- 2013 10.076 7449 2627 73,9 26,1 gendes Bild: Verglichen mit den Ergeb- 2014 10.209 7624 2585 74,7 25,3 nissen der Vorjahre liegt die altersstan- 2015 10.078 7397 2681 73,4 26,6 dardisierte Sterberate mit 10,6 Sterbefäl- 2016 9838 7374 2464 75,0 25,0 len je 100.000 Einwohner im Jahr 2019 2017 9235 6985 2250 75,6 24,4 auf einem historisch niedrigen Niveau 2018 9396 7111 2285 75,7 24,3 (. Tab. 2). Im Vergleich der Jahre 1998 bis 2019 ist das der niedrigste Wert; der 2019 9041 6842 2199 75,7 24,3 mit 15,4 Sterbefällen je 100.000 Einwoh- ner höchste Wert in dieser zeitlichen Be- immer auch mit der Bevölkerungsstruk- Einflüsse durch sich ändernde demo- trachtung stammt aus dem Jahr 1998. tur zusammen. Je älter die Bevölkerung grafische Rahmenbedingungen beseitigt Die Entwicklung ist zwar grundsätzlich ist, desto mehr Todesfälle durch Krebs werden. Erst nach Altersstandardisie- positiv in der Hinsicht, dass insgesamt gibt es, ohne dass sich das Risiko, daran rung der Sterbeziffern können bevöl- die Zahlen gesunken sind, jedoch zeigt zu versterben, erhöht hat. An dieser kerungsunabhängige Vergleiche auch sich, wie auch bei den absoluten Zah- Stelle hilft die Altersstandardisierung zwischen strukturell unterschiedlichen len, dass diese Entwicklung jährlichen der Sterbeziffern, mit deren Hilfe die Bevölkerungsgruppen gemacht werden Schwankungen unterliegt. In den Jahren 6 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022
Tab. 3 Anzahl der Suizide nach Monaten Tab. 4 Anzahl der Suizide nach Alters- Suizide nach Sterbealter in Deutschland, 2020 (vorläufige Ergebnis- gruppen und Geschlecht in Deutschland, se). (Quelle: Statistisches Bundesamt, Todes- 2019. (Quelle: Statistisches Bundesamt, To- Im Jahr 2019 betrug das durchschnittli- ursachenstatistik, 2021) desursachenstatistik, 2021) che Alter der Personen, die ihrem Le- Monat Anzahl der Suizide Altersgruppen Anzahl ben vorzeitig ein Ende gesetzt haben, Januar 761 Ins- Män- Frau- 58,5 Jahre. Die Unterschiede zwischen Februar 771 gesamt ner en Frauen und Männern waren gering, wäh- März 772 < 15 Jahre 22 11 11 rend die Männer im Schnitt 58,2 Jahre April 736 15 bis < 20 Jahre 163 121 42 alt waren, lag das durchschnittliche Ster- Mai 838 20 bis < 25 Jahre 286 235 51 bealter bei den Frauen bei 59,7 Jahren. In Juni 844 25 bis < 30 Jahre 361 289 72 der Entwicklung von 1998 bis 2019 zeigt Juli 810 30 bis < 35 Jahre 417 329 88 sich, dass das durchschnittliche Sterbeal- August 796 35 bis < 40 Jahre 449 367 82 ter zwar nur langsam, aber recht konstant September 754 40 bis < 45 Jahre 481 381 100 über die Zeit hinweg zugenommen hat: Oktober 754 45 bis < 50 Jahre 599 451 148 So lag das durchschnittliche Sterbealter November 730 50 bis < 55 Jahre 924 667 257 im Jahr 1998 bei insgesamt 53,2 Jahren, Dezember 671 55 bis < 60 Jahre 931 707 224 bei Männern bei 51,6 und bei Frauen bei 60 bis < 65 Jahre 812 600 212 57,6 Jahren. Insgesamt 9237 65 bis < 70 Jahre 653 490 163 Verglichen mit dem allgemeinen 70 bis < 75 Jahre 573 413 160 Sterbealter versterben diejenigen, die 2010 bis 2019 zeichnet sich zudem eine 75 bis < 80 Jahre 849 649 200 aufgrund von Suizid aus dem Leben leichte Stagnation ab. scheiden, sehr jung: Das durchschnitt- 80 bis < 85 Jahre 775 578 197 Diese Entwicklung lässt sich sowohl liche Sterbealter über alle Fälle hinweg 85 bis < 90 Jahre 518 400 118 insgesamt als auch bei Männern und liegt mit 78,5 Jahren um genau 20 Jahre 90 Jahre und älter 228 154 74 Frauen feststellen. Deutliche Unterschie- über dem Sterbealter bei Suizid. Die de gibt es wie auch bei den absoluten Alle Altersgruppen 9041 6842 2199 Männer versterben 17,4 Jahre früher als Zahlen zwischen den Geschlechtern: Das der Durchschnitt, die Frauen 21,7 Jahre. Sterberisiko der Männer lag in 2019 mit bedeutet, dass die Qualität der Berichte Relativ betrachtet ist damit das durch- 15,9 Fällen je 100.000 Einwohner über mit zunehmendem Vollständigkeitsgrad schnittliche Sterbealter bei Suizid stär- dreimal so hoch wie bei den Frauen mit steigt. Die monatlichen Ergebnisse wer- ker angestiegen als das durchschnittli- 5,1 Sterbefällen je 100.000 Einwohner. den dabei im Rahmen eines deutlich che Sterbealter insgesamt: Während von reduzierten Merkmalskranzes ausgewie- 1998 bis 2019 das Sterbealter bei Sui- Vorläufige Ergebnisse für das Jahr sen, in dem die Hauptkapitel der ICD-10, zid um 10 % zugenommen hat (+5,3 Jah- 2020 wichtige Todesursachengruppen und ei- re), ist es bei allen Sterbefällen lediglich nige relevante Einzeldiagnosen enthalten um 4,4 % (+3,3 Jahre) angestiegen. Al- Die Todesursachenstatistik wurde in der sind. lerdings betrifft diese Entwicklung vor Vergangenheit immer als Jahresstatistik Aufgrund des gewachsenen Interesses allem die Männer: Das Sterbealter bei aufbereitet und veröffentlicht, Ergebnis- an den Daten zu Suiziden in Pandemie- den Männern aufgrund Suizids erhöh- se liegen in der Regel Mitte August nach zeiten wurde dieser Aspekt im Merkmals- te sich im gleichen Zeitraum um 12,8 % Abschluss des Berichtsjahres vor. Die kranz bei der Aufbereitung der monat- oder 6,6 Jahre und bei den Frauen nur Coronapandemie hat noch einmal einen lichen Berichte berücksichtigt. um 3,6 % oder 2,1 Jahre. viel stärkeren Fokus auf die Ergebnisse Im Jahr 2020 wurden bislang (Stand der amtlichen Gesundheitsstatistiken 20.09.2021) insgesamt 9237 Todesfälle Suizide nach Altersgruppen und damit auch auf die Todesursachen- durch Suizid gezählt. Die meisten Suizide statistik gelegt. Um dem gestiegenen absolut gab es demnach in den Mona- Suizide finden nahezu über alle Alters- Bedarf nach aktuelleren Daten gerecht ten Juni (844) und Mai (838; . Tab. 3). gruppen hinweg statt (. Tab. 4). Ab wel- zu werden, werden ab Juli 2021 begin- Berücksichtigt man die unterschiedliche chem Alter eine Person bewusst Suizid nend mit dem Berichtsmonat Januar Anzahl an Tagen je Monat, stellt sich ei- begeht oder begehen kann, ist nicht leicht 2020 monatliche Daten zur Todesursa- ne etwas andere Situation dar: Zwar ist zu bestimmen. Es werden keine Fälle von chenstatistik aufbereitet und veröffent- nach wie vor der Monat Juni der mit Suiziden in der Altersgruppe bis unter licht. Die monatlichen Berichte in der den meisten Suiziden (28 Suizide/Tag), 10 Jahren registriert, vereinzelt und sel- Todesursachenstatistik stellen vorläufige an zweiter Stelle liegt nun jedoch der Mo- ten finden Suizide allerdings bereits in Daten dar, bilden den jeweiligen Bearbei- nat Februar mit 27,5 Suiziden pro Tag. der Altersgruppe der 10- bis unter 15- tungsstand zum monatlichen Stichtag ab Das Vorjahresniveau von 9041 Suiziden Jährigen statt. Aus diesem Grund werden und können sich durch Nachmeldungen wurde entgegen mancher Vermutungen die unteren Altersgruppen der 0- bis 15- oder Korrekturen noch verändern. Das damit nur leicht überstiegen. Jährigen bei der Betrachtung der Suizide Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022 7
Leitthema gezählt. Zu den harten Suizidmethoden zählen demnach das Erhängen, Erschie- ßen, Ertrinken, Sturz aus der Höhe oder vor einen sich bewegenden Gegenstand und tiefe Schnitte. Andere Typologien differenzieren zwischen aktiven Me- thoden (Schießen, Sturz, Ertränken, Erhängen, Schnitte) und passiven Me- thoden (Tabletten, Gifte und Gase). Eine Unterscheidung der Suizidmethoden ist insofern relevant, da der Gesetzgeber Einfluss auf die Suizidwege nehmen kann, indem z. B. bei entsprechenden Medikamenten die Verpackungsgröße minimiert, der Zugang zu bestimmten Abb. 1 8 Anteile der Suizide an allen Todesursachen nach Geschlecht und Alter, Deutschland 2019 Mitteln wie Waffen etc. beschränkt und der Zugang zu hohen Gebäuden und/ zusammengefasst, alle anderen werden in deutliche Unterschiede auf. In Deutsch- oder Brücken erschwert wird. 5-Jahres-Altersklassen ausgewiesen und land betrug die altersstandardisierte Als Suizidmethoden werden in allen nur bei den über 90-Jährigen aufgrund Sterbeziffer bei Suizid im Jahr 2019 ins- Altersgruppen überwiegend sogenann- der geringen Fallzahl wieder aggregiert. gesamt 10,6 Fälle je 100.000 Einwohner te harte Methoden wie Erhängen, Er- Die absoluten Zahlen steigen mit dem Al- (. Tab. 5). Die geringsten Werte sind drosseln und Ersticken (ICD-10: X70) ter an und liegen in den Altersgruppen in Nordrhein-Westfalen (7,4), Bremen angewandt (siehe Onlinematerial, Ta- zwischen 50 und 60 Jahren am höchs- (8,9) und Brandenburg (10,1) zu finden. belle Z1). Sie machten im Jahr 2019 ten, vor allem bei den Männern: Von den Die höchsten Werte finden sich in Sach- fast die Hälfte aller Suizidmethoden aus 2667 im Jahr 2019 an Suizid Verstorbenen sen-Anhalt (13,5), Sachsen (13,0) und (45,1 %), das waren insgesamt 4074 Per- 50- bis 65-Jährigen waren 1974 Männer Hamburg (12,7) wieder. Auch in der zeit- sonen (3358 Männer und 716 Frauen). (74 %) und 693 Frauen (26 %). Dies liegt lichen Entwicklung gibt es Unterschiede. Insbesondere bei den Männern wurden vor allem daran, dass es in diesen Alters- In Gesamtdeutschland ist die altersstan- harte Methoden häufiger angewendet: gruppen sehr viele Menschen gibt. Die dardisierte Sterblichkeit aufgrund von Während 49,1 % der durch Suizid ver- Suizidrate je 100.000 Einwohner steigt Suizid von 1998 bis 2019 um 31,2 % ge- storbenen Männer Erhängen, Erdrosseln mit dem Alter an und liegt bei den 85- sunken. Diese positive Entwicklung ist oder Ersticken als Suizidmethode wähl- bis 90-Jährigen am höchsten. nicht überall im gleichen Maße zu finden: ten, waren es nur 32,6 % der Frauen. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man Die größten Rückgänge sind in Bremen Unabhängig vom Alter stellten die „Vor- die Bedeutung des Suizids unter allen (–47,0 %), Brandenburg (–43,3 %) und sätzlichen Selbstvergiftungen“ (ICD-10: Todesursachen in der jeweiligen Alters- Thüringen (–39,5 %) zu finden, die ge- X60–X69) mit 1550 Fällen die zweithäu- gruppe betrachtet: Hier zeigt sich, dass ringsten in Mecklenburg-Vorpommern figste Suizidmethode dar (936 Männer, sowohl in der Altersgruppe der 20- bis (–7,0 %) und Hessen (–13,0 %). Im Saar- 614 Frauen). Im Vergleich zu den Frauen 25-Jährigen als auch der 25- bis 30-Jäh- land war seit 1998 sogar eine leichte mit 27,9 % lag der Anteil der Männer rigen der Anteil an allen Todesursachen Zunahme um 18,8 % zu verzeichnen. mit dieser Methode bei lediglich 13,7 %. über 20 % liegt (. Abb. 1). Hierbei gibt Dies ist allerdings auch durch einen sehr Den größten Anteil bei den „Vorsätzli- es deutliche Unterschiede zwischen den niedrigen Ausgangswert im Jahr 1998 chen Selbstvergiftungen“ hatten sowohl Geschlechtern: Der Anteil der Suizide bei bedingt. bei den Männern wie auch bei den den Männern in den gerade genannten Frauen insbesondere die „Vorsätzliche Altersgruppen beträgt 23,7 % und 23,6 %, Suizidmethoden Selbstvergiftung durch und Exposition bei den Frauen 14,2 % und 13,9 %. Die- gegenüber sonstige(n) und nicht näher ser Unterschied ist in allen weiteren Al- Die wissenschaftliche Literatur zum The- bezeichnete(n) Arzneimittel(n), Drogen tersgruppen zu finden, lediglich bei den ma Suizid unterscheidet die Methoden und biologisch aktive(n) Substanzen“ unter 15-Jährigen ist der Anteil bei den unterschiedlich. So wird nach einer (ICD-10: X64). Für 13,5 % aller Frauen Mädchen größer (2,4 % weiblich zu 1,8 % Klassifikation von Bochnik [5] zwischen und 6,9 % aller Männer war dies die männlich). „weichen“ und „harten“ Methoden un- gewählte Art des Suizids. terschieden. Zu den weichen Methoden Suizide nach Region werden dabei die tödliche Einnahme Suizide nach Sterbemonaten von Tabletten oder Drogen im weitesten Das Niveau der suizidalen Sterblichkeit Sinne sowie Vergiftungen (einschließlich Die Todesursachenstatistik war lange weist im Vergleich der Bundesländer Tod durch Einatmen von Abgasen usw.) Zeit ausschließlich als Jahresstatistik 8 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022
Tab. 5 Entwicklung der altersstandardi- Tab. 6 Suizide nach Sterbemonaten ab- beinhalten. Dabei ist deutlich geworden, sierten Sterbeziffera in Deutschland und den solut und nach Anteilen am Jahresergebnis dass das Merkmal Alter beim Thema Ländern 1998 bis 2019. (Quelle: Statistisches in Deutschland, 2019. (Quelle: Statistisches Suizid eine wichtige Rolle spielt: Abso- Bundesamt, Todesursachenstatistik, 2021) Bundesamt, Todesursachenstatistik, 2021) lut gesehen werden die meisten Suizide Region Altersstandardi- Entwicklung Sterbe- Ins- Anteil am sierte Sterbezif- 2019 zu monat gesamt Jahresergebnis von Menschen der Altersgruppe 50 bis fer 1998 in % 65 Jahre begangen, auf 100.000 Einwoh- In % Januar 776 8,6 ner gerechnet jedoch ist die Suizidrate 1998 2019 Februar 704 7,8 bei den 85- bis 90-Jährigen am höchs- Deutsch- 15,4 10,6 –31,2 ten. März 765 8,5 land Aktuell werden die Daten der Todes- April 786 8,7 Baden- 16,4 11,0 –32,9 ursachenstatistik immer noch unikausal Mai 767 8,5 Württem- aufbereitet, das bedeutet, dass von allen berg Juni 768 8,5 auf der Todesbescheinigung vorhande- Bayern 17,5 11,4 –34,9 Juli 808 8,9 nen Informationen ausschließlich das so- Berlin 13,9 10,4 –25,2 August 778 8,6 genannte Grundleidenausgewiesenwird. Branden- 17,8 10,1 –43,3 September 660 7,3 Langfristig aber steigt zu Recht die Er- burg Oktober 760 8,4 wartung, alle vorliegenden Informatio- Bremen 16,8 8,9 –47,0 November 756 8,4 nen auszuwerten, um bspw. Rückschlüs- Hamburg 20,4 12,7 –37,7 Dezember 713 7,9 se auf mögliche Risikofaktoren aufzu- Hessen 13,1 11,4 –13,0 Insgesamt 9041 100 zeigen und frühzeitig auf diese im Rah- Mecklen- 12,9 12,0 –7,0 men geeigneter Präventionsmaßnahmen burg-Vor- reagieren zu können. Bei Suiziden liegen pommern tum) ausweist, ist der Sterbetag eindeutig oftmals psychische Begleiterkrankungen Nieder- 15,3 10,5 –31,4 dem jeweiligen Monat zuzuordnen. wie Depressionen zugrunde. Die gestie- sachsen Für das Berichtsjahr 2019 kann die all- gene Relevanz der Komorbiditäten trifft Nordrhein- 11,4 7,4 –35,1 gemein geläufige Annahme, dass sich in aber nicht nur beim Thema Suizid zu: Westfalen den Wintermonaten mehr Menschen das Aufgrund der immer höher werdenden Rheinland- 16,7 11,7 –29,9 Leben nehmen, nicht bestätigt werden Lebenserwartung sterben die Menschen Pfalz (. Tab. 6). Grundsätzlich zeigen die mo- heute nicht wie vor 200 Jahren im mitt- Saarland 9,6 11,4 18,8 natlichen Ergebnisse, dass es eine gleich- leren Alter an nur einer Krankheit, son- Sachsen 20,3 13,0 –36,0 mäßige Verteilung über das gesamte Jahr dern deutlich älter und an einer Vielzahl Sachsen- 19,2 13,5 –29,7 gibt. Die Monate mit den höchsten An- von Krankheiten (Multimorbidität). Es Anhalt teilen sind der Juli (8,9 % Anteil am Jah- ist wichtig, die Wechselwirkungen zwi- Schleswig- 16,7 12,6 –24,6 Holstein resergebnis) und der April (8,7 %). Die schen verschiedenen Krankheiten abzu- geringsten Werte sind in den Monaten bilden, um diese bekämpfen zu können. Thüringen 19,5 11,8 –39,5 a September (7,3 % Anteil am Jahresergeb- Im Bereich Statistik wird diese Schwach- Anhand der Standardbevölkerung „Deutsch- land 2011“ nis) und Februar (7,8 %) feststellbar. stelle bereits angegangen, so steht den Auch bei der differenzierten Dar- statistischen Landesämtern ein elektro- stellung der Monatsergebnisse nach nisches System [6] zur automatisierten konzipiert. Mit der Umstellung der Er- Geschlecht ergibt sich kaum eine Be- Codierung der Todesursachen zur Verfü- hebungsmodalitäten besteht aber auch sonderheit: Zum einen sind Männer gung (Iris/MUSE), das weltweit als Stan- die Möglichkeit, die Daten nach dem grundsätzlich aufgrund der höheren dard gilt und eine multikausale Aufbe- Sterbemonat auszuwerten, um einen Zahlen überrepräsentiert, zum anderen reitung aller auf der Todesbescheinigung Überblick über das suizidale Verhalten zeigen sich über das Jahr hinweg nur vorhandenen Informationen ermöglicht im Laufe eines Jahres zu erhalten. So geringe Schwankungen (. Abb. 2). und auswertbar macht. Erste Ergebnisse lassen sich beispielsweise Fragen unter- liegen voraussichtlich Ende 2022 vor. Ein suchen wie: „Starben im Zeitraum von Fazit und Ausblick weiterer Schritt in die Zukunft wäre die sportlichen Großereignissen mehr Men- Bereitstellung einer webbasierten Platt- schen am Herzinfarkt?“ und: „Stimmt Bei fast 1 % aller Gestorbenen im Jahr form zur direkten Erfassung der Todesur- es, dass mehr Menschen in der dunklen 2019 war der Suizid die Todesursache. sachen vor Ort, bspw. mittels einer App. Jahreszeit/Wintermonaten ihrem Le- Dies zeigen die Ergebnisse der Todes- Auch diese Möglichkeit wird aktuell auf ben ein Ende setzen als in den übrigen ursachenstatistik, in die alle Daten zu Machbarkeit geprüft. Im Ergebnis würde Monaten des Jahres?“ Da die Todesur- den Gestorbenen mit Hauptwohnsitz in die Qualität der Eingaben deutlich erhöht sachenstatistik die Sterbefälle nach dem Deutschland einfließen und die neben werden können, wenn unplausible An- sogenannten Ereignisdatum (= Sterbeda- den eigentlichen Todesursachen auch gaben im Dialog zwischen App und Arzt Informationen zu Alter und Geschlecht geklärt würden. Außerdem lägen dann Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022 9
Leitthema Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Ma- terials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/ licenses/by/4.0/deed.de. Literatur 1. Bundesverfassungsgericht (2020) Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15. https:// www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/ Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_ 2bvr234715.html. Zugegriffen: 3. Juli 2021 2. Eckert O, Schelhase T (2019) Die Todesursa- chenstatistik der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. In: Die ärztliche Leichenschau – Rechtsgrundlagen, Praktische Durchführung, Abb. 2 8 Anzahl der Suizide nach Monaten und Geschlecht, Deutschland 2019 Problemlösungen. Madea, Berlin, S 245 3. von den Driesch E (2021) Unter Verschluss. Eine Geschichte des Suizids in der DDR 1952–1990. alle Informationen direkt in elektroni- Menschen in Deutschland durch Suizid, Campus, Frankfurt/M 4. Rolland S, Rosenow C (2004) Diagnosedaten der scher Form vor und könnten automati- das sind über 27 Personen täglich. Jeder Krankenhauspatientinnen und -patienten 2000. siert verarbeitet, weitergeleitet und sofort einzelne dieser Fälle stellt eine Tragödie In: Klauber J, Robra BP, Schellschmidt H (Hrsg) verfügbar gemacht werden. Um dies alles dar und sollte von der Gesellschaft nicht Krankenhaus-Report 2003. Schattauer, Stuttgart, S 365 effektiv und reibungsfrei entwickeln zu einfach hingenommen werden. 5. Bochnik HJ (1962) Verzweiflung. In: Randzonen können, wäre es wünschenswert, wenn in menschlichen Verhaltens. Enke, Stuttgart Deutschland eine bundeseinheitliche To- 6. Eckert O (2017) Verbesserte Qualität der natio- Korrespondenzadresse nalen und internationalen Todesursachenstatis- desbescheinigung verwendet wird, und tik durch den Kodierkern MUSE. Wirtsch Stat Torsten Schelhase nicht – wie aktuell – 16 verschiedene [7]. 2017(4):118–130 H11 Gesundheitsstatistiken, Statistisches 7. Eckert O, Kühl L, Vogel U, Weber S (2019) Entwick- Parallel zu diesen Verbesserungen ist Bundesamt, Zweigstelle Bonn lung einer elektronischen Todesbescheinigung für auch eine qualitativ bessere Leichenschau Graurheindorfer Straße 198, 53117 Bonn, Deutschland. Bundesgesundheitsblatt Gesund- wünschenswert, ähnlich dem Coroner- Deutschland heitsforschung Gesundheitsschutz 62:1493–1499 System2 in England. Das Ausfüllen der torsten.schelhase@destatis.de Todesbescheinigung sollte seitens der Ärzte nicht bloß als Formalität, sondern Funding. Open Access funding enabled and organi- zed by Projekt DEAL. als Quelle von Informationen mit hoher Relevanz für die erfolgreiche Ermittlung der zum Tode führenden Krankheiten Einhaltung ethischer Richtlinien angesehen werden. Darüber hinaus wä- re auch eine Erhöhung des Anteils an Interessenkonflikt. T. Schelhase gibt an, dass kein Obduktionen wünschenswert, da nur da- Interessenkonflikt besteht. rüber zuverlässig detaillierte Ergebnisse Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien zu den Todesursachen erzielt werden an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufge- können. führten Studien gelten die jeweils dort angegebenen Wie auch immer eine künftige Todes- ethischen Richtlinien. ursachenstatistik aussehen und die Ver- Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative arbeitung derDatenim ZeitalterderDigi- Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz talisierung verbessert werden wird: Nach veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jegli- wie vor sterben jedes Jahr fast 10.000 chem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsge- 2 Im Gegensatz zu Deutschland, wo jeder mäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenom- Arzt eine Todesbescheinigung ausstellen kann/ men wurden. muss,wirddieseTätigkeitinEnglandvonspeziell dafür geschulten Personen, sogenannten Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Coroner, durchgeführt. Coroner sind in der Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Regel Ärzte, die über weitergehendes Wissen zu Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil- rechtlichen und klinischen Fragen rund um die dungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be- Todesbescheinigungen verfügen. treffende Material nicht unter der genannten Creative 10 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2022
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