SUN - UNIVERSITÄT MÜNSTER
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SuN Heft 01/2022 Soziologie und Nachhaltigkeit - Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung Konstantin Klur Extinction is Bad for Economy (Nicht-)Nachhaltigkeit zwischen Katastrophenangst und kapitalistischem Realismus Zusammenfassung: Durch die sich verschär- Abstract: In the context of the worsening climate fende Klimakrise kommt eine Katastrophenangst crisis, a catastrophic consciousness emerged that in- auf, die Menschen zunehmend auf die Straße und creasingly pushes people into the streets and toward zur Politisierung drängt. Zugleich zeichnet sich die politicization. At the same time, the current phase of heutige Phase spätkapitalistischer Gesellschaften late capitalist societies continues to be characterized durch eine erzwungene Entpolitisierung aus, die by an enforced depoliticization, which Mark Fisher Mark Fisher auf den Begriff des „kapitalistischen brought to the concept of „capitalist realism“. At its Realismus“ brachte. Dessen Kern ist die Legitima- core is the legitimation of the existing social order by tion der bestehenden Gesellschaftsordnung durch economic constraints and their alleged lack of alter- ökonomische Sachzwänge und deren angebliche natives. As I show in this essay, (not only) the climate Alternativlosigkeit. Wie ich in diesem Essay zeige, movements move in this field of tension between bewegen sich (nicht nur) die Klimabewegungen politicization and depoliticization: In the climate in diesem Spannungsfeld aus Politisierung und discourses, the limits imposed by capitalist realism Entpolitisierung: In den Klimadebatten werden on politicization are mostly not broken through. die Grenzen, die kapitalistischer Realismus der Rather, a mode of movement emerged within the Politisierung auferlegt, zumeist nicht durchbro- tension: a simulative crisis management that wants chen. Vielmehr bildete sich ein Bewegungsmodus to change everything without changing anything. innerhalb des Spannungsverhältnisses heraus: Eine This form of crisis management also sheds light on simulative Krisenbewältigung, die alles ändern contradictions in today‘s natural relations, which möchte, ohne etwas zu ändern. Diese Form der move between technical solutionism and natural Krisenbewältigung gibt auch Aufschluss über Wi- romanticism, and which each represent hurdles for dersprüche in den heutigen Naturverhältnissen, die successes of social-ecological movements. sich zwischen technischem Solutionismus und Na- turromantizismus bewegen und jeweils Hürden für Erfolge sozialökologischer Bewegungen darstellen.
Autor: Konstantin Klur ist Doktorand am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung e.V. - ISF München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kapitalismustheorie, Arbeitssoziologie, Subjekttheorie und Kritische Theorie. konstantin.klur@isf-muenchen.de Soziologie und Nachhaltigkeit Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung ISSN 2364-1282 Heft 1/2022, 8. Jahrgang, DOI: 10.17879/sun-2022-3862 Eingereicht 03.10.2021 – Peer-Review 24.01.2022 – Überarbeitet 25.02.2022 – Akzeptiert 15.03.2022 Lizenz CC-BY 4.0 (www.creativecommons.org/licenses/by/4.0) Herausgeber*innen: Benjamin Görgen, Matthias Grundmann, Anna Henkel, Melanie Jaeger-Erben, Björn Wendt Redaktion: Niklas Haarbusch, Jessica Hoffmann, Jakob Kreß, Carsten Ohlrogge Layout/Satz: Frank Osterloh/Niklas Haarbusch Anschrift: WWU Münster, Institut für Soziologie Scharnhorststraße 121, 48151 Münster Telefon: (0251) 83-25440 E-Mail: sun.redaktion@wwu.de Website: www.sun-journal.org
Klur - Extinction is Bad for Economy Einleitung: Der Lauf der Dinge 2021). Im kapitalistischen Realismus wäre die und die Katastrophe treibende legitimatorische Kraft dagegen nicht länger kollektive Zielvorstellungen, mit den libe- „I don’t want you to be hopeful, I want you to panic. ral-kapitalistische Gesellschaften prätendierten, SuN 01/2022 I want you to feel the fear I feel every day and then I wenn nicht übereinzustimmen, dann auf sicherem want you to act!” (Guardian 2019: 02:25 min) Spä- Weg zu diesen zu sein, sondern das „dünne[] testens mit diesen Worten vor den versammelten Axiom, es könne nicht anders sein als es ist“ (vgl. Teilnehmer*innen des Weltwirtschaftsforums in auch Adorno 2003: 477). Wie wir sehen werden, Davos wurde Greta Thunberg zum Symbol einer verschwinden die Zielvorstellungen nicht einfach Generation, deren Verständnis von Zukunft sich ersatzlos, werden aber in den Rahmen gesell- gegenüber vergangenen Generationen radikal ge- schaftspolitischer Alternativlosigkeit eingepasst. wandelt hat. Nicht mehr die der Moderne wie dem Viel wäre zu den historischen Hintergründen Liberalismus eigentümliche Fortschrittsgewiss- dieser Entwicklung zu sagen: Die Zerschlagung heit, sondern die drohende (Klima-) Katastrophe oppositioneller Bewegungen bei gleichzeitiger bildet ihren historischen Horizont (vgl. de Moor Einverleibung und Individualisierung ihrer Ideale et al 2020: 19 ff.). Doch hatte der Glaube an den (Chamayou 2019: 170 f.), das Ende der System- Fortschritt auch vor der neueren Katastrophen- konkurrenz zwischen Osten und Westen (Dean angst bessere Tage erlebt, denn bereits zuvor tat 2018: 23 f., Jameson 1991: 274) sowie das Ende sich ein Bruch in der Gewissheit auf, sich auf den des Nachkriegsaufschwungs und die Abfolge Bahnen des Fortschrittes zu bewegen. Vor etwas ökonomischer Krisen seit den späten 1960er mehr als zehn Jahren brachte Mark Fisher diesen Jahren (Staab 2019: 54 f., Nachtwey 2016: 43 Bruch im historischen Bewusstsein auf den Begriff ff.), die einen Modus permanenter Krisenbewäl- „Capitalist Realism“ (Fisher 2009), der mit einer tigung hervorbrachte (Nachtmann 2012: 193). grundlegenden Verschiebung in der Legitimie- An dieser Stelle müssen wir uns jedoch mit der rungsweise des Spätkapitalismus einhergehe. Die Darstellung der Konsequenzen begnügen: Im liberale Epoche war mit einem Menschheitspro- Zuge des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft jekt verbunden, das sich um die Ideale der (Stapelfeldt 2014: 282 ff.) setzte sich eine politi- Französischen Revolution anordnete (Bauman sche Sachzwangideologie durch, in deren Lichte 2000). Um sich legitimieren zu können, mussten liberal-kapitalistische Gesellschaften Legitima- sich liberal-kapitalistische Gesellschaften als die tion zunehmend nicht länger durch Berufung auf (kommende) Einlösung von Freiheit, Gleichheit moderne Ideale gewinnen mussten. Stattdessen und Solidarität darstellen (Adorno 1976: 27). Wie wurden die gesellschaftliche Alternativlosigkeit Walter Benjamin argumentierte, kann unter Vor- sowie die Unausweichlichkeit marktkonformer zeichen des Fortschrittsglaubens das Versprechen Politik zu den zentralen ideologischen Dogmen der besseren Zukunft zwar stets der Legitimation (Fisher 2009: 8). Weil es keine Alternativen zum der schlechten Gegenwart dienen, die diese her- gesellschaftlichen Status Quo gebe, konnte Ideo- beiführen soll (Benjamin 2015: 88). Dennoch bot logie sich fortan mit Ideenlosigkeit bescheiden der klassische Liberalismus selbst den Maßstab und in den „Schein übergeh[en], was ist, sei der Kritik an diesem – folgerichtig waren es unausweichlich und damit legitimiert“ (Adorno jene Ideale der Französischen Revolution, deren 2015: 265). Es ist eine historische Ernüchterung mangelnde Einlösung von subalternen Klassen eingetreten, die auch den Hintergrund der Absage seit der Pariser Kommune gegen die bürgerliche an die großen Erzählungen der Moderne darstellt: Gesellschaft in Anschlag gebracht wurde (Ross Etwas wirklich Neues, geschweige denn Besseres 3
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung können sich die Menschen heute kaum mehr als sich langsam, aber unaufhaltsam vollzieht und konkrete Möglichkeit vorstellen. Es sei angesichts sich nicht räumlich eingrenzen lässt, sondern dieser Verengung des historischen Möglich- alles Handeln und jede Beziehung durchzieht. Die keitshorizonts, so stellt Fisher in Anlehnung an daraus resultierende Katastrophenangst ist ihrer- SuN 01/2022 Fredric Jameson fest, für die heutige Menschheit seits so diffus und total, wie ihr Gegenstand – was einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als sie keineswegs mildert, sondern zur ubiquitären das des Kapitalismus (Fisher 2009: 2). Erfahrung steigert, die sich nicht selten in Szena- rien des Untergangs und dem mystizistischen Bild Wenden wir uns nochmals dem Zitat Thunbergs einer Natur niederschlägt, die Rache nehme. zu: Dieses verweist bereits darauf, dass das Ende der Welt längst mehr als eine Metapher ist und es Auch Mark Fisher beschäftigte sich im Lichte des für viele Menschen keiner großen Anstrengungen kapitalistischen Realismus mit der Vorstellung bedarf, sich das Ende der Welt als konkrete Mög- der Katastrophe. In der kulturindustriellen Mas- lichkeit vorzustellen.1 Nun ist die Vorstellung, eine senproduktion von Dystopien sei der Untergang entscheidende Krise stehe bevor, keineswegs neu; der Zivilisation zum Spektakel geworden, in dem nein, das „verzweifelt helle Bewußtsein, inmitten sich das „allmähliche Aufkündigen der Zukunft“ einer entscheidenden Krisis zu stehen, ist in der (Fisher 2015: 17) ausdrücke: Dystopische Zu- Menschheit chronisch“ (Benjamin 1982: 677) und kunftsfantasien seien Ausdruck einer Gesellschaft, gerade die kapitalistische Moderne hat in ihrer die sich außer dem Fortlaufen der Dinge, der zerstörerisch-schöpferischen Dynamik stets auch Steigerung des Bestehenden ins Unermessliche, Szenarien des Untergangs befeuert. Die Klima- nichts vorstellen könne und zugleich weiß, dass krise ist nicht die erste Krise, die sich anschickt, dieses Fortlaufen in der Katastrophe münden die letzte zu sein und doch unterscheidet sie sich muss (Fisher 2009: 2). Die Katastrophenangst von vorangegangenen qualitativ. Nicht so sehr im beerbt das Geschichtsverständnis der klassischen Ausmaß der Angst, das angesichts der Schrecken Moderne unter umgekehrten Vorzeichen: Wie der Geschichte durchaus seinesgleichen findet; Jean Améry feststellte, zeichnete sich der moderne nicht einmal die Universalität und Unumkehr- Fortschrittsglaube durch die bloße Verlängerung barkeit der befürchteten Katastrophe lässt sich der Gegenwart in die Zukunft aus (Améry 1990: seit der Möglichkeit atomarer Vernichtung als 80) und diese Verlängerung mündet im heutigen historische Neuheit auffassen. Für die Moderne Zeitgeist unausweichlich im Bild der Katastrophe. neu dagegen ist der Gegenstand der Angst, denn Nun kann man allerdings nicht unterstellen, dass dieser ist nicht der Knopf zum Abschuss der die Menschheit sich in blankem Zynismus mit Atombombe, eine vom Menschen geschaffene dem kommenden Untergang abgefunden hätte. Technologie in der Verfügungsgewalt von Men- Seit einigen Jahren nimmt vielmehr ein neuer schen, sondern ein unberechenbares Abstraktum: Zyklus an sozialen und ökologischen Protest- ‚Die Natur‘ und damit die Bedingung menschli- bewegungen Fahrt auf; die Katastrophenangst cher Existenz, die in den Klimabewegungen viel treibt weltweit Hunderttausende auf die Straßen beschworene Zukunft, überhaupt. Es ist eine und die Klimakrise ist zum zentralen Politikum Katastrophe, die nicht plötzlich eintritt, sondern geworden, das sich aus den tagespolitischen Debatten nicht mehr wegdenken lässt (Brand/ Wissen 2017: 24 f.). Der kapitalistische Realismus 1 Und Thunberg ist damit nicht allein: In einer aktuellen Studie unter tausenden Jugendlichen aus aller Welt muss sich seinen Platz im Zeitgeist zunehmend stimmen 56 Prozent der einfachen Feststellung „Humanity mit der Katastrophenangst teilen. Zwar kann man is doomed“ zu (Hickman et al. 2021: 6). 4
Klur - Extinction is Bad for Economy von Fisher lernen, dass diese keinen starren Ge- ich mich in einem Abriss über die heutigen Natur- genpol zum kapitalistischen Realismus darstellt, verhältnisse der Naturalisierung von Gesellschaft, weil sie sich erst aus dem Zusammenspiel der die implizit auch simulativer Krisenbewältigung heutigen ökologischen und sozialen Krisen und zugrunde liegt und ein Motor politischer Regres- SuN 01/2022 der Abwesenheit greifbarer oder auch nur denk- sion ist. Zwar werde ich nachfolgend zuweilen barer Alternativen speist. Dennoch scheint sich unter kritischem Bezug auf die Klimabewegungen ein Spannungsverhältnis zwischen einer angst- argumentieren, doch sind diese nicht primärer getriebenen Politisierung und der erzwungenen Gegenstand meiner Kritik. Vielmehr sollen ge- Entpolitisierung des kapitalistischen Realismus sellschaftliche Gegenkräfte zu einem radikalen aufzutun – womit aber nicht gesagt ist, ob die Be- sozialökologischen Wandel analysiert werden, schränkungen des Letzteren dadurch gesprengt die sich der widersprüchlichen Konstellation werden oder sich vielmehr Formen der Politik, aus Katastrophenangst und Alternativlosigkeit des Aktivismus und der Ideologie entwickeln, verdanken und den Erfolg sozialökologischer Be- die sich innerhalb des Widerspruchs bewegen wegungen zu behindern drohen. können, ohne diesen zu sprengen. Und tatsäch- lich gibt es einige Anzeichen dafür, dass sich diese Sprengkraft bislang nicht entwickelte: Wie ich 1. Entpolitisierte Politik: nachfolgend in (notwendigerweise fragmentari- Staat und Wissenschaft scher) Auseinandersetzung mit unterschiedlichen in den Klimadebatten Aspekten der (Debatten um) Nachhaltigkeit und Klimapolitik zeigen möchte, bleiben der Politisie- Wie es um die Politisierung der Klimadebatten rung bisher oftmals enge Grenzen gesetzt. bestellt ist, lässt sich am Verhältnis der Klimabe- wegung zu Wissenschaft und Staat bestimmen. Diese Grenzen präzisiere ich zunächst, indem Vielfach wurde festgestellt, dass zumindest die ich das Zusammenspiel von imperialer Lebens- öffentlichkeitswirksamen Vertreter*innen der weise, Alternativlosigkeit und postfordistischer Bewegung (die keinesfalls mit der heterogenen Dauerkrise als zentrale Beharrungskraft der Bewegung in toto gleichzusetzen sind) über „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn die Anrufung ‚der Politik‘, diese solle endlich 2020a) analysiere. In diesem Kontext analysiere auf ‚die Wissenschaft‘ hören und entsprechend ich zudem den Szientismus und Apellcharakter handeln, kaum hinausgehen (Blühdorn 2020a: der Klimadebatten, aus denen ein Modus ent- 62). Diese Beschränkung auf zivile Proteste und politisierter Politik spricht (Abschnitt 1). Darauf wissenschaftlich untermauerte Appellation wird aufbauend gehe ich auf eine Form von Politik und auch innerhalb der Bewegung aus unterschied- Ideologie ein, die sich zwischen den Extremen lichen Richtungen kritisiert, etwa von Carola von Alternativlosigkeit und Katastrophenangst Rackete (2021) und Andreas Malm (2021). Auf bewegen kann und die ich als simulative Krisenbe- der Ebene der deutschen Bundesorganisation wältigung bezeichne (Abschnitt 2). Diese reagiert von Fridays For Future bestätigten diese Kritik auf den Widerspruch, dass keine grundlegenden noch vergangenes Jahr Luisa Neubauer und Alternativen denkbar sind, gerade angesichts der Carla Reemtsma (2021) in ihren Gastbeitrag für Klimakrise sich aber zugleich niemand mit bloßer die taz, in dem sie unter vehementen Verweis auf Alternativlosigkeit zufriedengeben kann: Weil sich die Dringlichkeit nochmals die „Mächtigen“ zum nichts ändern könne und es doch nicht so bleiben Handeln auffordern. Zwar deuten sich diesbezüg- darf, etablieren sich unterschiedliche Formen si- lich Verschiebungen an: Carla Reemtsma etwa mulativer Bewältigungsstrategien. Zuletzt widme 5
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung verkündete im Frühjahr 2022, dass das bishe- et al. 2018: 9), sondern beruht „unverzichtbar auf rige „Repertoire durchgespielt“ (RND 2022) sei dem Prinzip der Entsolidarisierung, Ausbeutung und man eine „Verbreiterung der Protestformen und Exklusion“ (Blühdorn 2020a: 19). Diese erleben“ wird. Auch wenn diese Ankündigung bei ihrem Prinzip nach exklusive und herrschaft- SuN 01/2022 jenen Kommentator*innen für Schnappatmung liche Lebensweise scheint heute von mehreren sorgte, die schon im freitäglichen Fernbleiben Seiten bedroht zu sein: Von den Ansprüchen auf vom Unterricht einen Zivilisationsbruch er- Teilhabe von Menschen des globalen Südens blickten, bleiben die praktischen Konsequenzen (Lessenich 2018a: 125 ff., Bauman 2016), einem abzuwarten. Zumindest bislang bleibt die Ap- verschärften globalen Wettbewerb und schließ- pellation an Amtsträger*innen innerhalb wie lich der Krisenanfälligkeit des postfordistischen außerhalb der Bewegung ein bedeutungsvoller Kapitalismus (Vidal 2013), in deren Lichte die Modus der Argumentation und des Aktivismus. Krise (und mit ihr die Angst um Arbeitsplatz und So wenig die Empörung über die Inaktivität Lebensstandard) für viele Arbeiter*innen des glo- von Regierungen dabei falsch sein mag, so sehr balen Nordens zu einem „permanente[n] Prozess“ werden dadurch strukturelle Probleme auf die (Detje et al. 2011: 55) wird. Zwar sind die „Sorgen Ignoranz einiger Weniger heruntergebrochen. um den Mittelstand […] so alt wie der Mittelstand Man argumentiert als würde sich der Knopf zur selbst“ (Lessenich 2018b: 163) – seitdem der Vermeidung der Klimakatastrophe analog zur Bürger an Privatbesitz gekommen ist, ängstigt Atombombe in der unmittelbaren Verfügungs- er sich, diesen wieder zu verlieren. Doch aktuali- gewalt Einzelner befinden, die aber so ignorant siert sich diese bürgerliche Angst im Lichte eines wären, diesen nicht zu betätigen. In dieser Perso- Szenarios anhaltender ökonomischer Krisen, die nalisierung bleiben die strukturellen Gründe der den sozialen Abstieg zum Vergleichshorizont der „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn eigenen Lebenslage (Menz/Nies 2019a: 219) und 2020a) ausgeblendet, die heute insbesondere in „die distanzlose Internalisierung systemischer der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen Mechanismen und die angstbetriebene Unter- 2017) und deren Verteidigung durch ein Bündnis werfung unter die Autorität des Marktes“ (Menz/ von Mehrheitsbevölkerung, Staat und Kapitalien Nies 2019a: 217) zum Modus Operandi spätkapi- angesichts realer und imaginierter Bedrohungen talistischer Gesellschaften werden lassen. Dieser zu suchen sind. „Markautoritarismus“ (Menz/Nies 2019a), der auch die legitimatorische Basis des neoliberalen Die Imperiale Lebensweise und ihre Umbaus darstellte (Lessenich 2016), verträgt sich Bedrohung nur allzu gut mit dem kapitalistischen Realismus, dessen Kernstück eine “Deflation der Erwar- Der Begriff der imperialen Lebensweise be- tungen” (Fisher 2015: 17) ist: Die entscheidende zeichnet in den Worten Stephan Lessenichs die legitimatorische Kraft ist in diesem nicht die „strukturelle Möglichkeit“ des globalen Nordens Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sondern die „zur Realisierung der Gewinne und gleichzeitigen Drohung einer schlechteren.2 Externalisierung der Kosten ihrer Arbeits- und Lebensweise“ (Lessenich 2018a: 108). Der Le- Die imperiale Lebensweise und ihre (angebliche) bensstandard des globalen Nordens beruht auf Bedrohung impliziert daher, dass man nicht der „Überausbeutung“ (Fischer 2020) von Men- schen und natürlichen Ressourcen in Ländern des 2 Zur Rolle von Krisen bei der „Verallgemeinerung und Vertie- globalen Südens und kann daher prinzipiell nicht fung der imperialen Lebensweise“ siehe Brand und Wissen universalisiert werden (Lessenich 2016, Blühdorn (2017: 95 ff.). 6
Klur - Extinction is Bad for Economy unmittelbar von gegensätzlichen Interessen zwi- Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2018: 173) und schen Kapital und Arbeit ausgehen kann. Denn der imperialen Lebensweise so wenig verständlich die Aufrechterhaltung der eigenen Lebensweise wie die rechtspopulistische Reaktion auf deren kommt auch deutschen Unternehmen entgegen, angebliche Bedrohung durch jene „Nicht-Staats- SuN 01/2022 deren Möglichkeiten auf Gewinn auf billiger bürger, die Zugang zu den Wohlstandsregionen Arbeit in und billigen Ressourcen aus Ländern des suchen“ (Lessenich 2018a: 129). Die „nachhal- globalen Südens sowie der Externalisierung von tige Nicht-nachhaltigkeit“ lässt sich daher nicht Umwelt- und Klimaschäden beruhen (Lessenich zum bloßen Wohlstandsphänomen verkürzen, 2018a: 96 ff.). Man sollte aus dieser Übereinstim- sondern erschließt sich aus dem Zusammenspiel mung allerdings nicht den Schluss ziehen, dass von imperialer Lebensweise und grundlegender Klassengegensätze aufgehoben seien. Dass es Prekarität der Lohnabhängigkeit. auch im globalen Norden einen Widerspruch von Doch nicht nur die Bevölkerung, auch der Staat Kapital und Arbeit gibt und dieser mit einer prin- ist auf die Aufrechterhaltung der imperialen zipiellen Prekarität für Arbeiter*innen verbunden Lebensweise bedacht. Als „Staat des Kapitals“ ist, ändert sich auch dadurch nicht, dass diese (Agnoli 1975: 60) kommt diesem die Funktion zu, Arbeiter*innen von der Überausbeutung des glo- die nationalen Verwertungsbedingungen insti- balen Südens profitieren und ein unvergleichlich tutionell abzusichern. Der Staat ist insofern kein besseres Leben führen, als Jene, die gezwungen freischwebender Akteur, sondern hat Autonomie sind, den Preis der imperialen Lebensweise zu nach Johannes Agnoli nur innerhalb der notwen- zahlen. Basis der überlappenden Klasseninter- digen Vermittlung unterschiedlicher Kapital- und essen bleibt die „Spaltung zwischen dem Leben Klasseninteressen (Agnoli 1975: 66 f.).3 Nicht und seinen Bedingungen“ (Mau 2021: 141), die nur treten dabei angesichts anhaltender ökono- nach Marx Voraussetzung der Verallgemeinerung mischer Krisentendenzen (vgl. Pfeiffer 2021: 157) von Lohnarbeit und Warenproduktion für den Fragen der sozialökologischen Transformation Markt ist: Ohne Enteignung von den Lebensbe- noch weiter in den Hintergrund. Die Staaten des dingungen, kein Zwang vom Verkauf der eigenen globalen Nordens sind generell zentrale Garanten Arbeitskraft zu leben und auf deren erfolgreichen der imperialen Lebensweise: Sie sorgen für die Verkauf angewiesen zu sein (Marx/Engels 1962: Exklusion derer, die zur Aufrechterhaltung der 183). Unter gesellschaftlichen Bedingungen, in imperialen Lebensweise ausgeschlossen bleiben der Bedürfniserfüllung und (soziales) Überleben müssen (Blühdorn 2018: 172) und versuchen an Lohnarbeit gekoppelt und daher nicht garan- die „weltwirtschaftlichen Austauschverhältnisse“ tiert sind (Mau 2021: 154), verwundert es nicht, (Lessenich 2018a: 36) zugunsten heimischer dass Arbeiter*innen unter Abwesenheit konkreter Unternehmen zu formen. Der Staat ist daher gesellschaftlicher Alternativen mit jenen Kapi- nicht der neutrale Ort der Umsetzung rationaler talfraktionen übereinstimmen, von deren Erfolg Entscheidungen, der über die Interessen in Öko- auch die eigenen Lebensbedingungen abhängen. nomie und Gesellschaft erhaben wäre. Als solcher Kann es auch nicht darum gehen, die Nutznie- ßer*innen der imperialen Lebensweise zu den eigentlichen Opfern zu erklären: Ignoriert man 3 Mit Lessenich wären hier neben den „kapitalistischen Er- fordernissen“ auch die „demokratischen Forderungen“ die prinzipielle Prekarität von Lohnabhängigen als Moment staatlicher Vermittlungsleistung zu nennen und die damit verbundene Angst, das Gewon- (Lessenich 2017: 149). Diese müssen sich mit den Verwer- tungsanforderungen jedoch nicht notwendigerweise wi- nene (und angeblich Verdiente) zu verlieren, dersprechen und zumindest in Bezug auf die Erhaltung wird die „mehrheitsgestützte[] Verteidigung der der imperialen Lebensweise fallen sie gar zusammen (vgl. Blühdorn 2020b: 152 ff.). 7
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung wird er von Teilen der Klimabewegung aber ad- der Grund, warum Greta Thunberg gerne auf ressiert. Man übersieht, „dass das so adressierte Bühnen der internationalen Politik geladen wird: vermeintliche Steuerungssubjekt ‚Staat‘ kein Sie stellt keine Gefahr für die Legitimität der be- möglicher Gegenpol, sondern ein wesentliches stehenden internationalen Ordnung dar, deren SuN 01/2022 Moment in der institutionellen Absicherung der Akteure zugleich signalisieren können, sie würden imperialen Lebensweise ist“ (Brand/Wissen 2017: die Sorgen um die Klimakrise ernst nehmen. 16). Mit Agnoli gesprochen ist es eine „ideologi- sche, mystifizierende Vorstellung des Staats, die Szientismus und Sachzwang die Herrschaft legitimieren soll“, wenn dieser „als Die Verwissenschaftlichung „umwelt- und autonome, nur durch freien Willen und durch nachhaltigkeitspolitischer Belange“ (Blühdorn ideale Zielorientierung bestimmte Handlung 2020a: 97) ist neben der Ausblendung des Herr- politischer Führungsgruppen“ (Agnoli 1975: 65) schaftscharakters des Staates mit einem weiteren aufgefasst und zum vernunftgeleiteten (ergo Problem verbunden: Ein ‚erträgliches Maß‘ ökologischen) Handeln aufgerufen wird. Und an Klimawandel und Umweltzerstörung lässt tatsächlich steht die Macht der „Mächtigen“, die nicht neutral festlegen (Blühdorn 2018: 159). durch die Klimabewegungen adressiert werden, Es handelt sich bei Forderungen nach Klima- kaum zur Disposition.4 Der Staat wird in den und Umweltschutz oder Klimagerechtigkeit so Nachhaltigkeitsapellen weder als „Verdichtung unvermeidlich wie berechtigt um politische For- von Klassenverhältnissen“ (Poulantzas 2002: derungen. Dieser politische Charakter aber wird 225) noch in seiner strukturellen Funktion als in Teilen der Klimabewegungen systematisch Garant nationaler Verwertungsbedingungen negiert – nicht zuletzt, weil es diesen um ein angerufen, sondern als prinzipiell neutraler Ver- scheinbar letztgültiges Kriterium geht: das bloße waltungsapparat, dessen Personal jederzeit die Überleben der Klimakrise. Zwar erhofft man sich Erkenntnisse der Wissenschaft umsetzen könnte, davon wohl Legitimationskraft, doch dürfte diese wenn es nur wollte. Trotz des großen Misstrauens Strategie dem Anliegen eher schaden. Denn der gegenüber den etablierten Parteien, legitimiert Szientismus steht keinesfalls aufseiten der Klima- man den Staat so nicht nur, man verklärt diesen bewegten, sondern fügt sich in die fortschreitende in den Apellen implizit zum alleinigen Akteur, der Versachlichung von Herrschaft, in deren Zuge die Transformation bewerkstelligen könnte – für scheinbar neutrale (politische und ökonomische) die Bewegung bleibt nur die Rolle der Aktivierung Sachzwänge den Bereich dessen, was als Verhan- des Staates statt die der Transformation selbst. delbar und Veränderbar gilt, beschneiden und Diese Ambivalenz ist es, die sich im Wahlkampf auch Politik sich auf die rationale Verfolgung zur vorangegangenen Bundestagswahl im offenen unhintergehbarer Zwecke zurückziehen kann Widerspruch ausdrückt, die Wahl zur „Klima- (vgl. Marcuse 1968). Indem man politischen For- wahl“ (Fridays For Future 2021) zu erklären und derungen dadurch Nachdruck verleihen möchte, doch selbst darauf hinzuweisen, dass keine der dass man sie verwissenschaftlicht, betreibt man aufgestellten Parteien ein Programm vorzuweisen daher selbst das Spiel der Entpolitisierung, das hat, das mit dem Ziel, die Klimaerwärmung auf Grundlage kapitalistisch-realistischer Politik (vgl. 1,5°C zu beschränken, vereinbar wäre (DIW Chamayou 2019: 307 ff.) ist: Weil die politöko- 2021). Diese ungewollte Legitimierung ist dabei nomische Ordnung alternativlos ist, dürfen die ökologischen Forderung nicht politisch, sondern müssen streng wissenschaftlich sein. 4 Das gilt auch für das Gros der Konzepte sozialökologischer Transformation (vgl. Brand/Wissen 2017: 37 ff.). 8
Klur - Extinction is Bad for Economy Doch hat man als Klimabewegung das Spiel tion zur Internationalen Automobilausstellung schon dadurch verloren, dass man es überhaupt (IAA) 2021 in München zu hören, Politiker*innen spielt: Ohnehin ist dem bürgerlichen Staat sollten ihren Kindern in die Augen sehen und dann eine „strukturelle[…] Selektivität“ (Poulantzas endlich die notwendigen Schritte zur Rettung SuN 01/2022 2002: 165) zugunsten von Kapitalinteressen zu deren Zukunft unternehmen. Statt einer Kritik eigen. Im Lichte der postfordistischen Dauer- der gesellschaftlichen Ursachen der Nicht-Nach- krise (Staab 2019: 150 ff.) gewinnen der haltigkeit, wird in den Appellen „die moralische kapitalistische Verwertungsprozess und die korre- Dringlichkeit einer wirklich großen Transforma- spondierenden politischen Zielgrößen (Schwarze tion“ (Blühdorn 2020a: 110) beschwört. Doch Null, Wirtschaftswachstum, etc.) zudem eine sind Objektivierung und überzogener Subjekti- Legitimationsmacht, die sie als apolitisch und vismus keine Gegensätze, sondern Komplemente. „nicht zu hinterfragende Größe[n]“ (Menz/Nies Wie Blühdorn argumentiert, reagiert solche 2019b: 196) erscheinen lassen. Insofern können Emotionalisierung auf ein Problem, das sich die gegen jene entpolitisierten Fakten der Klimafor- Klimabewegung durch ihre Verwissenschaftli- schung stets ökonomische Sachzwänge angeführt chung eingekauft hat: Die zunehmende Distanz werden, auf die in der Krisenbewältigung zu zur Erfahrungs- und Lebenswelt derer, die mobi- achten alternativlos sei: Sozialökologische Trans- lisiert werden sollen. Die Emotionalisierung stelle formation nur, sofern sie sich mit Wachstum den Versuch dar, eine Brücke zu schlagen, wo sich und Investitionssicherheit verträgt. Weil sich der ein Graben zwischen Szientismus und Lebenswelt Szientismus selbst in den Bahnen solch entpoli- der Menschen aufgetan hat (Blühdorn 2020a: 96). tisierter Systemimmanenz bewegt, fehlen diesem Zentraler für die Emotionalisierung scheint mir die analytischen und politischen Mittel, die öko- jedoch ein anderer Selbstwiderspruch der Entpo- nomischen Systemzwänge grundlegend in Frage litisierung zu sein: Innerhalb der szientistischen zu stellen. Die Kombination aus Staatszentrie- und staatszentrierten Verengung können neue rung und Szientismus impliziert daher ob gewollt Gründe zur staatlichen Folgeleistung der Appelle oder nicht, dass die Klimakrise sich unmittelbar gerade nicht in der Wissenschaft selbst, sondern innerhalb der bestehenden Gesellschaftsord- nur in deren (moralischen oder emotionalen) nung auf ein erträgliches Maß beschränken lässt Bekräftigung liegen. Die Emotionalisierung ist – womit grundsätzlichere Fragen nach der Pro- Symptom einer Entpolitisierung, die den Staat zur duktions- und Regierungsweise von vornhinein alleinigen Instanz von Veränderung verklärt und ausgeschlossen und ökonomische Systemzwänge, Aktivist*innen dadurch in eine Passivität drängt, die einer sozialökologischen Transformation in der – zumal angesichts der verbreiteten Skepsis entgegenstehen, ausgeblendet oder explizit ak- gegenüber ‚radikalen‘ Praxisformen (vgl. Malm zeptiert werden (Brand/Wissen 2017: 37). 2021) – außer der Anrufung des Staates keine politischen Mittel verbleiben: Man ist angesichts Emotionalisierung als Komplement von der ausbleibenden ökologischen Transformation Entpolitisierung dazu verdammt, fassungslos zurückzubleiben und die Forderungen emotional noch einmal zu über- In scheinbarem Widerspruch zu dieser bieten. Die Fassungslosigkeit mag berechtigt sein, Entpolitisierung stehen die zunehmende Emo- doch ist sie inhärent passiv und entpolitisiert. tionalisierung der Appelle an den Staat sowie die Personalisierung der Nicht-Nachhaltigkeit Die Extreme von szientistischer Entpolitisierung anhand untätiger Politiker*innen. So war etwa einerseits, Überbetonung von Personen und auf der zivilgesellschaftlichen Gegendemonstra- Emotionen andererseits fügen sich dabei nur zu 9
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung gut in den kapitalistischen Realismus. Nicht nur Klimabewegung selbst anzulasten, sondern auf bewegen sich die Appelle an den Staat streng die Beharrungskräfte zurückzuführen, mit denen innerhalb der vorgegebenen Sozialordnung, die Versuche der Politisierung konfrontiert sind. Kehrseite des kapitalistischen Realismus ist nach Schließlich ist kapitalistischer Realismus keine SuN 01/2022 Mark Fisher insgesamt eine Überbetonung des rein ideelle Sache fehlender Vorstellungskraft, die Subjektiven (Fisher 2009: 13): Wenn die grund- sich allein durch bessere Einsicht oder utopische legende Gesellschaftsordnung alternativlos oder Entwürfe erledigt hätte. Wie sich bereits gezeigt naturgemäß ist, bleiben im Versuch der Kritik haben sollte, ist die Undenkbarkeit gesellschaftli- letztlich nur der Bezug auf angeblich neutrale cher Alternativen Epiphänomen ganz materieller Fakten und Personen. Insofern drückt sich die Verhältnisse, die von den Krisen des Postfor- Entpolitisierung in einem falschen Subjekti- dismus und der Zerschlagung und Einverleibung vismus aus: Der Naturalisierung von Gesellschaft oppositioneller Bewegungen (Chamayou 2019) entspricht ein atomistisches Gesellschaftsver- über die Verteidigung der imperialen Lebensweise ständnis, das von Herrschaftsverhältnissen sowie bis zur Atomisierung sozialer Konflikte in verall- von individuell unverfügbaren gesellschaftlichen gemeinerter zwischenmenschlicher Konkurrenz Strukturen absieht – weshalb für unliebsame Phä- (vgl. Graefe 2019: 56 ff.) reichen. Seit den 1970er nomene nur konkrete Personen verantwortlich Jahren ist ein Schwinden signifikanter opposi- sein können. Auch wenn man daher oberflächlich tioneller Bewegungen zu verzeichnen, während mit dem Dogma der Alternativlosigkeit bricht durch die fortschreitende Kommodifizierung und eine andere Politik fordert, verbleiben des öffentlichen und privaten Raumes jene sub- Appelle an den Staat im Bann des kapitalistischen jektiven und objektiven Freiräume unter Druck Realismus. Angesichts der Verknöcherung der geraten, an welchen sich die Vorstellungskraft Gesellschaft zum Unausweichlichen und Frag- gesellschaftlicher Alternativen durch die Erfah- losen verbleibt an Politik nicht viel mehr als die rung anderer, solidarischer „Beziehungsweisen“ Anrufung des amtierenden Staatspersonals, es (Adamczak 2017) nähren kann. Die Verwissen- solle endlich handeln. In der „wissenschafts- und schaftlichung ist daher eher Symptom als Grund staatszentrierten Fixierung auf das 1,5-Grad-Ziel“ fehlender Vorstellungskraft und es greift zu kurz, drückt sich der Umstand aus, dass sich im Groß das Problem in einem Strategiefehler der Kli- der Klimabewegung bislang „nur wenig alterna- mabewegungen zu verorten. Vielmehr hat man tivgesellschaftliche Vorstellungskraft“ (Blühdorn es mit einer gewaltvollen Verengung des gesell- 2020a: 17) entwickelt hat. schaftlichen Möglichkeitshorizonts zu tun, die die Bestrebungen einer weitreichenderen Politisie- Zwar sind politische Stoßrichtung der Klima- rung konterkariert. bewegung und Radikalität ihrer Praxisformen umkämpfte Felder und es existieren Konzepti- Daran, dass innerhalb einer Ökonomie, die onen gesellschaftlicher Alternativen wie etwa auf der Produktion von Tauschwerten und den Ökosozialismus (Dörre 2021) und Commonismus dadurch bedingten Zwang zur beständigen Aus- (Sutterlütti/Meretz 2018). Doch nicht nur in- weitung von Produktion und Konsumtion beruht, nerhalb der Transformationsforschung führen die Klimakrise bewältigt werden kann, besteht Letztere weiterhin eine randständige Existenz berechtigter Zweifel (vgl. Barth et al. 2016: 325, (Brand/Wissen 2017: 147), bisher gehen diese Marx/Engels 1962: 529 f.). Auch im Lichte der nicht in das Gros der Klimabewegung oder gar Katastrophenangst sind solche grundsätzlichen die Vorstellungswelt einer breiteren Öffent- gesellschaftlichen Fragen aber nicht nur in großen lichkeit ein. Das ist allerdings schwerlich der Teilen der Klimabewegung, sondern auch in den 10
Klur - Extinction is Bad for Economy öffentlichen Debatten und der Transformations- everything the same.” Angesichts Ausmaßes und forschung (Lessenich 2018a: 112 f., Brand/Wissen Sichtbarkeit der Klimakrise steigt der Rechtfer- 2017: 37 ff.) eigentümlich unterrepräsentiert. Zwar tigungsdruck sowohl auf Regierungen als auch kommt es unter dem Druck der Katastrophen- auf die Subjekte, der Klimakrise etwas entge- SuN 01/2022 angst zu einem Aufbegehren gegen die bisherige genzusetzen. Vorausgesetzt der Rahmen der Klima- und Umweltpolitik, diese Politisierung Entpolitisierung wird nicht verlassen, müssen verbleibt aber zumeist in den engen Bahnen der sich daher Modi des Politischen und der Ideo- Entpolitisierung. Dabei ist jedoch nicht nur die logie etablieren, die sich zwischen Zwang zur ideelle und reelle Geschlossenheit der beste- Veränderung und Zwang zur Beharrung bewegen, henden Gesellschaft entscheidend, sondern deren ohne eines der Extreme aufheben zu können. Zusammenspiel mit der imperialen Lebensweise, Und tatsächlich scheint sich ein solcher Bewe- deren Aufrechterhaltung nicht erst vonseiten gungsmodus herausgebildet zu haben, der sich in derer ausgeht, die ganz offen zur Verteidigung Anlehnung an Ingolfur Blühdorn als simulative ‚unseres Wohlstands‘ aufrufen (Blühdorn 2020a: Krisenbewältigung bezeichnen lässt. Krisenbe- 47 ff.). Die Klimabewegung findet sich daher in wältigung wie sie hier bestimmt werden soll, ist der Situation wieder, dass sie eine Bevölkerung er- im doppelten Sinne simulativ: Erstens dürfen die reichen möchte (zu der sie freilich selbst gehört), Ursachen der Probleme, die bearbeitet werden die an einer sozialökologischen Transformation – sollen, nicht angegangen werden, sofern sie an würde man mit dieser Ernst machen und globale Grundstrukturen von imperialer Lebensweise Ausbeutungsverhältnisse von Mensch und Natur und kapitalistischem Verwertungsprinzip rütteln. antasten – trotz gegenteiliger Bekundungen kein Damit kann aber zweitens das Entscheidende Interesse haben dürfte, weil man damit an den nicht sein, dass die Krisenbewältigung von Grundfesten von globalem Kapitalismus und im- mittel- oder langfristigen Erfolgen gezeitigt wird. perialer Lebensweise rühren würde, zu der eine Vielmehr muss das Entscheidende im Akt der bessere Möglichkeit weder ideell noch reell sich Krisenbewältigung selbst liegen, ohne dass dieser ankündigt. Zwar ist es daher längst zum Allge- von einem Resultat gekrönt werden müsste: in meinplatz geworden, dass es so nicht weitergehen ihrem Erlebnischarakter (vgl. Blühdorn 2019: könne. Doch existieren im Zusammenspiel von 173). In Anlehnung an Guy Debord (1978) ließe imperialer Lebensweise und kapitalistischem sich sagen, dass die Bewältigung der Klimakrise Realismus starke Beharrungs- und Gegenkräfte, zum erlebbaren Spektakel werden muss. weshalb es anders auch nicht werden kann – und Auch Blühdorn analysiert den simulativen letztlich auch nicht soll. Charakter heutiger Partizipations- und Aktions- formen (auch sozialökologischer Bewegungen) ausführlich (siehe bspw. Blühdorn 2018, 2019: 2. Facetten simulativer 167 ff., 2020a). Doch unterscheidet sich der hier Krisenbewältigung entfaltete Begriff simulativer Krisenbewältigung in mindestens zwei Hinsichten von den Ana- Wie Jasper Bernes (2019) es bezogen auf den lysen Blühdorns. Erstens konstruiert Blühdorn Green New Deal auf den Punkt gebracht hat, den Begriff der Simulation als allzu eindeutigen sind die politischen Antworten auf die Klima- Epochenbruch, der auch Begriffe der „old cri- krise zutiefst von diesem Dilemma gezeichnet: tical orthodoxy“ (Blühdorn 2020a: 93) obsolet „The problem with the Green New Deal is that it promises to change everything while keeping 11
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung machen würde.5 Von größerer Bedeutung ist an 2019: 149) für die Entstehung von Postdemo- dieser Stelle aber zweitens, wie er das Dilemma kratie und Entpolitisierung. Mindestens ebenso bestimmt, auf das Simulation reagiere: „Simula- wichtig sei aber die „Unangemessenheit [des tive Demokratie“ (Blühdorn 2019) sei die Antwort demokratischen Projekts] sowohl für das Identi- SuN 01/2022 auf das Dilemma von „postdemokratischen tätsideal als auch das Selbstverständnis heutiger Wertpräferenzen“ und dem Fortleben von „demo- Bürger.“ (Blühdorn 2019: 149) Doch erfährt man kratische[n] Erwartungshaltungen“ (Blühdorn bei Blühdorn kaum etwas über die konkreten 2019: 172). Durch ihren Fokus auf individuelle, Mechanismen der „Unterdrückung und Margi- konsumbasierte Selbstverwirklichung stütze nalisierung“ und die Herrschaftsdimension bleibt heutige Subjektivität Entpolitisierung, Neolibera- unterbestimmt. Außerdem führt Blühdorn zwar lismus (Blühdorn 2018, 2020a: 11) und imperiale Herrschaft und spätmodernes „Selbstverständnis“ Lebensweise (Blühdorn 2018, 2020a: 47 ff.). als relevante Faktoren der Entpolitisierung ein, Zugleich halten große Teile der Bevölkerung aber ohne diese aber aufeinander zu beziehen. Heutige am damit unvereinbaren „demokratischen Selbst- Formen der Subjektivität sollen offenkundig verständnis“ (Blühdorn 2019: 171) fest. Auf dieses in ihrer Genese nichts mit Herrschaft zu tun Dilemma reagiere simulative Politik, indem haben, sondern einer von den materiellen Kräf- demokratisch-emanzipatorische Werte in postde- teverhältnissen unabhängigen (oder diesen sogar mokratischen Formen reproduziert und erlebbar vorgelagerten) Dialektik der „Idee des autonomen gemacht werden (Blühdorn 2019: 173, 176 ff.). Subjekts“ (Blühdorn 2020b: 154) folgen und aus sich heraus die Entpolitisierung vorantreiben. Zwar stellt folglich auch für Blühdorn Entpolitisie- Diese Konstruktion läuft Gefahr von den kon- rung einen Ausgangspunkt simulativer Politik dar. kreten Kräfte- und Herrschaftsverhältnissen (und Doch während er die globale Herrschaftsdimen- deren Rolle bei der Genese besagter Subjektivität) sion der imperialen Lebensweise stets im Blick zugunsten der abstrakten Selbstentfaltung eines behält, kommt jener der Entpolitisierung kaum Konzeptes zu abstrahieren. Der Herrschaftscha- eine Rolle zu. So seien zwar „Unterdrückung und rakter von Entpolitisierung und Subjektivität Marginalisierung des demokratisch-emanzipato- würden sich nur durch eine historische Analyse rischen Projekts durch das herrschende Kapital erschließen, wie sie neben Mark Fisher etwa […] zweifelsohne wichtige Faktoren“ (Blühdorn Grégory Chamayou (2019) zu leisten versucht hat und die sich nicht mit dem pauschalen Verweis auf Marx‘ Prognose der Ökonomisierung aller 5 Diese Periodisierung kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, lässt sich aber an Blühdorns markanter Entgegen- Lebensbereiche erledigt haben kann (siehe Blüh- setzung von Ideologie und „Selbstillusionierung“ (Blüh- dorn 2019: 121). dorn 2019: 109) illustrieren, wobei Letztere der simulativen Spätmoderne zugehöre, in welcher der Ideologiebegriff Weil Blühdorn die Selbstentfaltung des autonomen unbrauchbar werde (vgl. Blühdorn 2019: 143 ff.). Diese Be- hauptung ist aber nicht nur durch eine Banalisierung des Subjekts zur „treibende[n] Kraft“ (Blühdorn 2019.: Ideologiebegriffs zu intentionaler Fremdtäuschung oder, in 167) des Dilemmas erklärt, ohne die Verstrickung Blühdorns Worten, „Verblendungs- und Verblödungsstrate- gien“ „in den Händen gesellschaftlicher Eliten“ (Blühdorn der Subjektformen mit deren materiellen Vor- 2019: 180) erkauft (s. dagegen bspw. Marx/Engels 1978: 26 aussetzungen zu bestimmen, gerät der inhärente ff., Jaeggi 2013). Auch zeitdiagnostisch ist die Entgegenset- zung zu kritisieren: Es schwingt in ihr die alte Fehldiagnose Herrschaftscharakter spätmoderner Subjektivität Peter Sloterdijks vom Ende der Ideologie mit (Sloterdijk nicht in den Blick: Der Umstand, dass heutige 1983), gegen die anzuführen ist, dass die Menschen früher nicht so unaufgeklärt waren, wie die Entgegenstellung im- Subjektivitätsformen sich nicht einfach dem pliziert, und heute nicht so aufgeklärt sind, wie zwanghaft evolutionären Fortschreiten der Modernisie- sich zu geben sehr wohl Teil spätmoderner Subjektivität ist (vgl. Žižek 1989: 24 ff.). rung und der „Emanzipation zweiter Ordnung“ 12
Klur - Extinction is Bad for Economy (Blühdorn 2019: 167) verdanken, sondern auch 244) können unter simulative Krisenbewältigung Resultat einer gewaltförmigen Entpolitisierung fallen, sofern sie versprechen, „den Planeten durch sind, die vormals kollektive Zielvorstellungen wie Ausdehnung ebenjenes Kapitalismus zu retten, Autonomie und Glück zunehmend in die Isolation der gerade dabei ist, ihn zu zerstören“ (Chamayou SuN 01/2022 je individueller Selbstverwirklichung drängte 2019: 250) – und sich daher im Spannungsfeld (vgl. bspw. Chamayou 2019, Graefe 2019). So der Veränderung ohne Veränderung bewegen. Al- verpasst man jene Dialektik von Emanzipation lerdings fehlt diesen als staatlichen Maßnahmen und Herrschaft, ohne die sich die spätmodernen zumeist der Erlebnischarakter, der vielmehr in Subjektformen nicht in ihrer inneren Wider- postdemokratischen Formen der Beteiligung und sprüchlichkeit, sondern nur einseitig als Resultat Mitbestimmung zutage tritt. eines Emanzipationsprozesses begreifen lassen. Denn so unzureichend und verspätet große Teile Der Herrschaftscharakter von Subjektivitäts- staatlicher Klimapolitik, so präsent sind Aufrufe formen rückt erst nachträglich, in der verkürzten zum gemeinsamen Anpacken, Mitmachen und Form der Instrumentalisierung ‚fertiger‘ Subjek- Zukunft gestalten. Beispielhaft dafür sind staat- tivität durch „Machteliten“ (Blühdorn 2019: 157) lich geförderte Innovationswettbewerbe zur in den Blick. Ohne die Relevanz der von Blüh- Bewältigung der Klimakrise oder der Pandemie: dorn analysierten Aspekte zu leugnen, muss das Während die Verbesserung des Gesundheitswe- Dilemma daher anders gefasst werden, möchte sens und der dortigen Arbeitsbedingungen auf man dem Herrschaftscharakter von Entpolitisie- sich warten lässt und Deutschland die Freigabe der rung und Subjektivität und zudem der treibenden Impfstoffpatente blockiert (spiegelonline 2021), Kraft der Katastrophenangst gerecht werden: Es übt man sich in Wettbewerben wie dem Hacka- besteht nicht nur zwischen widersprüchlichen thon der Bundesregierung in postdemokratischer Wertpräferenzen, sondern in der Gleichzeitigkeit Partizipation (vgl. Blühdorn 2019: 191) und einem von erzwungener Entpolitisierung (von der auch „Solutionismus“ (Nachtwey/Seidl 2017), für die heutigen „Wertpräferenzen“ selbst geprägt den jedes Problem eine technische Lösung hat. sind) und einer durch Katastrophenangst indu- Auch bei der IAA 2021 sollte man die „Mobili- zierten Repolitisierung. Diese Spannung ist es, auf tätswende“ erleben können – weshalb sie direkt die simulative Krisenbewältigung in ihren unter- im öffentlichen Raum veranstaltet wurde, wo schiedlichen Facetten reagiert, derer nachfolgend man die neuen Produkte der Automobilindustrie einige bestimmt werden sollen. sogleich erleben konnte und im „Citizen Lab“ auf Augenhöhe in Dialog mit der Automobilindustrie Partizipationstheater treten konnte. An IAA und Innovationswettbe- Mit simulativer Krisenbewältigung sind dabei zwar werben zeigt sich insofern ein Verschwimmen der durchaus politische Manöver gemeint, wie sich Grenzen von politischer Partizipation und Öko- den Rückgang der deutschen CO2-Emmissionen, nomie: Partizipation an der ökologischen Wende der zu großen Teilen auf Deindustrialisierung und wird gleichermaßen zum Erlebnis wie zum Mittel Externalisierung von Klima- und Umweltschäden der wirtschaftlichen Mobilisierung über Klassen- zurückzuführen ist (VDI 2021; Lessenich 2018a: gegensätze hinweg (vgl. Blühdorn 2019: 183). 98 f.), als Erfolg der ökologischen Transformation auf die Fahnen zu schreiben. Und auch Formen Individualisierte Weltenrettung der grünen Ökonomie, wie Emissionshandel Als „Projekt der kollektiven Selbstillusionierung“ und andere Spielarten der „kommerziellen Re- (Blühdorn 2019: 185) schlägt sich simulative gulierung von Externalitäten“ (Chamayou 2019: 13
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung Krisenbewältigung auch in individueller, kon- begleitet von der Aufforderung „Go carbon neutral sumbasierter Lebensführung nieder. In einer today!“ (klima 2021) und dem Versprechen, in unerwarteten Wendung der 68er-Parole, dass das nur wenigen Minuten und für einige Euro seinen Private politisch sei, etabliert sich eine Gleich- Beitrag leisten zu können. Ökologischer Ablass- SuN 01/2022 zeitigkeit von Politisierung und Entpolitisierung: handel dieser Art verschafft Entlastung von Angst Individuelle Konsumentscheidungen werden und Ohnmacht gegenüber der Klimakrise und politisiert und gesellschaftliche Probleme durch stützt dabei die imperiale Lebensweise ebenso diese Individualisierung entpolitisiert. Von der wie die chronisch von Überproduktion geplagte Bambuszahnbürste bis zum Yoga-Retreat bieten Ökonomie. Insofern bewahrheitet sich auch in der Unternehmen heute Nachhaltigkeitserfahrungen, individuellen Krisenbewältigung die Befürchtung, die Nachhaltigkeit inklusive moralischem Mehr- die vonseiten der Kritik der politischen Ökologie wert konsumierbar und dadurch erlebbar machen bereits in den 1970er Jahren formuliert wurde: – womit sich gelebte Nachhaltigkeit in Form „kon- „Die Ökologie renoviert die Ware.“ (Subrealisten sumbasierter Identitätserlebnisse“ (Blühdorn Bewegung 1980: 16) Oder in den Worten des Un- 2018: 168) bequem in die imperiale Lebensweise ternehmens Lemonaid: „Zinsen gibt’s jetzt auch integrieren lässt und die Entpolitisierung der Ge- in Bio!“ (Lemonaid 2022) sellschaft gewahrt bleibt. Simulation und Solution Dieser (kultur-) industriell angetriebenen Form simulativer Krisenbewältigung kommen gleich Simulative Politik steht dabei in einem engen mehrere Bedürfnisse und Interessen der Subjekte Verhältnis zu instrumenteller Vernunft, wie Max entgegen: Positiv das Bedürfnis trotz Katastro- Horkheimer sie kritisierte: In ihr beschränkt sich phenangst seinen Lebensstil aufrechtzuerhalten, Vernunft darauf, unter gegebenen Umständen für negativ um die Katastrophenangst innerhalb „jeweils vorgegebene Ziele die Mittel zu finden“ der Bahnen der bestehenden Gesellschaft durch (Horkheimer 2007: 9), ohne die gegebenen Um- Nachhaltigkeitserlebnisse bearbeiten zu können: stände und Zielsetzungen selbst zur Disposition Nach Habermas zeichnen sich Krisenerfahrungen zu stellen. Diese Kritik steht in einem inneren dadurch aus, dass das Subjekt sich als „ein zur Zusammenhang zum Werk Henri Lefebvres, der Passivität verurteiltes“ (Habermas 1973: 9 f.) den von Jean Baudrillard popularisierten Begriff erfährt, das den Störungen seiner Lebenswelt der Simulation einführte: Das wesentliche der nur ohnmächtig beiwohnen kann. Als Reaktion historischen Phase der Simulation sah Lefebvre auf diese Ohnmachtserfahrungen können Krisen darin, dass die theoretische Frage nach (rational stets auch mobilisierende Kraft besitzen – die sich bestimmbaren) Möglichkeiten durch die unmit- aber keineswegs gegen die Ursachen der Krise telbare Machbarkeit verworfen wurde (Lefebvre wenden muss. Angesichts der realen Ohnmacht 1975: 215). Simulative Krisenbewältigung ist gegenüber den gesellschaftlichen Ursachen der demnach simulativ, weil erlebbar nur ist, was im Klimakrise, mobilisiert die Krisenerfahrung viel- Sinne unmittelbarer Verwirklichung unter gege- mehr selbstgenügsame „Pseudoaktivität“ (Adorno benen Bedingungen machbar ist. Die vergnügte 1969). Angesichts von Ohnmacht und kaum zu Pseudoaktivität simulativer Krisenbewältigung überblickenden Naturverhältnissen gewährt hat daher äußerst nüchterne Voraussetzungen: Nachhaltigkeitskonsum Handlungsmacht und Die Negation dessen, das unter gegebenen ge- Zurechenbarkeit. Das drückt sich wohl perfekt in sellschaftlichen Bedingungen nicht unmittelbar der Werbung der Nachhaltigkeits-App Klima aus: erlebt und verwirklicht werden kann. Eine Instru- Auf den Werbebildern junge, glückliche Personen, mentalität, die sich gut mit der Alternativlosigkeit 14
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