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Soziologie und Nachhaltigkeit -
Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

   Konstantin Klur

   Extinction is Bad for Economy
   (Nicht-)Nachhaltigkeit zwischen Katastrophenangst und
   kapitalistischem Realismus

   Zusammenfassung: Durch die sich verschär-              Abstract: In the context of the worsening climate
   fende Klimakrise kommt eine Katastrophenangst          crisis, a catastrophic consciousness emerged that in-
   auf, die Menschen zunehmend auf die Straße und         creasingly pushes people into the streets and toward
   zur Politisierung drängt. Zugleich zeichnet sich die   politicization. At the same time, the current phase of
   heutige Phase spätkapitalistischer Gesellschaften      late capitalist societies continues to be characterized
   durch eine erzwungene Entpolitisierung aus, die        by an enforced depoliticization, which Mark Fisher
   Mark Fisher auf den Begriff des „kapitalistischen      brought to the concept of „capitalist realism“. At its
   Realismus“ brachte. Dessen Kern ist die Legitima-      core is the legitimation of the existing social order by
   tion der bestehenden Gesellschaftsordnung durch        economic constraints and their alleged lack of alter-
   ökonomische Sachzwänge und deren angebliche            natives. As I show in this essay, (not only) the climate
   Alternativlosigkeit. Wie ich in diesem Essay zeige,    movements move in this field of tension between
   bewegen sich (nicht nur) die Klimabewegungen           politicization and depoliticization: In the climate
   in diesem Spannungsfeld aus Politisierung und          discourses, the limits imposed by capitalist realism
   Entpolitisierung: In den Klimadebatten werden          on politicization are mostly not broken through.
   die Grenzen, die kapitalistischer Realismus der        Rather, a mode of movement emerged within the
   Politisierung auferlegt, zumeist nicht durchbro-       tension: a simulative crisis management that wants
   chen. Vielmehr bildete sich ein Bewegungsmodus         to change everything without changing anything.
   innerhalb des Spannungsverhältnisses heraus: Eine      This form of crisis management also sheds light on
   simulative Krisenbewältigung, die alles ändern         contradictions in today‘s natural relations, which
   möchte, ohne etwas zu ändern. Diese Form der           move between technical solutionism and natural
   Krisenbewältigung gibt auch Aufschluss über Wi-        romanticism, and which each represent hurdles for
   dersprüche in den heutigen Naturverhältnissen, die     successes of social-ecological movements.
   sich zwischen technischem Solutionismus und Na-
   turromantizismus bewegen und jeweils Hürden für
   Erfolge sozialökologischer Bewegungen darstellen.
Autor:

Konstantin Klur ist Doktorand am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung e.V. - ISF
München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kapitalismustheorie, Arbeitssoziologie, Subjekttheorie und
Kritische Theorie.

konstantin.klur@isf-muenchen.de

Soziologie und Nachhaltigkeit
Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

ISSN 2364-1282

Heft 1/2022, 8. Jahrgang, DOI: 10.17879/sun-2022-3862
Eingereicht 03.10.2021 – Peer-Review 24.01.2022 – Überarbeitet 25.02.2022 – Akzeptiert 15.03.2022

                 Lizenz CC-BY 4.0 (www.creativecommons.org/licenses/by/4.0)

Herausgeber*innen: Benjamin Görgen, Matthias Grundmann, Anna Henkel, Melanie Jaeger-Erben,
            Björn Wendt

Redaktion:   Niklas Haarbusch, Jessica Hoffmann, Jakob Kreß, Carsten Ohlrogge

Layout/Satz: Frank Osterloh/Niklas Haarbusch

Anschrift:   WWU Münster, Institut für Soziologie
             Scharnhorststraße 121, 48151 Münster
             Telefon: (0251) 83-25440
             E-Mail: sun.redaktion@wwu.de
             Website: www.sun-journal.org
Klur - Extinction is Bad for Economy

              Einleitung: Der Lauf der Dinge                            2021). Im kapitalistischen Realismus wäre die
                 und die Katastrophe                                    treibende legitimatorische Kraft dagegen nicht
                                                                        länger kollektive Zielvorstellungen, mit den libe-
              „I don’t want you to be hopeful, I want you to panic.     ral-kapitalistische Gesellschaften prätendierten,
SuN 01/2022

              I want you to feel the fear I feel every day and then I   wenn nicht übereinzustimmen, dann auf sicherem
              want you to act!” (Guardian 2019: 02:25 min) Spä-         Weg zu diesen zu sein, sondern das „dünne[]
              testens mit diesen Worten vor den versammelten            Axiom, es könne nicht anders sein als es ist“ (vgl.
              Teilnehmer*innen des Weltwirtschaftsforums in             auch Adorno 2003: 477). Wie wir sehen werden,
              Davos wurde Greta Thunberg zum Symbol einer               verschwinden die Zielvorstellungen nicht einfach
              Generation, deren Verständnis von Zukunft sich            ersatzlos, werden aber in den Rahmen gesell-
              gegenüber vergangenen Generationen radikal ge-            schaftspolitischer Alternativlosigkeit eingepasst.
              wandelt hat. Nicht mehr die der Moderne wie dem
                                                                        Viel wäre zu den historischen Hintergründen
              Liberalismus eigentümliche Fortschrittsgewiss-
                                                                        dieser Entwicklung zu sagen: Die Zerschlagung
              heit, sondern die drohende (Klima-) Katastrophe
                                                                        oppositioneller Bewegungen bei gleichzeitiger
              bildet ihren historischen Horizont (vgl. de Moor
                                                                        Einverleibung und Individualisierung ihrer Ideale
              et al 2020: 19 ff.). Doch hatte der Glaube an den
                                                                        (Chamayou 2019: 170 f.), das Ende der System-
              Fortschritt auch vor der neueren Katastrophen-
                                                                        konkurrenz zwischen Osten und Westen (Dean
              angst bessere Tage erlebt, denn bereits zuvor tat
                                                                        2018: 23 f., Jameson 1991: 274) sowie das Ende
              sich ein Bruch in der Gewissheit auf, sich auf den
                                                                        des Nachkriegsaufschwungs und die Abfolge
              Bahnen des Fortschrittes zu bewegen. Vor etwas
                                                                        ökonomischer Krisen seit den späten 1960er
              mehr als zehn Jahren brachte Mark Fisher diesen
                                                                        Jahren (Staab 2019: 54 f., Nachtwey 2016: 43
              Bruch im historischen Bewusstsein auf den Begriff
                                                                        ff.), die einen Modus permanenter Krisenbewäl-
              „Capitalist Realism“ (Fisher 2009), der mit einer
                                                                        tigung hervorbrachte (Nachtmann 2012: 193).
              grundlegenden Verschiebung in der Legitimie-
                                                                        An dieser Stelle müssen wir uns jedoch mit der
              rungsweise des Spätkapitalismus einhergehe. Die
                                                                        Darstellung der Konsequenzen begnügen: Im
              liberale Epoche war mit einem Menschheitspro-
                                                                        Zuge des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft
              jekt verbunden, das sich um die Ideale der
                                                                        (Stapelfeldt 2014: 282 ff.) setzte sich eine politi-
              Französischen Revolution anordnete (Bauman
                                                                        sche Sachzwangideologie durch, in deren Lichte
              2000). Um sich legitimieren zu können, mussten
                                                                        liberal-kapitalistische Gesellschaften Legitima-
              sich liberal-kapitalistische Gesellschaften als die
                                                                        tion zunehmend nicht länger durch Berufung auf
              (kommende) Einlösung von Freiheit, Gleichheit
                                                                        moderne Ideale gewinnen mussten. Stattdessen
              und Solidarität darstellen (Adorno 1976: 27). Wie
                                                                        wurden die gesellschaftliche Alternativlosigkeit
              Walter Benjamin argumentierte, kann unter Vor-
                                                                        sowie die Unausweichlichkeit marktkonformer
              zeichen des Fortschrittsglaubens das Versprechen
                                                                        Politik zu den zentralen ideologischen Dogmen
              der besseren Zukunft zwar stets der Legitimation
                                                                        (Fisher 2009: 8). Weil es keine Alternativen zum
              der schlechten Gegenwart dienen, die diese her-
                                                                        gesellschaftlichen Status Quo gebe, konnte Ideo-
              beiführen soll (Benjamin 2015: 88). Dennoch bot
                                                                        logie sich fortan mit Ideenlosigkeit bescheiden
              der klassische Liberalismus selbst den Maßstab
                                                                        und in den „Schein übergeh[en], was ist, sei
              der Kritik an diesem – folgerichtig waren es
                                                                        unausweichlich und damit legitimiert“ (Adorno
              jene Ideale der Französischen Revolution, deren
                                                                        2015: 265). Es ist eine historische Ernüchterung
              mangelnde Einlösung von subalternen Klassen
                                                                        eingetreten, die auch den Hintergrund der Absage
              seit der Pariser Kommune gegen die bürgerliche
                                                                        an die großen Erzählungen der Moderne darstellt:
              Gesellschaft in Anschlag gebracht wurde (Ross
                                                                        Etwas wirklich Neues, geschweige denn Besseres

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Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

können sich die Menschen heute kaum mehr als                  sich langsam, aber unaufhaltsam vollzieht und
konkrete Möglichkeit vorstellen. Es sei angesichts            sich nicht räumlich eingrenzen lässt, sondern
dieser Verengung des historischen Möglich-                    alles Handeln und jede Beziehung durchzieht. Die
keitshorizonts, so stellt Fisher in Anlehnung an              daraus resultierende Katastrophenangst ist ihrer-

                                                                                                                       SuN 01/2022
Fredric Jameson fest, für die heutige Menschheit              seits so diffus und total, wie ihr Gegenstand – was
einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als           sie keineswegs mildert, sondern zur ubiquitären
das des Kapitalismus (Fisher 2009: 2).                        Erfahrung steigert, die sich nicht selten in Szena-
                                                              rien des Untergangs und dem mystizistischen Bild
Wenden wir uns nochmals dem Zitat Thunbergs
                                                              einer Natur niederschlägt, die Rache nehme.
zu: Dieses verweist bereits darauf, dass das Ende
der Welt längst mehr als eine Metapher ist und es             Auch Mark Fisher beschäftigte sich im Lichte des
für viele Menschen keiner großen Anstrengungen                kapitalistischen Realismus mit der Vorstellung
bedarf, sich das Ende der Welt als konkrete Mög-              der Katastrophe. In der kulturindustriellen Mas-
lichkeit vorzustellen.1 Nun ist die Vorstellung, eine         senproduktion von Dystopien sei der Untergang
entscheidende Krise stehe bevor, keineswegs neu;              der Zivilisation zum Spektakel geworden, in dem
nein, das „verzweifelt helle Bewußtsein, inmitten             sich das „allmähliche Aufkündigen der Zukunft“
einer entscheidenden Krisis zu stehen, ist in der             (Fisher 2015: 17) ausdrücke: Dystopische Zu-
Menschheit chronisch“ (Benjamin 1982: 677) und                kunftsfantasien seien Ausdruck einer Gesellschaft,
gerade die kapitalistische Moderne hat in ihrer               die sich außer dem Fortlaufen der Dinge, der
zerstörerisch-schöpferischen Dynamik stets auch               Steigerung des Bestehenden ins Unermessliche,
Szenarien des Untergangs befeuert. Die Klima-                 nichts vorstellen könne und zugleich weiß, dass
krise ist nicht die erste Krise, die sich anschickt,          dieses Fortlaufen in der Katastrophe münden
die letzte zu sein und doch unterscheidet sie sich            muss (Fisher 2009: 2). Die Katastrophenangst
von vorangegangenen qualitativ. Nicht so sehr im              beerbt das Geschichtsverständnis der klassischen
Ausmaß der Angst, das angesichts der Schrecken                Moderne unter umgekehrten Vorzeichen: Wie
der Geschichte durchaus seinesgleichen findet;                Jean Améry feststellte, zeichnete sich der moderne
nicht einmal die Universalität und Unumkehr-                  Fortschrittsglaube durch die bloße Verlängerung
barkeit der befürchteten Katastrophe lässt sich               der Gegenwart in die Zukunft aus (Améry 1990:
seit der Möglichkeit atomarer Vernichtung als                 80) und diese Verlängerung mündet im heutigen
historische Neuheit auffassen. Für die Moderne                Zeitgeist unausweichlich im Bild der Katastrophe.
neu dagegen ist der Gegenstand der Angst, denn
                                                              Nun kann man allerdings nicht unterstellen, dass
dieser ist nicht der Knopf zum Abschuss der
                                                              die Menschheit sich in blankem Zynismus mit
Atombombe, eine vom Menschen geschaffene
                                                              dem kommenden Untergang abgefunden hätte.
Technologie in der Verfügungsgewalt von Men-
                                                              Seit einigen Jahren nimmt vielmehr ein neuer
schen, sondern ein unberechenbares Abstraktum:
                                                              Zyklus an sozialen und ökologischen Protest-
‚Die Natur‘ und damit die Bedingung menschli-
                                                              bewegungen Fahrt auf; die Katastrophenangst
cher Existenz, die in den Klimabewegungen viel
                                                              treibt weltweit Hunderttausende auf die Straßen
beschworene Zukunft, überhaupt. Es ist eine
                                                              und die Klimakrise ist zum zentralen Politikum
Katastrophe, die nicht plötzlich eintritt, sondern
                                                              geworden, das sich aus den tagespolitischen
                                                              Debatten nicht mehr wegdenken lässt (Brand/
                                                              Wissen 2017: 24 f.). Der kapitalistische Realismus
1   Und Thunberg ist damit nicht allein: In einer aktuellen
    Studie unter tausenden Jugendlichen aus aller Welt        muss sich seinen Platz im Zeitgeist zunehmend
    stimmen 56 Prozent der einfachen Feststellung „Humanity   mit der Katastrophenangst teilen. Zwar kann man
    is doomed“ zu (Hickman et al. 2021: 6).

                                                                                                                  4
Klur - Extinction is Bad for Economy

              von Fisher lernen, dass diese keinen starren Ge-       ich mich in einem Abriss über die heutigen Natur-
              genpol zum kapitalistischen Realismus darstellt,       verhältnisse der Naturalisierung von Gesellschaft,
              weil sie sich erst aus dem Zusammenspiel der           die implizit auch simulativer Krisenbewältigung
              heutigen ökologischen und sozialen Krisen und          zugrunde liegt und ein Motor politischer Regres-
SuN 01/2022

              der Abwesenheit greifbarer oder auch nur denk-         sion ist. Zwar werde ich nachfolgend zuweilen
              barer Alternativen speist. Dennoch scheint sich        unter kritischem Bezug auf die Klimabewegungen
              ein Spannungsverhältnis zwischen einer angst-          argumentieren, doch sind diese nicht primärer
              getriebenen Politisierung und der erzwungenen          Gegenstand meiner Kritik. Vielmehr sollen ge-
              Entpolitisierung des kapitalistischen Realismus        sellschaftliche Gegenkräfte zu einem radikalen
              aufzutun – womit aber nicht gesagt ist, ob die Be-     sozialökologischen Wandel analysiert werden,
              schränkungen des Letzteren dadurch gesprengt           die sich der widersprüchlichen Konstellation
              werden oder sich vielmehr Formen der Politik,          aus Katastrophenangst und Alternativlosigkeit
              des Aktivismus und der Ideologie entwickeln,           verdanken und den Erfolg sozialökologischer Be-
              die sich innerhalb des Widerspruchs bewegen            wegungen zu behindern drohen.
              können, ohne diesen zu sprengen. Und tatsäch-
              lich gibt es einige Anzeichen dafür, dass sich diese
              Sprengkraft bislang nicht entwickelte: Wie ich         1. Entpolitisierte Politik:
              nachfolgend in (notwendigerweise fragmentari-             Staat und Wissenschaft
              scher) Auseinandersetzung mit unterschiedlichen           in den Klimadebatten
              Aspekten der (Debatten um) Nachhaltigkeit und
              Klimapolitik zeigen möchte, bleiben der Politisie-     Wie es um die Politisierung der Klimadebatten
              rung bisher oftmals enge Grenzen gesetzt.              bestellt ist, lässt sich am Verhältnis der Klimabe-
                                                                     wegung zu Wissenschaft und Staat bestimmen.
              Diese Grenzen präzisiere ich zunächst, indem
                                                                     Vielfach wurde festgestellt, dass zumindest die
              ich das Zusammenspiel von imperialer Lebens-
                                                                     öffentlichkeitswirksamen Vertreter*innen der
              weise, Alternativlosigkeit und postfordistischer
                                                                     Bewegung (die keinesfalls mit der heterogenen
              Dauerkrise als zentrale Beharrungskraft der
                                                                     Bewegung in toto gleichzusetzen sind) über
              „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn
                                                                     die Anrufung ‚der Politik‘, diese solle endlich
              2020a) analysiere. In diesem Kontext analysiere
                                                                     auf ‚die Wissenschaft‘ hören und entsprechend
              ich zudem den Szientismus und Apellcharakter
                                                                     handeln, kaum hinausgehen (Blühdorn 2020a:
              der Klimadebatten, aus denen ein Modus ent-
                                                                     62). Diese Beschränkung auf zivile Proteste und
              politisierter Politik spricht (Abschnitt 1). Darauf
                                                                     wissenschaftlich untermauerte Appellation wird
              aufbauend gehe ich auf eine Form von Politik und
                                                                     auch innerhalb der Bewegung aus unterschied-
              Ideologie ein, die sich zwischen den Extremen
                                                                     lichen Richtungen kritisiert, etwa von Carola
              von Alternativlosigkeit und Katastrophenangst
                                                                     Rackete (2021) und Andreas Malm (2021). Auf
              bewegen kann und die ich als simulative Krisenbe-
                                                                     der Ebene der deutschen Bundesorganisation
              wältigung bezeichne (Abschnitt 2). Diese reagiert
                                                                     von Fridays For Future bestätigten diese Kritik
              auf den Widerspruch, dass keine grundlegenden
                                                                     noch vergangenes Jahr Luisa Neubauer und
              Alternativen denkbar sind, gerade angesichts der
                                                                     Carla Reemtsma (2021) in ihren Gastbeitrag für
              Klimakrise sich aber zugleich niemand mit bloßer
                                                                     die taz, in dem sie unter vehementen Verweis auf
              Alternativlosigkeit zufriedengeben kann: Weil sich
                                                                     die Dringlichkeit nochmals die „Mächtigen“ zum
              nichts ändern könne und es doch nicht so bleiben
                                                                     Handeln auffordern. Zwar deuten sich diesbezüg-
              darf, etablieren sich unterschiedliche Formen si-
                                                                     lich Verschiebungen an: Carla Reemtsma etwa
              mulativer Bewältigungsstrategien. Zuletzt widme

              5
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

verkündete im Frühjahr 2022, dass das bishe-             et al. 2018: 9), sondern beruht „unverzichtbar auf
rige „Repertoire durchgespielt“ (RND 2022) sei           dem Prinzip der Entsolidarisierung, Ausbeutung
und man eine „Verbreiterung der Protestformen            und Exklusion“ (Blühdorn 2020a: 19). Diese
erleben“ wird. Auch wenn diese Ankündigung bei           ihrem Prinzip nach exklusive und herrschaft-

                                                                                                                           SuN 01/2022
jenen Kommentator*innen für Schnappatmung                liche Lebensweise scheint heute von mehreren
sorgte, die schon im freitäglichen Fernbleiben           Seiten bedroht zu sein: Von den Ansprüchen auf
vom Unterricht einen Zivilisationsbruch er-              Teilhabe von Menschen des globalen Südens
blickten, bleiben die praktischen Konsequenzen           (Lessenich 2018a: 125 ff., Bauman 2016), einem
abzuwarten. Zumindest bislang bleibt die Ap-             verschärften globalen Wettbewerb und schließ-
pellation an Amtsträger*innen innerhalb wie              lich der Krisenanfälligkeit des postfordistischen
außerhalb der Bewegung ein bedeutungsvoller              Kapitalismus (Vidal 2013), in deren Lichte die
Modus der Argumentation und des Aktivismus.              Krise (und mit ihr die Angst um Arbeitsplatz und
So wenig die Empörung über die Inaktivität               Lebensstandard) für viele Arbeiter*innen des glo-
von Regierungen dabei falsch sein mag, so sehr           balen Nordens zu einem „permanente[n] Prozess“
werden dadurch strukturelle Probleme auf die             (Detje et al. 2011: 55) wird. Zwar sind die „Sorgen
Ignoranz einiger Weniger heruntergebrochen.              um den Mittelstand […] so alt wie der Mittelstand
Man argumentiert als würde sich der Knopf zur            selbst“ (Lessenich 2018b: 163) – seitdem der
Vermeidung der Klimakatastrophe analog zur               Bürger an Privatbesitz gekommen ist, ängstigt
Atombombe in der unmittelbaren Verfügungs-               er sich, diesen wieder zu verlieren. Doch aktuali-
gewalt Einzelner befinden, die aber so ignorant          siert sich diese bürgerliche Angst im Lichte eines
wären, diesen nicht zu betätigen. In dieser Perso-       Szenarios anhaltender ökonomischer Krisen, die
nalisierung bleiben die strukturellen Gründe der         den sozialen Abstieg zum Vergleichshorizont der
„nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn            eigenen Lebenslage (Menz/Nies 2019a: 219) und
2020a) ausgeblendet, die heute insbesondere in           „die distanzlose Internalisierung systemischer
der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen               Mechanismen und die angstbetriebene Unter-
2017) und deren Verteidigung durch ein Bündnis           werfung unter die Autorität des Marktes“ (Menz/
von Mehrheitsbevölkerung, Staat und Kapitalien           Nies 2019a: 217) zum Modus Operandi spätkapi-
angesichts realer und imaginierter Bedrohungen           talistischer Gesellschaften werden lassen. Dieser
zu suchen sind.                                          „Markautoritarismus“ (Menz/Nies 2019a), der
                                                         auch die legitimatorische Basis des neoliberalen
    Die Imperiale Lebensweise und ihre                   Umbaus darstellte (Lessenich 2016), verträgt sich
               Bedrohung                                 nur allzu gut mit dem kapitalistischen Realismus,
                                                         dessen Kernstück eine “Deflation der Erwar-
Der Begriff der imperialen Lebensweise be-
                                                         tungen” (Fisher 2015: 17) ist: Die entscheidende
zeichnet in den Worten Stephan Lessenichs die
                                                         legitimatorische Kraft ist in diesem nicht die
„strukturelle Möglichkeit“ des globalen Nordens
                                                         Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sondern die
„zur Realisierung der Gewinne und gleichzeitigen
                                                         Drohung einer schlechteren.2
Externalisierung der Kosten ihrer Arbeits- und
Lebensweise“ (Lessenich 2018a: 108). Der Le-             Die imperiale Lebensweise und ihre (angebliche)
bensstandard des globalen Nordens beruht auf             Bedrohung impliziert daher, dass man nicht
der „Überausbeutung“ (Fischer 2020) von Men-
schen und natürlichen Ressourcen in Ländern des
                                                         2   Zur Rolle von Krisen bei der „Verallgemeinerung und Vertie-
globalen Südens und kann daher prinzipiell nicht             fung der imperialen Lebensweise“ siehe Brand und Wissen
universalisiert werden (Lessenich 2016, Blühdorn             (2017: 95 ff.).

                                                                                                                      6
Klur - Extinction is Bad for Economy

              unmittelbar von gegensätzlichen Interessen zwi-      Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2018: 173) und
              schen Kapital und Arbeit ausgehen kann. Denn         der imperialen Lebensweise so wenig verständlich
              die Aufrechterhaltung der eigenen Lebensweise        wie die rechtspopulistische Reaktion auf deren
              kommt auch deutschen Unternehmen entgegen,           angebliche Bedrohung durch jene „Nicht-Staats-
SuN 01/2022

              deren Möglichkeiten auf Gewinn auf billiger          bürger, die Zugang zu den Wohlstandsregionen
              Arbeit in und billigen Ressourcen aus Ländern des    suchen“ (Lessenich 2018a: 129). Die „nachhal-
              globalen Südens sowie der Externalisierung von       tige Nicht-nachhaltigkeit“ lässt sich daher nicht
              Umwelt- und Klimaschäden beruhen (Lessenich          zum bloßen Wohlstandsphänomen verkürzen,
              2018a: 96 ff.). Man sollte aus dieser Übereinstim-   sondern erschließt sich aus dem Zusammenspiel
              mung allerdings nicht den Schluss ziehen, dass       von imperialer Lebensweise und grundlegender
              Klassengegensätze aufgehoben seien. Dass es          Prekarität der Lohnabhängigkeit.
              auch im globalen Norden einen Widerspruch von
                                                                   Doch nicht nur die Bevölkerung, auch der Staat
              Kapital und Arbeit gibt und dieser mit einer prin-
                                                                   ist auf die Aufrechterhaltung der imperialen
              zipiellen Prekarität für Arbeiter*innen verbunden
                                                                   Lebensweise bedacht. Als „Staat des Kapitals“
              ist, ändert sich auch dadurch nicht, dass diese
                                                                   (Agnoli 1975: 60) kommt diesem die Funktion zu,
              Arbeiter*innen von der Überausbeutung des glo-
                                                                   die nationalen Verwertungsbedingungen insti-
              balen Südens profitieren und ein unvergleichlich
                                                                   tutionell abzusichern. Der Staat ist insofern kein
              besseres Leben führen, als Jene, die gezwungen
                                                                   freischwebender Akteur, sondern hat Autonomie
              sind, den Preis der imperialen Lebensweise zu
                                                                   nach Johannes Agnoli nur innerhalb der notwen-
              zahlen. Basis der überlappenden Klasseninter-
                                                                   digen Vermittlung unterschiedlicher Kapital- und
              essen bleibt die „Spaltung zwischen dem Leben
                                                                   Klasseninteressen (Agnoli 1975: 66 f.).3 Nicht
              und seinen Bedingungen“ (Mau 2021: 141), die
                                                                   nur treten dabei angesichts anhaltender ökono-
              nach Marx Voraussetzung der Verallgemeinerung
                                                                   mischer Krisentendenzen (vgl. Pfeiffer 2021: 157)
              von Lohnarbeit und Warenproduktion für den
                                                                   Fragen der sozialökologischen Transformation
              Markt ist: Ohne Enteignung von den Lebensbe-
                                                                   noch weiter in den Hintergrund. Die Staaten des
              dingungen, kein Zwang vom Verkauf der eigenen
                                                                   globalen Nordens sind generell zentrale Garanten
              Arbeitskraft zu leben und auf deren erfolgreichen
                                                                   der imperialen Lebensweise: Sie sorgen für die
              Verkauf angewiesen zu sein (Marx/Engels 1962:
                                                                   Exklusion derer, die zur Aufrechterhaltung der
              183). Unter gesellschaftlichen Bedingungen, in
                                                                   imperialen Lebensweise ausgeschlossen bleiben
              der Bedürfniserfüllung und (soziales) Überleben
                                                                   müssen (Blühdorn 2018: 172) und versuchen
              an Lohnarbeit gekoppelt und daher nicht garan-
                                                                   die „weltwirtschaftlichen Austauschverhältnisse“
              tiert sind (Mau 2021: 154), verwundert es nicht,
                                                                   (Lessenich 2018a: 36) zugunsten heimischer
              dass Arbeiter*innen unter Abwesenheit konkreter
                                                                   Unternehmen zu formen. Der Staat ist daher
              gesellschaftlicher Alternativen mit jenen Kapi-
                                                                   nicht der neutrale Ort der Umsetzung rationaler
              talfraktionen übereinstimmen, von deren Erfolg
                                                                   Entscheidungen, der über die Interessen in Öko-
              auch die eigenen Lebensbedingungen abhängen.
                                                                   nomie und Gesellschaft erhaben wäre. Als solcher
              Kann es auch nicht darum gehen, die Nutznie-
              ßer*innen der imperialen Lebensweise zu den
              eigentlichen Opfern zu erklären: Ignoriert man       3   Mit Lessenich wären hier neben den „kapitalistischen Er-
                                                                       fordernissen“ auch die „demokratischen Forderungen“
              die prinzipielle Prekarität von Lohnabhängigen
                                                                       als Moment staatlicher Vermittlungsleistung zu nennen
              und die damit verbundene Angst, das Gewon-               (Lessenich 2017: 149). Diese müssen sich mit den Verwer-
                                                                       tungsanforderungen jedoch nicht notwendigerweise wi-
              nene (und angeblich Verdiente) zu verlieren,
                                                                       dersprechen und zumindest in Bezug auf die Erhaltung
              wird die „mehrheitsgestützte[] Verteidigung der          der imperialen Lebensweise fallen sie gar zusammen (vgl.
                                                                       Blühdorn 2020b: 152 ff.).

              7
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

wird er von Teilen der Klimabewegung aber ad-                    der Grund, warum Greta Thunberg gerne auf
ressiert. Man übersieht, „dass das so adressierte                Bühnen der internationalen Politik geladen wird:
vermeintliche Steuerungssubjekt ‚Staat‘ kein                     Sie stellt keine Gefahr für die Legitimität der be-
möglicher Gegenpol, sondern ein wesentliches                     stehenden internationalen Ordnung dar, deren

                                                                                                                         SuN 01/2022
Moment in der institutionellen Absicherung der                   Akteure zugleich signalisieren können, sie würden
imperialen Lebensweise ist“ (Brand/Wissen 2017:                  die Sorgen um die Klimakrise ernst nehmen.
16). Mit Agnoli gesprochen ist es eine „ideologi-
sche, mystifizierende Vorstellung des Staats, die                         Szientismus und Sachzwang
die Herrschaft legitimieren soll“, wenn dieser „als
                                                                 Die Verwissenschaftlichung „umwelt- und
autonome, nur durch freien Willen und durch
                                                                 nachhaltigkeitspolitischer Belange“ (Blühdorn
ideale Zielorientierung bestimmte Handlung
                                                                 2020a: 97) ist neben der Ausblendung des Herr-
politischer Führungsgruppen“ (Agnoli 1975: 65)
                                                                 schaftscharakters des Staates mit einem weiteren
aufgefasst und zum vernunftgeleiteten (ergo
                                                                 Problem verbunden: Ein ‚erträgliches Maß‘
ökologischen) Handeln aufgerufen wird. Und
                                                                 an Klimawandel und Umweltzerstörung lässt
tatsächlich steht die Macht der „Mächtigen“, die
                                                                 nicht neutral festlegen (Blühdorn 2018: 159).
durch die Klimabewegungen adressiert werden,
                                                                 Es handelt sich bei Forderungen nach Klima-
kaum zur Disposition.4 Der Staat wird in den
                                                                 und Umweltschutz oder Klimagerechtigkeit so
Nachhaltigkeitsapellen weder als „Verdichtung
                                                                 unvermeidlich wie berechtigt um politische For-
von Klassenverhältnissen“ (Poulantzas 2002:
                                                                 derungen. Dieser politische Charakter aber wird
225) noch in seiner strukturellen Funktion als
                                                                 in Teilen der Klimabewegungen systematisch
Garant nationaler Verwertungsbedingungen
                                                                 negiert – nicht zuletzt, weil es diesen um ein
angerufen, sondern als prinzipiell neutraler Ver-
                                                                 scheinbar letztgültiges Kriterium geht: das bloße
waltungsapparat, dessen Personal jederzeit die
                                                                 Überleben der Klimakrise. Zwar erhofft man sich
Erkenntnisse der Wissenschaft umsetzen könnte,
                                                                 davon wohl Legitimationskraft, doch dürfte diese
wenn es nur wollte. Trotz des großen Misstrauens
                                                                 Strategie dem Anliegen eher schaden. Denn der
gegenüber den etablierten Parteien, legitimiert
                                                                 Szientismus steht keinesfalls aufseiten der Klima-
man den Staat so nicht nur, man verklärt diesen
                                                                 bewegten, sondern fügt sich in die fortschreitende
in den Apellen implizit zum alleinigen Akteur, der
                                                                 Versachlichung von Herrschaft, in deren Zuge
die Transformation bewerkstelligen könnte – für
                                                                 scheinbar neutrale (politische und ökonomische)
die Bewegung bleibt nur die Rolle der Aktivierung
                                                                 Sachzwänge den Bereich dessen, was als Verhan-
des Staates statt die der Transformation selbst.
                                                                 delbar und Veränderbar gilt, beschneiden und
Diese Ambivalenz ist es, die sich im Wahlkampf
                                                                 auch Politik sich auf die rationale Verfolgung
zur vorangegangenen Bundestagswahl im offenen
                                                                 unhintergehbarer Zwecke zurückziehen kann
Widerspruch ausdrückt, die Wahl zur „Klima-
                                                                 (vgl. Marcuse 1968). Indem man politischen For-
wahl“ (Fridays For Future 2021) zu erklären und
                                                                 derungen dadurch Nachdruck verleihen möchte,
doch selbst darauf hinzuweisen, dass keine der
                                                                 dass man sie verwissenschaftlicht, betreibt man
aufgestellten Parteien ein Programm vorzuweisen
                                                                 daher selbst das Spiel der Entpolitisierung, das
hat, das mit dem Ziel, die Klimaerwärmung auf
                                                                 Grundlage kapitalistisch-realistischer Politik (vgl.
1,5°C zu beschränken, vereinbar wäre (DIW
                                                                 Chamayou 2019: 307 ff.) ist: Weil die politöko-
2021). Diese ungewollte Legitimierung ist dabei
                                                                 nomische Ordnung alternativlos ist, dürfen die
                                                                 ökologischen Forderung nicht politisch, sondern
                                                                 müssen streng wissenschaftlich sein.
4   Das gilt auch für das Gros der Konzepte sozialökologischer
    Transformation (vgl. Brand/Wissen 2017: 37 ff.).

                                                                                                                    8
Klur - Extinction is Bad for Economy

              Doch hat man als Klimabewegung das Spiel             tion zur Internationalen Automobilausstellung
              schon dadurch verloren, dass man es überhaupt        (IAA) 2021 in München zu hören, Politiker*innen
              spielt: Ohnehin ist dem bürgerlichen Staat           sollten ihren Kindern in die Augen sehen und dann
              eine „strukturelle[…] Selektivität“ (Poulantzas      endlich die notwendigen Schritte zur Rettung
SuN 01/2022

              2002: 165) zugunsten von Kapitalinteressen zu        deren Zukunft unternehmen. Statt einer Kritik
              eigen. Im Lichte der postfordistischen Dauer-        der gesellschaftlichen Ursachen der Nicht-Nach-
              krise (Staab 2019: 150 ff.) gewinnen der             haltigkeit, wird in den Appellen „die moralische
              kapitalistische Verwertungsprozess und die korre-    Dringlichkeit einer wirklich großen Transforma-
              spondierenden politischen Zielgrößen (Schwarze       tion“ (Blühdorn 2020a: 110) beschwört. Doch
              Null, Wirtschaftswachstum, etc.) zudem eine          sind Objektivierung und überzogener Subjekti-
              Legitimationsmacht, die sie als apolitisch und       vismus keine Gegensätze, sondern Komplemente.
              „nicht zu hinterfragende Größe[n]“ (Menz/Nies        Wie Blühdorn argumentiert, reagiert solche
              2019b: 196) erscheinen lassen. Insofern können       Emotionalisierung auf ein Problem, das sich die
              gegen jene entpolitisierten Fakten der Klimafor-     Klimabewegung durch ihre Verwissenschaftli-
              schung stets ökonomische Sachzwänge angeführt        chung eingekauft hat: Die zunehmende Distanz
              werden, auf die in der Krisenbewältigung zu          zur Erfahrungs- und Lebenswelt derer, die mobi-
              achten alternativlos sei: Sozialökologische Trans-   lisiert werden sollen. Die Emotionalisierung stelle
              formation nur, sofern sie sich mit Wachstum          den Versuch dar, eine Brücke zu schlagen, wo sich
              und Investitionssicherheit verträgt. Weil sich der   ein Graben zwischen Szientismus und Lebenswelt
              Szientismus selbst in den Bahnen solch entpoli-      der Menschen aufgetan hat (Blühdorn 2020a: 96).
              tisierter Systemimmanenz bewegt, fehlen diesem       Zentraler für die Emotionalisierung scheint mir
              die analytischen und politischen Mittel, die öko-    jedoch ein anderer Selbstwiderspruch der Entpo-
              nomischen Systemzwänge grundlegend in Frage          litisierung zu sein: Innerhalb der szientistischen
              zu stellen. Die Kombination aus Staatszentrie-       und staatszentrierten Verengung können neue
              rung und Szientismus impliziert daher ob gewollt     Gründe zur staatlichen Folgeleistung der Appelle
              oder nicht, dass die Klimakrise sich unmittelbar     gerade nicht in der Wissenschaft selbst, sondern
              innerhalb der bestehenden Gesellschaftsord-          nur in deren (moralischen oder emotionalen)
              nung auf ein erträgliches Maß beschränken lässt      Bekräftigung liegen. Die Emotionalisierung ist
              – womit grundsätzlichere Fragen nach der Pro-        Symptom einer Entpolitisierung, die den Staat zur
              duktions- und Regierungsweise von vornhinein         alleinigen Instanz von Veränderung verklärt und
              ausgeschlossen und ökonomische Systemzwänge,         Aktivist*innen dadurch in eine Passivität drängt,
              die einer sozialökologischen Transformation          in der – zumal angesichts der verbreiteten Skepsis
              entgegenstehen, ausgeblendet oder explizit ak-       gegenüber ‚radikalen‘ Praxisformen (vgl. Malm
              zeptiert werden (Brand/Wissen 2017: 37).             2021) – außer der Anrufung des Staates keine
                                                                   politischen Mittel verbleiben: Man ist angesichts
                  Emotionalisierung als Komplement von             der ausbleibenden ökologischen Transformation
                             Entpolitisierung                      dazu verdammt, fassungslos zurückzubleiben und
                                                                   die Forderungen emotional noch einmal zu über-
              In scheinbarem Widerspruch zu dieser
                                                                   bieten. Die Fassungslosigkeit mag berechtigt sein,
              Entpolitisierung stehen die zunehmende Emo-
                                                                   doch ist sie inhärent passiv und entpolitisiert.
              tionalisierung der Appelle an den Staat sowie
              die Personalisierung der Nicht-Nachhaltigkeit        Die Extreme von szientistischer Entpolitisierung
              anhand untätiger Politiker*innen. So war etwa        einerseits, Überbetonung von Personen und
              auf der zivilgesellschaftlichen Gegendemonstra-      Emotionen andererseits fügen sich dabei nur zu

              9
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

gut in den kapitalistischen Realismus. Nicht nur         Klimabewegung selbst anzulasten, sondern auf
bewegen sich die Appelle an den Staat streng             die Beharrungskräfte zurückzuführen, mit denen
innerhalb der vorgegebenen Sozialordnung, die            Versuche der Politisierung konfrontiert sind.
Kehrseite des kapitalistischen Realismus ist nach        Schließlich ist kapitalistischer Realismus keine

                                                                                                                   SuN 01/2022
Mark Fisher insgesamt eine Überbetonung des              rein ideelle Sache fehlender Vorstellungskraft, die
Subjektiven (Fisher 2009: 13): Wenn die grund-           sich allein durch bessere Einsicht oder utopische
legende Gesellschaftsordnung alternativlos oder          Entwürfe erledigt hätte. Wie sich bereits gezeigt
naturgemäß ist, bleiben im Versuch der Kritik            haben sollte, ist die Undenkbarkeit gesellschaftli-
letztlich nur der Bezug auf angeblich neutrale           cher Alternativen Epiphänomen ganz materieller
Fakten und Personen. Insofern drückt sich die            Verhältnisse, die von den Krisen des Postfor-
Entpolitisierung in einem falschen Subjekti-             dismus und der Zerschlagung und Einverleibung
vismus aus: Der Naturalisierung von Gesellschaft         oppositioneller Bewegungen (Chamayou 2019)
entspricht ein atomistisches Gesellschaftsver-           über die Verteidigung der imperialen Lebensweise
ständnis, das von Herrschaftsverhältnissen sowie         bis zur Atomisierung sozialer Konflikte in verall-
von individuell unverfügbaren gesellschaftlichen         gemeinerter zwischenmenschlicher Konkurrenz
Strukturen absieht – weshalb für unliebsame Phä-         (vgl. Graefe 2019: 56 ff.) reichen. Seit den 1970er
nomene nur konkrete Personen verantwortlich              Jahren ist ein Schwinden signifikanter opposi-
sein können. Auch wenn man daher oberflächlich           tioneller Bewegungen zu verzeichnen, während
mit dem Dogma der Alternativlosigkeit bricht             durch die fortschreitende Kommodifizierung
und eine andere Politik fordert, verbleiben              des öffentlichen und privaten Raumes jene sub-
Appelle an den Staat im Bann des kapitalistischen        jektiven und objektiven Freiräume unter Druck
Realismus. Angesichts der Verknöcherung der              geraten, an welchen sich die Vorstellungskraft
Gesellschaft zum Unausweichlichen und Frag-              gesellschaftlicher Alternativen durch die Erfah-
losen verbleibt an Politik nicht viel mehr als die       rung anderer, solidarischer „Beziehungsweisen“
Anrufung des amtierenden Staatspersonals, es             (Adamczak 2017) nähren kann. Die Verwissen-
solle endlich handeln. In der „wissenschafts- und        schaftlichung ist daher eher Symptom als Grund
staatszentrierten Fixierung auf das 1,5-Grad-Ziel“       fehlender Vorstellungskraft und es greift zu kurz,
drückt sich der Umstand aus, dass sich im Groß           das Problem in einem Strategiefehler der Kli-
der Klimabewegung bislang „nur wenig alterna-            mabewegungen zu verorten. Vielmehr hat man
tivgesellschaftliche Vorstellungskraft“ (Blühdorn        es mit einer gewaltvollen Verengung des gesell-
2020a: 17) entwickelt hat.                               schaftlichen Möglichkeitshorizonts zu tun, die die
                                                         Bestrebungen einer weitreichenderen Politisie-
Zwar sind politische Stoßrichtung der Klima-
                                                         rung konterkariert.
bewegung und Radikalität ihrer Praxisformen
umkämpfte Felder und es existieren Konzepti-             Daran, dass innerhalb einer Ökonomie, die
onen gesellschaftlicher Alternativen wie etwa            auf der Produktion von Tauschwerten und den
Ökosozialismus (Dörre 2021) und Commonismus              dadurch bedingten Zwang zur beständigen Aus-
(Sutterlütti/Meretz 2018). Doch nicht nur in-            weitung von Produktion und Konsumtion beruht,
nerhalb der Transformationsforschung führen              die Klimakrise bewältigt werden kann, besteht
Letztere weiterhin eine randständige Existenz            berechtigter Zweifel (vgl. Barth et al. 2016: 325,
(Brand/Wissen 2017: 147), bisher gehen diese             Marx/Engels 1962: 529 f.). Auch im Lichte der
nicht in das Gros der Klimabewegung oder gar             Katastrophenangst sind solche grundsätzlichen
die Vorstellungswelt einer breiteren Öffent-             gesellschaftlichen Fragen aber nicht nur in großen
lichkeit ein. Das ist allerdings schwerlich der          Teilen der Klimabewegung, sondern auch in den

                                                                                                             10
Klur - Extinction is Bad for Economy

              öffentlichen Debatten und der Transformations-        everything the same.” Angesichts Ausmaßes und
              forschung (Lessenich 2018a: 112 f., Brand/Wissen      Sichtbarkeit der Klimakrise steigt der Rechtfer-
              2017: 37 ff.) eigentümlich unterrepräsentiert. Zwar   tigungsdruck sowohl auf Regierungen als auch
              kommt es unter dem Druck der Katastrophen-            auf die Subjekte, der Klimakrise etwas entge-
SuN 01/2022

              angst zu einem Aufbegehren gegen die bisherige        genzusetzen. Vorausgesetzt der Rahmen der
              Klima- und Umweltpolitik, diese Politisierung         Entpolitisierung wird nicht verlassen, müssen
              verbleibt aber zumeist in den engen Bahnen der        sich daher Modi des Politischen und der Ideo-
              Entpolitisierung. Dabei ist jedoch nicht nur die      logie etablieren, die sich zwischen Zwang zur
              ideelle und reelle Geschlossenheit der beste-         Veränderung und Zwang zur Beharrung bewegen,
              henden Gesellschaft entscheidend, sondern deren       ohne eines der Extreme aufheben zu können.
              Zusammenspiel mit der imperialen Lebensweise,         Und tatsächlich scheint sich ein solcher Bewe-
              deren Aufrechterhaltung nicht erst vonseiten          gungsmodus herausgebildet zu haben, der sich in
              derer ausgeht, die ganz offen zur Verteidigung        Anlehnung an Ingolfur Blühdorn als simulative
              ‚unseres Wohlstands‘ aufrufen (Blühdorn 2020a:        Krisenbewältigung bezeichnen lässt. Krisenbe-
              47 ff.). Die Klimabewegung findet sich daher in       wältigung wie sie hier bestimmt werden soll, ist
              der Situation wieder, dass sie eine Bevölkerung er-   im doppelten Sinne simulativ: Erstens dürfen die
              reichen möchte (zu der sie freilich selbst gehört),   Ursachen der Probleme, die bearbeitet werden
              die an einer sozialökologischen Transformation –      sollen, nicht angegangen werden, sofern sie an
              würde man mit dieser Ernst machen und globale         Grundstrukturen von imperialer Lebensweise
              Ausbeutungsverhältnisse von Mensch und Natur          und kapitalistischem Verwertungsprinzip rütteln.
              antasten – trotz gegenteiliger Bekundungen kein       Damit kann aber zweitens das Entscheidende
              Interesse haben dürfte, weil man damit an den         nicht sein, dass die Krisenbewältigung von
              Grundfesten von globalem Kapitalismus und im-         mittel- oder langfristigen Erfolgen gezeitigt wird.
              perialer Lebensweise rühren würde, zu der eine        Vielmehr muss das Entscheidende im Akt der
              bessere Möglichkeit weder ideell noch reell sich      Krisenbewältigung selbst liegen, ohne dass dieser
              ankündigt. Zwar ist es daher längst zum Allge-        von einem Resultat gekrönt werden müsste: in
              meinplatz geworden, dass es so nicht weitergehen      ihrem Erlebnischarakter (vgl. Blühdorn 2019:
              könne. Doch existieren im Zusammenspiel von           173). In Anlehnung an Guy Debord (1978) ließe
              imperialer Lebensweise und kapitalistischem           sich sagen, dass die Bewältigung der Klimakrise
              Realismus starke Beharrungs- und Gegenkräfte,         zum erlebbaren Spektakel werden muss.
              weshalb es anders auch nicht werden kann – und
                                                                    Auch Blühdorn analysiert den simulativen
              letztlich auch nicht soll.
                                                                    Charakter heutiger Partizipations- und Aktions-
                                                                    formen (auch sozialökologischer Bewegungen)
                                                                    ausführlich (siehe bspw. Blühdorn 2018, 2019:
              2. Facetten simulativer
                                                                    167 ff., 2020a). Doch unterscheidet sich der hier
                 Krisenbewältigung                                  entfaltete Begriff simulativer Krisenbewältigung
                                                                    in mindestens zwei Hinsichten von den Ana-
              Wie Jasper Bernes (2019) es bezogen auf den
                                                                    lysen Blühdorns. Erstens konstruiert Blühdorn
              Green New Deal auf den Punkt gebracht hat,
                                                                    den Begriff der Simulation als allzu eindeutigen
              sind die politischen Antworten auf die Klima-
                                                                    Epochenbruch, der auch Begriffe der „old cri-
              krise zutiefst von diesem Dilemma gezeichnet:
                                                                    tical orthodoxy“ (Blühdorn 2020a: 93) obsolet
              „The problem with the Green New Deal is that
              it promises to change everything while keeping

              11
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

machen würde.5 Von größerer Bedeutung ist an                        2019: 149) für die Entstehung von Postdemo-
dieser Stelle aber zweitens, wie er das Dilemma                     kratie und Entpolitisierung. Mindestens ebenso
bestimmt, auf das Simulation reagiere: „Simula-                     wichtig sei aber die „Unangemessenheit [des
tive Demokratie“ (Blühdorn 2019) sei die Antwort                    demokratischen Projekts] sowohl für das Identi-

                                                                                                                          SuN 01/2022
auf das Dilemma von „postdemokratischen                             tätsideal als auch das Selbstverständnis heutiger
Wertpräferenzen“ und dem Fortleben von „demo-                       Bürger.“ (Blühdorn 2019: 149) Doch erfährt man
kratische[n] Erwartungshaltungen“ (Blühdorn                         bei Blühdorn kaum etwas über die konkreten
2019: 172). Durch ihren Fokus auf individuelle,                     Mechanismen der „Unterdrückung und Margi-
konsumbasierte Selbstverwirklichung stütze                          nalisierung“ und die Herrschaftsdimension bleibt
heutige Subjektivität Entpolitisierung, Neolibera-                  unterbestimmt. Außerdem führt Blühdorn zwar
lismus (Blühdorn 2018, 2020a: 11) und imperiale                     Herrschaft und spätmodernes „Selbstverständnis“
Lebensweise (Blühdorn 2018, 2020a: 47 ff.).                         als relevante Faktoren der Entpolitisierung ein,
Zugleich halten große Teile der Bevölkerung aber                    ohne diese aber aufeinander zu beziehen. Heutige
am damit unvereinbaren „demokratischen Selbst-                      Formen der Subjektivität sollen offenkundig
verständnis“ (Blühdorn 2019: 171) fest. Auf dieses                  in ihrer Genese nichts mit Herrschaft zu tun
Dilemma reagiere simulative Politik, indem                          haben, sondern einer von den materiellen Kräf-
demokratisch-emanzipatorische Werte in postde-                      teverhältnissen unabhängigen (oder diesen sogar
mokratischen Formen reproduziert und erlebbar                       vorgelagerten) Dialektik der „Idee des autonomen
gemacht werden (Blühdorn 2019: 173, 176 ff.).                       Subjekts“ (Blühdorn 2020b: 154) folgen und aus
                                                                    sich heraus die Entpolitisierung vorantreiben.
Zwar stellt folglich auch für Blühdorn Entpolitisie-
                                                                    Diese Konstruktion läuft Gefahr von den kon-
rung einen Ausgangspunkt simulativer Politik dar.
                                                                    kreten Kräfte- und Herrschaftsverhältnissen (und
Doch während er die globale Herrschaftsdimen-
                                                                    deren Rolle bei der Genese besagter Subjektivität)
sion der imperialen Lebensweise stets im Blick
                                                                    zugunsten der abstrakten Selbstentfaltung eines
behält, kommt jener der Entpolitisierung kaum
                                                                    Konzeptes zu abstrahieren. Der Herrschaftscha-
eine Rolle zu. So seien zwar „Unterdrückung und
                                                                    rakter von Entpolitisierung und Subjektivität
Marginalisierung des demokratisch-emanzipato-
                                                                    würden sich nur durch eine historische Analyse
rischen Projekts durch das herrschende Kapital
                                                                    erschließen, wie sie neben Mark Fisher etwa
[…] zweifelsohne wichtige Faktoren“ (Blühdorn
                                                                    Grégory Chamayou (2019) zu leisten versucht hat
                                                                    und die sich nicht mit dem pauschalen Verweis
                                                                    auf Marx‘ Prognose der Ökonomisierung aller
5   Diese Periodisierung kann hier nicht ausführlich diskutiert
    werden, lässt sich aber an Blühdorns markanter Entgegen-        Lebensbereiche erledigt haben kann (siehe Blüh-
    setzung von Ideologie und „Selbstillusionierung“ (Blüh-         dorn 2019: 121).
    dorn 2019: 109) illustrieren, wobei Letztere der simulativen
    Spätmoderne zugehöre, in welcher der Ideologiebegriff
                                                                    Weil Blühdorn die Selbstentfaltung des autonomen
    unbrauchbar werde (vgl. Blühdorn 2019: 143 ff.). Diese Be-
    hauptung ist aber nicht nur durch eine Banalisierung des        Subjekts zur „treibende[n] Kraft“ (Blühdorn 2019.:
    Ideologiebegriffs zu intentionaler Fremdtäuschung oder, in      167) des Dilemmas erklärt, ohne die Verstrickung
    Blühdorns Worten, „Verblendungs- und Verblödungsstrate-
    gien“ „in den Händen gesellschaftlicher Eliten“ (Blühdorn       der Subjektformen mit deren materiellen Vor-
    2019: 180) erkauft (s. dagegen bspw. Marx/Engels 1978: 26       aussetzungen zu bestimmen, gerät der inhärente
    ff., Jaeggi 2013). Auch zeitdiagnostisch ist die Entgegenset-
    zung zu kritisieren: Es schwingt in ihr die alte Fehldiagnose   Herrschaftscharakter spätmoderner Subjektivität
    Peter Sloterdijks vom Ende der Ideologie mit (Sloterdijk        nicht in den Blick: Der Umstand, dass heutige
    1983), gegen die anzuführen ist, dass die Menschen früher
    nicht so unaufgeklärt waren, wie die Entgegenstellung im-       Subjektivitätsformen sich nicht einfach dem
    pliziert, und heute nicht so aufgeklärt sind, wie zwanghaft     evolutionären Fortschreiten der Modernisie-
    sich zu geben sehr wohl Teil spätmoderner Subjektivität ist
    (vgl. Žižek 1989: 24 ff.).                                      rung und der „Emanzipation zweiter Ordnung“

                                                                                                                    12
Klur - Extinction is Bad for Economy

              (Blühdorn 2019: 167) verdanken, sondern auch          244) können unter simulative Krisenbewältigung
              Resultat einer gewaltförmigen Entpolitisierung        fallen, sofern sie versprechen, „den Planeten durch
              sind, die vormals kollektive Zielvorstellungen wie    Ausdehnung ebenjenes Kapitalismus zu retten,
              Autonomie und Glück zunehmend in die Isolation        der gerade dabei ist, ihn zu zerstören“ (Chamayou
SuN 01/2022

              je individueller Selbstverwirklichung drängte         2019: 250) – und sich daher im Spannungsfeld
              (vgl. bspw. Chamayou 2019, Graefe 2019). So           der Veränderung ohne Veränderung bewegen. Al-
              verpasst man jene Dialektik von Emanzipation          lerdings fehlt diesen als staatlichen Maßnahmen
              und Herrschaft, ohne die sich die spätmodernen        zumeist der Erlebnischarakter, der vielmehr in
              Subjektformen nicht in ihrer inneren Wider-           postdemokratischen Formen der Beteiligung und
              sprüchlichkeit, sondern nur einseitig als Resultat    Mitbestimmung zutage tritt.
              eines Emanzipationsprozesses begreifen lassen.
                                                                    Denn so unzureichend und verspätet große Teile
              Der Herrschaftscharakter von Subjektivitäts-
                                                                    staatlicher Klimapolitik, so präsent sind Aufrufe
              formen rückt erst nachträglich, in der verkürzten
                                                                    zum gemeinsamen Anpacken, Mitmachen und
              Form der Instrumentalisierung ‚fertiger‘ Subjek-
                                                                    Zukunft gestalten. Beispielhaft dafür sind staat-
              tivität durch „Machteliten“ (Blühdorn 2019: 157)
                                                                    lich geförderte Innovationswettbewerbe zur
              in den Blick. Ohne die Relevanz der von Blüh-
                                                                    Bewältigung der Klimakrise oder der Pandemie:
              dorn analysierten Aspekte zu leugnen, muss das
                                                                    Während die Verbesserung des Gesundheitswe-
              Dilemma daher anders gefasst werden, möchte
                                                                    sens und der dortigen Arbeitsbedingungen auf
              man dem Herrschaftscharakter von Entpolitisie-
                                                                    sich warten lässt und Deutschland die Freigabe der
              rung und Subjektivität und zudem der treibenden
                                                                    Impfstoffpatente blockiert (spiegelonline 2021),
              Kraft der Katastrophenangst gerecht werden: Es
                                                                    übt man sich in Wettbewerben wie dem Hacka-
              besteht nicht nur zwischen widersprüchlichen
                                                                    thon der Bundesregierung in postdemokratischer
              Wertpräferenzen, sondern in der Gleichzeitigkeit
                                                                    Partizipation (vgl. Blühdorn 2019: 191) und einem
              von erzwungener Entpolitisierung (von der auch
                                                                    „Solutionismus“ (Nachtwey/Seidl 2017), für
              die heutigen „Wertpräferenzen“ selbst geprägt
                                                                    den jedes Problem eine technische Lösung hat.
              sind) und einer durch Katastrophenangst indu-
                                                                    Auch bei der IAA 2021 sollte man die „Mobili-
              zierten Repolitisierung. Diese Spannung ist es, auf
                                                                    tätswende“ erleben können – weshalb sie direkt
              die simulative Krisenbewältigung in ihren unter-
                                                                    im öffentlichen Raum veranstaltet wurde, wo
              schiedlichen Facetten reagiert, derer nachfolgend
                                                                    man die neuen Produkte der Automobilindustrie
              einige bestimmt werden sollen.
                                                                    sogleich erleben konnte und im „Citizen Lab“ auf
                                                                    Augenhöhe in Dialog mit der Automobilindustrie
                             Partizipationstheater
                                                                    treten konnte. An IAA und Innovationswettbe-
              Mit simulativer Krisenbewältigung sind dabei zwar     werben zeigt sich insofern ein Verschwimmen der
              durchaus politische Manöver gemeint, wie sich         Grenzen von politischer Partizipation und Öko-
              den Rückgang der deutschen CO2-Emmissionen,           nomie: Partizipation an der ökologischen Wende
              der zu großen Teilen auf Deindustrialisierung und     wird gleichermaßen zum Erlebnis wie zum Mittel
              Externalisierung von Klima- und Umweltschäden         der wirtschaftlichen Mobilisierung über Klassen-
              zurückzuführen ist (VDI 2021; Lessenich 2018a:        gegensätze hinweg (vgl. Blühdorn 2019: 183).
              98 f.), als Erfolg der ökologischen Transformation
              auf die Fahnen zu schreiben. Und auch Formen                 Individualisierte Weltenrettung
              der grünen Ökonomie, wie Emissionshandel
                                                                    Als „Projekt der kollektiven Selbstillusionierung“
              und andere Spielarten der „kommerziellen Re-
                                                                    (Blühdorn 2019: 185) schlägt sich simulative
              gulierung von Externalitäten“ (Chamayou 2019:

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Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

Krisenbewältigung auch in individueller, kon-             begleitet von der Aufforderung „Go carbon neutral
sumbasierter Lebensführung nieder. In einer               today!“ (klima 2021) und dem Versprechen, in
unerwarteten Wendung der 68er-Parole, dass das            nur wenigen Minuten und für einige Euro seinen
Private politisch sei, etabliert sich eine Gleich-        Beitrag leisten zu können. Ökologischer Ablass-

                                                                                                                    SuN 01/2022
zeitigkeit von Politisierung und Entpolitisierung:        handel dieser Art verschafft Entlastung von Angst
Individuelle Konsumentscheidungen werden                  und Ohnmacht gegenüber der Klimakrise und
politisiert und gesellschaftliche Probleme durch          stützt dabei die imperiale Lebensweise ebenso
diese Individualisierung entpolitisiert. Von der          wie die chronisch von Überproduktion geplagte
Bambuszahnbürste bis zum Yoga-Retreat bieten              Ökonomie. Insofern bewahrheitet sich auch in der
Unternehmen heute Nachhaltigkeitserfahrungen,             individuellen Krisenbewältigung die Befürchtung,
die Nachhaltigkeit inklusive moralischem Mehr-            die vonseiten der Kritik der politischen Ökologie
wert konsumierbar und dadurch erlebbar machen             bereits in den 1970er Jahren formuliert wurde:
– womit sich gelebte Nachhaltigkeit in Form „kon-         „Die Ökologie renoviert die Ware.“ (Subrealisten
sumbasierter Identitätserlebnisse“ (Blühdorn              Bewegung 1980: 16) Oder in den Worten des Un-
2018: 168) bequem in die imperiale Lebensweise            ternehmens Lemonaid: „Zinsen gibt’s jetzt auch
integrieren lässt und die Entpolitisierung der Ge-        in Bio!“ (Lemonaid 2022)
sellschaft gewahrt bleibt.
                                                                      Simulation und Solution
Dieser (kultur-) industriell angetriebenen Form
simulativer Krisenbewältigung kommen gleich               Simulative Politik steht dabei in einem engen
mehrere Bedürfnisse und Interessen der Subjekte           Verhältnis zu instrumenteller Vernunft, wie Max
entgegen: Positiv das Bedürfnis trotz Katastro-           Horkheimer sie kritisierte: In ihr beschränkt sich
phenangst seinen Lebensstil aufrechtzuerhalten,           Vernunft darauf, unter gegebenen Umständen für
negativ um die Katastrophenangst innerhalb                „jeweils vorgegebene Ziele die Mittel zu finden“
der Bahnen der bestehenden Gesellschaft durch             (Horkheimer 2007: 9), ohne die gegebenen Um-
Nachhaltigkeitserlebnisse bearbeiten zu können:           stände und Zielsetzungen selbst zur Disposition
Nach Habermas zeichnen sich Krisenerfahrungen             zu stellen. Diese Kritik steht in einem inneren
dadurch aus, dass das Subjekt sich als „ein zur           Zusammenhang zum Werk Henri Lefebvres, der
Passivität verurteiltes“ (Habermas 1973: 9 f.)            den von Jean Baudrillard popularisierten Begriff
erfährt, das den Störungen seiner Lebenswelt              der Simulation einführte: Das wesentliche der
nur ohnmächtig beiwohnen kann. Als Reaktion               historischen Phase der Simulation sah Lefebvre
auf diese Ohnmachtserfahrungen können Krisen              darin, dass die theoretische Frage nach (rational
stets auch mobilisierende Kraft besitzen – die sich       bestimmbaren) Möglichkeiten durch die unmit-
aber keineswegs gegen die Ursachen der Krise              telbare Machbarkeit verworfen wurde (Lefebvre
wenden muss. Angesichts der realen Ohnmacht               1975: 215). Simulative Krisenbewältigung ist
gegenüber den gesellschaftlichen Ursachen der             demnach simulativ, weil erlebbar nur ist, was im
Klimakrise, mobilisiert die Krisenerfahrung viel-         Sinne unmittelbarer Verwirklichung unter gege-
mehr selbstgenügsame „Pseudoaktivität“ (Adorno            benen Bedingungen machbar ist. Die vergnügte
1969). Angesichts von Ohnmacht und kaum zu                Pseudoaktivität simulativer Krisenbewältigung
überblickenden Naturverhältnissen gewährt                 hat daher äußerst nüchterne Voraussetzungen:
Nachhaltigkeitskonsum Handlungsmacht und                  Die Negation dessen, das unter gegebenen ge-
Zurechenbarkeit. Das drückt sich wohl perfekt in          sellschaftlichen Bedingungen nicht unmittelbar
der Werbung der Nachhaltigkeits-App Klima aus:            erlebt und verwirklicht werden kann. Eine Instru-
Auf den Werbebildern junge, glückliche Personen,          mentalität, die sich gut mit der Alternativlosigkeit

                                                                                                              14
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