SWR2 Musikstunde Der große Liebende - Leonard Bernstein (1)
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SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Der große Liebende - Leonard Bernstein (1) Mit Katharina Eickhoff Sendung: 20. August 2018 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2018 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
SWR2 Musikstunde mit Katharina Eickhoff 20. August – 24. August 2018 Der große Liebende - Leonard Bernstein (1) Indikativ Sie konnten es einfach nicht glauben. An diesem Tag im Oktober 1990 versammelt sich eine kleine, illustre Menschenmenge im Apartment Nr.23 des Dakota Buildings auf der Westseite des Central Park,- /das Gebäude, in dem Roman Polanski „Rosemary’s Baby“ gedreht hat und vor dessen Eingang John Lennon erschossen wurde, war auch der Hauptwohnsitz von Leonard Bernstein und seiner Familie. Und nun sind sie hier: Freunde, Verwandte, Weggefährten, und starren ungläubig auf einen Mahagoni- Sarg, der da plötzlich die Mitte des ihnen allen so wohlbekannten Wohnzimmers okkupiert. Die beiden großen Konzertflügel, die sonst dort stehen, hat man zur Seite geschoben, aber für die meisten Anwesenden ist es völlig undenkbar, dass Lenny da nicht mehr sitzen wird, rauchend, lachend, mit seiner Krächz-Stimme singend, dozierend, Scotch trinkend, Beethoven und Boogie-Woogie spielend. Es ist die private Trauerfeier für Leonard Bernstein, der in den frühen Morgenstunden des 14. Oktober gestorben ist, „niedergemäht in der Blüte seiner Jugend“, wie er kurz vorher noch gescherzt hat. „Larger than life“ sei Lenny gewesen, sagt Bernsteins jüngerer Bruder Burton in seiner kleinen Rede, unvorstellbar, dass diese gigantische Präsenz jetzt nicht mehr da sein solle. Und Bernsteins Tochter Jamie, damals Ende dreißig, bringt die allgemeine Verwirrung auf den Punkt: Er, sagt sie, war das „größte Glückskind auf dem ganzen Planeten. Schaut euch an, wie er Auto fuhr. Hatte er je einen Unfall? Nein. Schaut, wie er gezecht und die Nächte zum Tag gemacht hat. Klar ging es ihm manchmal schlecht, und manchmal war er sehr, sehr deprimiert. Aber nichts, was ein bisschen Beweihräucherung durch die Wiener Philharmoniker nicht hätte aufheben, nichts, 2
was ein bisschen himmlischer Brahms nicht hätte heilen können. Und dieses mal soll er nicht davonkommen? Ausgeschlossen!“ Bei der offiziellen Trauerfeier einen Monat später in der Carnegie Hall manifestiert sich dieses vage Gefühl von Lenny-Präsenz dann in einem musikalischen Moment, den keiner von denen, die dabei waren, je vergessen wird: Das Orchester, in dem Musiker aus allen wichtigen Bernstein-Orchestern sitzen, aus dem New York Philharmonic, von den Boston und London Symphony Orchestras, vom Israel Philharmonic und den Wiener Philharmonikern, diese Lenny-Orchester- Essenz spielt Bernsteins „Candide“-Ouvertüre – ohne Dirigenten. Und alle begreifen: Lenny ist weg. Und gleichzeitig voll da. Dabei ist es bis heute geblieben. CD Candide Disc 1, T. 1 4’30 Leonard Bernstein, Candide, Ouvertüre London Symphony Orchestra, LTG Leonard Bernstein DG 00289 479 8538 Spät in seinem Leben hat Leonard Bernstein den auf den Bühnen so tragisch untergegangenen „Candide“ mit seiner grandiosen Musik wenigstens konzertant aufgenommen, 1989, ein knappes Jahr vor seinem Tod, in den Londoner Abbey Road Studios, mit dem London Symphony Orchestra. Leonard Bernsteins Präsenz ist ungebrochen, seine Energie immer noch zu spüren in allem, was er hinterlassen hat. Er ist der einzige große Dirigent, den die ganze Welt zärtlich beim Kosenamen gerufen hat: Leonard Bernstein, von allen Lenny genannt, wurde nicht bloß bewundert, geschätzt und verehrt, er wurde geliebt – und er wollte auch unbedingt geliebt werden, von den Erwachsenen und den Kindern, von Frauen und Männern, von Amerika und von der ganzen Welt. Er selber liebte auch, und das war das Entscheidende – keiner konnte seine schrankenlose Begeisterung für Musik und Menschen, für Literatur, Philosophie oder politische und ästhetische Ideen so mitreißend mitteilen wie Leonard Bernstein, dieser große Kommunikator seines Jahrhunderts. 3
Kommunikativ ist er von Anfang an: Schon als Eineinhalbjähriger quatscht er allen dermaßen altklug ein Ohr ab, dass die Nachbarsmädchen ihn „little old man“ nennen, den kleinen alten Mann. Was Musik ist, und dass er ohne sie nicht leben kann, weiß klein-Lenny aber schon, bevor er überhaupt sprechen kann. „Er war zu klein, um an die Kurbel des Grammophons zu kommen“, erinnert sich seine Mutter Jennie, „er weinte, die Tränen strömten ihm nur so übers Gesicht, er sagte: ‚Moynik, Moynik’, - ich spielte eine Platte für ihn, und er hörte im Handumdrehen auf zu weinen.“ Und dann stand er da, ein Knirps in Windeln mit einem übrigens damals schon unwiderstehlich charmanten Lächeln, und spielte Luftklavier auf der Fensterbank, derweil zum x-ten Mal seine Lieblingsplatte lief, ein Vaudeville-Schlager mit dem Titel „Oh by Jingo“ - Gebr. CD T. 1 3’20 (kürzer) A.v.Tilzer, Oh! by Jingo! Margaret Young Victor 18666 ...Leonard Bernsteins erstes Lieblingsstück als Kleinkind – da bekommt man doch zumindest eine Ahnung, wie seine lebenslange tiefe Liebe für die „leichte“ Musik zustande kam, die er selber eben nie als „leicht“ empfunden hat, sondern als etwas sehr Ernstzunehmendes, was dann all seinen späteren großen Mentoren aus der E- Musik, Dimitri Mitropoulos, Serge Koussevitzky oder auch Aaron Copland, so sauer aufgestoßen ist. - Später mehr dazu... Andere Musik als die aus dem Grammophon hat es in Bernsteins Kinderjahren daheim zunächst mal nicht gegeben – das erste richtige Konzert, das seine Eltern in ihrem Leben zusammen besuchen, wird Lennys spektakuläres Überraschungsdebüt in der Carnegie Hall im Jahr 1943 sein, als er mit seinem Einspringer für den kranken Bruno Walter von heute auf morgen wahnwitzig berühmt wird. 4
Und bis dahin wird Leonard ein paar bittere Kämpfe in Sachen Musik mit seinem Vater ausgefochten haben. Sam Bernstein hielt Musik für Zeitverschwendung, und irgendwie kann man ihm das nicht mal übelnehmen, er hatte einfach andere Sorgen. Shmuel Bernstein, wie er damals noch hieß, ist quasi zu Fuß nach Amerika gekommen – oder jedenfalls fast: als Sechzehnjähriger ist er 1908 ganz alleine aus seinem Shtetl irgendwo zwischen Kiew und Rovno abgehauen, geflohen vor den Juden-Pogromen und dem Kriegsdienst für den Zaren, und ist durch Russland und Polen bis Danzig gelaufen, wo er dann ein Schiff Richtung USA bestiegen hat, bezahlt vom Geld seines Onkels Herschel, der es schon nach Connecticut geschafft hatte und dort jetzt Harry hieß. Damals, in den Jahren rund um den Ersten Weltkrieg, sind ja jedes Jahr um die 50 000 Juden aus dem Osten auf der Suche nach einem besseren Leben in der Immigranten-Annahmestelle auf Ellis Island in New York angekommen. Und anders als Flüchtlinge heute waren sie damals auch noch willkommen. New York war das Tor, durch das Leonard Bernsteins Vater in den USA ankam, und 45 Jahre später wird dann sein Sohn dieser Stadt, die inzwischen seine Stadt ist, eine enthusiastische Liebeserklärung machen: in seinem ersten Broadway-Musical „On the Town“ kommen drei Marinesoldaten im Hafen von New York an, haben genau einen Tag und eine Nacht, bevor sie, vermutlich, in den Krieg ziehen werden, und stellen atemlos und wahrheitsgemäß fest: It’s a helluva town! Gebr. CD T. 2 Einbl. ab 0’10 bis 2’57 3’00 Leonard Bernstein, On the town, New York, New York Thomas Hampson, David Garrison, Kurt Ollmann London Symphony Orchestra, Michael Tilson Thomas DG 437516 New York- it’s a helluva town: So beginnt „On the Town“, Leonard Bernsteins erstes Broadway-Musical von 1944 – über das natürlich später noch zu reden sein wird. ... 5
Zeit, angelegentlich die Sehenswürdigkeiten New Yorks zu besichtigen, hat Shmuel Bernstein, der sechzehnjährige Immigrant, nicht, als er 1908 dort ankommt und auf Ellis Island erst mal auf Flöhe und Läuse untersucht wird. Danach beschreitet er umgehend den klassischen Weg eines zum Aufstieg entschlossenen Einwanderers von damals: Von ganz unten, als Fischeputzer am Fulton Street Market, nach deutlich weiter oben. Obwohl er seinen schweren russischen Akzent nie los wird, erkämpft sich Samuel, wie er dann heißt, innerhalb von ein paar Jahren Respekt und einen guten Namen, er zieht nach Massachusetts, heiratet die hübsche Jennie, auch sie Immigrantin aus einem fernen Shtetl in der Ukraine, und zeugt gleich mal einen Sohn, Louis Leonard, der dann am 25. August 1918 zur Welt kommt. Sam entgeht dem Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg wegen Kurzsichtigkeit, wird Vertreter für Friseurartikel im Raum Boston, sichert sich noch ein Patent für eine neue Dauerwellentechnik, macht sich sehr erfolgreich selbständig und ist dann zu Recht stolz auf das Erreichte. Und selbstverständlich ist er überzeugt, dass sein Sohn und Erstgeborener dereinst sein gut laufendes Geschäft für Kosmetikartikel übernehmen würde. Woran der natürlich nie auch nur im Traum gedacht hat. Das ist nicht der einzige Dissens zwischen Leonard und seinem Vater – der blitzgescheite Intellekt, den sein Sohn da schon bald entwickelt, ist Vater Bernstein mehr als unheimlich, und Lennys geniehaftes Musikertum ist ihm fremd. Kurz, die zwei passen einfach nicht zueinander. Wie übrigens auch Samuel und seine Frau Jennie nicht gut zueinander passen: Zwei mal zieht Jennie in Leonards Kindheit zu ihrer Familie zurück, weil sie es an der Seite ihres ziemlich unzärtlichen, geizigen Ordnungsfanatikers nicht aushält. Und trotzdem hat Sams Wesen und Herkunft seinen Sohn Lenny und dessen Kunst enorm beeinflusst. Sams Vater, Großvater Bernstein, war Rabbi: beten, singen, Talmud lesen, das war sein Leben, und die tiefe Verwurzelung in jüdischen Traditionen und jüdischem Glauben hat sich über den extrem frommen Sam auch auf den Enkel Leonard übertragen - Leonard Bernsteins ganzes Denken und Komponieren ist davon geprägt. Er selber ist ja eigentlich schon in jungen Jahren ein Rabbi, er studiert, predigt, lehrt – nicht den Talmud, sondern Musik und Ästhetik...Bis zu seinem letzten Atemzug wird dieses „Lehren“ sein Grundantrieb sein. Dazu klingen in seinen Kompositionen die Gesänge mit, die er als Kind in der Synagoge so geliebt hat, und die punktierten, 6
tänzerischen Rhythmen, die für Leonard Bernsteins Kompositionen so typisch sind, scheinen direkt den chassidischen Festen seiner Vorfahren abgelauscht. CD Jubilee Games T. 11 6’13 Leonard Bernstein, Jubilee Games, Diaspora Dances Israel Philharmonic Orchestra, LTG Leonard Bernstein DG 00289 479 2643 Die „Jubilee Games“, ein „Konzert für Orchester“, sind Mitte der Achtziger Jahre entstanden, und im Satz „Diaspora Dances“ hört man Bernsteins Reverenz an die chassidische Tradition besonders gut – seine jüdisch grundierte Musik hat Bernstein natürlich am liebsten mit dem Israel Philharmonic Orchestra aufgenommen... Nicht nur seine musikalische Denkweise, auch seine komplexe Art zu glauben ist durch und durch jüdisch verwurzelt: Lenny streitet sich zeitlebens mit seinem Gott, er diskutiert und rechtet mit ihm wie ein Sohn mit seinem Vater. Mit Blick auf alles das ist „Kaddish“, seine Dritte Sinfonie, nicht bloß ein gigantisches Gebet für Sprecher, Soli, Chor und Orchester, es scheint auch immer wieder das Gespräch zu sein, das Leonard Bernstein mit seinem Vater nie geführt hat. CD Symphonies 2+3 T. 7+8 Bis 6’ vielleicht? Leonard Bernstein, Symphony No.3 „Kaddish“ Michael Wager, Wiener Jeunesse-Chor, Wiener Sängerknaben, Israel Philharmonic Orchestra 00289 479 2636 Kaddish – das ist für das gläubige Judentum das, was im christlichen Glauben die Requiem-Liturgie ist, und dieser zornig- liebevolle Brief an Gott ist Leonard Bernsteins Sinfonie Nummer 3, in der er viel mit atonalen Passagen experimentiert – vermutlich ist das aber noch nicht mal der Grund, dass dieses ergreifende Stück so gut wie nie aufgeführt wird. Vielmehr kommen wohl die meisten nicht mit der 7
schamlos offenen Emotionalität von „Kaddish“ klar. Sogar Bernsteins Tochter Jamie erinnert sich in ihren eben gerade erschienenen Familienerinnerungen, dass ihr das Werk bei der Uraufführung irgendwie peinlich gewesen ist – Lenny ist es damals im Jahr 1963 aber bitter ernst damit, denn „Kaddish“ ist auch ein Requiem für John F Kennedy, der während der Arbeit an der Sinfonie in Dallas erschossen wurde, und in den Bernstein, wie so viele andere auch damals, alle Hoffnung gesetzt hatte. Eigentlich sind wir ja aber vorhin irgendwo in Leonard Bernsteins Kindheit stehengeblieben – die zwar durchaus ein paar schlimme Szenen mit dem Vater beinhaltet, aber letztlich keine unglückliche Kindheit ist. Den Bernsteins geht es in Roxbury, einem Vorort von Boston, ziemlich gut, dank der Geschäftserfolge von Sam Bernstein, Mutter Jennie vergöttert ihren Sohn, und der zieht von einem Erfolg zum nächsten, reißt schon als Kind alle mit, mit seinem Charme und seiner unerschöpflichen Energie, schafft später mit links die Aufnahme in die Boston Latin School, eine der besten und ältesten Schulen Amerikas, und geht abends trotzdem auch noch brav in die hebräische Schule, weil er weiß, dass das seinen Vater glücklich macht. Dass in der Familie mit den Jahren dann doch noch gute Stimmung aufkommt, liegt vor allem an den Kindern: nach Leonard folgen noch die Schwester Shirley und der kleine Bruder Burton, die drei bleiben zeitlebens eine verschworene Gemeinschaft, Shirley und Burtie werden ihren großen Bruder später immer mit der familieneigenen Ironie auf den Teppich zurückholen, wenn er mal wieder allzusehr ins Startum abdriftet...Aber die Ehe der Eltern bleibt unglücklich, „mismatched and mismated“ seien sie gewesen, schreibt Bernsteins Schwester später, „beides interessante und gute Menschen, die niemals hätten heiraten dürfen. Unser Vater“, so Shirley weiter, „war der manisch-depressive Typ, und wenn er bei seinen Rabbis Sabbath gefeiert hat, tanzend und singend, dann war er ein ekstatischer Chassid. Aber er konnte auch ganz ohne Grund in entsetzlicher Melancholie endlos im Zimmer auf und ab gehen. Und Lenny hat das geerbt.“ Dass die zwei einander letztlich verdammt ähnlich sind, führt dann im Lauf von Leonards Jugend doch auch immer wieder zu rührenden Momenten: Wenn Lenny es schafft, den Vater in das erste richtige Sinfoniekonzert seines Lebens zu schleppen, und der dann, wie sein Sohn, hin und weg von Ravels „Bolero“ ist. Oder wenn Lenny, der junge Wunderpianist, ein Konzert für Sams Bostoner Mishkan Tefilah-Gemeinde 8
gibt, in dem er genialisch über chassidische Melodien improvisiert – an solchen Tagen ist dann auch der ewig mosernde Samuel Bernstein stolz auf seinen Sohn. Die Sache mit dem Klavier verdankt sich übrigens Tante Clara: Sams jüngere Schwester, „Crazy Clara“ genannt, Vegetarierin, Nudistin und Inhaberin eines Brautmodenshops in Brooklyn, stellt bei einem ihrer vielen Umzüge ein Klavier bei Leonards Eltern ab. Und damit ist dann alles klar. Bernstein, später, über seine erste Begegnung mit dem Instrument: „Ich wusste, von einer Sekunde auf die andere, dass Musik DAS EINE war. Es gab von dem Moment an überhaupt keinen Zweifel für mich, dass sich mein Leben um die Musik drehen würde.“ CD T. 3 unter Text weg ab 4’28 Bernstein Plays and conducts Beethoven L.v. Beethoven, Klavierkonzert Nr.1 C-Dur, Rondo Leonard Bernstein, Klavier New York Philharmonic, LTG Leonard Bernstein Sony 88985483792 Das hier ist Bernstein am Klavier, in Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr.1 – er leitet da vom Flügel aus das Orchester, das zu dem Zeitpunkt, 1960, schon „sein“ Orchester ist, das New York Philharmonic, - 1958 hat er es von Dmitri Mitropoulos übernommen. Es sind die Glamour-Jahre, in denen ständig Platten mit Bernstein erscheinen, auf deren Covers er wie ein Filmstar aussieht. Lenny ist zu dieser Zeit der größte Musikstar Amerikas, und einer der berühmtesten Musiker weltweit, sogar die Kleinen lieben ihn, wegen seiner im Fernsehen aus der Carnegie Hall übertragenen „Young People’s Concerts“, für die Amerikas Kinder regelmäßig vor den inzwischen verbreiteten Fernsehern hängen. Er ist Anfang vierzig, dirigiert die besten Orchester der Welt, sieht fantastisch aus, fährt heiße Sportwagen, verdient eine Menge Geld, hat eine wunderschöne Frau und drei süße Kinder...Aber davon abgesehen, dass er nach übereinstimmenden Zeugenaussagen der miserabelste Autofahrer der Welt war, ist auch sonst hinter den Kulissen längst nicht alles perfekt. 9
Privat wie künstlerisch. In vielerlei Hinsicht sucht Leonard Bernstein, das sagt er in einem der zahllosen Interviews aus dieser Zeit, noch nach seiner eigentlichen Bestimmung. Er leidet unter dem Problem, das schon Gustav Mahler sechzig Jahre vor ihm umgetrieben hat: Weil er so ein unfassbar guter und ständig gefragter Dirigent ist und sich jetzt auch noch mit Haut und Haaren dem New York Philharmonic verschrieben hat, kommt er nicht zum Komponieren. Und Komponist ist er aber eben doch genausosehr wie Dirigent. Das ist ja eines der großen Geheimnisse Bernstein’schen Musikmachens – dass wir da einen Komponisten dirigieren hören. Bernstein hat sich jedesmal mit seiner ganzen eigenen Schöpferpersönlichkeit mit der Musik verwoben, die er dirigierte, so dass er in dem Moment zu ihrem Komponisten wurde. Sein amerikanischer Komponistenkollege Ned Rorem hat dieses psychomusikalische Morphing mal so beschrieben: „Wenn er meine Musik aufführt, ist sein Stoffwechsel so im Einklang mit meinem, dass er die Musik auch selbst komponiert haben könnte. Andere Komponisten werden das bestätigen – sein Blutstrom ist der ihre so lange das Stück dauert.“ Und Lenny selber hat gesagt: „Wenn ich nicht das Gefühl habe, ich BIN Beethoven, mache ich was falsch“. CD Symphonie 7+8 T. 4 langsam ausbl. ab 2’50 L.v.Beethoven, Sinfonie Nr.7 A-Dur op. 92, Allegro con brio Wiener Philharmoniker, LTG Leonard Bernstein DG 00289 479 2622 In den Jahren 1977 und 78 hat Bernstein mit seinem Herzensorchester der späteren Jahre, den Wiener Philharmonikern, im Wiener Musikverein die Beethoven-Sinfonien aufgenommen, hier spielen sie gerade das Finale der Siebten... Bernstein hat Ludwig van Beethoven verehrt. Natürlich hat er das, jeder große Dirigent und der Rest der halbwegs musikalischen Menschheit tut das ja – aber Lenny hat Beethoven eben nicht bloß anbetend und anbetungswürdig dirigiert, er konnte, Rabbi, der er war, auch wunderbar kluge Dinge über diese Musik sagen und schreiben. 10
L.B. spricht über L.B., also Leonard Bernstein über Ludwig Beethoven -so könnte man den Inhalt eines Gesprächs umreißen, das sich Bernstein für sein erstes Buch ausgedacht hat, „The Joy of Music“ heißt es, erschienen 1959, und drinnen finden sich fiktive Unterhaltungen, die Bernstein mit verschiedenen Figuren über Musik führt. Mit dabei: Eine Autofahrt, während derer sich ein gewisser L.B. mit einem fiktiven europäischen Dichter über Beethoven austauscht. Bernstein ist es, der eingangs provozierend die Frage stellt, wieso einem eigentlich bei ernster Musik und großen Werken immer so zwanghaft Beethoven einfällt: „Habe ich zur Eröffnung ein Konzert zu geben, wird gewöhnlich nur Beethoven verlangt“, so L.B. „Betritt man einen Konzertsaal, geschmückt mit einem Fries, auf dem die Namen aller Großen zu lesen sind, dann springt einem seine Büste zuerst in die Augen. Es ist die größte, die Schönste und ganz in Gold. Was ist das A und O jedes Klavierabends? Eine Beethoven-Sonate. Was haben wir am Tage des Sieges gespielt? Die Fünfte. Was gehört zu jedem Konzert der vereinten Nationen? Die Neunte. Worin besteht traditionsgemäß ein Teil der Examen aller Konservatorien? Spielen Sie alle Themen der neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven, die Ihnen einfallen.“ Und so weiter, und so weiter. Aber warum, fragt Bernstein, warum ist das so? Was ist an dieser Musik so beeindruckend, so einzigartig, so umwerfend, dass alles immer wieder bei Beethoven landet? „Die Melodien“, schlägt sein Gesprächspartner vor. „Dann pfeifen Sie doch mal eine“, und nach diversen Versuchen stellt man gemeinsam fest, dass man bei Beethoven mit Melodien zum Mitpfeifen gar nicht so weit kommt, wie man zunächst vielleicht denkt. Dann die Harmonik. Man geht ein paar Werke durch und stellt fest, dass Beethoven ein großer Freund der klassischen Kombination Tonika-Dominante-Tonika- Subdominante war. Ein großer Rhythmiker sei Beethoven durchaus gewesen, gibt Bernstein zu, aber eben auch nicht größer als Strawinsky, Bizet und Berlioz. Er habe doch im Gegenteil über Seiten hinweg an einem Motiv geklebt und es bis zur Bewusstlosigkeit eingehämmert. Was also dann? Bernsteins Gesprächsgegenüber ist inzwischen völlig verzweifelt darüber, was L.B. mit seinem Helden Beethoven anstellt. „Da liegt er“, jammert er, „ein mittelmäßiger 11
Melodiker, ein unbedarfter Harmoniker, ein wahrer Stümper von einem Rhythmiker, ein ganz gewöhnlicher Orchestrierer, ein durchschnittlicher Kontrapunktist! – Vor meinen Augen wird mein Idol hier in den Staub gezerrt!“ Mitnichten, sagt Rabbi Bernstein, der sein Gegenüber nach sokratischer Art nur von der Blindheit seiner Verehrung kurieren will. In Wahrheit sei das Grandiose an Beethovens Musik nämlich etwas nicht-Messbares, etwas Unfassbares, etwas, dem keine der üblichen Vergleichskategorien gerecht wird. Eine magische Fähigkeit, die unerklärliche Gabe, zu wissen, welche Note notwendig auf eine vorhergegangene folgen muss. „Beethoven“, so Bernstein,“ist im Besitz der wahren Werte, der Macht, uns am Ende fühlen zu lassen: Es gibt etwas in der Welt, das richtig ist, das stimmt, und stetig seinem eigenen Gesetz folgt, dem wir blind vertrauen können, das uns niemals im Stich lässt!“ – „Das“, sagt drauf sein Gegenüber, „klingt fast nach einer Definition Gottes.“ CD Symphonie 7+8 T. 4 aufbl. bei 3’30 L.v.Beethoven, Sinfonie Nr.7 A-Dur op. 92, Allegro con brio Wiener Philharmoniker, LTG Leonard Bernstein DG 00289 479 2622 Wo waren wir stehengeblieben? – Tja, das ist eben das Problem, wenn man über Leonard Bernstein redet: Ständig führt ein Gedanke, eine Geschichte, eine Musik auf tausend Nebenwege, weil dieser Mensch nun mal einfach gar zu vielschichtig war. Nun ja – ich habe ja noch ein paar Versuche... Bis morgen! Sagt KE. 12
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