SWR2 Musikstunde Der große Liebende - Leonard Bernstein (2)
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SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Der große Liebende - Leonard Bernstein (2) Mit Katharina Eickhoff Sendung: 21. August 2018 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2018 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
SWR2 Musikstunde mit Katharina Eickhoff 20. August – 24. August 2018 Der große Liebende - Leonard Bernstein (2) Indikativ Ewig schade, dass von der allerersten Produktion, die Leonard Bernstein auf die Bühne gebracht hat, kein Mitschnitt existiert. 1934 kommt in einer jüdischen Ferienkolonie unterhalb Bostons, wo auch Leonards Eltern ein Häuschen haben, eine erstaunliche Version von Bizets „Carmen“ heraus: Don José ist eine Frau, und, ausstaffiert mit einer Perücke aus dem Kosmetikartikel- Fachhandel seines Vaters, gibt Lenny, sechzehnjährig, die Carmen und leitet gleichzeitig das Ensemble, das er selber einstudiert hat. – Wie gesagt, niemand hat auf den Aufnahmeknopf gedrückt, auch nicht ein Jahr später, als bei der Abschlussfeier seines Jahrgangs am Bostoner Gymnasium seine erste Komposition erklingt, das Chorstück „Alle für einen und einer für alle“ – „Wenn das mal kein origineller Titel ist“, so Bernstein später ironisch. Und, ein Jammer, den Harvard-Studenten Bernstein hat auch keiner aufgenommen, als er am Tag von George Gershwins Tod auf einer Gesellschaft, für die er eigentlich nur den Hintergrund-Pianisten machen sollte, ein Gershwin-Requiem samt feierlicher ad-hoc-Traueransprache abfackelt. „Als ich von der Bühne ging“, so Bernstein, „fühlte ich: Ich war Gershwin.“ CD Shostakovitch etc. T. 7 unter Text langs. weg ab 2’00 George Gershwin, Rhapsody in Blue Leonard Bernstein, Klavier Columbia Symphony Orchestra, LTG Leonard Bernstein Sony 88985483792 2
Leonard Bernstein und das Columbia Symphony Orchestra in Gershwins „Rhapsody in Blue“ – zu finden in der schönen Sony-Box mit Aufnahmen von Bernstein, dem Pianisten, die im Frühsommer rausgekommen ist. Von wegen Lenny am Klavier: Am liebsten dabeigewesen wäre ich persönlich an diesem Abend im Herbst 1937, als der allen unbekannte Student Lenny Bernstein in New York die Geburtstagsparty des damals bedeutendsten lebenden US-Komponisten gecrasht hat. Das kam so: Bernstein ist an dem Abend mit einer Freundin von Boston aus zum Konzertbesuch nach New York gereist. „Rechts von mir“, erinnert er sich später, „saß dieser unbekannte Typ, ein seltsam aussehender Mann in den Dreißigern, Brille auf der großen Hakennase.“ – Seine Begleitung, die den Mann offenbar schon kennt, stellt sie einander vor: „Leonard Bernstein – Aaron Copland“. „Ich“, schreibt Bernstein, „fiel fast vom Balkon. Anhand der Musik, die ich von ihm kannte, hatte ich ihn mir als eine Art bärtigen Propheten aus dem alten Testament vorgestellt. Und jetzt war ich schockiert, diesen jung aussehenden, kichernden Kerl kennenzulernen, der zufällig auch noch Geburtstag hatte.“ Der Schock hält nicht lange an: Nach dem Konzert lädt Copland Lenny zu seiner Geburtstagsparty in seinem schicken Künstlerloft auf der West Side ein, ungefähr da, wo heute das Lincoln Center mit der neuen Metropolitan Opera steht, dessen Bau Bernstein dann mitinitiieren wird. Auf Coplands Fête drängeln sich Amerikas angesagteste Dichter, Filmemacher, Journalisten und Komponisten, Paul Bowles, der damals noch Komponist und noch nicht Schriftsteller ist, oder Virgil Thomson, der später den Pulitzer-Preis bekommt und demnächst der gefürchtete Musikkritiker der New York Herald Tribune wird, wo er dann schreiben wird: „Leonard Bernstein könnte ein entzückender Dirigent sein, wenn er nur mal vergessen könnte, dass er von Warner Brothers als potentieller Filmstar gehandelt wird“ – nunja, und so weiter...Und alle sind wie vom Donner gerührt, als sich dieser flamboyante Knabe an den Flügel setzt und Ravels Klavierkonzert spielt. Und zwar so spielt, dass ihnen schlicht die Luft wegbleibt. 3
CD Ravel etc. T. 3 3’40 Maurice Ravel, Klavierkonzert G-Dur, Presto Leonard Bernstein, Klavier Philharmonia Orchestra, Leonard Bernstein Sony 88985483792 Leonard Bernsteins erste Aufnahme als Pianist, im Juli 1946, war natürlich seinem Paradestück gewidmet: Maurice Ravels Klavierkonzert in G – Bernstein spielte hier und hat auch das Philharmonia Orchestra geleitet; und man kriegt eine Ahnung davon, wie er an jenem Abend bei Aaron Copland New Yorks intellektuelle Elite um den Finger gewickelt hat... Aaron Copland ist, als Bernstein ihn kennenlernt, erst siebenunddreißig Jahre alt, aber er ist der amerikanische Komponist der Stunde, der Führer einer neuen Bewegung, die versucht, durch Fusionen mit dem Jazz, mit Folksongs und Südstaatenmusik eine eigenständig amerikanische Musik zu begründen, eine, die nicht irgendwann dann doch wieder wie Brahms oder Tschaikowsky klingt. Und in den dann anbrechenden Kriegsjahren wird Copland auch das ein- oder andere feierliche Werk zur nationalen Selbstvergewisserung beisteuern. Aaron Copland ist also berühmt, und Bernstein ist ein Fan seiner Musik. Aber infolge dieses Abends wird aus dem Idol ein Freund fürs Leben. In den kommenden Jahren werden die zwei sich hunderte von Briefen schreiben, Liebesbriefe, wenn man so will, ohne dass sie je ein Paar geworden sind. Lenny wird Copland mit leidenschaftlicher Offenheit an allen Kämpfen und Triumphen, an seinen künstlerischen Selbstzweifeln und seinen sexuellen Orientierungsschwierigkeiten teilhaben lassen. Und Copland wird ihm mit seinem leisen Humor und seiner ehrlichen und liebevollen Art antworten, er wird Ratschläge geben, ihn anfeuern, ihn wenn nötig wieder einfangen, und ihm mit Hebammen-Geduld ins Leben als professioneller Musiker helfen. Als Bernstein ihm schreibt, er habe gerade ein paar Lieder komponiert, die seien schön, aber schon ziemlich Copland-Stil, schreibt Copland ihm: 4
„Ich will hören, dass Du einen Song schreibst, der weder nach Copland, noch nach Hindemith, noch Strauss, noch Bloch, noch Milhaud, noch Bartok klingt. Dann rede ich wieder mit Dir.“ Coplands Musik bleibt aber ein bedeutender Einfluss für den Komponisten Bernstein, und als Dirigent wird er immer wieder Copland aufführen und uraufführen. Und ganz am Ende seines Lebens nimmt er das Copland-Stück, das er als erstes auf Platte eingespielt hat, noch einmal neu auf: „El Salón México“. 1938, als er das grandiose Stück zum ersten mal gehört hat, hat er Copland eine begeisterte Hymne geschrieben: „Perfekt getimed. Kein Schlag zu viel. Gerade lang genug für sein Material. Fantastische Orchesterbehandlung. Superbe Erfindungskraft. Und trotzdem, bei allem technischen Können, war es einfach die perfekte Achterbahnfahrt! CD El Salón T. 1 rein nach 8’ 2’30? Aaron Copland, El salón México, Schluss New York Philharmonic, LTG Leonard Bernstein DG 00289 479 8555 „A perfect rollercoaster ride“ nennt Leonard Bernstein Aaron Coplands „El Salón México“...Hier seine zweite, späte Aufnahme mit den NYP. In seinem Fan-Brief an Copland über „El Salón“ regt Lenny sich übrigens furchtbar auf über Leute, die Musik wie diese „leichte Musik“ nennen. Er selber wird als Komponist immer wieder gegen diese Sichtweise anrennen, es wird der zentrale Kampf seines Komponistenlebens: Nicht für zu leicht befunden zu werden, bloß weil er auch so fantastisch für den Broadway schreiben kann. Wie es Kurt Weill schon gesagt hatte: „Es gibt nur gute und schlechte Musik.“ - „Ich wünschte“, schreibt Bernstein an Copland, „dass diese Leute erkennen würden, dass ein Komponist immer ernst ist, selbst wenn das Stück nicht defätistisch, „weltschmerzy“ und misanthropisch und lang ist.“ Aaron Copland bekommt also auch etwas zurück für seine Erziehungsbemühungen: Lennys tiefe Bewunderung und Freundschaft für immer, und das ist viel, denn 5
Bernstein ist auch in Sachen Freundschaft, wie in so ziemlich allem, ungeheuer begabt - ein echtes Naturtalent. Jahrzehnte später wird Lenny als 55-jähriger Superstar an seine alte Uni Harvard zurückkehren, um dort im Jahr 1973 die Norton Lectures zu halten, jene nach Charles Eliot Norton benannte Vorlesungsreihe über Gott und die Welt und ästhetische Fragen im Besonderen, zu der vor ihm schon so bedeutende Leute wie T.S.Eliot, Igor Strawinsky, Thornton Wilder, Jorge Luis Borges oder eben Aaron Copland angetreten sind. Und Bernstein wird diese legendären Vorträge über die Musik als universale Sprache mit einer Erinnerung an Copland eröffnen: Wie er damals als noch nicht zwanzigjähriger Harvard-Student Coplands „Piano Variations“ analysiert, und wie er dabei eine verrückte Entdeckung gemacht hat in Hinblick auf die ersten vier Noten des Stücks: Gebr. CD (s.u.) T. 3 Kurz anspielen... 0’10 „Plötzlich wurde mir klar, dass diese vier Noten, in anderer Reihenfolge, das Thema von Bachs cis-moll-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier darstellten. Gleichzeitig entdeckte ich dieselben vier Noten, transponiert, die erste Note wiederholt, als Keimzelle der Variationen in Strawinskys Oktett. UND die gleichen vier Noten kamen mir, in wieder anderer Anordnung, in den Sinn als das Eingangs-Motto von Ravels Rapsodie Espagnole. Und nach alldem erinnerte ich mich auch noch plötzlich an eine Hindu-Musik, die ich gehört hatte – und da waren sie wieder, die vier Noten. In diesem Moment reifte in meinem Hirn eine Erkenntnis: dass es einen tiefen, uralten Grund geben muss, wieso diese unterschiedlichen Strukturen derselben vier Noten das Innerste von so unterschiedlicher Musik wie der von Bach, Copland, Strawinsky, Ravel und der Uday Shankar Dance Company bilden konnten. Seit damals verfolgt mich die Idee einer gemeinsamen musikalischen Grammatik, die der Welt innewohnt.“ Diese Copland’schen Piano Variations sind übrigens eher untypisch für’s Copland’sche Gesamtwerk: ziemlich sperrige, biestig schwierige, ziemlich atonale Musik. Und damals in den dreißiger Jahren müssen sie den Leuten noch widerborstiger vorgekommen sein – aber für den ganz jungen Lenny waren sie eine 6
Offenbarung, sein Signaturstück als aufstrebender Pianist. An besagtem Kennenlernabend 1937 auf Aaron Coplands New Yorker Party hat Copland sie von ihm hören wollen. Lenny, der gewohnt ist, dass alle sofort überstürzt den Raum verlassen, wenn er diese Musik spielt, meint nur: „Es wird die Party ruinieren.“ Und Copland, ganz entspannt: „Nicht diese Party.“ Gebr. CD T. 3 nochmal von vorne ausbl. bei 2’ Aaron Copland, Piano Variations Aaron Copland, Klavier Naxos 9.81065P Aaron Copland spielt da auf seine staubtrockene Art seine Piano Variations aus dem Jahr 1930. Copland ist die eine der drei Lichtgestalten, die das Genie Leonard Bernstein in den 1940-er Jahren auf die Schiene setzen. Die zweite ist Serge Koussevitzky. Zitat 1’ Probe Koussevitzky/Boston Symphony Orchestra Rimsky-Korsakow, Sheherazade Serge Koussevitzky, einer der ganz großen Orchesterleiter des 20. Jahrhunderts, ist aus Russland über Paris in die USA gekommen und Chef des Boston Symphony Orchestra geworden, zu der Zeit Amerikas bestes Orchester, und obwohl er dort jede Menge moderne Musik uraufführt, liegt ihm das Publikum in Boston und anderswo zu Füßen. So sehr, dass ein paar reiche Damen ihm draußen, in den paradiesischen Hügeln Neuenglands, ein Sommerfestival finanzieren. In Tanglewood, wo einst die Dichter Hawthorne und Melville Freundschaft geschlossen haben, erfindet Koussevitzky in den späten Dreißiger Jahren Amerikas 7
Musikleben neu. Weil es für so ein amerikanisches Musikleben hervorragende amerikanische Musiker braucht, gründet er da in den Berkshires eine Sommerakademie für Musikernachwuchs, damit Amerikas junge Künstler nicht immer erst nach Europa ziehen müssen, um Entscheidendes über das Musikmachen zu lernen. Lenny liest von diesen Kursen in der Zeitung, besorgt sich bei Aaron Copland und anderswo ein paar Empfehlungen und schleicht sich eines Konzertabends in Boston nach der Vorstellung in Koussevitzkys Garderobe in der Symphony Hall, um sich für die Sommerkurse zu bewerben. Koussevitzky spricht mit ihm - und das genügt: ohne dass Bernstein auch nur einen Takt dirigiert hat, ohne dass er Klavier vorspielen muss oder Koussevitzky auch nur eine seiner Empfehlungen sehen will, nimmt er Bernstein in seine Dirigentenklasse auf. „Es war Liebe“, so Bernstein später, „es war eine Vater-Sohn-Beziehung, wenn Sie so wollen, und mehr als das. Wir hatten die gleichen Gene.“ Koussevitzky ist also seit jenem ersten Tanglewood-Sommer Bernsteins Übervater, er fördert ihn mit aller Entschlossenheit – was sogar so weit geht, dass er persönlich beim Militär interveniert, als man Bernstein doch noch zum Kriegsdienst einziehen will (nicht zu vergessen: In diesen Jahren, von denen wir hier sprechen, ging in Europa gerade die Welt unter). Kriegsdienst komme überhaupt nicht in Frage, schreibt Koussevitzky an die zuständige Behörde, dieses einzigartige junge Talent müsse unbedingt geschützt werden, im Namen der amerikanischen Musik. Und sein Wort ist den entsprechenden Stellen tatsächlich Befehl – Leonard Bernstein bleibt unangetastet. Es gibt ein rührendes Foto vom blutjungen Lenny, wie er, in Anzug und Krawatte noch leicht verkleidet wirkend, aber schon mit energetischem Haarschwung, vor einem Studentenorchester steht, direkt vor dem Haus Koussevitzkys in Tanglewood, und dem Meister zum Geburtstag ein Ständchen bringt. Der blickt wohlgefällig nebst Gattin vom Balkon hinunter auf das Genie, das er da entdeckt hat. Auch diesem Mentor ist Bernstein treu geblieben: In Koussevitzkys weißem Anzug, der ihm viel zu groß war, ist er später vor dem Traualtar gestanden, Koussevitzkys Manschettenknöpfe hat er bis ans Lebensende getragen und vor jedem Konzert andächtig geküsst, und Koussevitzkys Erbe hat er schließlich angetreten, indem er lange Jahre Lehrer und Spiritus Rector in Tanglewood gewesen ist, wie Koussevitzky unermüdlich in pädagogischer Mission 8
unterwegs – und am Ende hat Lenny das letzte Konzert seines Lebens in Tanglewood dirigiert, hier, wo seine Dirigentenkarriere mehr als fünfzig Jahre zuvor begonnen hat. Bernstein The final concert T. 1 3’40 Benjamin Britten, Four Sea Interludes, Dawn Boston Symphony Orchestra, LTG Leonard Bernstein 00289 479 2634 Das erste der „Four Sea Interludes“ aus Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ – die Live-Aufnahme mit Lenny und dem Boston Symphony Orchestra ist in Tanglewood im Sommer 1990 entstanden – es war das letzte Konzert, das Bernstein in seinem Leben dirigiert hat, und beinahe hätte er abbrechen müssen, so schlecht ging es ihm da schon. Aber diese Musik hat er nicht zufällig aufs Programm gesetzt: Vierundvierzig Jahre zuvor hat er nämlich hier, im Tanglewood-Sommer 1946, als junger Dirigent eine Studentenaufführung von „Peter Grimes“ geleitet – ein wahnsinniges Unterfangen, das Benjamin Britten dann nach der Premiere für gescheitert erklärt hat, aber Lenny und seine Studenten hatten eine Riesenfreude mit „Grimey Pete“, wie er zu sagen pflegte. Ein Lenny-Ausspruch bei den Proben damals ist dann in die Zitate-Walhalla von Tanglewood eingegangen: „Give it all you’ve got – and then crescendo!“ Fehlt noch – in puncto bedeutende Mentoren - Lichtgestalt Nummer drei, dieser Mann ist genaugenommen der eigentliche Entdecker Leonard Bernsteins, denn er hat Lenny noch vor Koussevitzky kennengelernt, und er hat in ihm das gesehen, was Bernstein selber damals nur erst erahnt hat: Dimitri Mitropoulos. 9
Zitat 1’ Probe Dimitri Mitropoulos/ New York Philharmonic Liszt, Mephisto „Mein lieber, lieber Junge, glaub mir, Dein Brief hat mich sehr tief berührt. Ich vergesse Dich nie. Ich hatte nur so viel zu tun...aber jetzt fühle ich mich Dir nahe und das gibt mir mehr Mut, Dir zu schreiben. Lieber Freund, ist es wahr, dass Du so sehr an mich glaubst? Habe ich tatsächlich eine Leere bei Dir hinterlassen nach unserem letzten Treffen? Dieser Gedanke macht mich verrückt und so glücklich, dass ich nicht wage, daran zu glauben. Niemand hat mir je so etwas geschrieben! Lieber Junge, wenn Du nur wüsstest, wie allein ich bin – ich lebe mein ganzes Leben für meine Kunst. Abseits davon lebe ich wie ein Asket. Es mag viele Leute geben, die mich lieben und meine Freunde sind, aber nie finde ich diesen einen, dem ich mein Herz und meine Seele öffnen kann. Ich bin so erfüllt von der Notwendigkeit, Liebe zu geben, ich bin so voller Liebe, dass ich sie immer und jedem menschlichen Wesen gebe...“. Was in unseren Ohren heute kitschig klingt, waren im Fall von Dimitri Mitropoulos keine hohlen Phrasen: Gustav Mahler hat ja von sich gesagt, er habe als Kind Märtyrer werden wollen. Mitropoulos war, wie nach ihm Bernstein, einer der wichtigsten Mahler-Dirigenten des Jahrhunderts, und er hat dieses Märtyrerhafte tatsächlich gelebt – zu seinem eigenen Schaden übrigens: In den Kleinkriegen und Intrigen der Musikwelt ist er öfters angerempelt, verleumdet und abserviert worden, aber er, der überzeugte Pazifist, hat dann im Zweifelsfall meistens noch die andere Wange hingehalten. Dass er es trotzdem zum so bedeutenden Dirigenten gebracht hat, beweist nur das Ausmaß seiner Bedeutung. Die New York Times schrieb zwar mal über seinen Dirigierstil, der erinnere an einen „byzantinischen Mönch, der wie wahnsinnig 10
Martinis schüttelt“ – aber ganz im Ernst: Mitropoulos beim Dirigieren zuzusehen und zuzuhören, macht süchtig. Er hat in dem über zwanzig Jahre jüngeren Teenager Leonard Bernstein eine ihm verwandte Seele erkannt, und dementsprechend ekstatisch auf Bernsteins Begeisterung für ihn reagiert. Bernsteins Jugend, Intelligenz und musikalisches Genie müssen den abgrundtief einsamen Mitropoulos mitten ins Herz getroffen haben, so sehr, dass er sich bald wieder ängstlich zurückgezogen hat, - bis heute ist nicht klar, ob es je eine echte Liebesaffäre zwischen ihm und Lenny gegeben hat. Aber es war in jedem Fall Mitropoulos, der Bernsteins Genie von Anfang an glasklar sah, und der ihm mit heiligem Ernst eröffnet hat, dass er alles in sich habe, um einer der ganz großen Künstler seiner Zeit zu werden – wenn er nur hart genug arbeite und sich nicht ablenken lasse. „Es liegt an Dir“, so Mitropoulos zu Bernstein. Mitropoulos war es auch, der Bernsteins Begabung zum Dirigieren überhaupt erst erkannt und ihn in diese Richtung geschoben hat – noch bevor er ihn je dirigieren sah. Das beweist nur wieder mal, dass ein großer Dirigent zuallererst mal ein musikalischer Charakter sein muss – das Handwerk kommt später. Mitropoulos hat gespürt, dass in diesem begeisterungsfähigen Lenny eine ungeheure Musikalität und eine für sein Alter erstaunliche Weisheit steckten: Ideale Voraussetzungen, um ein guter Dirigent zu werden. Gebr. CD T. 4 ausbl. ab 2’05 Gustav Mahler, Sinfonie Nr.6 New York Philharmonic, Dimitri Mitropoulos Archipel ARPCD 0440 New York 1955 – Mitropoulos war der erste, der Mahlers Sechste in den USA dirigiert hat. Wenn man Mitropoulos proben und dirigieren sieht, dann wird einem klar, dass Bernstein von ihm in Gestus und Aura sehr viel mehr über das Dirigieren gelernt hat als von seinem von ihm selber immer in den Vordergrund gerückten Lehrer Koussevitzky. 11
„Ich lernte zum ersten mal, was ein Dirigent tut und wie er studiert“, so Leonard Bernstein über Mitropoulos. „Sein Gedächtnis war unglaublich: er probte sogar ohne Noten...Und seine Leidenschaft war so heftig, dass er manchmal während der Probe aufsprang, in die Bratschen-Abteilung stürzte und die Musiker bei den Schultern packte und schüttelte, damit sie das spielten, was er wollte.“ Musik nochmal hoch bei 2’44 0’45 langs. unter Text weg ab 3’30 Mitropoulos, der Ekstatiker, hatte Erfolg, in Amerika, und in Europa, wo er sich als Orchestererzieher einen grandiosen Ruf erarbeitet hat. Er kannte grundsätzlich schon zu Beginn der Proben alle Musiker im Graben vor sich mit Namen, er hatte ein fotografisches Gedächtnis und dirigierte auswendig, er war freundlich und geduldig und hatte eine magnetische Ausstrahlung...und dafür haben sie ihn geliebt bei den großen Ensembles, folgerichtig wurde er Chef beim New York Philharmonic, dem wichtigsten Orchester der USA, - und dort hat man ihn dann schändlich behandelt. Mitropoulos war schwul, was er natürlich nicht an die große Glocke hängte, aber beim Orchester wusste man logischerweise Bescheid, auch wenn Mitropoulos alles andere als ein Draufgänger war. Der amerikanisch-puritanische Reinigungswille kriegte irgendwann die Oberhand, und mit tatkräftiger Hilfe der Musiker und der örtlichen Presse ist der bedeutende Mann 1957 von seinem Chefposten weggemobbt worden. Und sein Schützling und Seelenverwandter Leonard Bernstein kriegt dann Mitropoulos’ Job, für den er sich nicht zuletzt damit in Stellung gebracht hat, dass er die schöne Schauspielerin Felicia Monealegre geheiratet hat, um die Gerüchte um sein eigenes Schwulsein beizeiten zu zerstreuen. Im Fall Mitropoulos hat Bernsteins Begabung zur Freundschaft versagt, und die Geschichte hinterlässt einen Flecken auf Lennys weißem Hemd und zeigt, dass eben auch Bernstein kein Heiliger war – er hat der Hinrichtung seines großen Förderers still zugesehen, weil klar war, dass es seiner Karriere nützen würde. Aber natürlich hat er sich auch deshalb bedeckt gehalten, weil die Sache mit den Männern für ihn 12
eine sehr virulente und komplizierte Sache war. Leonard Bernstein, der große Liebende, hat sich ständig verliebt, in Frauen und in Männer,- meistens in Männer. Und er hat damit sein ganzes Leben lang entsetzlich gehadert, zumal er ganz genau wusste, dass es karriereschädigend war. Das Beispiel seines Freunds und Förderers Mitropoulos war ihm eine machtvolle Warnung. ...Aber jetzt sind wir ein bisschen weit vorgeprescht auf der Bernstein-Zeittafel – wobei: Das New York Philharmonic spielt in Lennys Biografie schon viel früher eine bedeutende Rolle, genaugenommen seit jenem denkwürdigen Sonntag im November 1943... CD Carnegie Hall Debut T. 1 0’26 Sprecher Anfang bis „...Leonard Bernstein“ Pristine Audio PASC 533 Stopp! Diesen Moment muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – es ist einer der entscheidenden Wendepunkte in Bernsteins Leben, ja, Burton Bernstein, Lennys kleiner Bruder, hat sogar mal in einem Interview gesagt, dass dieses Ereignis das Leben der ganzen Familie Bernstein grundlegend verändert hat. Danach waren sie alle berühmt. Konzert und Oper hatten ja damals in den USA einen völlig anderen Stellenwert als heute – sie waren Themen für die Seite Eins der Zeitungen, Stoff für Leitartikel und Cover-Fotos. Und auch das Radio hatte eine viel zentralere Rolle: In diesen Tagen ohne Fernsehen, geschweige denn Internet, klebte halb Amerika am Radiogerät, um den Übertragungen aus der Metropolitan Opera oder der Carnegie Hall zu lauschen. Und deshalb waren es so enorm viele Leute, die an diesem 14. November und den Tagen danach auf die eine oder andere Weise mitbekamen, wie Leonard Bernstein d e r Leonard Bernstein wurde, als er als Einspringer für Bruno Walter und ohne Probe sein sensationelles Debüt auf dem Podium der Carnegie Hall hatte, vor sich Amerikas bestes Orchester, das New York Philharmonic, und Millionen von Hörer draußen an den Radiogeräten... 13
CD T. 2+3 ab 2’35 ausbl. bei 4’35 2’ Rundfunk-Ansage und Robert Schumann, Manfred-Ouvertüre New York Philharmonic, LTG Leonard Bernstein Pristine Audio PASC 533 „Ich erinnere mich an den Beginn der Schumann-Ouvertüre“, so Bernstein später, „es ist ziemlich tricky, und mich verfolgte der Gedanke, dass, wenn die Musiker nicht zusammen anfingen, das gesamte Konzert verpfuscht wäre.“ Es ist aber alles gutgegangen, oder besser: mehr als gut. Natürlich hat Bernstein zu dem Zeitpunkt schon einiges gelernt über das Dirigieren, neben seiner éducation sentimentale bei Koussevitzky und Mitropoulos hat Lenny in Philadelphia am berühmten Curtis Institute bei Pokerface Fritz Reiner, genannt Fritz-der-Schleifer, studiert, und inzwischen hat man den hochbegabten Kerl nach New York weitergereicht. Dort ist er, enormer Karrieresprung, Assistent des New York Philharmonic-Chefs Arthur Rodzinski, er hat auch schon ein paar mal das Orchester dirigieren dürfen – aber nur in Proben. Er wohnt extrem bohèmehaft in einem winzigen Zimmer mit Blick auf eine Mauer in der Carnegie Hall, und man sieht ihn in den Diners der 56. Straße, die Nase ständig in irgend einer Partitur vergraben, und abends hängt er in den Jazz- und Cabaret- Clubs in Greenwich Village ab. Geld hat er keines, aber er fühlt sich wie eine Figur aus Puccinis Bohème, und er hat jede Menge Spaß: „New York“, erinnert er sich später, „war das Mekka. Ich fand keine Arbeit, aber ich hatte einen sehr bohèmehaften Sommer! Es war fürchterlich! Ich hatte kein Geld, es war sehr heiß, und Tonnen von Wanzen überall. Ob ich gelitten habe? Klar! Ich war der Schaunard von Greenwich Village!“ Tja, und dann wird also Bruno Walter krank. Der Pult-Star aus Europa hätte eigentlich an diesem Nachmittag das Carnegie-Hall-Konzert mit den New Yorkern dirigieren sollen, hat aber eine scheußlich Grippe. Arthur Rodzinski ist übers 14
Wochenende nach Connecticut verreist, vier Stunden Autofahrt weit weg, und Rodzinksi beschließt dann am Telefon, Schicksal zu spielen: „Ruft Bernstein an. Dafür wird er bezahlt.“ Lenny, der am Vorabend als Pianist selber noch ein Konzert hatte und bis in die frühen Morgenstunden auf der After-Show-Party Klavier gespielt hat, eilt mit den Partituren zu Bruno Walter und lässt sich noch ein paar Tipps geben, das Programm ist verflucht schwierig: Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, dann ein neues Stück des Ungarn Miklos Rozsa, danach, extrem haarig, „Don Quixote“ von Strauss...Und dann gilt’s: Als das Orchester gestimmt hat, macht Bruno Zirato, der Manager des New York Philharmonic, eine Ansage – man werde jetzt Zeuge des Debüts eines jungen Dirigenten, „geboren und ausgebildet in diesem Land“ – „he will seek to entertain you“, sagt Zirato, „er wird bestrebt sein, Sie zu unterhalten.“ gleiche CD Schluss einbl. bei 12’53 1’40 Carnegie Hall Debut 1943 Robert Schumann, Manfred-Ouvertüre New York Philharmonic, LTG Leonard Bernstein Pristine Audio PASC 533 Als der letzte Ton an diesem Nachmittag gespielt ist, bricht ein Sturm der Begeisterung los – immer wieder muss Lenny sich verbeugen, die Leute stürmen schier die Bühne, irgendwer drückt ihm ein Telegramm von Koussevitzky in die Hand, da steht: „Höre gerade zu. Wundervoll!“, die Orchestermusiker strahlen ihn an, und in den kommenden Tagen werden sich die Zeitungen und die Kritiker enthusiastisch überschlagen. Allen ist klar, dass sie hier Teil von etwas Bedeutendem waren, und ganz besonders groß ist die Euphorie, weil da zum ersten mal ein in Amerika geborener Musiker sich anschickt, einer der besten Dirigenten der Welt zu werden. Sowas gab es noch nicht. „A good American success story“, jubelt die „Times“. Das „Boy wonder of Carnegie Hall“ nennt ihn „Newsweek“. Für Lenny ist aber etwas anderes noch wichtiger: Sein Vater, der ewig grantelnde Chassid, mit dem er sich seine gesamte Jugend über so 15
bittere Kämpfe geliefert hat, der das, was Lenny liebt und heilig hält, als brotlosen, überflüssigen Tinnef beschimpft hat, und dem Lenny es doch immer so gerne recht gemacht hätte, - Sam Bernstein also hat mitsamt der ganzen Familie das Konzert vor Ort aus der Ehrenloge verfolgt. Er ist vollkommen verblüfft darüber, dass sein Sohn es mit seiner seltsamen Obsession für die Musik so weit gebracht hat, dass ihm nun plötzlich New York zu Füßen liegt. Und er ist, endlich, stolz auf seinen Sohn. „Er strahlte“, erinnert sich Bernstein, „und es war ein großer Moment von Vergebung und sehr tiefem Gefühl.“ Es ist dieser Moment, in dem Bernstein beschließt, seinem Vater seine eben fertiggewordene Erste Sinfonie zu widmen – die endet mit hebräischen Worten aus den Klageliedern des Jeremia, „Lamentation“ heißt der letzte Satz. CD Jeremiah T. 3 Schluss Leonard Bernstein, Symphony No.1 „Jeremiah“ Christa Ludwig, Mezzosopran Israel Philharmonic Orchestra, LTG Leonard Bernstein 00289 479 2635 16
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