"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein
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„MUSIK – DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR LEONARD BERNSTEIN“. Symposium zur Musikvermittlung Anlässlich des 100. Geburtstags von Leonard Bernstein GESELLSCHAFT DER MUSIKFREUNDE IN WIEN Mittwoch, 6. Juni 2018 Gläserner Saal / Magna Auditorium Wiener Musikverein
„MUSIK – DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR LEONARD BERNSTEIN“ Symposium zur Musikvermittlung Beiträge 3 Begrüßung Dr. Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 5 Einführung in das Thema Constanze Wimmer, Kuratorin des Symposiums 8 Leonard Bernstein als Musikvermittler Vortrag von Hendrikje Mautner-Obst 19 Die Kunst der Vermittlung Constanze Wimmer im Gespräch mit Lilian Genn, Désirée Hornek und Markus Poschner Im Anschluss: Diskussion mit Publikum Leonard Bernstein: Lifelong Communicator Jamie Bernstein Vortrag auf dem Youtube-Kanal des Wiener Musikvereins https://www.youtube.com/watch?v=urmbEztsk3A&feature=youtu.be 29 Besucherinnen & Besucher von klassischen Konzerten. Aktuelle empirische Befunde Vortrag von Michael Huber 36 Hör-Pfade in ein Musikstück Constanze Wimmer im Gespräch mit Thomas Höft, Helmut Schmidinger und Emmanuel Tjeknavorian Im Anschluss: Diskussion mit Publikum Podiumsdiskussion Wie viel Vermittlung braucht die Musik? Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Jamie Bernstein, Musikvermittlerin Elisabeth Gutjahr, Rektorin der Universität Mozarteum Albert Landertinger, Musikvermittler Cornelius Meister, Dirigent Ulla Pilz, Moderation Text dieser Podiumsdiskussion ist ab September 2018 verfügbar. –2–
BEGRÜSSUNG Dr. Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Sehr geehrte Symposiumsteilnehmerinnen und –teilnehmer, ich darf Sie alle sehr herzlich hier im Gläsernen für Leonard Bernstein war es geradezu Bedin- Saal des Musikvereins bei „Musik – die offene gung, dass die Konzerte auch der Jugend zugäng- Frage. Ein Tag für Leonard Bernstein“ begrüßen lich gemacht wurden. Auf diese Art und Weise kam – und einige persönliche Worte zu Leonard Bern- das Jeunesse-Publikum jedes Jahr in den Genuss stein vorausschicken: eines Konzertes unter der Leitung von Leonard Bernstein, für mich als Generalsekretär war das Als Generalsekretär der Jeunesse Musicale hatte eine große Freude. Höhepunkt der Jeunesse-Zu- ich erstmals mit Leonard Bernstein beruflich zu sammenarbeit war eine Reise mit dem Jeunesse tun. Bernstein dirigierte Ende der 70er Jahre des Chor nach Hiroshima, zum Hiroshima Peace Con- vorigen Jahrhunderts alljährlich mit den Wiener cert im Jahr 1985, anlässlich der 40. Wiederkehr Philharmonikern Filmaufnahmen seiner Konzer- des Atombombenabwurfs in Hiroshima. te. Bei den alten 16-mm-Kameras mussten noch in kurzen Abständen die Kassetten gewechselt Ich kann Ihnen sagen, ohne Leonard Bernstein werden, das konnte man einem voll zahlenden wäre ich möglicherweise nicht hier, nicht in die- Publikum kaum zumuten. So wurden die Konzerte ser Position. Meine Liebe zur Musik wurde durch auch der Jeunesse angeboten, die Philharmoniker ihn beflügelt, durch seine Konzerte, durch die Ge- waren dankenswerterweise einverstanden – und spräche, die ich mit ihm führen durfte. Und natür- –3–
lich durch die Tatsache, dass ich, wie viele junge Eine letzte kleine Geschichte möchte ich noch Leute, als Kind seine Young People’s Concerts be- erzählen – zu Herbert von Karajan und Leonard kommen habe – als Buch mit so kleinen schwar- Bernstein. Als Karajan im Sommer 1989 gestor- zen Schallplatten drin mit 45 Umdrehungen – das ben war, bin ich zu Leonard Bernstein gefahren – alles hat mich begeistert! Meine Liebe zu Gustav zu diesem Zeitpunkt war ich bereits hier im Musik- Mahler wurde durch Bernstein geweckt, die Liebe verein als Generalsekretär verantwortlich – und aber auch zur Musik von Schostakowitsch und Si- habe ihn gebeten, ob er nicht das Gedenkkonzert belius – er hat ja mit den Wiener Philharmonikern für Herbert von Karajan dirigieren möchte. Im Ok- zum Schluss einen Schostakowitsch-Sibelius Zyk- tober davor hatte er nämlich Herbert von Karajan lus begonnen und hat diese beiden Komponisten im Musikverein getroffen, nach langen Jahren das in Wien erst wirklich heimisch gemacht. Genau- erste Mal wieder: denn am 1. Oktober 88 spielten so ist ihm die Mahler-Renaissance zu verdanken, die Wiener Philharmoniker mit Leonard Bernstein Bernstein hat das Kulturleben Wiens unglaublich im Goldenen Saal, am 3. Oktober die Berliner bereichert. Philharmoniker mit Herbert von Karajan. Bern- stein hat zugesagt, obwohl das damals keine ein- Und auch Bernsteins eigene Werke sind mir ans fache Zeit in Österreich war – Kurt Waldheim war Herz gewachsen: Auf der Hiroshima Peace Con- Präsident und Leonard Bernstein Ehrendirigent cert Tour haben wir einige Male Kaddish gehört, von Israel Philharmonic auf Lebenszeit. Bernstein sie wurde in Budapest, Athen, Hiroshima und ist aber selbstverständlich gekommen und hat die in Wien aufgeführt – ungemein beeindruckend! Gedenkstunde für Karajan musikalisch geleitet. Wenn wir heuer im Jahr des 100. Geburtstages von Leonard Bernstein hier im Musikverein einen Noch ein Tipp zum Abschluss: Wenn Sie einmal Schwerpunkt setzen mit der Aufführung seiner Zeit und Muße haben, versuchen Sie Folgendes Symphonien Jeremiah, Age of Anxiety und Kad- – ich mache das gelegentlich, wenn ich leichte dish – diese Aufführungen haben bereits stattge- Depressionen habe, wenn mir zu viele Künstler funden –, morgen kommen die Chichester Psalms gleichzeitig absagen, dann gehe ich auf YouTube und die Symphonic Dances aus West Side Story und schaue mir Haydns Symphonie Nr. 88 an mit dazu, im Herbst wird die Serenade aufgeführt Leonard Bernstein, wo er den vierten Satz mit den und gemeinsam mit der Musikalischen Jugend Wiener Philharmonikern nur mit den Augen diri- Österreichs Mass, so rundet sich das Bild ab. Die giert, mit Schulterbewegungen, mit minimalen Konzerte sind alle prominent besetzt, Leonard Bewegungen – da weiß man wieder, wie begeis- Bernstein hatte hier im Musikverein ja eine mu- ternd Musik sein kann und wie begeisternd Musik sikalische Heimat. Schauen Sie sich in der Pause vermittelt werden kann. die kleine Foto-Ausstellung zu Leonard Bernstein an – er hat hier nicht nur Spuren hinterlassen, er In diesem Sinne darf ich Ihnen einen schönen Tag hat das Musikleben dieser Zeit maßgeblich beein- wünschen, einen interessanten, einen bereichern- flusst. Und es ist sicher nicht zu viel gesagt, dass den Tag und darf vor allem Jamie Bernstein, die er ganze Generationen von jungen Leuten zur Mu- Tochter von Leonard Bernstein, als Ehrengast sik gebracht und Musik populär gemacht hat. Ich herzlich begrüßen. Sie wird um 14 Uhr einen eige- persönlich habe ihn unendlich verehrt. nen Vortrag halten. Herzlich willkommen! Foto: Lukas Beck –4–
EINFÜHRUNG IN DAS THEMA Constanze Wimmer, Kuratorin des Symposiums Jeder meiner Kollegen und jede meiner Kollegin, posiums Leonard Bernstein als den Impulsgeber dem oder der ich erzählte, dass wir ein Symposi- unserer Musikvermittlungs-Ansätze zu feiern – es um aus Anlass des 100. Geburtstages von Leonard wird ein besonderes Geburtstagsfest mit einem Bernstein planen, bekam sofort verklärte Augen ganz besonderen Ehrengast: Jamie Bernstein, und erinnerte sich – je nach Alterskohorte – an selbst Musikvermittlerin, Erzählerin und Schrift- Konzerte, Opernaufführungen, Bücher, Videoauf- stellerin! nahmen oder YouTube-Clips, die für das weitere berufliche Leben entscheidend waren. „What does music mean?“ – dieser Titel des ers- ten Young People`s Concert, das Leonard Bern- Bernstein ist die Musikerpersönlichkeit, die alle stein mit dem New York Philharmonic präsentier- Eigenschaften des neugierigen, leidenschaftli- te, leitet uns heute durch den Tag. Denn es ist das chen, kommunikativen und gebildeten Künstlers Kerngeschäft der Musikvermittlung, die Bedeu- in sich vereint und aus dieser Haltung heraus als tung von Musik zu erschließen. Komponist, als Dirigent und als Vermittler glei- chermaßen authentisch und überzeugend han- Wo stehen wir also genau 60 Jahre nach dem ers- delt. ten Young People’s Concert „What does music mean?“ aus der Feder Leonard Bernsteins? Was Ich bin Thomas Angyan, Andrea Wolowiec und sind im Moment die gängigsten Formate und Va- Désirée Hornek zutiefst dankbar, dass wir heute riationen? die Möglichkeit haben, im Rahmen dieses Sym- –5–
VOR UND NACH DEM KONZERT werkstatt und das unmittelbare Entstehen von Neuer Musik gibt. Am häufigsten finden musikvermittelnde Projek- te vor oder (seltener) nach dem Konzert statt. Im Zentrum steht der Zuhörer vor seiner individuel- IM KONZERT len Begegnung mit dem Musikstück. Diese Work- shops finden häufig in der Schule statt, manche Zum Herzstück der Musikvermittlung gehörte von auch direkt im Konzerthaus und bereiten auf ein Anbeginn das Konzert für Kinder und die Kunst, Werk eines Konzertprogramms vor. Daneben eta- innerhalb dieser Aufführungen Bildungsaspekte blieren sich an einzelnen Häusern einführende mit künstlerischer Gestaltung zu verweben, ohne Workshops für Erwachsene, die – ergänzend zu dabei dem Missverständnis einer Schulstunde im den klassischen Einführungsvorträgen von Kon- Konzertsaal zu erliegen. Ausgehend von den frü- zertdramaturgen – interaktive Elemente in die hen Formen der volksbildenden Konzerte um 1900 Vermittlung der Werke integrieren und das Pub- und spätestens seit dem Young Person’s Guide to likum wenigstens in Momenten ermutigen, durch the Orchestra von Benjamin Britten und den Young eigenes Handeln wie Singen, Musizieren oder Tex- People’s Concerts von Leonard Bernstein etab- ten zur Musik neue Perspektiven auf das Werk zu liert sich das moderierte Orchesterkonzert neben öffnen. künstlerisch gefassten Werken wie Peter und der Wolf von Sergej Prokofiew oder dem Karneval der Manche Häuser gehen mittlerweile soweit, ganze Tiere von Camille Saint-Saëns. Seminarreihen im Sinne einer „Open University“ für ihr Publikum anzubieten, und dabei über meh- Aus dem Zusammenwirken von Kammermusik- rere Wochen ein Genre wie Jazz oder alles kontex- ensembles und Regisseuren entstanden parallel tuell Wissenswerte über Schuberts Winterreise zu dazu seit den 1990er Jahren szenisch kunstvoll ergründen – damit verbunden jeweils Einladungen gestaltete inszenierte Konzerte. Heute verwi- zu ausgewählten Konzertbesuchen. Das Wiener schen die Grenzen zwischen Storytelling, Theater, Konzerthaus verwandelte 2017 sein Foyer in eine Konzert, Tanz und Performance zugunsten eines Instrumentenwerkstatt und ließ während eines poetischen Gesamtkunstwerks, der Bildungsas- Kammermusikschwerpunkts die vier Instrumen- pekt rückt in den Hintergrund. te des Streichquartetts vor den Augen des Publi- kums in Echtzeit bauen und vermittelte auf diese Auch Orchester haben neue Zugänge entwickelt, Weise sowohl einen Einblick in die Kunst des Inst- um ihr altersmäßig gemischtes Publikum ganz rumentenbaus als auch die besondere Suche nach nah an das Geschehen heranzuführen. „Im Klang“ dem perfekten Klang eines Streichinstruments. oder „Mittendrin“ heißen bspw. Aufführungsfor- mate der Wiener Symphoniker oder des Konzert- Besonders im Bereich der Neuen Musik finden im hauses Berlin, bei der das Publikum zwischen Anschluss an Uraufführungen oder unbekannte- den Orchestermusikern sitzt und auf diese Weise ren Werken Künstlergespräche statt, die im Nach- in unmittelbarer Nähe zu den Musikern in direk- klang Vertiefendes und Erhellendes zu den Wer- te und ungewohnte Klangerfahrung eintauchen ken, den Komponisten und den Interpreten liefern kann. und auf diese Weise Einblick in die Komponisten- –6–
Die Sehnsucht vieler Hobbymusiker wird gestillt, Stadtteile, Begegnungszentren, Krankenhäuser, indem eigene Publikumsorchester gegründet oder Gefängnisse oder soziale Einrichtungen wie Al- im „Symphonic Mob“ gigantische Mitspiel-Aktio- tersheime und Zentren für Demenzkranke zu nen mit Profi-Orchestern ermöglicht werden. besuchen, und vor Ort in Projekte einzutauchen, die Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus und heterogener Vorerfahrungen ins gemeinsa- MITTEN IN DER COMMUNITY me musikalische Tun bringt und auf diese Weise Teilhabe an Kultur für vielfältige Bevölkerungs- Im 20. Jahrhundert wurden gesellschaftliche Fra- gruppen ermöglicht. Die demographische Verän- gen im Kontext von Hochkultur politisch neu ver- derung und die Migrationsbewegungen in Europa handelt. Die Arbeiter-Symphoniekonzerte in Wien, führen gerade im Bereich der „Outreachprojekte“ 1905 von David Josef Bach gegründet, oder der zu neuen Herausforderungen der transkulturellen von Hans Werner Henze in den 1970er Jahren er- Auseinandersetzungen und bei Musikvermittlern fundene Festival Cantiere Internazionale d‘ Arte in und Musikern zur Notwendigkeit besonderer Sen- Montepulciano, der einen ganzen Ort in die musi- sibilität, damit gemeinsame Projekte nicht zu ei- kalische Gestaltung miteinbezog, geben dafür be- ner versteckten Missionierung von bildungsfernen redtes Zeugnis. Hilmar Hoffmann verkörperte die Schichten werden, sondern zu einem Aushand- Ära der kulturpolitischen Erneuerung der 1970er lungsprozess auf Augenhöhe, der die hybriden Jahre wie kein anderer in Deutschland. Als Kul- Kulturen aller Beteiligten im Auge behält. turdezernent in Frankfurt setzte er wegweisende kulturpolitische Initiativen, die er mit dem Schlag- Das ist der Viewing-Point 2018, aus dem wir auf wort „Kultur für alle“ übertitelte. Leonard Bernstein und seine wegweisenden Kon- zertformate, Bücher und Lectures zurückblicken Mit der Implementierung von Musikvermitt- – um daraus zu erkennen, welchen Weg wir seit- lungs-Abteilungen an Orchestern und Konzert- her gegangen sind und was uns von seiner Per- häusern setzt bereits in den 1990er Jahren ein sönlichkeit und seiner Haltung auch in Zukunft vorsichtiges Herantasten an Zielgruppen ein, für begleiten soll. die der Weg in den Konzertsaal im Alltag keine Rolle spielt und deren Sehnsüchte durch klassi- Leonard Bernstein ist kein Denkmal der Musik- sche Musik scheinbar weder geweckt noch gestillt vermittlung, sondern in seinem Wirken ein An- werden können. sporn für uns, immer wieder neu nachzudenken und auszuprobieren und im Gespräch mit den Mu- Sogenannte „Outreachprogramme“ setzen dort sikern und dem Publikum zu bleiben. an, wo nicht primär daran gearbeitet wird, Men- schen in den Konzertsaal einzuladen, sondern mit Vielen Dank, dass Sie heute hier sind! den Musikern eines Orchesters oder Ensembles Foto: Lukas Beck –7–
LEONARD BERNSTEIN ALS MUSIKVERMITTLER Hendrikje Mautner-Obst Vortrag im Rahmen des Symposiums „Musik – Die offene Frage. Ein Tag für Leonard Bernstein“, Musikverein Wien, 6. Juni 20181 1957 skizzierte Bernstein in einem Aufsatz für des Sprechens über Musik auseinander. Der Hin- die Zeitschrift The Atlantic Monthly mit dem Titel tergrund, vor dem er seine Überlegungen ent- „Speaking of Music“ einige grundsätzliche Über- faltete, waren nicht allein seine praktischen Er- legungen, in denen er sein Selbstverständnis als fahrungen, sondern auch seine Beobachtungen Musikvermittler darlegte.2 Zu jenem Zeitpunkt, der zeitgenössischen „music appreciation“. Zu- Bernstein war Ende 30, konnte er bereits auf be- mindest einigen ihrer Ausprägungen und An- trächtliche Erfolge als Dirigent und Komponist zu- satzpunkte stand Bernstein durchaus kritisch rückschauen, und er hatte in mehreren Sendun- gegenüber; er empfand sie als „oberflächlich“ gen zur Kultursendung Omnibus Erfahrungen als und „kommerziell“. Bernstein formuliert dies fol- Musikvermittler vor der Kamera gesammelt. Sein gendermaßen: „Jedes Mittel ist recht, Musik zu erstes von insgesamt 53 Young People’s Concerts verkaufen: Verführung, Sprödigkeit, Schmeiche- mit den New Yorker Philharmonikern sollte im lei, Vereinfachung, unterhaltende Belanglosigkeit Januar 1958 folgen. und großartiges Gerede.“3 Von dieser Beobach- tung ausgehend beschreibt Bernstein durchaus In seinem Essay „Speaking of Music“ setzte sich kritisch zwei Ansätze der Vermittlung von Musik. Bernstein mit unterschiedlichen Möglichkeiten Den ersten nennt er „Typ A“: „Type A is the bird-bees-and-rivulets variety, which invokes anything at all under the sun as long as it is extramusical. It turns every note or phrase or chord into a cloud or crag or Cossack. It tells homey tales about the great composers, either spurious or irrelevant. It abounds in anecdotes, quotes from famous performers, indulges itself in bad jokes and unutterable puns, teases the hearer, and tells us nothing about music.“4 „Typ A ist die Vögel-, Bienen- und Bächlein-Art, die sich von allem, was halbwegs klingt, begeistern läßt. Aus jeder Note, jedem Ausdruck, jedem Akkord wird eine Wolke, eine Felsenklippe oder ein Kosak. Man erzählt lauschige Geschichten über große Komponisten, die, wo nicht falsch, so doch belanglos sind. Man ergeht sich in Anekdoten, zitiert berühmte Künstler, schwelgt in schlechten Witzen und faulen Wortspielen, hält die Zuhörer zum besten – und sagt absolut nichts über Musik.“5 –8–
Davon ausgehend beschäftigt sich Bernstein mit der Frage, welche Art von Bedeutungen der Musik häufig zugeschrieben werden. Er unterscheidet vier Arten: 1. erzählend-literarische Bedeutungen, 2. atmosphärisch-bildhafte Bedeutungen, 3. Gefühlsreaktionen wie Schmerz, Sehnsucht, Angst o. ä., wie sie besonders für die Romantik typisch seien, und 4. rein musikalische Bedeutungen.6 Allein dieser vierte Punkt, die „musikalische Ana- lyse“,7 stellt Bernsteins Auffassung nach eine grundsätzlich sinnvolle Möglichkeit der Auseinan- dersetzung mit Musik dar. Bernstein stellt dem beschriebenen „Typ A“ einen zweiten Vermittlungs-Typ als eine Art Gegenpol gegenüber – folgerichtig ist das „Typ B“: „Type B is concerned with analysis – a laudably serious endeavor – but is as dull as Type A is coy. It is the ‚now comes the theme upside down in the second oboe‘ variety. A guaranteed soporific. What it does, ultimately, is to supply you with a road map of themes, a kind of Baedeker to the bare geography of a composition; but again, it tells us nothing about music except those superficial geographical facts.”8 „Im Gegensatz dazu ist Typ B vorwiegend an der Analyse interessiert – ein im Grunde lobenswertes und ernsthaftes Bestreben, aber ebenso langweilig, oder: wie Typ A töricht. Es ist die Art ‚Jetzt kommt das Thema umgekehrt in der zweiten Oboe‘, die in ihrer Fadheit uns eigentlich nur mit einer Landkarte der Themen versieht. Mit einer Art Baedeker also für die kahle Landschaft einer Komposition und, von diesen oberflächlichen geographischen Daten abgesehen, für die Musik auch ebenso nichtssagend.“9 Mit Typ A und Typ B beschreibt Bernstein zwei begeisterungsfähigen Hörern heranzubilden: Möglichkeiten der Vermittlung von Musik, die Während Typ A den Blick auf die Musik durch As- kaum weiter voneinander entfernt sein können: soziationen, unterlegte Bedeutungen oder pau- Anekdoten über Komponisten und Geschichten schale Zuschreibung von Emotionen verstelle, be- zur Musik auf der einen Seite, trockene analyti- trachte Typ B gewissermaßen nur das „Gerippe“ sche Anmerkungen auf der anderen. der Musik, ohne ihren Sinn zu entschlüsseln und ein ästhetisches Hörerlebnis vorzubereiten. Beide hält Bernstein für gleichermaßen unge- eignet, um sein Publikum zu aufmerksamen und –9–
Trotz seiner deutlichen Kritik an beiden Zugängen bewusst bleibt. Sein Vorschlag stellt keine weitere sieht Bernstein aber durchaus Möglichkeiten für Alternative im Sinne eines „Typ C“ dar, sondern eine verbal gestützte Vermittlung von Musik, so- lautet „the happy medium“ – „die goldene Mitte“: fern man sich ihrer Schwierigkeiten und Grenzen „Obviously we can’t use musical terminology exclusively, or we will simply drive the victim away. We must have intermittent recourse to certain extra-musical ideas, like religion, or social factors, or histo- rical forces, which may have influenced music. We don’t ever want to talk down; but how up can we talk without losing contact? There is a happy medium somewhere between the music-appreciation racket and purely technical discussion; it is hard to find, but it can be found.”10 „Offensichtlich können wir uns nicht bloß der Fachsprache der Musik bedienen, ohne den Interessierten abzuschrecken. Deshalb werden wir hier immer wieder solche außermusikalischen Faktoren, wie Reli- gion, gesellschaftliche Verhältnisse, geschichtliche Kräfte zu Hilfe nehmen, die die Musik beeinflussen können. Wir wollen die Dinge nicht durch Vereinfachung verniedlichen. Aber wie anspruchsvoll dürfen wir sein, ohne den Kontakt zu verlieren? Irgendwo zwischen dem „Musikverständnis-Rummel“ und der technischen Diskussion liegt eine goldene Mitte, die schwer zu finden ist, aber doch gefunden werden kann.“11 Was Bernstein hier theoretisch als seine Idee von 1. Beispiel: Omnibus Musikvermittlung formuliert, hat er in der Praxis auf vielfältige Weise und für unterschiedliche An- 1954 folgte Bernstein der Einladung, seine ers- lässe und Zielgruppen realisiert. te Sendung für die Reihe Omnibus zu gestalten. • ab 1954 für Erwachsene der amerikanischen Omnibus wurde 1952 bis 1961 im US-amerikani- bildungsbürgerlichen „middlebrow“-Schicht schen Fernsehen ausgestrahlt und verstand sich der 1950er-Jahre in der Kultursendung als Kultursendung, die hauptsächlich Musik- und Omnibus 12 Theateraufführungen oder Auftritte von Künstler- • für Kinder bzw. Familien in den Young persönlichkeiten und Interviews umfasste. Bern- People’s Concerts (1958–1972, 53 Konzerte) stein hat insgesamt 12 Sendungen für Omnibus • für fachkundige Zuhörerinnen und Zuhörer beigetragen; sieben der Skripte brachte er 1959 in den Harvard Lectures 1973 als seine erste Buch-Publikation The Joy of Mu- sic (dt.: Freude an der Musik) heraus. Als Vorwort In allen drei genannten Formaten scheint Bern- stellte er dem Band seinen geringfügig überarbei- steins Haltung als Musikvermittler durch, wie er teten Aufsatz „Speaking of music“ voran. sie in „Speaking of Music“ skizziert hat. Als Thema seines ersten Beitrags zu Omnibus Ich werde mich im Folgenden anhand von drei Bei- wählte Bernstein Beethovens 5. Symphonie. Er spielen damit beschäftigen, wie Bernsteins Über- griff dabei auf einen Vortrag zurück, den er einige legungen zur „goldenen Mitte“ in der praktischen Jahre zuvor, 1948, mit großem Erfolg vor Teilneh- Umsetzung aussehen. mern des Tanglewood Festivals gehalten hatte.13 – 10 –
Bernstein lässt die Zuschauer seiner ersten Om- Methodisch erreicht Bernstein diesen Einblick nibus-Sendung Zeugen eines „Experiments“ wer- durch eine Vielzahl von kommentierten Klangbei- den. Er verfolgt damit das Ziel, dem Publikum spielen, die der Veranschaulichung dienen, häufig Einblicke in den Kompositionsprozess zu ge- verbunden mit einem unmittelbaren Vergleich. währen. Das Experiment besteht darin, auch von Beethoven verworfenes Skizzenmaterial zu be- Zu Beginn der Sendung befasst sich Bernstein mit trachten, zum Klingen zu bringen und zu zeigen, dem berühmten 4-tönigen Kopfmotiv der Sympho- wie bestimmte Passagen der Symphonie klingen nie. Einleitend stellt er nochmals seine Überzeu- würden, wenn Beethoven sich entschieden hätte, gung dar, dass der Musik zugefügte Geschichten, eine andere seiner Ideen auszuarbeiten. Bern- wie sie aus der „music appreciation“ bekannt sei- stein demonstriert diese Alternativen und bietet en, nicht ausreichend zur Musik selbst hinführen. Begründungen an, warum Beethoven bestimmte In Bezug auf das Kopfmotiv führt Bernstein aus: Ideen verworfen und andere ausgearbeitet hat. „All kinds of fanciful music-appreciation theories have been advanced: that it is based on the song of a bird Beethoven heard in the Vienna woods; that it is Fate knocking at the door; that it’s the trumpets an- nouncing the Judgement Day. And more of the same. But none of these interpretations tells us anything. The truth is that the real meaning lies in all the notes that follow it, all the notes of all the five-hundred measures of music that follow it in this first movement.”14 „Man hat phantastische Theorien entwickelt, um ihre musikalische Wirkung zu erklären: sie ahme das Lied eines Vogels nach, das Beethoven im Wienerwald gehört habe; es sei das Schicksal, das an die Tür klopfe; es seien die Posaunen des Jüngsten Gerichts, und was dergleichen mehr ist. Aber alle diese Erklärungen sagen uns gar nichts. In Wirklichkeit liegt die wahre Bedeutung in all den folgenden Noten – in allen Noten der fünfhundert Takte, die im ersten Satz folgen.“15 Mit diesen Noten – dem Kopfmotiv sowie seiner Daran anschließend nimmt er das Thema Instru- weiteren Verarbeitung – befasst sich Bernstein in mentation auf: Alle Musiker platzieren sich auf der der Sendung ausführlich: Partiturseite bei den Noten, die sie bei einer Auf- führung spielen würden. Die, die am Anfang der Er selbst steht auf einer überdimensionierten Symphonie nicht spielen, schickt Bernstein weg: Partiturseite, die auf dem Boden des Studios auf- Oboe, Fagott, Horn, Posaune und Pauke müssen gemalt ist und den Anfang der Symphonie zeigt. zurück an den linken Rand der Partitur treten. An- Hier platziert Bernstein, der Anordnung einer hand einer Partiturskizze zeigt Bernstein, dass Partiturseite entsprechend, die Orchestermusiker. Beethoven zunächst auch die Flöte besetzt hatte, Zunächst erläutert er daran die Besetzung eines diese Stimme jedoch wieder ausstrich. Die ent- Orchesters und den Aufbau einer Partiturseite. sprechenden Takte werden erst mit, dann ohne Flöte gespielt; auch die Flöte muss an den Rand der Partitur treten. – 11 –
Obwohl Bernstein in dieser ersten Sendung noch 2. Beispiel: Young People’s Concerts – nicht so versiert und souverän vor der Kamera „What does music mean?” agiert wie in späteren, geben diese ersten Minu- ten seiner Beethoven-Sendung einen Eindruck Dass Musik nicht in erster Linie etwas „bedeu- davon, welche persönlichen und fachlichen Vor- tet“ oder außermusikalische Inhalte übermittelt, aussetzungen er mitbrachte. Allem voran dürfte zählt zu Bernsteins tiefsten Überzeugungen und Bernsteins profunde Kenntnis des Werks Voraus- bildet die Grundlage seines Musikverständnisses, setzung für den Erfolg gewesen sein. Er hatte sich seines Musikerseins und seiner Tätigkeit als Ver- nicht nur detailliert mit der Komposition ausein- mittler. Diese Überzeugung machte er im Januar andergesetzt, sondern auch das Skizzenmaterial 1958 zum Thema seines ersten Young People’s studiert, um auch mögliche alternative Versionen Concert, in dem er sich mit der Frage „What does der Komposition vorstellen zu können. Dass Bern- music mean?“16 auseinandersetzte. stein selbst Komponist war, dürfte ihm vor allem in den Passagen der Sendung geholfen haben, Mit den Young People’s Concerts setzte Bernstein in denen er zeigt, wie Beethoven möglicherwei- eine Konzertreihe fort, die bei den New Yorker se weiter komponiert hätte, wenn er bestimmte Philharmonikern bereits eine jahrzehntelange ausgesonderte Ideen realisiert hätte. Seine große Tradition hatte. Neu war jedoch, dass die von Bern- Repertoirekenntnis dürfte immer dann hilfreich stein geleiteten Konzerte von Anfang an im Fern- gewesen, sein, wenn er scheinbar mühelos Bezü- sehen übertragen wurden und daher einen weit ge zu anderen Werken Beethovens oder auch zu über den Rahmen des Konzertsaals hinausgehen- anderen Komponisten und zu anderen musikali- den Zuschauerkreis erreichen konnten. Bernstein schen Genres herstellt. selbst wählte für die Young People’s Concerts die Werke und Themen aus und verfasste die Manu- In seinen Ausführungen zu den ausgewählten skripte. Seine Moderationstexte wurden im Team Werken zeichnet Bernstein ein Geschick darin diskutiert, ergänzt, überarbeitet; schließlich lern- aus, auch für das Verständnis notwendige Grund- te Bernstein sie für die Präsentation im Konzert lagen einfließen zu lassen, ohne sich damit zu auswendig. lange aufzuhalten oder belehrend zu wirken (wie beispielsweise den Aufbau einer Partitur). Damit Jedes der 53 Young People’s Concerts steht unter verbunden ist ein sicheres Gespür dafür, wann einem Thema, beispielsweise Instrumentation, grundlegende Erläuterungen notwendig sind. Sonatenhauptsatzform oder Amerikanische Mu- sik; einige Konzerte sind bestimmten Kompo- Auf unterschiedliche Weise gelingt es Bernstein, nisten gewidmet; in einer besonderen Reihe in- an Vorkenntnisse des Publikums anzuknüpfen nerhalb der Young People‘s Concerts eröffnete oder dem Publikum Bekanntes anzusprechen, oft, Bernstein unter dem Titel Young Performers jun- um dieses Wissen dann inhaltlich zu wenden, zu- gen Künstlern die Möglichkeit, sich auf der Bühne zuspitzen oder mit neuen Bedeutungen bzw. Infor- zu präsentieren. mationen zu verbinden. Dies betrifft sowohl ver- breitete Erklärungen wie „das Schicksal klopft an Mit „What does music mean?“ warf Bernstein eine die Tür“ wie auch die Bezugnahme auf bekannte Frage auf, mit der er sich in verschiedenen Zu- Werke oder Titel der Popularmusik. sammenhängen befasst hat. Das Konzert beginnt – 12 –
mit einem Ausschnitt aus der Ouvertüre zu Gioa- pult zum Moderator ans Klavier, wo er Beispiele chino Rossinis Wilhelm Tell. Dieses Stück ist in- erklingen lässt, die es ermöglichen, das Erklärte sofern geschickt gewählt, als ein großer Teil des im Hören nachzuvollziehen. Bernstein tritt hier als Publikums Teile der Ouvertüre als Titelmelodie ein Vermittler auf, der auf vielfältige Weise einge- der populären Western-Fernsehserie The Lone bunden ist in das Geschehen. Er ist kein Vermittler Ranger kannte, die 1949–1957 im US-amerikani- „von außen“, sondern als Vermittler und Musiker schen Fernsehen erstausgestrahlt wurde, und so- unmittelbar involviert. mit unmittelbar die musikalische Erfahrungswelt des Publikums adressierte.17 Die Rossini-Ouvertüre diente Bernstein nicht nur dazu, mit einem aller Wahrscheinlichkeit nach im Bernstein benötigt nur wenige Minuten, um seine Publikum bekannten Stück das Konzert zu eröff- Haltung zur Frage „What does music mean?“ auf nen und damit von Anfang an die Aufmerksamkeit vielfältige Weise vorzustellen. der Konzertbesucher zu gewinnen. Er greift die Ouvertüre in der Folge nochmals auf, um musik- • er zerstreut die Vorstellung, dass es sich bei immanente Aspekte zu thematisieren und rhyth- dem Ausschnitt aus der Ouvertüre um Film- mische und melodische Strukturen aufzuzeigen. musik für The Lone Ranger handeln könnte, • er demontiert die Vorstellung, dass Musik Daran anschließend verdeutlicht er an mehreren Geschichten erzählt musikalischen Beispielen seine These, dass es • er präsentiert drei Beispiele unterschied- in der Musik ausschließlich um die Musik selbst licher musikalischer Genres, die ihm als gehe – auch wenn Komponisten ihren Werken Ti- Belege dafür dienen, dass Musik nichts be- tel gegeben haben oder außermusikalische Be- deutet, nämlich das Nocturne, op. 15 Nr. 3 züge nahegelegt werden. In einer Art Experiment Fis-Dur von Frédéric Chopin, den Anfang führt er dem Publikum vor, dass Musik mehrdeu- des Kopfsatzes von Beethovens Klavierso- tig, vielfach interpretierbar und erlebbar und offen nate, op. 53 („Waldstein“) und einen Boogie für unterschiedlichste Assoziationen und Emotio- Woogie nen ist. Zu Ausschnitten aus Richard Strauss’ Don • er zeigt, dass es in der Musik um die Ver- Quichote erfindet er eine Geschichte über Super- bindung von Tönen, Klängen und Klangfar- man – auch die Wahl dieser Figur lässt sich als ben geht: dies veranschaulicht er, indem er Lebenswelt-Bezug verstehen, wie am Anfang des nacheinander mehrere Instrumente densel- Konzerts zum Lone Ranger. Zu denselben Aus- ben Ton spielen lässt, um die unterschied- schnitten erzählt er anschließend eine Geschich- lichen Klangfarben hörbar zu machen te von Don Quichote, um zu demonstrieren, dass es möglich ist, mit ein und derselben Musik ganz Bereits in den ersten Minuten erhält man Einblick unterschiedliche Handlungen zu assoziieren.18 in das methodisch vielfältige Repertoire Bern- steins: Die Einbeziehung von bekannten Werken Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von und von Stücken unterschiedlicher musikalischer Musik, zu der Bernstein im Verlauf des Konzerts Genres ermöglicht es ihm, an Hörgewohnheiten gelangt, ist vielleicht am deutlichsten in einem und an musikalische Lebensrealitäten anzuknüp- kurzen Passus im handschriftlichen Manuskript fen. Versiert wechselt Bernstein vom Dirigenten- formuliert, der in der Überarbeitung getilgt wurde: – 13 –
„Listen carefully, because this may be a little hard to understand. All the real meanings in music are musical meanings, – that is the music means itself. The way its notes are put together. And all the joy or pain or whatever it is is in the way the music moves from one note to another.”19 Diese Überzeugung hatte er auch schon in seiner phonie vertreten. Dort hieß es im Zusammenhang ersten Omnibus-Sendung zu Beethovens 5. Sym- mit dem Kopfmotiv der Symphonie: „The truth is that the real meaning lies in all the notes that follow it, all the notes of all the five-hundred measures of music that follow it in this first movement.”20 3. Beispiel: Harvard Lectures 1973 – 25 Jahre später – kehrte Bernstein an sei- The unanswered Question. Darin befasste er sich ne Alma Mater, die renommierte Harvard Univer- ausgehend von Noam Chomskys linguistischen sity zurück, um dort im Rahmen der berühmten Theorien mit theoretischen Grundlagen der Musik Charles-Eliot-Norton Lectures sechs öffentliche und ihrer Beziehung zur Linguistik: Vorlesungen zu halten. Die Vorlesungsreihe sollte ursprünglich Archäologen einen Rahmen bieten, 1. Musical Phonology / Musikalische Lautlehre ihr Fachgebiet einer breiteren Öffentlichkeit vor- 2. Musical Syntax / Musikalische Syntax zustellen, öffnete sich jedoch bald schon für an- 3. Musical Semantics / Musikalische Bedeu- dere Disziplinen wie Kunstgeschichte oder Litera- tungslehre turwissenschaft. Zu den Gästen der Reihe zählten 4. The Delights and Dangers of Ambiguity / Die auch Künstlerpersönlichkeiten, die neben ihren Wonnen und Wehen der Zweideutigkeit künstlerischen Arbeiten auch durch theoretische 5. The Twentieth Century Crisis / Die Krise des auf sich aufmerksam gemacht hatten, darunter 20. Jahrhunderts beispielsweise T. S. Eliot, Thornton Wilder, E. E. 6. The Poetry of the Earth / Die Poesie der Erde Cummings und andere. Aus der Musik waren vor Bernstein bereits drei Komponisten zu Gast gewe- In der dritten der Vorlesungen nahm Bernstein sen: Igor Strawinsky, Paul Hindemith und Aaron unter dem Titel „Musical Semantics“ / „Musika- Copland (allen dreien hatte Bernstein übrigens lische Bedeutungslehre“ noch einmal die Frage auch je ein Young People’s Concert gewidmet). nach der Bedeutung von Musik auf, der er sich bereits in seinem ersten YPC gewidmet hatte. Da- Bernstein betitelte seine Vorlesungen in Anleh- rauf verweist Bernstein selbst im Rahmen seiner nung an Charles Ives‘ Orchesterkomposition mit Lecture. „…und die Antworten, die ich darauf gebe, haben sich nicht sehr verändert. Aber ich glaube, daß ich sie jetzt etwas anspruchsvoller formulieren kann, besonders hier, wo ich einem anspruchsvolleren Publi- kum gegenüberstehe.“21 – 14 –
Bernstein folgt in seiner Vorlesung einer klar for- mulierten Überzeugung: „Musik hat eine ihr eigene, aus ihrem Inneren kommende Bedeutung, die man nicht mit bestimmten Gefühlen oder Stimmungen verwechseln darf, und schon gar nicht mit bildlichen Eindrücken oder einer beschreibenden Handlung. Diese aus dem Inneren kommende Bedeutung wird durch einen unaufhör- lichen Fluß von Metaphern erzeugt; alle diese Metaphern sind Erscheinungsformen poetischer Um- wandlungen. Das ist meine These.“22 Bernstein unterscheidet drei verschiedene Arten sie ganz offenkundig dem zweiten Typ von Meta- von Metaphern :23 phern zuzuordnen ist, also eine vom Komponisten nahegelegte Beziehung zwischen der Musik und 1. Musikimmanent verstanden beschreiben außermusikalischen Bedeutungen bestehe. Bern- Metaphern Verwandlungen des musikali- stein versucht in der Lecture darzulegen, dass es schen Materials. trotz der außermusikalischen Bezüge möglich sei, 2. Bei der „äußerlichen“ Metapher ist der mu- diesen Metapherntyp auszublenden und sich der sikalische Sinn auf außermusikalische Be- musikimmanenten Metapher zuzuwenden. Nach deutungen bezogen, beispielsweise in Beet- hinführenden Bemerkungen zur Symphonie ver- hovens Pastorale. meidet er es ausdrücklich, sie als Pastorale zu 3. Unter „analogen Metaphern“ versteht Bern- bezeichnen, um den Gedanken an außermusika- stein den Vergleich zwischen der Musik in- lische Bezüge zu unterbinden und die Konzent- newohnenden Metaphern mit sprachlichen ration auf die Komposition zu lenken. Ausführlich Gegenstücken. skizziert Bernstein motivisch-thematische „Ver- wandlungen“, die er als Ausprägungen von Meta- Eines der zentralen Beispiele der 3. Lecture ist phern auffasst. Daran demonstriert er seine Auf- Beethovens Pastorale. Bernstein erwähnt, dass fassung von musikalischer Bedeutungslehre: „Ein Musikstück ist eine dauernde Verwandlung des vorgegebenen Materials durch Umwandlungsvor- gänge […]. Näher vermag ich die musikalische Semantik, die musikalische Bedeutungslehre, nicht zu bestimmen.“24 Die Metapher hilft ihm zu erklären, warum das An- hung zwischen dem Gesagten und dem im über- hören eines Musikstücks unterschiedliche, sub- tragenen Sinne Gemeinten besteht in der Ähnlich- jektive Empfindungen hervorrufen kann, die den keit. Damit sind sie offen für Mehrdeutigkeit – und Intentionen eines Komponisten entsprechen kön- für unterschiedliche Rezeptionsschwerpunkte. nen, aber nicht müssen. Metaphern bezeichnen Bernstein kann so erklären, warum die Intention eine Übertragung, eine Übersetzung; die Bezie- eines Komponisten sich von der individuellen Re- – 15 –
zeption eines Zuhörers unterscheiden kann, ohne gruppen aufzubereiten vermag: Im Young Peo- dass ein Konflikt zwischen Komponist und Rezi- ple‘s Concert belegt Bernstein seine These, dass pient entstehen muss. 25 die Musik selbst keine konkrete semantische Be- deutung hat, durch eine Reihe von klanglich nach- Auch in seinem ersten Young People‘s Concert vollziehbaren, veranschaulichenden Beispielen. „What does music mean?” hatte Bernstein über In der Harvard Lecture steht eine umfangreiche Beethovens Pastorale gesprochen. Ähnlich wie in Analyse musikimmanenter Vorgänge – „Verwand- dem erwähnten Experiment, der Musik zu Richard lungen“ – im Zentrum, die Bernstein in Bezug zu Strauss‘ Don Quichote eine erfundene Geschichte linguistischen Theorien entfaltet. Auch hier inte über Superman zu unterlegen, schlägt er alterna- griert er zahlreiche Klangbeispiele, die es ermög- tive Beschreibungen zu Beethovens Symphonie- lichen, seine Ausführungen auch hörend zu über- sätzen vor. Das Gefühl von Heiterkeit, das Beet- prüfen. hoven „Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“ nennt, könnte, so Bern- Das Anliegen seiner Ausführungen zielt hier wie stein, beispielsweise auch durch eine Überschrift da darauf, sich auf die „symphonischen Verwand- wie „Glückliche Gefühle, weil mein Onkel mir eine lungen“28 zu konzentrieren. Ähnlich wie im Young Million Dollar hinterlassen hat“ hervorgerufen People‘s Concert „What does music mean?“ ent- werden. Entscheidend sei das durch die Musik, lässt Bernstein auch in der Lecture das Publikum durch die Bewegung der Töne hervorgerufene Ge- mit einem Hörauftrag: Er bittet seine Zuhörer sich fühl – nicht die zugefügte Überschrift. Nicht das darum zu bemühen, nur der Musik selbst zu fol- Landleben oder ein fließender Bach werden in der gen und keinen „außermusikalischen“ Geschich- Musik dargestellt, sondern eine Stimmung. Ent- ten oder klischeehaften Bildern nachzuhängen. sprechend teilt auch Gustav Nottebohm aus Beet- Hier wird besonders deutlich, welches spezifische hovens Skizzen mit, Beethoven habe über die Pas- Anliegen Bernstein im Sinn hat: Es geht um nicht torale geäußert, sie sei „keine Malerey, sondern weniger als um eine Veränderung des Hörver- worin die Empfindungen ausgedrückt sind“.26 Und haltens und um die Unterstützung darin, neue, an anderer Stelle: „Man überlässt es dem Zuhö- der Musik adäquate Hörgewohnheiten zu entwi- rer, die Situationen auszufinden. […] Wer auch je ckeln.29 Adäquates Hören im Sinne des Komponis- nur eine Idee vom Landleben erhalten, kann sich ten, Dirigenten, Pianisten und Vermittlers Leonard ohne viele Überschriften selbst denken, was der Bernstein meint ein allein auf die Entwicklungen Autor will.“ 27 der Musik bezogenes Hören, wie er es auch den Zuhörern seines ersten Young People’s Concert Die Beispiele zur Pastorale machen deutlich, wie empfiehlt: Bernstein ein Thema für unterschiedliche Ziel- „Lehnt euch zurück, entspannt euch und genießt, lauscht auf die Töne; spürt, wie sie sich bewegen, wie sie springen, hüpfen, tanzen, glitzern und gleiten – freut euch einfach darüber. Die Bedeutung der Musik liegt in der Musik selbst und sonst nirgends.“30 – 16 –
QUELLENNACHWEIS 1 Eine überarbeitete Fassung dieses Vortrags ist zwischenzeitlich erschienen in neue musikzeitung (nmz), H. 7/8, 2018, S. 19-20 / www.nmz-online.de 2 Leonard Bernstein: „Speaking of Music“, in: The Atlantic Monthly 200/6 (1957), S. 104-106; in deutscher Übersetzung: Leonard Bernstein: „Von der goldenen Mitte“, in: ders., Freude an der Musik, 3. Auflage, München 1982, S. 9-15. 3 Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 12. 4 Bernstein, „Speaking of Music“, S. 105. 5 Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 12. 6 Vgl. Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 14. 7 Ebd. 8 Bernstein, „Speaking of Music“, S. 105. 9 Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 12-13. 10 Bernstein, „Speaking of Music“, S. 106. 11 Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 14/15. 12 Andreas Eichhorn: „Omnibus: Leonard Bernstein als Musikvermittler“, in: Musik wissenschaftlich – pädagogisch – politisch. Festschrift für Arnold Werner-Jensen zum 70. Geburtstag, hrsg. von Stefan Zöllner-Dressler und Christoph Khittl (= Heidelberger Hochschulschriften zur Musikpädagogik 4), Essen 2014, S. 25-36, hier: S. 25. 13 Vgl. Peter Gradenwitz: Leonard Bernstein. Unendliche Vielfalt eines Musikers, Zürich 1984, S. 73. 14 Leonard Bernstein: The Joy of Music, New York / NY 1959, S. 74. 15 Leonard Bernstein: „Beethovens Fünfte Symphonie“, in: ders., Freude an der Musik, 3. Auflage, München 1982, S. 67-86, hier: S. 68. 16 Leonard Bernstein, Young People’s Concerts Vol. I, DVD, Kultur D1503, Disc 1; der Anfang auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=rxwWlQNGeKE 17 Entsprechende Anknüpfungspunkte suchte Bernstein in den Young People’s Concerts auf unterschiedliche Weise, beispielsweise auch durch Einbindung von Musikbeispielen aus dem Bereich der Popularmusik, vgl. Alicia Kopfstein-Penk: Leonard Bernstein and His Young People’s Concerts, Lanham (Md.) u. a. 2015, S. 62-64. 18 Vgl. Leonard Bernsteins Young People’s Concerts for Reading and Listening, New York 1962, S. 11-35; deutsche Ausgabe: Leonard Bernstein: Konzert für junge Leute. Die Welt der Musik in 15 Kapiteln, München 2007, S. 17-41. 19 Bernstein, Leonard. Young People‘s Concerts Scripts: What Does Music Mean? pencil on yellow 1-11, regular, 12-17, legal. Manuscript/Mixed Material. Retrieved from the Library of Congress, . Hier: S. 16. 20 Bernstein, The Joy of Music, S. 74. 21 Leonard Bernstein: Musik, die offene Frage, 3. Auflage, München 1985, S. 138. 22 Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 138. 23 Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 138f. 24 Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 155. 25 Vgl. Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 143; dazu auch Sven Oliver Müller: Leonard Bernstein. Der Charismatiker, Ditzingen 2018, S. 192. 26 Gustav Nottebohm: Zweite Beethoveniana: Nachgelassene Aufsätze, Leipzig 1887, S. 504. 27 Ebd., S. 375. 28 Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 186. 29 Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 186/87. 30 Bernstein, Konzert für junge Leute, S. 41. – 17 –
Hendrikje Mautner-Obst Studien Schulmusik, Germanistik, Musikwissen- schaft, Philosophie. 2006 Lehrauftrag für Musik- vermittlung in Stuttgart und Klagenfurt. Seit 2012 Professorin für Kulturvermittlung / Musiksoziolo- gie an der Musikhochschule Stuttgart. Seit 2017 Prorektorin für Internationales und Interkulturelle Kommunikation. Fotos: Lukas Beck – 18 –
DIE KUNST DER VERMITTLUNG Constanze Wimmer im Gespräch mit Lilian Genn, Désirée Hornek und Markus Poschner und Fragen aus dem Publikum im Rahmen des Symposiums „Musik – Die offene Frage. Ein Tag für Leonard Bernstein“, Musikverein Wien, 6. Juni 2018 Constanze Wimmer: Ich darf mein Podium guten Überblick über das europäische Musikver- vorstellen: Markus Poschner ist seit vorigem mittlungsleben. Herbst Chefdirigent des Bruckner Orchesters Linz, er ist Opernchef des Musiktheaters und Chefdiri- Lilian Genn ist freischaffende Musikvermittlerin gent des Orchestra della Svizzera Italiana. Gerade und Bewegungspädagogin. Sie konzipiert im Mu- seid ihr mit dem Bruckner Orchester Linz zurück sikverein wunderbare Kinder- und Jugendkon- von einer umjubelten Großbritannien-Tournee mit zerte zu Schubert oder Mozart. Weiters ist sie mit Mahlers Zweiter Symphonie. Vielen Dank, dass Du den „Schurken“ unterwegs, mit diesem Ensemble heute da sein kannst. tourt sie durch ganz Europa. An der Kunstuniver- sität in Graz und an der Musik und Kunst Privat- Désirée Hornek ist der Gesellschaft der Musik- universität kümmert sie sich um die Bühnenprä- freunde schon seit 1979 verbunden und seit es senz und die Körperarbeit von jungen Musikern. Kinderkonzerte im Musikverein gibt – seit 1989 – zeichnet sie dafür verantwortlich. Später wurde Hier möchte ich gerne gleich einsteigen. Wenn Du das Angebot um Jugendkonzerte und Schulkon- Dir diese Omnibus Lecture mit Leonard Bernstein zerte erweitert, 2005 dann auch um Familienkon- ansiehst1 – er war noch ein sehr junger Musiker – zerte. Sie vertritt die Gesellschaft der Musikfreun- was würdest Du ihm raten, wenn er zu Dir käme, de bei den Education Meetings der European was könnte er an seiner Bühnenpräsenz noch ver- Concert Hall Organisation: sie hat also einen sehr bessern? – 19 –
Lilian Genn: Er hat sich eindeutig verändert über die Jahre. Seine Kopf- und Körperhaltung wirkt fast ein bisschen schüchtern. Aber als Ge- samtperson ist er sehr einnehmend und authen- tisch und pur und lebendig. Da würde ich gar nichts raten. Constanze Wimmer: Markus Poschner, Du hast in einem Interview kurz vor Deinem Start in Linz gesagt: „Wenn die, die wir einladen wollen, nicht kommen, dann liegt die Schuld nicht bei bei uns! Es geht nicht darum, etwas nicht zu ver- denen.“ Das hat mich sehr beeindruckt, weil es stehen oder verstehen zu müssen, es geht letzt- unser Mindset umkehrt, dass junge Leute nicht endlich um mich selbst. Es ist wie ein Kranken- mehr ins Konzert gehen, weil sie sich nicht für haus für die Seele. Das Konzert ist etwas, wo es Klassik interessieren und in der Schule zu wenig um mich geht, wo ich genesen kann, etwas lernen Musik unterrichtet wird. Es bedeutet eine völlige oder mich auch einfach nur unterhalten kann. Und Umkehrung der „Schuld“, diese liegt jedenfalls ich glaube, diese Einladung ist nicht ausgespro- nicht beim Publikum, das nicht kommt. Wer fühlt chen. Wir haben im Jahr 2018 viele Möglichkeiten, sich denn eingeladen in Konzerte, und wer fühlt auch technisch, Einladungen auszusprechen, um sich nicht eingeladen? diese Niederschwelligkeit zu zeigen: „Kommt! Ihr könnt nichts verlieren, ihr könnt nur gewinnen.“ Markus Poschner: In einem Satz ist das völlig unmöglich zu beantworten. Ich glaube, die Schwel- Constanze Wimmer: Das Ereignis Bernstein le zum Konzert kann unter Umständen sehr hoch war damit verbunden, dass es plötzlich Fernse- sein. Da kommt man nicht so leicht drüber. Sei es hen gab und sich altersübergreifend die Familie finanziell, weil das Ticket so teuer ist, oder weil gemeinsam vor einem Bildschirm versammelte. „Konzert“ Angst-besetzt ist, weil ich mich dort Damit war es möglich, ein großes Publikum anzu- falsch verhalten könnte, oder weil ich Sorge habe, sprechen. Bernstein hat die Technik dazu verwen- nicht zu verstehen um was es eigentlich geht. Viel- det, etwas aussagen und ausdrücken zu wollen. leicht auch, weil es nicht meine Community ist, in Heute bekommt hingegen das analoge Live-Er- der ich mich wiederfinde. Das klassische Konzert lebnis eine völlig neue Bedeutung. gehört den Anderen, den Etablierten, den Älteren, vielleicht auch einer Elite. All das ist sehr bedau- Markus Poschner: Es ist nicht ersetzbar. Es erlich. Es gibt ein Zitat von Leonard Bernstein: „Es ist eine Form, die seit Jahrtausenden funktioniert. gibt immer und überall noch Menschen, die nicht Vielleicht haben wir beim Lagerfeuer begonnen, Beethovens Fünfte gehört haben“. Es muss unse- ein Ritual zu feiern, um das Feuer zu tanzen, uns re Aufgabe sein, auch nach draußen zu gehen. Geschichten zu erzählen, Gemeinschaft zu er- Als Orchester brauchen wir einen Konzertsaal, leben, zu singen und zu trommeln. Es ist etwas, wir sind abhängig von guter Akustik. Aber es gibt was uns zu Gemeinschaft, zu Gesellschaft, letz- viele andere Möglichkeiten. Aber ich glaube, wir ten Endes zu Menschen macht. Heute haben wir müssen einladen. Und: Man kann etwas erleben Hightech-Konzertsäle, die natürlich stark kon- – 20 –
notiert sind, also auch furchteinflößend sind und se nach Prag, die 1787 wirklich stattgefunden nicht von jedem zu betreten. Aber das, was wir da- hat, haben wir zum Ausgangspunkt genommen, rin anzubieten haben, ist nicht verhandelbar. Was um mit den Kindern in einer Kutsche quasi nach es für jeden bedeuten kann, das muss er selbst Prag zu reisen. Was bei dem Projekt besonders entscheiden. Ich muss die Menschen in eine gut funktioniert hat und gleichzeitig eine Heraus- Hör-Position manövrieren können, muss ihnen forderung war, war vor allem die Musiker aus dabei helfen, sie an der Hand nehmen, sie vor das ihrem gewohnten Dasein herauszubringen. Wir Kunstwerk hinschubsen. Dann tut das Kunstwerk haben Orchestermusiker aus der Gruppe gelöst, das Seinige und ich muss das Publikum dann da- sie solistisch auftreten lassen sie aus dem Pub- bei alleine lassen. likum heraus spielen lassen. Wir haben mit we- nigen Mitteln eine Kutsche nachgebaut, um diese Reise noch einmal zu erleben. Es ging uns darum, den Kindern den Eindruck zu vermitteln, dass sie die Prager Symphonie wirklich live zum allerers- ten Mal hören. In das Werk selbst haben wir nicht eingegriffen. Constanze Wimmer: Bei Bernstein merkt man seine große Lust, auf der Bühne zu stehen und mit dem Publikum zu kommunizieren. Er nahm selbst an Schauspielaufführungen oder an Lesungen teil Constanze Wimmer: Vor das Kunstwerk Hin- – wie weit ist es eigentlich notwendig, in der Mu- schubsen ist ein schönes Bild. Lilian Genn, Du sikvermittlung Lust am Theater, Lust am Spiel auf schubst viele junge Leute zu Schubert oder Mo- der Bühne zu haben? zart. Was inspiriert Dich, wenn Du ein Kinderkon- zert planst? Was sind Deine Ausgangspunkte, Dei- Lilian Genn: Ich denke, das ist wirklich perso- ne Ausgangsfäden, die Du zu einer Dramaturgie nenabhängig. Manche bringen diese Farbe und verknüpfst? Freude für das Genre mit. Dann ist es ein weiteres Talent, das wachgekitzelt werden möchte und ein Lilian Genn: Es sind immer die jeweiligen Wer- wunderbares Zusatzinstrument. Ich glaube nicht, ke, die gerade vom Orchester gespielt werden. In dass es notwendig ist, um ein guter Musikver- den beiden Fällen, die du ansprichst, waren es mittler zu sein oder als Musiker sehr präsent zu Projekte mit den Wiener Symphonikern, die ich sein. Es ist ein dienliches Instrument. Also sollte mit der Musikvermittlerin der Wiener Symphoni- es auch in unseren Ausbildungsstätten für die Mu- ker Bettina Büttner-Kramer gemeinsam entwi- sikstudierenden ein Angebot sein, damit sie sich ckelt habe. Es wurde Mozarts Prager Symphonie weiterbilden können. Weil oft weiß man es ein- gespielt oder Schuberts Dritte Symphonie. Wir fach nicht, woher denn auch? Wenn man ein Le- haben also ein Konzert für den Musikverein ent- ben lang sein Instrument studiert hat, weiß man wickelt, der ohnehin ein geschichtsträchtiger Ort vielleicht nicht, dass man auch ein komisches Ta- ist, und wir haben uns deshalb entschlossen, es lent hat oder gern vor Publikum spricht. Da gibt es ein bisschen historisch zu machen. Mozarts Rei- ganz viel Potential zu heben. – 21 –
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