"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein

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"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein
„MUSIK –
 DIE OFFENE FRAGE.
    EIN TAG FÜR
LEONARD BERNSTEIN“.

 Symposium zur Musikvermittlung
Anlässlich des 100. Geburtstags von
           Leonard Bernstein

                                    GESELLSCHAFT
                                    DER MUSIKFREUNDE
                                    IN WIEN

Mittwoch, 6. Juni 2018
Gläserner Saal / Magna Auditorium
Wiener Musikverein
"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein
„MUSIK – DIE OFFENE FRAGE.
EIN TAG FÜR LEONARD BERNSTEIN“

Symposium zur Musikvermittlung

Beiträge
3    Begrüßung
     Dr. Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

5    Einführung in das Thema
     Constanze Wimmer, Kuratorin des Symposiums

8    Leonard Bernstein als Musikvermittler
     Vortrag von Hendrikje Mautner-Obst

19   Die Kunst der Vermittlung
     Constanze Wimmer im Gespräch mit Lilian Genn, Désirée Hornek und Markus Poschner
     Im Anschluss: Diskussion mit Publikum

     Leonard Bernstein: Lifelong Communicator
     Jamie Bernstein
     Vortrag auf dem Youtube-Kanal des Wiener Musikvereins
     https://www.youtube.com/watch?v=urmbEztsk3A&feature=youtu.be

29   Besucherinnen & Besucher von klassischen Konzerten. Aktuelle empirische Befunde
     Vortrag von Michael Huber

36   Hör-Pfade in ein Musikstück
     Constanze Wimmer im Gespräch mit Thomas Höft, Helmut Schmidinger und Emmanuel Tjeknavorian
     Im Anschluss: Diskussion mit Publikum

     Podiumsdiskussion
     Wie viel Vermittlung braucht die Musik?
     Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
     Jamie Bernstein, Musikvermittlerin
     Elisabeth Gutjahr, Rektorin der Universität Mozarteum
     Albert Landertinger, Musikvermittler
     Cornelius Meister, Dirigent
     Ulla Pilz, Moderation

     Text dieser Podiumsdiskussion ist ab September 2018 verfügbar.

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"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein
BEGRÜSSUNG

Dr. Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft
der Musikfreunde in Wien

Sehr geehrte Symposiumsteilnehmerinnen und –teilnehmer,

ich darf Sie alle sehr herzlich hier im Gläsernen         für Leonard Bernstein war es geradezu Bedin-
Saal des Musikvereins bei „Musik – die offene             gung, dass die Konzerte auch der Jugend zugäng-
Frage. Ein Tag für Leonard Bernstein“ begrüßen            lich gemacht wurden. Auf diese Art und Weise kam
– und einige persönliche Worte zu Leonard Bern-           das Jeunesse-Publikum jedes Jahr in den Genuss
stein vorausschicken:                                     eines Konzertes unter der Leitung von Leonard
                                                          Bernstein, für mich als Generalsekretär war das
Als Generalsekretär der Jeunesse Musicale hatte           eine große Freude. Höhepunkt der Jeunesse-Zu-
ich erstmals mit Leonard Bernstein beruflich zu           sammenarbeit war eine Reise mit dem Jeunesse
tun. Bernstein dirigierte Ende der 70er Jahre des         Chor nach Hiroshima, zum Hiroshima Peace Con-
vorigen Jahrhunderts alljährlich mit den Wiener           cert im Jahr 1985, anlässlich der 40. Wiederkehr
Philharmonikern Filmaufnahmen seiner Konzer-              des Atombombenabwurfs in Hiroshima.
te. Bei den alten 16-mm-Kameras mussten noch
in kurzen Abständen die Kassetten gewechselt              Ich kann Ihnen sagen, ohne Leonard Bernstein
werden, das konnte man einem voll zahlenden               wäre ich möglicherweise nicht hier, nicht in die-
Publikum kaum zumuten. So wurden die Konzerte             ser Position. Meine Liebe zur Musik wurde durch
auch der Jeunesse angeboten, die Philharmoniker           ihn beflügelt, durch seine Konzerte, durch die Ge-
waren dankenswerterweise einverstanden – und              spräche, die ich mit ihm führen durfte. Und natür-

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lich durch die Tatsache, dass ich, wie viele junge           Eine letzte kleine Geschichte möchte ich noch
Leute, als Kind seine Young People’s Concerts be-            erzählen – zu Herbert von Karajan und Leonard
kommen habe – als Buch mit so kleinen schwar-                Bernstein. Als Karajan im Sommer 1989 gestor-
zen Schallplatten drin mit 45 Umdrehungen – das              ben war, bin ich zu Leonard Bernstein gefahren –
alles hat mich begeistert! Meine Liebe zu Gustav             zu diesem Zeitpunkt war ich bereits hier im Musik-
Mahler wurde durch Bernstein geweckt, die Liebe              verein als Generalsekretär verantwortlich – und
aber auch zur Musik von Schostakowitsch und Si-              habe ihn gebeten, ob er nicht das Gedenkkonzert
belius – er hat ja mit den Wiener Philharmonikern            für Herbert von Karajan dirigieren möchte. Im Ok-
zum Schluss einen Schostakowitsch-Sibelius Zyk-              tober davor hatte er nämlich Herbert von Karajan
lus begonnen und hat diese beiden Komponisten                im Musikverein getroffen, nach langen Jahren das
in Wien erst wirklich heimisch gemacht. Genau-               erste Mal wieder: denn am 1. Oktober 88 spielten
so ist ihm die Mahler-Renaissance zu verdanken,              die Wiener Philharmoniker mit Leonard Bernstein
Bernstein hat das Kulturleben Wiens unglaublich              im Goldenen Saal, am 3. Oktober die Berliner
bereichert.                                                  Philharmoniker mit Herbert von Karajan. Bern-
                                                             stein hat zugesagt, obwohl das damals keine ein-
Und auch Bernsteins eigene Werke sind mir ans                fache Zeit in Österreich war – Kurt Waldheim war
Herz gewachsen: Auf der Hiroshima Peace Con-                 Präsident und Leonard Bernstein Ehrendirigent
cert Tour haben wir einige Male Kaddish gehört,              von Israel Philharmonic auf Lebenszeit. Bernstein
sie wurde in Budapest, Athen, Hiroshima und                  ist aber selbstverständlich gekommen und hat die
in Wien aufgeführt – ungemein beeindruckend!                 Gedenkstunde für Karajan musikalisch geleitet.
Wenn wir heuer im Jahr des 100. Geburtstages
von Leonard Bernstein hier im Musikverein einen              Noch ein Tipp zum Abschluss: Wenn Sie einmal
Schwerpunkt setzen mit der Aufführung seiner                 Zeit und Muße haben, versuchen Sie Folgendes
Symphonien Jeremiah, Age of Anxiety und Kad-                 – ich mache das gelegentlich, wenn ich leichte
dish – diese Aufführungen haben bereits stattge-             Depressionen habe, wenn mir zu viele Künstler
funden –, morgen kommen die Chichester Psalms                gleichzeitig absagen, dann gehe ich auf YouTube
und die Symphonic Dances aus West Side Story                 und schaue mir Haydns Symphonie Nr. 88 an mit
dazu, im Herbst wird die Serenade aufgeführt                 Leonard Bernstein, wo er den vierten Satz mit den
und gemeinsam mit der Musikalischen Jugend                   Wiener Philharmonikern nur mit den Augen diri-
Österreichs Mass, so rundet sich das Bild ab. Die            giert, mit Schulterbewegungen, mit minimalen
Konzerte sind alle prominent besetzt, Leonard                Bewegungen – da weiß man wieder, wie begeis-
Bernstein hatte hier im Musikverein ja eine mu-              ternd Musik sein kann und wie begeisternd Musik
sikalische Heimat. Schauen Sie sich in der Pause             vermittelt werden kann.
die kleine Foto-Ausstellung zu Leonard Bernstein
an – er hat hier nicht nur Spuren hinterlassen, er           In diesem Sinne darf ich Ihnen einen schönen Tag
hat das Musikleben dieser Zeit maßgeblich beein-             wünschen, einen interessanten, einen bereichern-
flusst. Und es ist sicher nicht zu viel gesagt, dass         den Tag und darf vor allem Jamie Bernstein, die
er ganze Generationen von jungen Leuten zur Mu-              Tochter von Leonard Bernstein, als Ehrengast
sik gebracht und Musik populär gemacht hat. Ich              herzlich begrüßen. Sie wird um 14 Uhr einen eige-
persönlich habe ihn unendlich verehrt.                       nen Vortrag halten. Herzlich willkommen!

Foto: Lukas Beck

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EINFÜHRUNG IN DAS THEMA

Constanze Wimmer, Kuratorin des Symposiums

Jeder meiner Kollegen und jede meiner Kollegin,           posiums Leonard Bernstein als den Impulsgeber
dem oder der ich erzählte, dass wir ein Symposi-          unserer Musikvermittlungs-Ansätze zu feiern – es
um aus Anlass des 100. Geburtstages von Leonard           wird ein besonderes Geburtstagsfest mit einem
Bernstein planen, bekam sofort verklärte Augen            ganz besonderen Ehrengast: Jamie Bernstein,
und erinnerte sich – je nach Alterskohorte – an           selbst Musikvermittlerin, Erzählerin und Schrift-
Konzerte, Opernaufführungen, Bücher, Videoauf-            stellerin!
nahmen oder YouTube-Clips, die für das weitere
berufliche Leben entscheidend waren.                      „What does music mean?“ – dieser Titel des ers-
                                                          ten Young People`s Concert, das Leonard Bern-
Bernstein ist die Musikerpersönlichkeit, die alle         stein mit dem New York Philharmonic präsentier-
Eigenschaften des neugierigen, leidenschaftli-            te, leitet uns heute durch den Tag. Denn es ist das
chen, kommunikativen und gebildeten Künstlers             Kerngeschäft der Musikvermittlung, die Bedeu-
in sich vereint und aus dieser Haltung heraus als         tung von Musik zu erschließen.
Komponist, als Dirigent und als Vermittler glei-
chermaßen authentisch und überzeugend han-                Wo stehen wir also genau 60 Jahre nach dem ers-
delt.                                                     ten Young People’s Concert „What does music
                                                          mean?“ aus der Feder Leonard Bernsteins? Was
Ich bin Thomas Angyan, Andrea Wolowiec und                sind im Moment die gängigsten Formate und Va-
Désirée Hornek zutiefst dankbar, dass wir heute           riationen?
die Möglichkeit haben, im Rahmen dieses Sym-

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VOR UND NACH DEM KONZERT                                   werkstatt und das unmittelbare Entstehen von
                                                           Neuer Musik gibt.
Am häufigsten finden musikvermittelnde Projek-
te vor oder (seltener) nach dem Konzert statt. Im
Zentrum steht der Zuhörer vor seiner individuel-           IM KONZERT
len Begegnung mit dem Musikstück. Diese Work-
shops finden häufig in der Schule statt, manche            Zum Herzstück der Musikvermittlung gehörte von
auch direkt im Konzerthaus und bereiten auf ein            Anbeginn das Konzert für Kinder und die Kunst,
Werk eines Konzertprogramms vor. Daneben eta-              innerhalb dieser Aufführungen Bildungsaspekte
blieren sich an einzelnen Häusern einführende              mit künstlerischer Gestaltung zu verweben, ohne
Workshops für Erwachsene, die – ergänzend zu               dabei dem Missverständnis einer Schulstunde im
den klassischen Einführungsvorträgen von Kon-              Konzertsaal zu erliegen. Ausgehend von den frü-
zertdramaturgen – interaktive Elemente in die              hen Formen der volksbildenden Konzerte um 1900
Vermittlung der Werke integrieren und das Pub-             und spätestens seit dem Young Person’s Guide to
likum wenigstens in Momenten ermutigen, durch              the Orchestra von Benjamin Britten und den Young
eigenes Handeln wie Singen, Musizieren oder Tex-           People’s Concerts von Leonard Bernstein etab-
ten zur Musik neue Perspektiven auf das Werk zu            liert sich das moderierte Orchesterkonzert neben
öffnen.                                                    künstlerisch gefassten Werken wie Peter und der
                                                           Wolf von Sergej Prokofiew oder dem Karneval der
Manche Häuser gehen mittlerweile soweit, ganze             Tiere von Camille Saint-Saëns.
Seminarreihen im Sinne einer „Open University“
für ihr Publikum anzubieten, und dabei über meh-           Aus dem Zusammenwirken von Kammermusik-
rere Wochen ein Genre wie Jazz oder alles kontex-          ensembles und Regisseuren entstanden parallel
tuell Wissenswerte über Schuberts Winterreise zu           dazu seit den 1990er Jahren szenisch kunstvoll
ergründen – damit verbunden jeweils Einladungen            gestaltete inszenierte Konzerte. Heute verwi-
zu ausgewählten Konzertbesuchen. Das Wiener                schen die Grenzen zwischen Storytelling, Theater,
Konzerthaus verwandelte 2017 sein Foyer in eine            Konzert, Tanz und Performance zugunsten eines
Instrumentenwerkstatt und ließ während eines               poetischen Gesamtkunstwerks, der Bildungsas-
Kammermusikschwerpunkts die vier Instrumen-                pekt rückt in den Hintergrund.
te des Streichquartetts vor den Augen des Publi-
kums in Echtzeit bauen und vermittelte auf diese           Auch Orchester haben neue Zugänge entwickelt,
Weise sowohl einen Einblick in die Kunst des Inst-         um ihr altersmäßig gemischtes Publikum ganz
rumentenbaus als auch die besondere Suche nach             nah an das Geschehen heranzuführen. „Im Klang“
dem perfekten Klang eines Streichinstruments.              oder „Mittendrin“ heißen bspw. Aufführungsfor-
                                                           mate der Wiener Symphoniker oder des Konzert-
Besonders im Bereich der Neuen Musik finden im             hauses Berlin, bei der das Publikum zwischen
Anschluss an Uraufführungen oder unbekannte-               den Orchestermusikern sitzt und auf diese Weise
ren Werken Künstlergespräche statt, die im Nach-           in unmittelbarer Nähe zu den Musikern in direk-
klang Vertiefendes und Erhellendes zu den Wer-             te und ungewohnte Klangerfahrung eintauchen
ken, den Komponisten und den Interpreten liefern           kann.
und auf diese Weise Einblick in die Komponisten-

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Die Sehnsucht vieler Hobbymusiker wird gestillt,             Stadtteile, Begegnungszentren, Krankenhäuser,
indem eigene Publikumsorchester gegründet oder               Gefängnisse oder soziale Einrichtungen wie Al-
im „Symphonic Mob“ gigantische Mitspiel-Aktio-               tersheime und Zentren für Demenzkranke zu
nen mit Profi-Orchestern ermöglicht werden.                  besuchen, und vor Ort in Projekte einzutauchen,
                                                             die Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus
                                                             und heterogener Vorerfahrungen ins gemeinsa-
MITTEN IN DER COMMUNITY                                      me musikalische Tun bringt und auf diese Weise
                                                             Teilhabe an Kultur für vielfältige Bevölkerungs-
Im 20. Jahrhundert wurden gesellschaftliche Fra-             gruppen ermöglicht. Die demographische Verän-
gen im Kontext von Hochkultur politisch neu ver-             derung und die Migrationsbewegungen in Europa
handelt. Die Arbeiter-Symphoniekonzerte in Wien,             führen gerade im Bereich der „Outreachprojekte“
1905 von David Josef Bach gegründet, oder der                zu neuen Herausforderungen der transkulturellen
von Hans Werner Henze in den 1970er Jahren er-               Auseinandersetzungen und bei Musikvermittlern
fundene Festival Cantiere Internazionale d‘ Arte in          und Musikern zur Notwendigkeit besonderer Sen-
Montepulciano, der einen ganzen Ort in die musi-             sibilität, damit gemeinsame Projekte nicht zu ei-
kalische Gestaltung miteinbezog, geben dafür be-             ner versteckten Missionierung von bildungsfernen
redtes Zeugnis. Hilmar Hoffmann verkörperte die              Schichten werden, sondern zu einem Aushand-
Ära der kulturpolitischen Erneuerung der 1970er              lungsprozess auf Augenhöhe, der die hybriden
Jahre wie kein anderer in Deutschland. Als Kul-              Kulturen aller Beteiligten im Auge behält.
turdezernent in Frankfurt setzte er wegweisende
kulturpolitische Initiativen, die er mit dem Schlag-         Das ist der Viewing-Point 2018, aus dem wir auf
wort „Kultur für alle“ übertitelte.                          Leonard Bernstein und seine wegweisenden Kon-
                                                             zertformate, Bücher und Lectures zurückblicken
Mit der Implementierung von Musikvermitt-                    – um daraus zu erkennen, welchen Weg wir seit-
lungs-Abteilungen an Orchestern und Konzert-                 her gegangen sind und was uns von seiner Per-
häusern setzt bereits in den 1990er Jahren ein               sönlichkeit und seiner Haltung auch in Zukunft
vorsichtiges Herantasten an Zielgruppen ein, für             begleiten soll.
die der Weg in den Konzertsaal im Alltag keine
Rolle spielt und deren Sehnsüchte durch klassi-              Leonard Bernstein ist kein Denkmal der Musik-
sche Musik scheinbar weder geweckt noch gestillt             vermittlung, sondern in seinem Wirken ein An-
werden können.                                               sporn für uns, immer wieder neu nachzudenken
                                                             und auszuprobieren und im Gespräch mit den Mu-
Sogenannte „Outreachprogramme“ setzen dort                   sikern und dem Publikum zu bleiben.
an, wo nicht primär daran gearbeitet wird, Men-
schen in den Konzertsaal einzuladen, sondern mit             Vielen Dank, dass Sie heute hier sind!
den Musikern eines Orchesters oder Ensembles

Foto: Lukas Beck

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"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein
LEONARD BERNSTEIN ALS MUSIKVERMITTLER

Hendrikje Mautner-Obst
Vortrag im Rahmen des Symposiums „Musik – Die offene Frage.
Ein Tag für Leonard Bernstein“, Musikverein Wien, 6. Juni 20181

1957 skizzierte Bernstein in einem Aufsatz für             des Sprechens über Musik auseinander. Der Hin-
die Zeitschrift The Atlantic Monthly mit dem Titel         tergrund, vor dem er seine Überlegungen ent-
„Speaking of Music“ einige grundsätzliche Über-            faltete, waren nicht allein seine praktischen Er-
legungen, in denen er sein Selbstverständnis als           fahrungen, sondern auch seine Beobachtungen
Musikvermittler darlegte.2 Zu jenem Zeitpunkt,             der zeitgenössischen „music appreciation“. Zu-
Bernstein war Ende 30, konnte er bereits auf be-           mindest einigen ihrer Ausprägungen und An-
trächtliche Erfolge als Dirigent und Komponist zu-         satzpunkte stand Bernstein durchaus kritisch
rückschauen, und er hatte in mehreren Sendun-              gegenüber; er empfand sie als „oberflächlich“
gen zur Kultursendung Omnibus Erfahrungen als              und „kommerziell“. Bernstein formuliert dies fol-
Musikvermittler vor der Kamera gesammelt. Sein             gendermaßen: „Jedes Mittel ist recht, Musik zu
erstes von insgesamt 53 Young People’s Concerts            verkaufen: Verführung, Sprödigkeit, Schmeiche-
mit den New Yorker Philharmonikern sollte im               lei, Vereinfachung, unterhaltende Belanglosigkeit
Januar 1958 folgen.                                        und großartiges Gerede.“3 Von dieser Beobach-
                                                           tung ausgehend beschreibt Bernstein durchaus
In seinem Essay „Speaking of Music“ setzte sich            kritisch zwei Ansätze der Vermittlung von Musik.
Bernstein mit unterschiedlichen Möglichkeiten              Den ersten nennt er „Typ A“:

   „Type A is the bird-bees-and-rivulets variety, which invokes anything at all under the sun as long as it is
   extramusical. It turns every note or phrase or chord into a cloud or crag or Cossack. It tells homey tales
   about the great composers, either spurious or irrelevant. It abounds in anecdotes, quotes from famous
   performers, indulges itself in bad jokes and unutterable puns, teases the hearer, and tells us nothing
   about music.“4

   „Typ A ist die Vögel-, Bienen- und Bächlein-Art, die sich von allem, was halbwegs klingt, begeistern läßt.
   Aus jeder Note, jedem Ausdruck, jedem Akkord wird eine Wolke, eine Felsenklippe oder ein Kosak. Man
   erzählt lauschige Geschichten über große Komponisten, die, wo nicht falsch, so doch belanglos sind.
   Man ergeht sich in Anekdoten, zitiert berühmte Künstler, schwelgt in schlechten Witzen und faulen
   Wortspielen, hält die Zuhörer zum besten – und sagt absolut nichts über Musik.“5

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"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein
Davon ausgehend beschäftigt sich Bernstein mit
der Frage, welche Art von Bedeutungen der Musik
häufig zugeschrieben werden. Er unterscheidet
vier Arten:
 1.   erzählend-literarische Bedeutungen,
 2.   atmosphärisch-bildhafte Bedeutungen,
 3.   Gefühlsreaktionen wie Schmerz,
      Sehnsucht, Angst o. ä., wie sie besonders
      für die Romantik typisch seien, und
 4.   rein musikalische Bedeutungen.6

Allein dieser vierte Punkt, die „musikalische Ana-
lyse“,7 stellt Bernsteins Auffassung nach eine
grundsätzlich sinnvolle Möglichkeit der Auseinan-
dersetzung mit Musik dar.

Bernstein stellt dem beschriebenen „Typ A“ einen
zweiten Vermittlungs-Typ als eine Art Gegenpol
gegenüber – folgerichtig ist das „Typ B“:

   „Type B is concerned with analysis – a laudably serious endeavor – but is as dull as Type A is coy. It is the
   ‚now comes the theme upside down in the second oboe‘ variety. A guaranteed soporific. What it does,
   ultimately, is to supply you with a road map of themes, a kind of Baedeker to the bare geography of a
   composition; but again, it tells us nothing about music except those superficial geographical facts.”8

   „Im Gegensatz dazu ist Typ B vorwiegend an der Analyse interessiert – ein im Grunde lobenswertes
   und ernsthaftes Bestreben, aber ebenso langweilig, oder: wie Typ A töricht. Es ist die Art ‚Jetzt kommt
   das Thema umgekehrt in der zweiten Oboe‘, die in ihrer Fadheit uns eigentlich nur mit einer Landkarte
   der Themen versieht. Mit einer Art Baedeker also für die kahle Landschaft einer Komposition und, von
   diesen oberflächlichen geographischen Daten abgesehen, für die Musik auch ebenso nichtssagend.“9

Mit Typ A und Typ B beschreibt Bernstein zwei               begeisterungsfähigen     Hörern    heranzubilden:
Möglichkeiten der Vermittlung von Musik, die                Während Typ A den Blick auf die Musik durch As-
kaum weiter voneinander entfernt sein können:               soziationen, unterlegte Bedeutungen oder pau-
Anekdoten über Komponisten und Geschichten                  schale Zuschreibung von Emotionen verstelle, be-
zur Musik auf der einen Seite, trockene analyti-            trachte Typ B gewissermaßen nur das „Gerippe“
sche Anmerkungen auf der anderen.                           der Musik, ohne ihren Sinn zu entschlüsseln und
                                                            ein ästhetisches Hörerlebnis vorzubereiten.
Beide hält Bernstein für gleichermaßen unge-
eignet, um sein Publikum zu aufmerksamen und

                                                      –9–
"MUSIK - DIE OFFENE FRAGE. EIN TAG FÜR - LEONARD BERNSTEIN" - Mittwoch, 6. Juni 2018 - Musikverein
Trotz seiner deutlichen Kritik an beiden Zugängen                bewusst bleibt. Sein Vorschlag stellt keine weitere
sieht Bernstein aber durchaus Möglichkeiten für                  Alternative im Sinne eines „Typ C“ dar, sondern
eine verbal gestützte Vermittlung von Musik, so-                 lautet „the happy medium“ – „die goldene Mitte“:
fern man sich ihrer Schwierigkeiten und Grenzen

     „Obviously we can’t use musical terminology exclusively, or we will simply drive the victim away. We
     must have intermittent recourse to certain extra-musical ideas, like religion, or social factors, or histo-
     rical forces, which may have influenced music. We don’t ever want to talk down; but how up can we talk
     without losing contact? There is a happy medium somewhere between the music-appreciation racket
     and purely technical discussion; it is hard to find, but it can be found.”10

     „Offensichtlich können wir uns nicht bloß der Fachsprache der Musik bedienen, ohne den Interessierten
     abzuschrecken. Deshalb werden wir hier immer wieder solche außermusikalischen Faktoren, wie Reli-
     gion, gesellschaftliche Verhältnisse, geschichtliche Kräfte zu Hilfe nehmen, die die Musik beeinflussen
     können. Wir wollen die Dinge nicht durch Vereinfachung verniedlichen. Aber wie anspruchsvoll dürfen
     wir sein, ohne den Kontakt zu verlieren? Irgendwo zwischen dem „Musikverständnis-Rummel“ und der
     technischen Diskussion liegt eine goldene Mitte, die schwer zu finden ist, aber doch gefunden werden
     kann.“11

Was Bernstein hier theoretisch als seine Idee von                1. Beispiel: Omnibus
Musikvermittlung formuliert, hat er in der Praxis
auf vielfältige Weise und für unterschiedliche An-               1954 folgte Bernstein der Einladung, seine ers-
lässe und Zielgruppen realisiert.                                te Sendung für die Reihe Omnibus zu gestalten.
 •     ab 1954 für Erwachsene der amerikanischen                 Omnibus wurde 1952 bis 1961 im US-amerikani-
       bildungsbürgerlichen „middlebrow“-Schicht                 schen Fernsehen ausgestrahlt und verstand sich
       der 1950er-Jahre in der Kultursendung                     als Kultursendung, die hauptsächlich Musik- und
       Omnibus   12
                                                                 Theateraufführungen oder Auftritte von Künstler-
 •     für Kinder bzw. Familien in den Young                     persönlichkeiten und Interviews umfasste. Bern-
       People’s Concerts (1958–1972, 53 Konzerte)                stein hat insgesamt 12 Sendungen für Omnibus
 •     für fachkundige Zuhörerinnen und Zuhörer                  beigetragen; sieben der Skripte brachte er 1959
       in den Harvard Lectures 1973                              als seine erste Buch-Publikation The Joy of Mu-
                                                                 sic (dt.: Freude an der Musik) heraus. Als Vorwort
In allen drei genannten Formaten scheint Bern-                   stellte er dem Band seinen geringfügig überarbei-
steins Haltung als Musikvermittler durch, wie er                 teten Aufsatz „Speaking of music“ voran.
sie in „Speaking of Music“ skizziert hat.
                                                                 Als Thema seines ersten Beitrags zu Omnibus
Ich werde mich im Folgenden anhand von drei Bei-                 wählte Bernstein Beethovens 5. Symphonie. Er
spielen damit beschäftigen, wie Bernsteins Über-                 griff dabei auf einen Vortrag zurück, den er einige
legungen zur „goldenen Mitte“ in der praktischen                 Jahre zuvor, 1948, mit großem Erfolg vor Teilneh-
Umsetzung aussehen.                                              mern des Tanglewood Festivals gehalten hatte.13

                                                        – 10 –
Bernstein lässt die Zuschauer seiner ersten Om-                Methodisch erreicht Bernstein diesen Einblick
nibus-Sendung Zeugen eines „Experiments“ wer-                  durch eine Vielzahl von kommentierten Klangbei-
den. Er verfolgt damit das Ziel, dem Publikum                  spielen, die der Veranschaulichung dienen, häufig
Einblicke in den Kompositionsprozess zu ge-                    verbunden mit einem unmittelbaren Vergleich.
währen. Das Experiment besteht darin, auch von
Beethoven verworfenes Skizzenmaterial zu be-                   Zu Beginn der Sendung befasst sich Bernstein mit
trachten, zum Klingen zu bringen und zu zeigen,                dem berühmten 4-tönigen Kopfmotiv der Sympho-
wie bestimmte Passagen der Symphonie klingen                   nie. Einleitend stellt er nochmals seine Überzeu-
würden, wenn Beethoven sich entschieden hätte,                 gung dar, dass der Musik zugefügte Geschichten,
eine andere seiner Ideen auszuarbeiten. Bern-                  wie sie aus der „music appreciation“ bekannt sei-
stein demonstriert diese Alternativen und bietet               en, nicht ausreichend zur Musik selbst hinführen.
Begründungen an, warum Beethoven bestimmte                     In Bezug auf das Kopfmotiv führt Bernstein aus:
Ideen verworfen und andere ausgearbeitet hat.

   „All kinds of fanciful music-appreciation theories have been advanced: that it is based on the song of a
   bird Beethoven heard in the Vienna woods; that it is Fate knocking at the door; that it’s the trumpets an-
   nouncing the Judgement Day. And more of the same. But none of these interpretations tells us anything.
   The truth is that the real meaning lies in all the notes that follow it, all the notes of all the five-hundred
   measures of music that follow it in this first movement.”14

   „Man hat phantastische Theorien entwickelt, um ihre musikalische Wirkung zu erklären: sie ahme das
   Lied eines Vogels nach, das Beethoven im Wienerwald gehört habe; es sei das Schicksal, das an die
   Tür klopfe; es seien die Posaunen des Jüngsten Gerichts, und was dergleichen mehr ist. Aber alle diese
   Erklärungen sagen uns gar nichts. In Wirklichkeit liegt die wahre Bedeutung in all den folgenden Noten
   – in allen Noten der fünfhundert Takte, die im ersten Satz folgen.“15

Mit diesen Noten – dem Kopfmotiv sowie seiner                  Daran anschließend nimmt er das Thema Instru-
weiteren Verarbeitung – befasst sich Bernstein in              mentation auf: Alle Musiker platzieren sich auf der
der Sendung ausführlich:                                       Partiturseite bei den Noten, die sie bei einer Auf-
                                                               führung spielen würden. Die, die am Anfang der
Er selbst steht auf einer überdimensionierten                  Symphonie nicht spielen, schickt Bernstein weg:
Partiturseite, die auf dem Boden des Studios auf-              Oboe, Fagott, Horn, Posaune und Pauke müssen
gemalt ist und den Anfang der Symphonie zeigt.                 zurück an den linken Rand der Partitur treten. An-
Hier platziert Bernstein, der Anordnung einer                  hand einer Partiturskizze zeigt Bernstein, dass
Partiturseite entsprechend, die Orchestermusiker.              Beethoven zunächst auch die Flöte besetzt hatte,
Zunächst erläutert er daran die Besetzung eines                diese Stimme jedoch wieder ausstrich. Die ent-
Orchesters und den Aufbau einer Partiturseite.                 sprechenden Takte werden erst mit, dann ohne
                                                               Flöte gespielt; auch die Flöte muss an den Rand
                                                               der Partitur treten.

                                                      – 11 –
Obwohl Bernstein in dieser ersten Sendung noch                2. Beispiel: Young People’s Concerts –
nicht so versiert und souverän vor der Kamera                 „What does music mean?”
agiert wie in späteren, geben diese ersten Minu-
ten seiner Beethoven-Sendung einen Eindruck                   Dass Musik nicht in erster Linie etwas „bedeu-
davon, welche persönlichen und fachlichen Vor-                tet“ oder außermusikalische Inhalte übermittelt,
aussetzungen er mitbrachte. Allem voran dürfte                zählt zu Bernsteins tiefsten Überzeugungen und
Bernsteins profunde Kenntnis des Werks Voraus-                bildet die Grundlage seines Musikverständnisses,
setzung für den Erfolg gewesen sein. Er hatte sich            seines Musikerseins und seiner Tätigkeit als Ver-
nicht nur detailliert mit der Komposition ausein-             mittler. Diese Überzeugung machte er im Januar
andergesetzt, sondern auch das Skizzenmaterial                1958 zum Thema seines ersten Young People’s
studiert, um auch mögliche alternative Versionen              Concert, in dem er sich mit der Frage „What does
der Komposition vorstellen zu können. Dass Bern-              music mean?“16 auseinandersetzte.
stein selbst Komponist war, dürfte ihm vor allem
in den Passagen der Sendung geholfen haben,                   Mit den Young People’s Concerts setzte Bernstein
in denen er zeigt, wie Beethoven möglicherwei-                eine Konzertreihe fort, die bei den New Yorker
se weiter komponiert hätte, wenn er bestimmte                 Philharmonikern bereits eine jahrzehntelange
ausgesonderte Ideen realisiert hätte. Seine große             Tradition hatte. Neu war jedoch, dass die von Bern-
Repertoirekenntnis dürfte immer dann hilfreich                stein geleiteten Konzerte von Anfang an im Fern-
gewesen, sein, wenn er scheinbar mühelos Bezü-                sehen übertragen wurden und daher einen weit
ge zu anderen Werken Beethovens oder auch zu                  über den Rahmen des Konzertsaals hinausgehen-
anderen Komponisten und zu anderen musikali-                  den Zuschauerkreis erreichen konnten. Bernstein
schen Genres herstellt.                                       selbst wählte für die Young People’s Concerts die
                                                              Werke und Themen aus und verfasste die Manu-
In seinen Ausführungen zu den ausgewählten                    skripte. Seine Moderationstexte wurden im Team
Werken zeichnet Bernstein ein Geschick darin                  diskutiert, ergänzt, überarbeitet; schließlich lern-
aus, auch für das Verständnis notwendige Grund-               te Bernstein sie für die Präsentation im Konzert
lagen einfließen zu lassen, ohne sich damit zu                auswendig.
lange aufzuhalten oder belehrend zu wirken (wie
beispielsweise den Aufbau einer Partitur). Damit              Jedes der 53 Young People’s Concerts steht unter
verbunden ist ein sicheres Gespür dafür, wann                 einem Thema, beispielsweise Instrumentation,
grundlegende Erläuterungen notwendig sind.                    Sonatenhauptsatzform oder Amerikanische Mu-
                                                              sik; einige Konzerte sind bestimmten Kompo-
Auf unterschiedliche Weise gelingt es Bernstein,              nisten gewidmet; in einer besonderen Reihe in-
an Vorkenntnisse des Publikums anzuknüpfen                    nerhalb der Young People‘s Concerts eröffnete
oder dem Publikum Bekanntes anzusprechen, oft,                Bernstein unter dem Titel Young Performers jun-
um dieses Wissen dann inhaltlich zu wenden, zu-               gen Künstlern die Möglichkeit, sich auf der Bühne
zuspitzen oder mit neuen Bedeutungen bzw. Infor-              zu präsentieren.
mationen zu verbinden. Dies betrifft sowohl ver-
breitete Erklärungen wie „das Schicksal klopft an             Mit „What does music mean?“ warf Bernstein eine
die Tür“ wie auch die Bezugnahme auf bekannte                 Frage auf, mit der er sich in verschiedenen Zu-
Werke oder Titel der Popularmusik.                            sammenhängen befasst hat. Das Konzert beginnt

                                                     – 12 –
mit einem Ausschnitt aus der Ouvertüre zu Gioa-                 pult zum Moderator ans Klavier, wo er Beispiele
chino Rossinis Wilhelm Tell. Dieses Stück ist in-               erklingen lässt, die es ermöglichen, das Erklärte
sofern geschickt gewählt, als ein großer Teil des               im Hören nachzuvollziehen. Bernstein tritt hier als
Publikums Teile der Ouvertüre als Titelmelodie                  ein Vermittler auf, der auf vielfältige Weise einge-
der populären Western-Fernsehserie The Lone                     bunden ist in das Geschehen. Er ist kein Vermittler
Ranger kannte, die 1949–1957 im US-amerikani-                   „von außen“, sondern als Vermittler und Musiker
schen Fernsehen erstausgestrahlt wurde, und so-                 unmittelbar involviert.
mit unmittelbar die musikalische Erfahrungswelt
des Publikums adressierte.17                                    Die Rossini-Ouvertüre diente Bernstein nicht nur
                                                                dazu, mit einem aller Wahrscheinlichkeit nach im
Bernstein benötigt nur wenige Minuten, um seine                 Publikum bekannten Stück das Konzert zu eröff-
Haltung zur Frage „What does music mean?“ auf                   nen und damit von Anfang an die Aufmerksamkeit
vielfältige Weise vorzustellen.                                 der Konzertbesucher zu gewinnen. Er greift die
                                                                Ouvertüre in der Folge nochmals auf, um musik-
  •   er zerstreut die Vorstellung, dass es sich bei            immanente Aspekte zu thematisieren und rhyth-
      dem Ausschnitt aus der Ouvertüre um Film-                 mische und melodische Strukturen aufzuzeigen.
      musik für The Lone Ranger handeln könnte,
  •   er demontiert die Vorstellung, dass Musik                 Daran anschließend verdeutlicht er an mehreren
      Geschichten erzählt                                       musikalischen Beispielen seine These, dass es
  •   er präsentiert drei Beispiele unterschied-                in der Musik ausschließlich um die Musik selbst
      licher musikalischer Genres, die ihm als                  gehe – auch wenn Komponisten ihren Werken Ti-
      Belege dafür dienen, dass Musik nichts be-                tel gegeben haben oder außermusikalische Be-
      deutet, nämlich das Nocturne, op. 15 Nr. 3                züge nahegelegt werden. In einer Art Experiment
      Fis-Dur von Frédéric Chopin, den Anfang                   führt er dem Publikum vor, dass Musik mehrdeu-
      des Kopfsatzes von Beethovens Klavierso-                  tig, vielfach interpretierbar und erlebbar und offen
      nate, op. 53 („Waldstein“) und einen Boogie               für unterschiedlichste Assoziationen und Emotio-
      Woogie                                                    nen ist. Zu Ausschnitten aus Richard Strauss’ Don
  •   er zeigt, dass es in der Musik um die Ver-                Quichote erfindet er eine Geschichte über Super-
      bindung von Tönen, Klängen und Klangfar-                  man – auch die Wahl dieser Figur lässt sich als
      ben geht: dies veranschaulicht er, indem er               Lebenswelt-Bezug verstehen, wie am Anfang des
      nacheinander mehrere Instrumente densel-                  Konzerts zum Lone Ranger. Zu denselben Aus-
      ben Ton spielen lässt, um die unterschied-                schnitten erzählt er anschließend eine Geschich-
      lichen Klangfarben hörbar zu machen                       te von Don Quichote, um zu demonstrieren, dass
                                                                es möglich ist, mit ein und derselben Musik ganz
Bereits in den ersten Minuten erhält man Einblick               unterschiedliche Handlungen zu assoziieren.18
in das methodisch vielfältige Repertoire Bern-
steins: Die Einbeziehung von bekannten Werken                   Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von
und von Stücken unterschiedlicher musikalischer                 Musik, zu der Bernstein im Verlauf des Konzerts
Genres ermöglicht es ihm, an Hörgewohnheiten                    gelangt, ist vielleicht am deutlichsten in einem
und an musikalische Lebensrealitäten anzuknüp-                  kurzen Passus im handschriftlichen Manuskript
fen. Versiert wechselt Bernstein vom Dirigenten-                formuliert, der in der Überarbeitung getilgt wurde:

                                                       – 13 –
„Listen carefully, because this may be a little hard to understand. All the real meanings in music are
   musical meanings, – that is the music means itself. The way its notes are put together. And all the joy or
   pain or whatever it is is in the way the music moves from one note to another.”19

Diese Überzeugung hatte er auch schon in seiner                phonie vertreten. Dort hieß es im Zusammenhang
ersten Omnibus-Sendung zu Beethovens 5. Sym-                   mit dem Kopfmotiv der Symphonie:

   „The truth is that the real meaning lies in all the notes that follow it, all the notes of all the five-hundred
   measures of music that follow it in this first movement.”20

3. Beispiel: Harvard Lectures

1973 – 25 Jahre später – kehrte Bernstein an sei-              The unanswered Question. Darin befasste er sich
ne Alma Mater, die renommierte Harvard Univer-                 ausgehend von Noam Chomskys linguistischen
sity zurück, um dort im Rahmen der berühmten                   Theorien mit theoretischen Grundlagen der Musik
Charles-Eliot-Norton Lectures sechs öffentliche                und ihrer Beziehung zur Linguistik:
Vorlesungen zu halten. Die Vorlesungsreihe sollte
ursprünglich Archäologen einen Rahmen bieten,                   1.   Musical Phonology / Musikalische Lautlehre
ihr Fachgebiet einer breiteren Öffentlichkeit vor-              2.   Musical Syntax / Musikalische Syntax
zustellen, öffnete sich jedoch bald schon für an-               3.   Musical Semantics / Musikalische Bedeu-
dere Disziplinen wie Kunstgeschichte oder Litera-                    tungslehre
turwissenschaft. Zu den Gästen der Reihe zählten                4.   The Delights and Dangers of Ambiguity / Die
auch Künstlerpersönlichkeiten, die neben ihren                       Wonnen und Wehen der Zweideutigkeit
künstlerischen Arbeiten auch durch theoretische                 5.   The Twentieth Century Crisis / Die Krise des
auf sich aufmerksam gemacht hatten, darunter                         20. Jahrhunderts
beispielsweise T. S. Eliot, Thornton Wilder, E. E.              6.   The Poetry of the Earth / Die Poesie der Erde
Cummings und andere. Aus der Musik waren vor
Bernstein bereits drei Komponisten zu Gast gewe-               In der dritten der Vorlesungen nahm Bernstein
sen: Igor Strawinsky, Paul Hindemith und Aaron                 unter dem Titel „Musical Semantics“ / „Musika-
Copland (allen dreien hatte Bernstein übrigens                 lische Bedeutungslehre“ noch einmal die Frage
auch je ein Young People’s Concert gewidmet).                  nach der Bedeutung von Musik auf, der er sich
                                                               bereits in seinem ersten YPC gewidmet hatte. Da-
Bernstein betitelte seine Vorlesungen in Anleh-                rauf verweist Bernstein selbst im Rahmen seiner
nung an Charles Ives‘ Orchesterkomposition mit                 Lecture.

   „…und die Antworten, die ich darauf gebe, haben sich nicht sehr verändert. Aber ich glaube, daß ich sie
   jetzt etwas anspruchsvoller formulieren kann, besonders hier, wo ich einem anspruchsvolleren Publi-
   kum gegenüberstehe.“21

                                                      – 14 –
Bernstein folgt in seiner Vorlesung einer klar for-
mulierten Überzeugung:

   „Musik hat eine ihr eigene, aus ihrem Inneren kommende Bedeutung, die man nicht mit bestimmten
   Gefühlen oder Stimmungen verwechseln darf, und schon gar nicht mit bildlichen Eindrücken oder einer
   beschreibenden Handlung. Diese aus dem Inneren kommende Bedeutung wird durch einen unaufhör-
   lichen Fluß von Metaphern erzeugt; alle diese Metaphern sind Erscheinungsformen poetischer Um-
   wandlungen. Das ist meine These.“22

Bernstein unterscheidet drei verschiedene Arten                sie ganz offenkundig dem zweiten Typ von Meta-
von Metaphern :23
                                                               phern zuzuordnen ist, also eine vom Komponisten
                                                               nahegelegte Beziehung zwischen der Musik und
 1.   Musikimmanent verstanden beschreiben                     außermusikalischen Bedeutungen bestehe. Bern-
      Metaphern Verwandlungen des musikali-                    stein versucht in der Lecture darzulegen, dass es
      schen Materials.                                         trotz der außermusikalischen Bezüge möglich sei,
 2.   Bei der „äußerlichen“ Metapher ist der mu-               diesen Metapherntyp auszublenden und sich der
      sikalische Sinn auf außermusikalische Be-                musikimmanenten Metapher zuzuwenden. Nach
      deutungen bezogen, beispielsweise in Beet-               hinführenden Bemerkungen zur Symphonie ver-
      hovens Pastorale.                                        meidet er es ausdrücklich, sie als Pastorale zu
 3.   Unter „analogen Metaphern“ versteht Bern-                bezeichnen, um den Gedanken an außermusika-
      stein den Vergleich zwischen der Musik in-               lische Bezüge zu unterbinden und die Konzent-
      newohnenden Metaphern mit sprachlichen                   ration auf die Komposition zu lenken. Ausführlich
      Gegenstücken.                                            skizziert Bernstein motivisch-thematische „Ver-
                                                               wandlungen“, die er als Ausprägungen von Meta-
Eines der zentralen Beispiele der 3. Lecture ist               phern auffasst. Daran demonstriert er seine Auf-
Beethovens Pastorale. Bernstein erwähnt, dass                  fassung von musikalischer Bedeutungslehre:

   „Ein Musikstück ist eine dauernde Verwandlung des vorgegebenen Materials durch Umwandlungsvor-
   gänge […]. Näher vermag ich die musikalische Semantik, die musikalische Bedeutungslehre, nicht zu
   bestimmen.“24

Die Metapher hilft ihm zu erklären, warum das An-              hung zwischen dem Gesagten und dem im über-
hören eines Musikstücks unterschiedliche, sub-                 tragenen Sinne Gemeinten besteht in der Ähnlich-
jektive Empfindungen hervorrufen kann, die den                 keit. Damit sind sie offen für Mehrdeutigkeit – und
Intentionen eines Komponisten entsprechen kön-                 für unterschiedliche Rezeptionsschwerpunkte.
nen, aber nicht müssen. Metaphern bezeichnen                   Bernstein kann so erklären, warum die Intention
eine Übertragung, eine Übersetzung; die Bezie-                 eines Komponisten sich von der individuellen Re-

                                                      – 15 –
zeption eines Zuhörers unterscheiden kann, ohne              gruppen aufzubereiten vermag: Im Young Peo-
dass ein Konflikt zwischen Komponist und Rezi-               ple‘s Concert belegt Bernstein seine These, dass
pient entstehen muss. 25
                                                             die Musik selbst keine konkrete semantische Be-
                                                             deutung hat, durch eine Reihe von klanglich nach-
Auch in seinem ersten Young People‘s Concert                 vollziehbaren, veranschaulichenden Beispielen.
„What does music mean?” hatte Bernstein über                 In der Harvard Lecture steht eine umfangreiche
Beethovens Pastorale gesprochen. Ähnlich wie in              Analyse musikimmanenter Vorgänge – „Verwand-
dem erwähnten Experiment, der Musik zu Richard               lungen“ – im Zentrum, die Bernstein in Bezug zu
Strauss‘ Don Quichote eine erfundene Geschichte              linguistischen Theorien entfaltet. Auch hier inte­
über Superman zu unterlegen, schlägt er alterna-             griert er zahlreiche Klangbeispiele, die es ermög-
tive Beschreibungen zu Beethovens Symphonie-                 lichen, seine Ausführungen auch hörend zu über-
sätzen vor. Das Gefühl von Heiterkeit, das Beet-             prüfen.
hoven „Erwachen heiterer Empfindungen bei der
Ankunft auf dem Lande“ nennt, könnte, so Bern-               Das Anliegen seiner Ausführungen zielt hier wie
stein, beispielsweise auch durch eine Überschrift            da darauf, sich auf die „symphonischen Verwand-
wie „Glückliche Gefühle, weil mein Onkel mir eine            lungen“28 zu konzentrieren. Ähnlich wie im Young
Million Dollar hinterlassen hat“ hervorgerufen               People‘s Concert „What does music mean?“ ent-
werden. Entscheidend sei das durch die Musik,                lässt Bernstein auch in der Lecture das Publikum
durch die Bewegung der Töne hervorgerufene Ge-               mit einem Hörauftrag: Er bittet seine Zuhörer sich
fühl – nicht die zugefügte Überschrift. Nicht das            darum zu bemühen, nur der Musik selbst zu fol-
Landleben oder ein fließender Bach werden in der             gen und keinen „außermusikalischen“ Geschich-
Musik dargestellt, sondern eine Stimmung. Ent-               ten oder klischeehaften Bildern nachzuhängen.
sprechend teilt auch Gustav Nottebohm aus Beet-              Hier wird besonders deutlich, welches spezifische
hovens Skizzen mit, Beethoven habe über die Pas-             Anliegen Bernstein im Sinn hat: Es geht um nicht
torale geäußert, sie sei „keine Malerey, sondern             weniger als um eine Veränderung des Hörver-
worin die Empfindungen ausgedrückt sind“.26 Und              haltens und um die Unterstützung darin, neue,
an anderer Stelle: „Man überlässt es dem Zuhö-               der Musik adäquate Hörgewohnheiten zu entwi-
rer, die Situationen auszufinden. […] Wer auch je            ckeln.29 Adäquates Hören im Sinne des Komponis-
nur eine Idee vom Landleben erhalten, kann sich              ten, Dirigenten, Pianisten und Vermittlers Leonard
ohne viele Überschriften selbst denken, was der              Bernstein meint ein allein auf die Entwicklungen
Autor will.“
           27
                                                             der Musik bezogenes Hören, wie er es auch den
                                                             Zuhörern seines ersten Young People’s Concert
Die Beispiele zur Pastorale machen deutlich, wie             empfiehlt:
Bernstein ein Thema für unterschiedliche Ziel-

   „Lehnt euch zurück, entspannt euch und genießt, lauscht auf die Töne; spürt, wie sie sich bewegen,
   wie sie springen, hüpfen, tanzen, glitzern und gleiten – freut euch einfach darüber. Die Bedeutung der
   Musik liegt in der Musik selbst und sonst nirgends.“30

                                                    – 16 –
QUELLENNACHWEIS

1    Eine überarbeitete Fassung dieses Vortrags ist zwischenzeitlich erschienen in neue musikzeitung
     (nmz), H. 7/8, 2018, S. 19-20 / www.nmz-online.de
2    Leonard Bernstein: „Speaking of Music“, in: The Atlantic Monthly 200/6 (1957), S. 104-106;
     in deutscher Übersetzung: Leonard Bernstein: „Von der goldenen Mitte“, in: ders.,
     Freude an der Musik, 3. Auflage, München 1982, S. 9-15.
3    Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 12.
4    Bernstein, „Speaking of Music“, S. 105.
5    Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 12.
6    Vgl. Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 14.
7    Ebd.
8    Bernstein, „Speaking of Music“, S. 105.
9    Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 12-13.
10   Bernstein, „Speaking of Music“, S. 106.
11   Bernstein, „Von der goldenen Mitte“, S. 14/15.
12   Andreas Eichhorn: „Omnibus: Leonard Bernstein als Musikvermittler“, in: Musik wissenschaftlich –
     pädagogisch – politisch. Festschrift für Arnold Werner-Jensen zum 70. Geburtstag, hrsg. von Stefan
     Zöllner-Dressler und Christoph Khittl (= Heidelberger Hochschulschriften zur Musikpädagogik 4),
     Essen 2014, S. 25-36, hier: S. 25.
13   Vgl. Peter Gradenwitz: Leonard Bernstein. Unendliche Vielfalt eines Musikers, Zürich 1984, S. 73.
14   Leonard Bernstein: The Joy of Music, New York / NY 1959, S. 74.
15   Leonard Bernstein: „Beethovens Fünfte Symphonie“, in: ders., Freude an der Musik, 3. Auflage,
     München 1982, S. 67-86, hier: S. 68.
16   Leonard Bernstein, Young People’s Concerts Vol. I, DVD, Kultur D1503, Disc 1; der Anfang auf
     youtube: https://www.youtube.com/watch?v=rxwWlQNGeKE
17   Entsprechende Anknüpfungspunkte suchte Bernstein in den Young People’s Concerts auf
     unterschiedliche Weise, beispielsweise auch durch Einbindung von Musikbeispielen aus dem
     Bereich der Popularmusik, vgl. Alicia Kopfstein-Penk: Leonard Bernstein and His Young People’s
     Concerts, Lanham (Md.) u. a. 2015, S. 62-64.
18   Vgl. Leonard Bernsteins Young People’s Concerts for Reading and Listening, New York 1962,
     S. 11-35; deutsche Ausgabe: Leonard Bernstein: Konzert für junge Leute. Die Welt der Musik in
     15 Kapiteln, München 2007, S. 17-41.
19   Bernstein, Leonard. Young People‘s Concerts Scripts: What Does Music Mean? pencil on yellow
     1-11, regular, 12-17, legal. Manuscript/Mixed Material. Retrieved from the Library of Congress,
     . Hier: S. 16.
20   Bernstein, The Joy of Music, S. 74.
21   Leonard Bernstein: Musik, die offene Frage, 3. Auflage, München 1985, S. 138.
22   Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 138.
23   Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 138f.
24   Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 155.
25   Vgl. Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 143; dazu auch Sven Oliver Müller:
     Leonard Bernstein. Der Charismatiker, Ditzingen 2018, S. 192.
26   Gustav Nottebohm: Zweite Beethoveniana: Nachgelassene Aufsätze, Leipzig 1887, S. 504.
27   Ebd., S. 375.
28   Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 186.
29   Bernstein, Musik, die offene Frage, S. 186/87.
30   Bernstein, Konzert für junge Leute, S. 41.

                                                 – 17 –
Hendrikje Mautner-Obst

Studien Schulmusik, Germanistik, Musikwissen-
schaft, Philosophie. 2006 Lehrauftrag für Musik-
vermittlung in Stuttgart und Klagenfurt. Seit 2012
Professorin für Kulturvermittlung / Musiksoziolo-
gie an der Musikhochschule Stuttgart. Seit 2017
Prorektorin für Internationales und Interkulturelle
Kommunikation.

Fotos: Lukas Beck

                                                      – 18 –
DIE KUNST DER VERMITTLUNG

Constanze Wimmer im Gespräch mit Lilian Genn,
Désirée Hornek und Markus Poschner
und Fragen aus dem Publikum im Rahmen des Symposiums „Musik – Die offene
Frage. Ein Tag für Leonard Bernstein“, Musikverein Wien, 6. Juni 2018

Constanze Wimmer: Ich darf mein Podium                          guten Überblick über das europäische Musikver-
vorstellen: Markus Poschner ist seit vorigem                    mittlungsleben.
Herbst Chefdirigent des Bruckner Orchesters Linz,
er ist Opernchef des Musiktheaters und Chefdiri-                Lilian Genn ist freischaffende Musikvermittlerin
gent des Orchestra della Svizzera Italiana. Gerade              und Bewegungspädagogin. Sie konzipiert im Mu-
seid ihr mit dem Bruckner Orchester Linz zurück                 sikverein wunderbare Kinder- und Jugendkon-
von einer umjubelten Großbritannien-Tournee mit                 zerte zu Schubert oder Mozart. Weiters ist sie mit
Mahlers Zweiter Symphonie. Vielen Dank, dass Du                 den „Schurken“ unterwegs, mit diesem Ensemble
heute da sein kannst.                                           tourt sie durch ganz Europa. An der Kunstuniver-
                                                                sität in Graz und an der Musik und Kunst Privat-
Désirée Hornek ist der Gesellschaft der Musik-                  universität kümmert sie sich um die Bühnenprä-
freunde schon seit 1979 verbunden und seit es                   senz und die Körperarbeit von jungen Musikern.
Kinderkonzerte im Musikverein gibt – seit 1989
– zeichnet sie dafür verantwortlich. Später wurde               Hier möchte ich gerne gleich einsteigen. Wenn Du
das Angebot um Jugendkonzerte und Schulkon-                     Dir diese Omnibus Lecture mit Leonard Bernstein
zerte erweitert, 2005 dann auch um Familienkon-                 ansiehst1 – er war noch ein sehr junger Musiker –
zerte. Sie vertritt die Gesellschaft der Musikfreun-            was würdest Du ihm raten, wenn er zu Dir käme,
de bei den Education Meetings der European                      was könnte er an seiner Bühnenpräsenz noch ver-
Concert Hall Organisation: sie hat also einen sehr              bessern?

                                                       – 19 –
Lilian Genn: Er hat sich eindeutig verändert
über die Jahre. Seine Kopf- und Körperhaltung
wirkt fast ein bisschen schüchtern. Aber als Ge-
samtperson ist er sehr einnehmend und authen-
tisch und pur und lebendig. Da würde ich gar
nichts raten.

Constanze Wimmer: Markus Poschner, Du
hast in einem Interview kurz vor Deinem Start in
Linz gesagt: „Wenn die, die wir einladen wollen,
nicht kommen, dann liegt die Schuld nicht bei                   bei uns! Es geht nicht darum, etwas nicht zu ver-
denen.“ Das hat mich sehr beeindruckt, weil es                  stehen oder verstehen zu müssen, es geht letzt-
unser Mindset umkehrt, dass junge Leute nicht                   endlich um mich selbst. Es ist wie ein Kranken-
mehr ins Konzert gehen, weil sie sich nicht für                 haus für die Seele. Das Konzert ist etwas, wo es
Klassik interessieren und in der Schule zu wenig                um mich geht, wo ich genesen kann, etwas lernen
Musik unterrichtet wird. Es bedeutet eine völlige               oder mich auch einfach nur unterhalten kann. Und
Umkehrung der „Schuld“, diese liegt jedenfalls                  ich glaube, diese Einladung ist nicht ausgespro-
nicht beim Publikum, das nicht kommt. Wer fühlt                 chen. Wir haben im Jahr 2018 viele Möglichkeiten,
sich denn eingeladen in Konzerte, und wer fühlt                 auch technisch, Einladungen auszusprechen, um
sich nicht eingeladen?                                          diese Niederschwelligkeit zu zeigen: „Kommt! Ihr
                                                                könnt nichts verlieren, ihr könnt nur gewinnen.“
Markus Poschner: In einem Satz ist das völlig
unmöglich zu beantworten. Ich glaube, die Schwel-               Constanze Wimmer: Das Ereignis Bernstein
le zum Konzert kann unter Umständen sehr hoch                   war damit verbunden, dass es plötzlich Fernse-
sein. Da kommt man nicht so leicht drüber. Sei es               hen gab und sich altersübergreifend die Familie
finanziell, weil das Ticket so teuer ist, oder weil             gemeinsam vor einem Bildschirm versammelte.
„Konzert“ Angst-besetzt ist, weil ich mich dort                 Damit war es möglich, ein großes Publikum anzu-
falsch verhalten könnte, oder weil ich Sorge habe,              sprechen. Bernstein hat die Technik dazu verwen-
nicht zu verstehen um was es eigentlich geht. Viel-             det, etwas aussagen und ausdrücken zu wollen.
leicht auch, weil es nicht meine Community ist, in              Heute bekommt hingegen das analoge Live-Er-
der ich mich wiederfinde. Das klassische Konzert                lebnis eine völlig neue Bedeutung.
gehört den Anderen, den Etablierten, den Älteren,
vielleicht auch einer Elite. All das ist sehr bedau-            Markus Poschner: Es ist nicht ersetzbar. Es
erlich. Es gibt ein Zitat von Leonard Bernstein: „Es            ist eine Form, die seit Jahrtausenden funktioniert.
gibt immer und überall noch Menschen, die nicht                 Vielleicht haben wir beim Lagerfeuer begonnen,
Beethovens Fünfte gehört haben“. Es muss unse-                  ein Ritual zu feiern, um das Feuer zu tanzen, uns
re Aufgabe sein, auch nach draußen zu gehen.                    Geschichten zu erzählen, Gemeinschaft zu er-
Als Orchester brauchen wir einen Konzertsaal,                   leben, zu singen und zu trommeln. Es ist etwas,
wir sind abhängig von guter Akustik. Aber es gibt               was uns zu Gemeinschaft, zu Gesellschaft, letz-
viele andere Möglichkeiten. Aber ich glaube, wir                ten Endes zu Menschen macht. Heute haben wir
müssen einladen. Und: Man kann etwas erleben                    Hightech-Konzertsäle, die natürlich stark kon-

                                                       – 20 –
notiert sind, also auch furchteinflößend sind und             se nach Prag, die 1787 wirklich stattgefunden
nicht von jedem zu betreten. Aber das, was wir da-            hat, haben wir zum Ausgangspunkt genommen,
rin anzubieten haben, ist nicht verhandelbar. Was             um mit den Kindern in einer Kutsche quasi nach
es für jeden bedeuten kann, das muss er selbst                Prag zu reisen. Was bei dem Projekt besonders
entscheiden. Ich muss die Menschen in eine                    gut funktioniert hat und gleichzeitig eine Heraus-
Hör-Position manövrieren können, muss ihnen                   forderung war, war vor allem die Musiker aus
dabei helfen, sie an der Hand nehmen, sie vor das             ihrem gewohnten Dasein herauszubringen. Wir
Kunstwerk hinschubsen. Dann tut das Kunstwerk                 haben Orchestermusiker aus der Gruppe gelöst,
das Seinige und ich muss das Publikum dann da-                sie solistisch auftreten lassen sie aus dem Pub-
bei alleine lassen.                                           likum heraus spielen lassen. Wir haben mit we-
                                                              nigen Mitteln eine Kutsche nachgebaut, um diese
                                                              Reise noch einmal zu erleben. Es ging uns darum,
                                                              den Kindern den Eindruck zu vermitteln, dass sie
                                                              die Prager Symphonie wirklich live zum allerers-
                                                              ten Mal hören. In das Werk selbst haben wir nicht
                                                              eingegriffen.

                                                              Constanze Wimmer: Bei Bernstein merkt man
                                                              seine große Lust, auf der Bühne zu stehen und mit
                                                              dem Publikum zu kommunizieren. Er nahm selbst
                                                              an Schauspielaufführungen oder an Lesungen teil
Constanze Wimmer: Vor das Kunstwerk Hin-                      – wie weit ist es eigentlich notwendig, in der Mu-
schubsen ist ein schönes Bild. Lilian Genn, Du                sikvermittlung Lust am Theater, Lust am Spiel auf
schubst viele junge Leute zu Schubert oder Mo-                der Bühne zu haben?
zart. Was inspiriert Dich, wenn Du ein Kinderkon-
zert planst? Was sind Deine Ausgangspunkte, Dei-              Lilian Genn: Ich denke, das ist wirklich perso-
ne Ausgangsfäden, die Du zu einer Dramaturgie                 nenabhängig. Manche bringen diese Farbe und
verknüpfst?                                                   Freude für das Genre mit. Dann ist es ein weiteres
                                                              Talent, das wachgekitzelt werden möchte und ein
Lilian Genn: Es sind immer die jeweiligen Wer-                wunderbares Zusatzinstrument. Ich glaube nicht,
ke, die gerade vom Orchester gespielt werden. In              dass es notwendig ist, um ein guter Musikver-
den beiden Fällen, die du ansprichst, waren es                mittler zu sein oder als Musiker sehr präsent zu
Projekte mit den Wiener Symphonikern, die ich                 sein. Es ist ein dienliches Instrument. Also sollte
mit der Musikvermittlerin der Wiener Symphoni-                es auch in unseren Ausbildungsstätten für die Mu-
ker Bettina Büttner-Kramer gemeinsam entwi-                   sikstudierenden ein Angebot sein, damit sie sich
ckelt habe. Es wurde Mozarts Prager Symphonie                 weiterbilden können. Weil oft weiß man es ein-
gespielt oder Schuberts Dritte Symphonie. Wir                 fach nicht, woher denn auch? Wenn man ein Le-
haben also ein Konzert für den Musikverein ent-               ben lang sein Instrument studiert hat, weiß man
wickelt, der ohnehin ein geschichtsträchtiger Ort             vielleicht nicht, dass man auch ein komisches Ta-
ist, und wir haben uns deshalb entschlossen, es               lent hat oder gern vor Publikum spricht. Da gibt es
ein bisschen historisch zu machen. Mozarts Rei-               ganz viel Potential zu heben.

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