TARIFRUNDE ÖFFENTLICHER DIENST - Fakten zur Tarifpolitik im Öffentlichen Dienst und zur Tarif- und Besoldungsrunde Bund Kommunen 2023

Die Seite wird erstellt Astrid Schröder
 
WEITER LESEN
TARIFRUNDE
ÖFFENTLICHER  DIENST

          Fakten zur Tarifpolitik
          im Öffentlichen Dienst und
          zur Tarif- und Besoldungsrunde
          Bund Kommunen 2023

                             Vereinte
                             Dienstleistungs-
                             gewerkschaft
Herausgeber
Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di
Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin
Verantwortlich: Christine Behle
Bearbeitung: Team Bereich Tarifpolitik öffentlicher Dienst
Umschlaggestaltung: Hansen Kommunikation Collier GmbH
Layouterstellung: VH-7 Medienküche GmbH, 70372 Stuttgart, www.vh7.de

W-3905-67-1022, November 2022
Liebe Kolleginnen
und Kollegen!
Inflationsraten von zehn Prozent, Gas-
preise, die sich verfünffacht haben, teil-
                                              HISTORISCHE DIMENSION
weise doppelte Kosten für Lebensmittel –      DER TARIFRUNDE
all das bestimmt zurzeit unseren Alltag.      In dieser Situation sind die Erwartungen an
Viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst     die Tarif- und Besoldungsrunde 2023 für
wissen nicht mehr wie sie die Kosten stem-    die Beschäftigten von Bund und Kommunen
men können. Die aktuelle Situation trifft     natürlich groß. Über 130.000 Kolleg*innen
alle hart! Insbesondere die Kolleginnen und   haben sich an der Online-Umfrage zur
Kollegen in den unteren Entgeltgruppen.       Tarifrunde beteiligt, dazu kommen mehrere
Gleichzeitig gab es noch nie so viel zu tun   Tausend Papierfragebögen – die größte
im öffentlichen Dienst: Arbeitskräftemangel   Befragung von Beschäftigten zu den Forde-
überall und immer mehr Aufgaben.              rungen und Aktionsbereitschaft, die es
                                              bisher im öffentlichen Dienst gegeben hat!
Die Bundesregierung hat mehrere Entlas-
tungspakete auf den Weg gebracht, die für     Auch die diskutierten Forderungen haben
Familien bisher 500 bis über 1.000 Euro       eine historische Dimension. Fast ein halbes
mehr im Geldbeutel bedeuten. Doch die         Jahrhundert ist es her: Seit dem Streik im
die Entlastungen bestehen aus vielen klei-    öffentlichen Dienst 1974 wurden keine so
neren Maßnahmen, deren Wirkung einzeln        hohen Forderungen mehr diskutiert, wie in
betrachtet kaum spürbar ist. Große Teile      diesem Jahr.
der Bevölkerung fürchten weiter Kaufkraft-    Schon vor Beginn der Tarifrunde warnen
verluste und wollen – oder müssen – ihren     Arbeitgeber vor zu hohen Lohnforderungen.
Konsum bei Energie und Kraftstoffen, aber     Auch manche Politiker*innen und Öko­
ebenso bei anderen Gütern und Dienst­         nomen*innen rufen zur Mäßigung auf.
leistungen einschränken. Die Entlastungs-     Sie malen das Schreckgespenst einer Lohn-
pakete können eine verlässliche und dauer-    Preis-Spirale an die Wand, die die Inflation
hafte Erhöhung der Einkommen nicht            zusätzlich befeuern würde.
ersetzen.
                                              Hier heißt es, gute Argumente an der Hand
                                              zu haben und vor allem: Entschlossenes
                                              und gemeinsames Einstehen für unsere
                                              Forderung!

                                                                                        1
WIE GEHT TARIFRUNDE?                            BIST DU BEREIT?
In dieser Broschüre findest Du viele Argu-      Das Wichtigste in dieser Tarifrunde ist,
mente zu aktuellen Fragen wie auto­             dass wir gemeinsam Stärke entwickeln.
matische Inflationsanpassung, Entlastungs­      Du kannst sicher sein, dass wir uns in den
pakete, Schuldenbremse, öffentliche             Verhandlungen mit aller Macht für die
Haushalte. Auch viele Informationen, wie        Forderung einsetzen werden. Aber am
eine Tarifrunde funktioniert, sind enthalten.   Verhandlungstisch alleine kann sich diese
Denn Tarifverhandlungen haben einen             Tarifrunde nicht entscheiden. Nicht eine
eigenen Ablauf. Wenn Du ihn kennst,             historisch außergewöhnliche Tarifrunde mit
kannst Du gezielt handeln, damit wir            einer historisch außergewöhnlichen Forde-
gemeinsam ein gutes Ergebnis durchsetzen        rung! Klar muss sein: Wer hohe Forderungen
können.                                         stellt, muss sich auch darauf einstellen
Wenn Du über die aktuellen Entwicklungen        Außergewöhnliches in Bewegung zu setzen,
auf dem Laufenden bleiben willst, gibt es       um diese Forderungen durchzusetzen.
weitere Angebote: Auf Telegram kannst Du        Nach der großartigen Beteiligung an der
verdiOfficalBot abonnieren, um immer auf        Online-Beschäftigtenbefragung wollen wir
dem neusten Stand zu bleiben. Als Tarif-        nun ins direkte Gespräch gehen, um Kraft
botschafter*in kannst Du in der Tarif- und      und Durchsetzungsbereitschaft aufzubauen
Besoldungsrunde als Ansprechpartner*in          – und das Außergewöhnliche tatsächlich in
für Deine Kolleg*innen in Betrieb oder          Bewegung zu setzen. In jedem Betrieb und
Dienststelle aktiv werden. Wir, die beiden      jeder Dienststelle sollen alle Beschäftigten
Verhandlungsführer Frank Werneke                befragt werden, ob sie sich mit ihrer Unter-
und ich, halten Dich in regelmäßigen            schrift hinter die Forderung stellen und
Livestreams auf dem Laufenden. Und              bereit sind, sie auch durchsetzen.
Online-Qualifizierungsangebote gibt es          Bist Du bereit, bei diesem Test unserer
auch.                                           Stärke mitzumachen und auch in Deinem
                                                Betrieb oder Deiner Dienststelle eine Mehr-
                                                heit zu organisieren, die hinter unserer
                                                gemeinsamen Forderung steht?
                                                Denn nur #zusammengehtmehr!

                                                Deine Christine Behle
                                                Stellvertretende ver.di-Vorsitzende

2
Was es hier zu lesen gibt –
Inhaltsverzeichnis
1} Den öffentlichen Dienst im Blick.................................................... Seite 4
	Zahlen, Daten, Fakten zur Beschäftigung im öffentlichen Dienst

2}	Tarifarbeit im öffentlichen Dienst
   und die Tarifrunde mit Bund und Kommunen.................................... Seite 7

3}	Von der Forderungsdiskussion bis zur Tarifeinigung......... Seite 10
	Wie entsteht ein Tarifvertrag – und wie kannst Du Dich einbringen?

4}	Was regelt der Tarifvertrag? Und was steht im Gesetz?..... Seite 15

5}	Tariffolklore oder: Warum denn schon wieder?....................... Seite 16
    Ziele gewerkschaftlicher Lohnpolitik

6}	Tarifrunde in Zeiten hoher Preissteigerung........................... Seite 18

7}	Die Situation der öffentlichen Haushalte................................ Seite 27

8}	Die Forderungen der Bundestarifkommission ö.D.................. Seite 30

9}	Sei dabei!................................................................................................... Seite 32

Die Verhandlungstermine.......................................................................... Seite 33

                                                                                                                        3
1}	Den öffentlichen Dienst
   im Blick
	Zahlen, Daten, Fakten zur Beschäftigung
  im öffentlichen Dienst
Woran denken die meisten Bürgerinnen         Diese und noch weitere Leistungen der
und Bürger wohl zuerst, wenn man sie         Daseinsvorsorge müssen Bund, Länder,
nach dem öffentlichen Dienst fragt? Wahr-    Gemeinden und Sozialversicherungsträger
scheinlich an das Rathaus, das Bürgeramt,    im Rahmen ihrer Aufgaben und Pflichten
an Formulare.                                den Bürgerinnen und Bürgern bereitstellen.
Doch die öffentliche Daseinsvorsorge         Dazu sind sie durch das Sozialstaatprinzip
hat weitaus mehr zu bieten. Zum Beispiel     (Artikel 20 Grundgesetz) verpflichtet.
Mobilität – ob nun mit dem Auto auf          Bürgerinnern und Bürger haben also einen
öffentlichen Verkehrswegen oder im           Rechtsanspruch auf einen funktionierenden
öffentlichen Personennahverkehr. Gepflegte   Staat. Gewinnerzielung ist nicht die Bedin-
Parks und Stadtgärten. Schwimmbäder.         gung. Es dreht sich nicht um Profit wie in
Freizeiteinrichtungen und Sportplätze.       Unternehmen, sondern um die Erbringung
Kultur- und Begegnungsstätten. Soziale       guter Leistungen – und zwar gleicher­
Einrichtungen und Hilfe im Lebensalltag.     maßen für alle Menschen, die in diesem
Gesundheitsvorsorge und Krankenhäuser.       Land leben.
Schutz und Sicherheit vor Verbrechen,        Bund, Länder und Gemeinden geben auf-
Feuer oder Katastrophen. Kitas, Schulen      grund unterschiedlicher Aufgaben auch
und Hochschulen. Von der Versorgung mit      unterschiedliche Anteile ihrer Gesamtaus-
Energie und Wasser – bis zur Entsorgung      gaben für Personalkosten aus: Beim Bund
von Abfällen. Finanzielle Absicherung bei    beträgt der Anteil nicht einmal sieben
Krankheit, im Alter, bei Arbeitslosigkeit    Prozent. Ein guter Tarifabschluss fällt hier
oder Arbeitsunfällen. Behörden, Verwaltun-   kostenmäßig kaum ins Gewicht. Den
gen und Betriebe – damit der Rechtsstaat     höchsten Personalkostenanteil haben die
auch funktionieren kann. Kurzum: Alle        Länder. Sie geben fast jeden dritten Euro
öffentlichen Leistungen, die das Leben       für Personal aus, bei den Gemeinden ist
auch lebenswert machen!                      es jeder vierte Euro.

4
PERSONALKOSTEN BEI BUND,
  LÄNDERN UND GEMEINDEN 2021
                Bund                                        Länder                            Gemeinden
                     6,6 %                                                                        1,7 %

             8,4 %
     8,1 %
                                                   26,8 %                                                  25,0 %
                                                                     30,1%
                                                                                         32,7 %

                     76,9 %                        20,7 %
                                                                22,4 %                                40,6 %

      Personalausgaben        Zuweisungen und Zuschüsse      Sachausgaben    sonstiges

                                                                                              Quelle: BMF Finanzbericht 2023

Im öffentlichen Dienst im engeren Sinn                           2,5 Millionen Beschäftigte sind Beschäftigte
arbeiten fast 5,1 Millionen Beschäftigte. Bei                    der Bundesländer und rund 375.000 sind
öffentlichen Arbeitgebern insgesamt sind es                      Beschäftigte bei den Sozialversicherungs­
über 6,3 Millionen. Öffentliche Arbeitgeber                      trägern. Beschäftigte bei den öffentlichen
sind außer dem öffentlichen Dienst im                            Arbeitgebern arbeiten als tarifbeschäftigte
engeren Sinn auch Einrichtungen in privater                      Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder
Rechtsform, an denen die öffentliche Hand                        als Beamtinnen und Beamte sowie Richte-
ganz oder überwiegend beteiligt ist. Beim                        rinnen und Richter. Auch Soldatinnen und
Bund arbeiten gut 520.000 Beschäftigte im                        Soldaten zählen zum öffentlichen Dienst.
öffentlichen Dienst und nochmals 260.000                         Und natürlich Auszubildende, dual Studie-
bei sonstigen öffentlichen Arbeitgebern,                         rende und Anwärterinnen und Anwärter.
wie zum Beispiel der Deutschen Bahn AG,
die in Bundesbesitz ist. Bei Städten und
Gemeinden arbeiten gut 1,66 Millionen
Beschäftigte im öffentlichen Dienst und
nochmals gut eine Million bei sonstigen
öffentlichen Arbeitgebern. Insgesamt rund

                                                                                                                               5
BESCHÄFTIGTE IN DEN KOMMUNEN                                                                Vollzeit       Teilzeit
     1,8                                                                                                                    1,65
           1,58                                                                                                             Mio.
           Mio.
     1,6
                                                    1,33
                                                    Mio.
     1,4
           0,51 0,51                                                                                                     0,67
                     0,52 0,52                                                                                 0,62 0,64
     1,2                         0,51 0,50                                                        0,58 0,60
                                           0,50 0,50 0,50 0,52 0,54 0,54 0,55 0,55 0,56 0,56 0,57
     1,0

     0,8

     0,6 1,07
              1,02 1,00 0,95 0,90
                                  0,87 0,86 0,84 0,83 0,83 0,82 0,83 0,84 0,86 0,87 0,88 0,89 0,91 0,92 0,94 0,96 0,98
     0,4

     0,2

     0,0
           2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
                                                                                                   Quelle: Statistisches Bundesamt

In den vergangenen Jahrzehnten ist die                             Wandels zu gewinnen. Unter dem Beschäf-
Zahl der Beschäftigten im öffentlichen                             tigungsrückgang hat die Bereitstellung von
Dienst erheblich reduziert worden: Im                              öffentlichen Leistungen in vielen Bereichen
öffentlichen Dienst im engeren Sinn arbei-                         spürbar gelitten; Schlangen in Bürgerämtern,
teten 1991 noch 6,7 Millionen Menschen.                            überlastete Sozial- und Gesundheitsämter,
Die Zahl sank auf einen Tiefstand von                              fehlende Kita-Plätze, Pflegenotstand in
4,5 Millionen im Jahr 2008. Seither steigen                        Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen. Die
die Zahlen wieder:                                                 Pandemie hat uns diese Probleme deutlich
2021 nahm die Beschäftigung bei den                                vor Augen geführt. Auch arbeiten heute
öffentlichen Arbeitgebern gegenüber 2020                           viel mehr Beschäftigte in Teilzeit. Im öffent-
um knapp 130.000 Beschäftigte zu, darun-                           lichen Dienst insgesamt sind ein Drittel
ter fast die Hälfte bei den Kommunen 1.                            Teilzeitbeschäftigte, in den Städten und
Dennoch ist es weiterhin schwer, Fachkräfte                        Gemeinden sind es sogar gut 40 Prozent.
für die Bewältigung des demografischen

1
     eschäftigungszahlen für öffentliche Arbeitgeber veröffentlicht das Statistische Bundesamt immer erst im November
    B
    eines Jahres für das Vorjahr. Für die Tarifrunde beziehen wir uns zusätzlich auf aktuellere Daten, die die Vereinigung
    der kommunalen Arbeitgeberverbände für Städte und Gemeinden erhebt.

6
2}	Tarifarbeit im öffentlichen
   Dienst und die Tarifrunde mit
   Bund und Kommunen
Als Gewerkschaft stehen wir immer               So endeten im Sommer diesen Jahres die
gemeinsam für gute Arbeits- und Lebens-         Tarifverhandlungen mit den kommunalen
bedingungen ein – so auch im öffentlichen       Arbeitgebern für die Beschäftigten im
Dienst. Die Tarifgemeinschaft auf Seiten        Sozial- und Erziehungsdienst. Seit Jahren
der Arbeitgeber wurde jedoch 2006 auf­          kämpfen die Kolleginnen und Kollegen um
gelöst. Seitdem existieren im öffentlichen      Aufwertung und bessere Anerkennung
Dienst zwei unterschiedliche Tarifverträge      ihrer Arbeit. Aktuell ging es um eine Ver-
und die Tarifverhandlungen finden               besserung der belastenden Arbeitsbedin-
getrennt voneinander statt. Die Arbeits­        gungen, finanzielle Aufwertung der Arbeit
bedingungen der Tarifbeschäftigten der          und Maßnahmen gegen Fachkräftemangel.
Länder sind im „Tarifvertrag für den öffent-    Erreicht werden konnte unter anderem die
lichen Dienst der Länder“ (TV-L) und in         Einführung von zwei Regenerationstagen
Hessen im TV-H geregelt.                        pro Jahr und eine monatliche Zulage, für
Für die Tarifbeschäftigten im Bereich des       die auf Wunsch der Beschäftigten zwei
Bundes und der Kommunen gilt der „Tarif-        weitere Tage eingetauscht werden können.
vertrag für den öffentlichen Dienst“, kurz      Am 24. Januar 2023 beginnt die gemein-
TVöD. Verhandelt wird aber auch für die         same Tarifrunde für die Beschäftigten von
kommunalen Versorgungsunternehmen,              Bund und Kommunen (TVöD, TV-V, TV-N).
die unter den Tarifvertrag Versorgungs­         Im Mittelpunkt steht in diesen Zeiten unge-
betriebe (TV-V) fallen, sowie für die kom-      wöhnlich stark steigender Preise auf jeden
munalen Nahverkehrsunternehmen mit              Fall eine Entgelterhöhung. Der öffentliche
den jeweiligen landesweiten Tarifverträgen      Dienst muss ein attraktiver Arbeitgeber
Nahverkehr (TV-N).                              sein. Nur dann kann er die für die Erfüllung
Tarifarbeit im öffentlichen Dienst beinhaltet   seiner Aufgaben benötigten Fachkräfte
nicht nur die Tarifrunden zum Entgelt. ver.di   halten und auch neue werben. Das ist
setzt sich genauso für bessere Arbeitsbe-       nicht nur für die Beschäftigten wichtig,
dingungen ein.                                  sondern für alle Menschen in unserem
                                                Land.

                                                                                           7
Die Verhandlungen für Bund und Kommu-           Verhandlungsspitze den aktuellen Stand,
nen finden gemeinsam statt: Für die             diskutiert das weitere Vorgehen und lässt
Beschäftigten des Bundes wird mit dem           sich von der Stimmung der Beschäftigten
Bundesinnenminister verhandelt. Die             in den Verwaltungen und Betrieben berich-
Beschäftigten der Städte und Gemeinden          ten. Die Verhandlungskommission wiede-
und kommunalen Betriebe haben unzäh-            rum setzt sich aus Vertreterinnen und Ver-
lige Arbeitgeber, die ihre Interessen durch     tretern aus der Bundestarifkommission für
die Vereinigung der kommunalen Arbeit­          den öffentlichen Dienst (BTK ö.D.) zusam-
geberverbände (VKA) am Verhandlungs-            men. Deren Mitglieder sind gewählte Kolle-
tisch vertreten lassen.                         ginnen und Kollegen von Dir, aus allen
Da ver.di auch immer die zeit- und inhalts-     Bereichen des öffentlichen Dienstes und aus
gleiche Übertragung des Ergebnisses auf         allen Regionen Deutschlands. Die BTK ö.D.
die Beamtinnen und Beamten, Richterinnen        entscheidet zum Beispiel über Tarifforde-
und Richter sowie Soldatinnen und Solda-        rungen und die Annahme oder Ablehnung
ten fordert, ist diese Tarif- und Besoldungs-   von Verhandlungsergebnissen.
runde auch Maßstab für die Besoldung von        Unabhängig von den Herausforderungen
gut 366.000 Beamtinnen und Beamten              durch die hohen Preissteigerungen gibt es
sowie 188.500 Versorgungsempfängerin-           trotz guter Erfolge in unserer Tarifarbeit
nen und -empfänger des Bundes. Für die          in den letzten Jahren im Bereich des öffent-
Besoldung der Beamtinnen und Beamten            lichen Dienstes noch einiges „gerade zu
der Kommunen sind die Bundesländer              rücken“. Wer nämlich glaubt, Beschäftigte
zuständig, sodass sie nicht in die Tarif- und   beim Staat haben auf Lebenszeit einen
Besoldungsrunde 2023 einbezogen sind.           sicheren Arbeitsplatz, zählen zu den Spitzen­
Die Gewerkschaft ver.di ist Verhandlungs-       verdiener*innen und haben bereits jetzt
führerin auf der Gewerkschaftsseite und         für ihren Ruhestand ausgesorgt, der irrt.
der öffentliche Dienst bei uns „Chefsache“.
Deshalb führen Frank Werneke, Vorsitzen-
der von ver.di, und Christine Behle, stell­
vertretende Vorsitzende von ver.di, die Ver-
handlungen für unsere Kolleginnen und
Kollegen. Doch dabei sind sie nicht allein,
denn die ver.di-Verhandlungskommission
ist ebenfalls vor Ort. Mit ihr berät die

8
Prekäre Arbeit, wie zum Beispiel Befristung,                  70,2 Prozent. Hier gilt es aufzuholen: Die
ist gerade bei öffentlichen Arbeitgebern                      abhängig Beschäftigten im öffentlichen
weit verbreitet. Die Lücke zwischen den                       Dienst müssen ebenso wie andere Beschäf-
Löhnen und Gehältern im öffentlichen                          tigtenbereiche an der langfristigen gesamt-
Dienst und den Löhnen und Gehältern in                        wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben.
anderen Branchen ist weiterhin noch nicht                     Dafür braucht es deutliche Lohnsteige­-
geschlossen. Gegenüber dem Jahr 2000                          r­ungen, die mithelfen, die Lücke gegen-
sind die Einkommen der Beschäftigten                          über anderen Branchen zu verringern. Das
bei Bund und Kommunen um 59 Prozent                           ist wichtig, um als attraktiver Arbeitgeber
gestiegen. In der Gesamtwirtschaft hinge-                     weiterhin qualifizierte Fachkräfte an sich zu
gen betrug das Plus in diesem Zeitraum                        binden.
63,1 Prozent, in der Metallindustrie sogar

 TARIFENTWICKLUNG 2000 – 2021
  2000 = 100
 170
              Metallindustrie        170,2
              Chemische Industrie 168,4
 160
              Preise + Produktivität 164,4
              Gesamt                 163,1
 150          Öffentlicher Dienst 159,0
              Bund und Gemeinden
 140          Einzelhandel           151,6
              Preisindex             136,5
 130

 120

 110

 100
       2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
                                                                                                     Quelle: WSI-Tarifarchiv

                                                                                                                               9
3}	Von der Forderungsdiskussion
   bis zur Tarifeinigung
	Wie entsteht ein Tarifvertrag –
  und wie kannst Du Dich einbringen?
Ein kurzer Exkurs zum Tarifvertrag             Jahressonderzahlung) sind oft in einem
im Allgemeinen:                                Entgelttarifvertrag geregelt. Der Grund?
Gewerkschaften schließen Tarifverträge         Über die Höhe des Entgelts muss regel­
ab. Und das nicht erst seit gestern. Arbei-    mäßig, alle ein bis zwei Jahre, verhandelt
ter*innen haben im 19. Jahrhundert             werden. Der Manteltarifvertrag hingegen
Gewerkschaften genau dafür gegründet,          wird seltener verhandelt und kann daher
um nicht alleine dem Arbeitgeber gegen-        eine längere Laufzeit haben. Getreu dem
über zu stehen, sondern gemeinsam              Motto: „Was man hat, das hat man.“ Im
bessere Einkommens- und Arbeitsbedin-          öffentlichen Dienst sind diese Regelungs­
gungen durchsetzen zu können. Verhan-          arten in einem Werk zusammengefasst –
delt wird mit dem jeweiligen Arbeitgeber       liest sich einfacher. Dafür haben aber
oder mit dem Zusammenschluss mehrerer          die Entgeltregelungen entsprechend der
Arbeitgeber, dem Arbeitgeberverband. Im        vereinbarten Laufzeit auch andere Kündi-
Tarifvertrag halten Gewerkschaften und         gungsfristen.
Arbeitgeber das Ergebnis schriftlich fest.     Tarifverträge gelten zwingend und unmit-
Während Tarifverträge früher in erster Linie   telbar wie ein Gesetz nur für die Mitglieder
den „Tarif“, also die Bezahlung der            der vertragsschließenden Gewerkschaft.
Beschäftigten, regelten, sind sie heute um     Ein Arbeitgeber, der Mitglied im unter-
einiges umfangreicher. Beispielsweise bei      zeichnenden Arbeitgeberverband ist, muss
den allgemeinen Arbeitsbedingungen, zu         den Tarifvertrag für die ver.di-Mitglieder
denen u.a. die regelmäßige wöchentliche        anwenden. Nur wer Mitglied der unter-
Arbeitszeit, der Anspruch auf Erholungs­       zeichnenden Gewerkschaft ist, hat unmit-
urlaub und Arbeitsbefreiung oder Regelun-      telbaren Anspruch auf die Leistungen aus
gen zur Beendigung des Arbeitsverhältnis-      dem Tarifvertrag. Wer sich darauf ausruhen
ses zählen. Diese „Rahmenbedingungen“          will, dass sein Arbeitgeber einen geltenden
werden in einem Rahmen- oder Mantel­           Tarifvertrag bei allen Beschäftigten anwen-
tarifvertrag festgehalten. Die Bezahlung,      det, dem sei gesagt: Dieses „Entgegen-
also das Tabellenentgelt und weitere Ent-      kommen“ ist freiwillig!
geltbestandteile (wie Zulagen oder die

10
Und wichtig ist: Je mehr Beschäftigte Mit-   Doch keine Sorge: Auch wenn die Entgelt-
glied der Gewerkschaft sind, umso bessere    regelungen gekündigt sind – Geld gibt’s
Regelungen können durchgesetzt werden.       trotzdem weiterhin. Die „Nachwirkung“
Wenn niemand in der Gewerkschaft wäre,       sorgt dafür, dass die gekündigten Rege­
könnten die Arbeitgeber wieder einseitig     lungen solange weitergelten, bis ein neuer
die Arbeits- und Bezahlungsbedingungen       Tarifabschluss erzielt wird. Das gilt aller-
bestimmen. Denn Dein Interesse ist nicht     dings nur für Gewerkschaftsmitglieder,
das Interesse Deines Arbeitgebers, auch      die bereits vor dem Zeitpunkt des Wirk-
wenn es ein öffentlicher Arbeitgeber ist.    samwerdens der Kündigung (also am
                                             31. Dezember 2022) bei demselben Arbeit-
                                             geber beschäftigt waren.
AM ANFANG DES NEUEN STEHT
DAS ENDE DES ALTEN: ENDE
DER LAUFZEIT UND KÜNDIGUNG                   ALLES ANDERE ALS EIN
DES TARIFVERTRAGES                           WUNSCHKONZERT:
                                             DIE FORDERUNGSDISKUSSION.
Tarifverträge haben grundsätzlich eine
bestimmte Laufzeit, die festlegt, wann der   In jeder Tarif- und Besoldungsrunde sind
Tarifvertrag oder eine einzelne Regelung     unsere ver.di-Mitglieder gefragt: Was und
frühestens gekündigt werden kann. Das        in welcher Höhe soll gefordert werden?
schafft Planungssicherheit auf beiden        Deshalb ist es wichtig, dass die in ver.di
Seiten. Die Tabellenentgelte für die         organisierten Kolleg*innen auf Versamm-
Beschäftigten der Länder sowie die Ent-      lungen in den Betrieben und Dienststellen
gelte für die Auszubildenden, Schüler*in-    darüber diskutieren, welche Forderungen
nen, Student*innen und Praktikant*innen      sie an die Arbeitgeber richten wollen. Zwei
sind zum 31. Dezember 2022 kündbar.          Dinge sind dabei zu beachten: Zum einen
Mit der Kündigung der Entgelttabellen gibt   muss die Forderung grundsätzlich „arbeits-
die BTK ö.D. am 11. Oktober 2022 den         kampffähig“ sein, d.h. es darf hierzu nicht
Startschuss für die Tarif- und Besoldungs-   bereits eine Regelung bestehen bzw. muss
runde gegeben. Nach dem Ende der Lauf-       diese gekündigt sein – das ist Vorausset-
zeit am 31. Dezember 2022 sind wir für       zung, dass wir unsere Forderungen nöti-
die Entgeltforderungen auch arbeitskampf-    genfalls auch durch Streik durchsetzen
fähig. Dafür wollen wir uns gemeinsam        können. Und, noch viel wichtiger: Wer
bereitmachen.                                etwas fordert, muss sich auch immer die
                                             Frage stellen, welche Bereitschaft es in den
                                             eigenen Reihen gibt, diese Forderung auch
                                             mit Nachdruck und im äußersten Fall mit
                                             Streik durchzusetzen!

                                                                                       11
Allerdings: Nicht jede Forderung, die vor        LOS GEHT’S!
Ort aufgestellt wird, schafft es in die Tarif-
runde. Die letzte Entscheidung liegt bei der
                                                 DIE TARIFVERHANDLUNGEN
Bundestarifkommission. Sie diskutiert die        BEGINNEN.
Forderungsempfehlungen aus den ver.di-           Wie in den vorangegangenen Tarifrunden
Bezirken und Landesbezirken, fasst die           sind vorerst drei Verhandlungstermine
Diskussion zusammen und beschließt eine          angesetzt. Der Verhandlungsauftakt ist am
gemeinsame Forderung, die bundesweit             24. Januar 2023. An diesem ersten Termin,
gilt. Für diese Forderung gilt es, gemeinsam     an dem Gewerkschaften und Arbeitgeber
aktiv zu werden und zu kämpfen!                  zusammenkommen, gab es in der Vergan-
                                                 genheit in der Regel wenig Bewegung.
                                                 Und dennoch ist der Auftakt von Bedeu-
UND JETZT?                                       tung. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt
DIE ZEIT BIS ZUM BEGINN                          sind wir gefordert zu zeigen, dass wir
DER TARIFVERHANDLUNGEN.                          gemeinschaftlich und entschlossen hinter
                                                 unseren Forderungen stehen! Es ist ein
Bevor die Verhandlungen beginnen, muss
                                                 guter Ersteindruck gegenüber den Arbeit-
die Zeit genutzt werden, um in den Betrie-
                                                 gebern und wichtig für die weiteren Ver-
ben und Dienststellen sowie in der Öffent-
                                                 handlungen, wenn wir schon im Vorfeld in
lichkeit auf unsere Forderungen aufmerk-
                                                 den Betrieben und Dienststellen aktiv
sam zu machen. Das heißt, im Rahmen
                                                 waren und uns am Tag des Verhandlungs-
von gemeinschaftlichen Aktionen weitere
                                                 auftakts am Verhandlungsort blicken lassen!
Mitstreiter*innen im Betrieb, aber auch
Unterstützer*innen in der Öffentlichkeit         Denn eins ist klar: Allein am Verhandlungs-
zu gewinnen. Jetzt ist Kreativität gefragt!      tisch werden wir unsere Forderungen nicht
So lassen sich Mittagspausen nutzen,             durchsetzen können. Für unseren Erfolg
um Kolleg*innen in einer Pausen-Aktion,          braucht es die Unterstützung jeder einzelnen
z. B. in der Kantine, zu informieren und zu      Kollegin und jedes einzelnen Kollegen!
interessieren, damit wir auch auf ihre           Die weiteren Verhandlungstermine sind der
Unterstützung und Beteiligung zählen             22./23. Februar und der 27.–29. März 2023.
können. Dazu gehört auch, sie aus guter
Überzeugung für eine Mitgliedschaft in           In Abhängigkeit vom Verlauf der Verhand-
ver.di zu gewinnen!                              lungen ruft ver.di zwischen den Verhand-
                                                 lungsterminen zu Warnstreiks auf. Der
                                                 Streik ist das wichtigste Mittel der Beschäf-
                                                 tigten, ihren Forderungen auch Nachdruck
                                                 zu verleihen, Entschlossenheit zu demonst-
                                                 rieren und „Schwung“ in die weiteren
                                                 Verhandlungen zu bringen. Darauf stellen
                                                 wir uns auch in dieser Tarifrunde wieder
                                                 ein. Die Vorbereitung läuft seit Monaten.

12
EIN ERGEBNIS –                                 gibt die Stimme der stimmberechtigten
                                               Schlichterin bzw. des stimmberechtigten
ODER KEIN ERGEBNIS?                            Schlichters den Ausschlag. Da bei der
Sind die anberaumten Verhandlungen             letzten Schlichtung das Stimmrecht beim
beendet, gibt es zwei Möglichkeiten:           Schlichter der Arbeitgeberseite lag, ist im
                                               Falle einer Schlichtung in dieser Tarifrunde
                                               die ver.di-Seite dran.
A}   Keine Einigung und
     somit auch kein Ergebnis.                 Die Schlichtungsempfehlung hat keine
     Und nun?                                  bindende Wirkung. Anders als während
                                               den Verhandlungen herrscht während
Eine Möglichkeit ist es, einen weiteren
                                               der Schlichtung Friedenspflicht: Arbeits-
Verhandlungstermin zu vereinbaren. Das
                                               kampfmaßnahmen sind auf beiden Seiten
haben wir auch schon mal gemacht. Doch
                                               untersagt.
häufig sind zu diesem Zeitpunkt alle Argu-
mente ausgetauscht. Dann müssen die            Die Tarifvertragsparteien sind verpflichtet,
Arbeitgeber mit anderen Mitteln überzeugt      innerhalb von drei Tagen die Verhandlungen
werden und alle Zeichen stehen auf Streik.     auf Grundlage der Schlichtungsempfehlung
Denn Tariffragen sind Machtfragen!             wiederaufzunehmen.

Ein weiterer Versuch der Einigung:             Verhandlungen gescheitert: Streik!
Die Schlichtung.                               Wenn wir in den Verhandlungen keine
Bevor wir versuchen, unsere Ziele mit          Einigung erzielen können, ist der Arbeits-
einem unbefristeten Arbeitskampf zu errei-     kampf das letzte Mittel, um unsere Forde-
chen, kann in den Tarifrunden mit Bund         rungen durchzusetzen.
und VKA von beiden Seiten die Schlichtung      Ob ein Streik ausgerufen werden soll,
angerufen werden. Wenn eine Seite die          entscheiden die ver.di-Mitglieder in einer
Schlichtung anruft, muss sich die andere       Urabstimmung. Mehr als 75 Prozent der
Seite auf das Verfahren einlassen. Von         ver.di-Mitglieder, die unter den umkämpf-
beiden Seiten wird jeweils eine Schlichterin   ten Tarifvertrag fallen, müssen sich bei
bzw. ein Schlichter benannt Die Schlichte-     der Urabstimmung für einen Streik aus-
rinnen bzw. Schlichter bemühen sich,           sprechen. Das bedeutet dann:
gemeinsam mit den Schlichtungskommis­          Wir sind jetzt also im Ausstand! Wir, die
sionen der Arbeitgeber und der Gewerk-         Beschäftigten im öffentlichen Dienst, sind
schaften, zu einer von beiden Seiten           im Streik!
getragenen Schlichtungsempfehlung zu
kommen. Bei einer Kampfabstimmung ist
nur einer der beiden Schlichter stimm­
berechtig. Das wechselt von Schlichtung zu
Schlichtung. Gibt es kein Einvernehmen,

                                                                                          13
Ein kleiner Exkurs zum Arbeitskampf             Die Verhandlungen können jederzeit fort-
Die Rechtsprechung zu Arbeitskämpfen            gesetzt werden. Der Streik wird dann für
passt nicht in diese Broschüre. Die gesetz­     die Dauer der Verhandlungen ausgesetzt.
liche Grundlage hingegen kommt mit drei         Kommt bei den weiteren Tarifverhandlungen
Zeilen aus:                                     ein Verhandlungsergebnis zustande,
                                                müssen die Mitglieder erneut ihr Votum
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung           abgeben. Bei dieser zweiten Urabstimmung
der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen         müssen sich mindestens 25 Prozent der
Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann      Mitglieder für die Annahme des Verhand-
und für alle Berufe gewährleistet.“             lungsergebnisses aussprechen. Ist dies der
(Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz)                  Fall, wird auch der Streik beendet. Warum
Beschäftigte dürfen sich zur Verbesserung       25 Prozent? Die für die Fortsetzung des
ihrer Arbeitsbedingungen einer Vereini-         Streiks erforderlichen 75 Prozent sind dann
gung (Gewerkschaft) anschließen (Koaliti-       ja nicht mehr vorhanden.
onsfreiheit). Auf Grundlage dieses Artikels
des Grundgesetzes hat das Bundesarbeits-
gericht höchstrichterlich entschieden, dass
Streik ein legitimes und auch das einzige       B}   Einigung auf ein
                                                     Verhandlungsergebnis
Mittel ist, mit dem die Beschäftigten ihre
Interessen durchsetzen können. Alles            Über die Annahme eines Verhandlungs­
andere wäre nichts weiter als „kollektives      ergebnisses entscheidet die Bundestarif-
Betteln“.                                       kommission. Dies jedoch nicht, ohne vor-
Das ist für Dich aber nur wichtig als Hinter-   her die Meinung der Mitglieder eingeholt
grundwissen. Um das Rechtliche kümmert          zu haben. Das Ergebnis wird vorgestellt
sich ver.di. Sobald die Gewerkschaft zum        und mit ihnen diskutiert. Erst nach der
Streik aufruft, sind die Beschäftigten          Rückkopplung mit den Mitgliedern ent-
berechtigt, die Arbeit niederzulegen. Und       scheidet die Tarifkommission über die
das gilt auch für Auszubildende, soweit sie     endgültige Annahme des Verhandlungs­
von den Tarifverhandlungen betroffen und        ergebnisses.
auch zum Streik aufgerufen wurden. Da           Der Tarifkonflikt ist damit beendet. Unsere
während eines Streiks kein Anspruch auf         Aufgabe ist es dann, den Tariferfolg in
Entgeltzahlung besteht, zahlt die Gewerk-       den Betrieben und Verwaltungen auch ent­
schaft ver.di ihren Mitgliedern aus der         sprechend umzusetzen! Hier sind die
solidarisch finanzierten Streikkasse eine       Personal- und Betriebsräte – mit Unter­
Streikunterstützung.                            stützung ihrer Gewerkschaft – in der Ver-
                                                antwortung, die Einhaltung der Tarifrege-
                                                lungen im Blick zu behalten.

14
4}	Was regelt der Tarifvertrag?
   Und was steht im Gesetz?
Tarifverträge kommen in der Rangfolge                unten“ bindend. Eine Klausel z. B. im
der unterschiedlichen Rechtsnormen in                Arbeitsvertrag eines Gewerkschaftsmit-
Deutschland nach den Gesetzen und vor                glieds, die das Niveau der Tarifregelung
der Betriebs- oder Dienstvereinbarung und            unterläuft, hat ebenso keinen Bestand.
dem Einzelarbeitsvertrag.                            Da die Gesetzgebung also Mindeststandards
Daraus ergibt sich folgende Logik: Das               für die Arbeitsbedingungen bestimmt,
Gesetz steht über dem Tarifvertrag. Ein              können durch Tarifvertrag bessere Regel­
Tarifvertrag kann folglich nicht gegen eine          ungen vereinbart werden – vorausgesetzt
Mindestregelung im Gesetz verstoßen.                 natürlich, die Gewerkschaft ist aufgrund
Eine Regelung im Tarifvertrag, die schlech-          eines hohen Organisationsgrades entspre-
ter ist als die gesetzliche, ist nichtig. Besser     chend durchsetzungsfähig. Das ist das
geht jedoch immer, d.h. das „Günstig-                überzeugendste Argument gegenüber dem
keitsprinzip“ erlaubt es, im Tarifvertrag            Arbeitgeber!
eine Regelung zu treffen, die über dem               Nachfolgend eine Auswahl an gesetzlichen
Niveau des Gesetzes liegt. Damit ersetzt             Regelungen in Gegenüberstellung zur Ver-
der Tarifvertrag für die Gewerkschaftsmit-           einbarung im TVöD:
glieder die Gesetzesnorm und ist „nach

 GEGENSTAND               GESETZ                         TV-L
 Regelmäßige              Arbeitszeitgesetz              39 Stunden je Woche bei Bund und
 wöchentliche             max. 48 Stunden je Woche       Kommunen (West) und ab 2023 auch
 Arbeitszeit                                             bei Kommunen (Ost)
 Erholungsurlaub          Bundesurlaubsgesetz            30 Arbeitstage je Jahr
                          24 Werktage (bei 6-Tage-       (bei 5-Tage-Woche)
                          Woche) entsprechend 20
                          Arbeitstage bei 5-Tage-Woche
 Ausbildungs­             Berufsbildungsgesetz (BBiG)    Auszubildende nach dem BBiG von
 vergütung                „angemessene Vergütung“,       1.068,26 Euro* (1. Ausbildungsjahr)
                          jährlich steigend              bis 1.227,59 Euro* (4. Ausbildungsjahr)
 Jahressonder-            Keine Regelung                 z. B. 84,51 % vom Monats-Brutto in den
 zahlung                                                 Entgeltgruppen 1–8 (VKA, ab 2023)
* Stand seit 01.04.2022

                                                                                                   15
5}	Tariffolklore oder:
    Warum denn schon wieder?
       Ziele gewerkschaftlicher Lohnpolitik
Gewerkschaftliche Lohnpolitik ist keine       müssen sie sich über die Qualität der Pro-
Tariffolklore, sondern hat gleich mehrere     dukte und Dienstleistungen und guten
gute Gründe!                                  Service behaupten. Und noch was: Tarif­
Grundsätzlich schützt ein Tarifvertrag die    verträge sind manchmal auch Vorreiter für
einzelnen Beschäftigten vor der Willkür des   die Gesetzgebung. Vieles, was wir heute
Arbeitgebers und entfaltet damit auch für     als selbstverständlich aus Gesetzen kennen,
die Gesellschaft insgesamt eine positive      wurde erstmals in einem Tarifvertrag ge­-
Wirkung. Abgesehen von dieser grundsätz-      regelt. Bezahlter Urlaub? – Bis 1945 nur
lichen Schutzfunktion setzen Tarifverträge    in Tarifverträgen geregelt. Gesetzlicher
auch dem Wettbewerb um den billigsten         Kündigungsschutz? – Geht auf eine Verein-
Lohn und damit um die billigsten Arbeits-     barung zwischen den Gewerkschaften und
kräfte deutliche Schranken. Wenn Tarif­       den Arbeitgeberverbänden von 1950
verträge für eine ganze Branche für allge-    zurück. Sechs Wochen Lohnfortzahlung im
meinverbindlich erklärt werden und somit      Krankheitsfall? – Eine Tarifregelung, die
für alle Unternehmen dieser Branche gelten,   sogar erst 1969 für alle Gesetz wurde.
können die Unternehmen nicht mehr über
immer niedrigere Löhne konkurrieren, die
sie ihren Beschäftigten zahlen. Stattdessen

16
Aber warum denn „alle Jahre wieder“          Wenn die Wirtschaft von Jahr zu Jahr
Tarifverhandlungen?                          wächst, gibt es außerdem immer mehr
Die Regelmäßigkeit, in der die Beschäftig-   zu verteilen. Dabei dürfen die Arbeitneh-
ten des öffentlichen Dienstes wie auch aus   mer*innen nicht zu kurz kommen:
anderen Branchen in Tarifverhandlungen       Schließlich sind sie es, die den Wohlstand
eine Entgelterhöhung fordern, erklärt sich   in unserem Land erwirtschaften.
so:                                          Für die Attraktivität von Arbeitsplätzen ist
Jedes Jahr verändern sich wirtschaftliche    aber nicht nur die Vergütung entscheidend.
Kennzahlen. Daher muss sich auch im          Fachkräfte machen ihre Entscheidung,
Portemonnaie was tun. In den meisten         wo sie zukünftig arbeiten, immer mehr von
Jahren wächst die Wirtschaft, gleichzeitig   Kriterien wie Work-Life-Balance, Länge und
werden Waren und Dienstleistungen teurer,    Gestaltung der Arbeitszeit, Selbst­
dadurch verliert unser Geld an Wert          bestimmtheit (z. B. Möglichkeit eines
(Inflation). So kann es dazu kommen, dass    Homeoffice), Qualifikationsmöglichkeiten,
Beschäftigte ohne jährliche Lohnerhöhung     Gesundheitsförderung und Zusatzleistun-
im nächsten Jahr mit der gleichen Menge      gen (z. B. Jobticket) abhängig. Damit der
Geld weniger kaufen können. Genau das        öffentliche Dienst von dieser Entwicklung
erleben wir seit Monaten in extremer Form.   nicht abgekoppelt wird und weiterhin
Es geht also nicht immer darum, „mehr        ein attraktiver Arbeitgeber bleibt, haben
Geld“ zu bekommen – sondern auch             Forderungen zu diesen Themen zuletzt
darum, zu vermeiden, dass sich weniger       ebenfalls viel Raum in unseren Tarifrunden
Geldwert im Portemonnaie befindet!           eingenommen. In dieser Tarifrunde ist
                                             jedoch klar, dass für die große Mehrheit
                                             der Kolleg*innen eine Tariferhöhung ein-
                                             deutig im Vordergrund steht.

                                                                                      17
6}	Tarifrunde in Zeiten
   hoher Preissteigerung
In der Regel wächst die Wirtschaft Jahr für     Im September 2022 korrigierten alle Wirt-
Jahr und die Arbeitsproduktivität steigt. Die   schaftsforschungsinstitute ihre Prognosen
Produktivität steigt, wenn die Beschäftigten    nach unten. Sie liegen nun noch zwischen
in der gleichen Zeit mehr Waren oder            1,1 und 1,6 Prozent. Deutschland steuert
Dienstleistungen schaffen oder für eine         auf eine Rezession zu, schreibt das Institut
gleiche Menge an Waren oder Dienstleis-         für Makroökonomie und Konjunkturfor-
tungen weniger Zeit benötigen. Es gibt also     schung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
langfristig immer mehr zu verteilen.            Für 2023 liegen die Prognosen der Institute
Der öffentliche Dienst trägt maßgeblich zu      zwischen minus 1,4 und plus 0,8 Prozent.
Wachstum und Wohlstand in Deutschland           Ursachen sind Lieferengpässe, massive
bei. Er schafft die Bedingungen für eine        Erhöhungen der Energiepreise, insbeson-
funktionierende Wirtschaft und ermöglicht       dere von Gas, sowie eine schwächere
somit auch Umsatz und Profit in der Privat-     Weltkonjunktur.
wirtschaft. Das zeigt sich insbesondere seit    Hinzu kommt, dass auch der private
der Corona-Pandemie.                            Konsum rückläufig ist. Nachdem die
Die Summe aller Waren und Dienstleistun-        Corona-Beschränkungen Stück für Stück
gen – das sogenannte reale Bruttoinland-        aufgehoben werden konnten, hatten
sprodukt (BIP) – ist in Deutschland nach        Nachholeffekte die Konjunktur zunächst
dem Einbruch von –3,7 Prozent im ersten         beflügelt: Die Menschen gingen wieder
Corona-Jahr wieder gewachsen. Nach dem          auf Reisen, ins Kino oder in Konzerte, zum
Plus von 2,9 Prozent 2021 sah es auch für       Frisör oder ins Fitnessstudio. Nun sorgen
2022 zunächst nach einem weiteren Plus          die hohen Preise für neue Einschränkun-
von zwei bis drei Prozent aus. Doch schnell     gen, die viele Bürger*innen sich auferlegen
machten sich die Folgen des Angriffskriegs      müssen.
Russlands auf die Ukraine bemerkbar.

18
NACH CORONA IN DIE NÄCHSTE KRISE
  Bruttoinlandsprodukt in Deutschland
   3,0                                                               2,9 %
                    2,7%
                                                                                              Prognosen
         2,2%
   2,0
                                                                                  1,1 % bis 1,6 %
                               1,0 %    1,1%                                                        –1,4 % bis 0,8%
   1,0

                                                 –3,7 %
    0

  –1,0

  –2,0

  –3,0

  –4,0
         2016       2017       2018     2019       2020               2021               2022               2023
                                                Quelle: Statistisches Bundesamt Sept, 2022, Prognosen von September 2022

Ausgleich von Preissteigerungen                Bereits im letzten Jahr war ein Anstieg
Ein Ziel gewerkschaftlicher Lohnpolitik ist    auf 3,1 Prozent zu verzeichnen. Für 2022
der Ausgleich von gestiegenen Verbrau-         liegen die Prognosen für die Inflationsrate
cherpreisen – der Inflationsausgleich. Damit   zwischen 7,3 und 8,4 Prozent. In den
sich Beschäftigte nach einer Entgelterhö-      Jahren niedriger Inflation interessierten sich
hung auch mehr leisten können als vorher,      die meisten nur für die Veränderung der
müssen prozentuale Erhöhungen verein-          Preise im Jahresdurchschnitt im Vergleich
bart werden, die – zumindest über einen        zum Vorjahr. Im Moment blicken alle jeden
längeren Zeitraum betrachtet – oberhalb        Monat gespannt auf die neuesten Zahlen
der prognostizierten Inflationsrate liegen.    des Statistischen Bundesamts, die die
                                               Inflationsrate nicht im Jahresdurchschnitt
In den letzten zehn Jahren lag die Inflati-    vergleichen, sondern eines Monats im
onsrate meist deutlich unter zwei Prozent –    Vergleich zum Vorjahresmonat.
dem Ziel, das die Europäische Zentralbank
auch anstrebt. 2015, 2016 und 2020 lag
sie sogar bei nur 0,5 Prozent. In dem Fall
führen auch niedrigere Tarifabschlüsse für
die Beschäftigten zu einem Reallohnzu-
wachs.

                                                                                                                       19
VERBRAUCHERPREISE
 Veränderungen gegenüber dem Vorjahresmonat
                                                                                                                            10,0 %
                                                                                                                             9,0 %
                                                                                                                             8,0 %
                                                                                                                             7,0 %
                                                                                                                             6,0 %
                                                                                                                             5,0 %
                                                                                                                             4,0 %
                                                                                                                             3,0 %
                                                                                                                             2,0 %
                                                                                                                             1,0 %
                                                                                                                             0,0 %
                                                                                                                            –1,0 %
   Jan
   Feb
 März
  Apr
  Mai
  Juni
   Juli
 Aug
  Sep
  Okt
  Nov
  Dez
   Jan
   Feb
 März
  Apr
  Mai
  Juni
   Juli
 Aug
  Sep
  Okt
  Nov
  Dez
   Jan
   Feb
 März
  Apr
  Mai
  Juni
   Juli
 Aug
  Sep
                   2020                                  2021                                    2022
                                                                                                Quelle: Statistisches Bundesamt 2022

 VERBRAUCHERPREISE
 Veränderungen gegenüber dem Vorjahr

                                                                                                               3,5–9,5%

                                                                                                     7,3–8,4%

                                                                                              3,1%
                                                                                                                         1,6–2,7%
                   2,1%   2,0%                                      1,8%
                                 1,4%                        1,5%          1,4%
            1,1%                        1,0%
     0,3%                                      0,5%   0,5%                          0,5%

     2009   2010   2010   2012   2013   2014   2015   2016   2017   2018   2019     2020      2021      2022      2023      2024
                                                                                  Quelle: Statistisches Bundesamt, aktuelle Prognosen

20
Für September wurde mit zehn Prozent der        quote) exakt gleichbleibt. Der Anteil der
Wert zweistellig – ein deutlicher Sprung        Beschäftigten am gesamtwirtschaftlichen
gegenüber den rund acht Prozent seit            Kuchen bleibt dann unabhängig von der
März. Ein Sprung war erwartet worden,           Größe des Kuchens gleich – die erzielten
weil Ende August der Tankrabatt und das         Entgelterhöhungen sind somit verteilungs-
9-Euro-Ticket ausliefen, wodurch Mobilität      neutral. Berechnet wird der verteilungsneu-
auf einen Schlag wieder teurer wurde.           trale Spielraum als Summe aus der jährli-
Trotz des zweistelligen Werts im September      chen Preissteigerung sowie dem jährlichen
wird die Inflation im Jahresdurchschnitt bei    Wachstum der Arbeitsproduktivität im
rund acht Prozent liegen.                       gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt.
Für 2023 liegen die Prognosen der Wirt-         In Zeiten von außergewöhnlichen Krisen ist
schaftsforschungsinstitute für die Inflati-     der verteilungsneutrale Spielraum wegen
onsrate weit auseinander: Sie liegen            großer Schwankungen kein gutes Orientie-
zwischen 3,5 und 9,5 Prozent, wobei die         rungsmaß und bei starken Preissteigerun-
Mehrheit der Institute rund neun Prozent        gen eine echte Herausforderung. Von 2018
erwartet. Das IMK sieht die Entwicklung         bis 2020 konnten Gewerkschaften Tarifab-
mit 5,7 Prozent etwas optimistischer.           schlüsse zwischen zwei und drei Prozent
Institute, die schon eine Prognose für 2024     erzielen und lagen damit oberhalb des ver-
wagen, erwarten wieder einen Rückgang           teilungsneutralen Spielraums. Schon im
in Richtung zwei Prozent.                       letzten Jahr lag der verteilungsneutrale
                                                Spielraum bei 4,0 Prozent und allein die
                                                Inflationsrate bei 3,1 Prozent. Mit einer
Der verteilungsneutrale Spielraum               durchschnittlichen Tariferhöhung von 1,7
Bei den Tarifforderungen von ver.di und         Prozent mussten die Beschäftigten sogar
anderen Gewerkschaften spielt der so            einen Reallohnverlust hinnehmen.
genannte „verteilungsneutrale Spielraum“
eine zentrale Rolle. Er beziffert jenen Wert,
um den die Löhne und Gehälter binnen
eines Jahres steigen müssen, damit die
Verteilung des Volkseinkommens zwischen
Arbeit und Kapital (und damit die Lohn-

                                                                                        21
NEUTRALER VERTEILUNGSSPIELRAUM
 UND LOHNENTWICKLUNG
     7,0 %

     6,0 %

                                                         4,7 %
     5,0 %

                                                                                                                                                                                                 4,0 %
                                         3,4 %

                                                                                                                                                3,3 %
     4,0 %

                                                                                                      3,1 %

                                                                                                                                                                3,0 %

                                                                                                                                                                            2,9 %
               2,9 %

                                                                          2,7 %

                                                                                                                      2,7 %
                                                                                      2,7 %
                                 2,6 %
             2,6 %

                                                                         2,6 %

                                                                                                                                   2,4 %

                                                                                                                                           2,4 %
     3,0 %

                                                                                                                                                                        2,2 %
                                                                                              2,0 %

                                                                                                                                                        2,0 %
                                                                 2,0 %

                                                                                                                                                                                         2,0 %
                                                                                  1,9 %

                                                                                                                                1,9 %
                                                 1,8 %

                                                                                                                                                                                                         1,7 %
                                                                                                                                                                                      1,5 %
     2,0 %

                                                                                                              1,0 %
                       – 2,7 %

     1,0 %

     0,0 %

 –1,0 %
                                                                                                                              Verteilungsspielraum
 –2,0 %
                                                                                                                              Tariflohnentwicklung
 –3,0 %

 –4,0 %
             2008       2009             2010             2011            2012    2013         2014            2015              2016       2017         2018            2019          2020        2021
                                                                                                                                                                                    Quelle: WSI-Tarifarchiv

Für die Jahre 2022 und 2023 erwarten die                                                                  Lohn-Preis-Spirale?
Wirtschaftsforschungsinstitute neben der                                                                  Mit dem Schreckgespenst einer Lohn-Preis-
außergewöhnlich hohen Inflationsrate zwar                                                                 Spirale, die die Inflation zusätzlich befeuern
nur eine schwache, meist negative Ent-                                                                    würde, rufen einige Arbeitgeber und
wicklung bei der Arbeitsproduktivität. Ins-                                                               Ökonomen*innen Gewerkschaften zur
gesamt weist der verteilungsneutrale Spiel-                                                               Mäßigung bei Tarifforderungen auf.
raum aber sehr hohe Werte auf:                                                                            Andere Ökonom*innen wiederum kontern,
                                                                                                          die Lohn-Preis-Spirale sei ein Mythos, der
                                         2022                               2023
                                                                                                          mit einem moralischen Unterton Beschäf-
     Inflationsrate               7,3 – 8,4 %                            3,5 – 9,5 %                      tigten und Gewerkschaften die Verantwor-
+ Produktivität                  –0,9 – 0,1 %                            –0,5 – 0,2 %
                                                                                                          tung für die hohe Inflation zuschieben will.
                                                                                                          Wenn, dann muss von einer Preis-Preis-
= Verteilungs­                    6,4 – 8,5 %                            3,0 – 9,7 %
     neutraler                                                                                            Spirale gesprochen werden. Die aktuelle
     ­Spielraum                                                                                           Inflation ist durch die Energiekosten impor-
                                                                                                          tiert und wird durch Preiserhöhungen der
                                                                                                          Unternehmen zusätzlich verstärkt. Insbe-
                                                                                                          sondere marktbeherrschende Unternehmen
                                                                                                          wie die Mineralölkonzerne heizen die

22
SCHERE ZWISCHEN LOHN UND PROFIT
 ÖFFNET SICH WIEDER
 Preisbereinigte Entwicklung 2000 bis 2021
  145 %
  140 %
  135 %
                Unternehmens- und
  130 %
                Vermögenseinkommen
  125 %
  120 %
  115 %
  110 %
  105 %
  100 %
                                                                                                    Arbeitnehmerentgelt
   95 %
                                                                                                    je Stunde
   90 %
          2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
                                 Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen mit Verbraucherpreisindex, Spetember 2022, 2000 = 100% gesetzt

Inflation an. Aktuell geht dies eindeutig zu                             Automatische Inflationsanpassung?
Lasten von Beschäftigten, weil es zuletzt                                Einige Länder, wie zum Beispiel unser
nicht gelungen ist, Reallohnverluste zu                                  Nachbar Belgien, wenden Regeln zur auto-
verhindern.                                                              matischen Anpassung von Löhnen an die
Der Begriff Lohn-Preis-Spirale ist außerdem                              Inflationsrate an, die sogenannte Lohn­
irreführend, weil es keinen Automatismus                                 indexierung. Bei hohen Inflationsraten
zwischen steigenden Löhnen und Preisen                                   erscheint ein solches System verlockend.
gibt. Für Preise sind allein die Unternehmen                             Es könnte Beschäftigte in allen Branchen
verantwortlich. Wenn Löhne und somit                                     vor Reallohnverlusten schützen und die
Arbeitskosten steigen, erhöhen einige                                    Kaufkraft stabilisieren. Allerdings kann es
Firmen ihre Preise, um zu verhindern, dass                               nur ein erster Schritt der Lohnfindung sein.
ihre Gewinne schrumpfen – es sei denn,                                   Zusätzlich muss es weitergehende Tarif­
der Wettbewerb hindert sie daran.                                        verhandlungen geben, wie das auch in
                                                                         Belgien der Fall ist. Nur dann können
                                                                         Gewerkschaften Reallohnzuwächse und
                                                                         eine Teilhabe der Beschäftigten an der Pro-
                                                                         duktivitätsentwicklung durchsetzen. Denn
                                                                         nur ein Inflationsausgleich reicht nicht aus,

                                                                                                                                                   23
erst recht nicht in den wirtschaftlichen       Zu den bereits umgesetzten, beschlossenen
Phasen mit relativ niedrigen Preissteige-      und geplanten Maßnahmen gehören unter
rungsraten, wie in den vergangenen Jahren.     anderem:
In Belgien hat die Lohnindexierung eine        – Wegfall der EEG-Umlage
lange Tradition. In Deutschland ist keine         (Ersparnis bis zu 130 Euro für
politische Mehrheit für solche Modelle in         einen vierköpfigen Haushalt)
Sicht. Sinnvoll kann es jedoch sein, tarif­    – Erhöhung des Kinderzuschlags
vertraglich die Inflationsentwicklung in den      für Menschen mit kleinen Einkommen
Blick zu nehmen, wie in der Tarifeinigung         von 109 auf 229 Euro
für die Beschäftigten der Seehäfen vom         – Erhöhung Heizkostenzuschuss für Wohn-
August 2022. Die Tarifeinigung hat eine           geld- und BaföG-Empfänger*innen
Laufzweit von zwei Jahren, enthält jedoch      – Energiepreispauschale von 300 Euro brutto
ein Sonderkündigungsrecht, wenn die
                                               – Tankrabatt
Inflationsentwicklung im kommenden Jahr
höher als erwartet sein sollte.
                                               – 9-Euro-Ticket
                                               – Energiepreispauschale auch
                                                  für Rentner*innen 300 Euro,
Entlastung durch die Maßnahmen                    Studierende 200 Euro
der Bundesregierung?                           – Strompreisbremse,
Die Bundesregierung hat mehrere Entlas-           die den Grundbedarf deckelt
tungspakete auf den Weg gebracht, deren        – Abschöpfung von „Zufallsgewinnen“
Umfang sie auf fast 100 Milliarden Euro           auf dem Strommarkt
beziffert. Aktuell erntet das angekündigte     – Erhöhung des Kindergelds um jeweils
200-Milliarden-Euro-Paket („Doppel-               18 Euro
wumms“) zur Bewältigung der Energiekrise       – 1,5 Milliarden Euro vom Bund für
viel Kritik aus den europäischen Nachbar-         ein Nahverkehrsticket
staaten. Europa kritisiert, dass nicht alle    – Bund stellt zusätzliche Zahlungen von
sich Pakete in diesem Umfang leisten kön-         Unternehmen an ihre Beschäftigten bis
nen und Deutschland sich dadurch einen            zu 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei
weiteren Wettbewerbsvorteil verschafft.        – Einkommensteuersenkung
Auch viele Bundesländer sind bisher un­-
zufrieden, weil Details des Pakets bisher
unklar sind und die Aufteilung der Kosten
zwischen Bund und Ländern noch zu
klären ist.

24
ENTLASTUNG DURCH DIE BISHERIGEN
 MAßNAHMEN DER BUNDESREGIERUNG
     Paare mit 2 Kindern, 2.000 bis 2.600 € netto                                                              1.060 €

     Paare mit 2 Kindern, 3.600 bis 5.000 € netto                                                            1.036 €

     Paare ohne Kinder, 3.600 bis 5.000 € netto                                              864 €

     Paare mit 2 Kindern, Grundsicherung                                                    850 €

     Alleinerziehende mit 2 Kindern, 2.000 bis 2.600 € netto                            833 €

     Paare mit 2 Kindern, 2.600 bis 3.600 € netto                                   791 €

     Alleinlebende, 1.500 bis 2.000 € netto               489 €

     Alleinlebende, 500 bis 900 € netto               453 €

 0                    200                     400                 600             800                1.000                 1.200
                                                                                                       Quelle: IMK, September 2022

Das IMK hat errechnet, dass die Entlastun-                              Konsumrückgangs bleibt in den nächsten
gen einen spürbaren Anteil der Zusatzbe-                                Monaten bestehen. Denn große Teile der
lastungen ausgleichen, die 2022 durch die                               Bevölkerung fürchten weiter Kaufkraft­
hohen Energie- und Nahrungsmittelpreise                                 verluste und wollen – oder müssen – ihren
entstanden. Allerdings sei die Inflation                                Konsum bei Energie und Kraftstoffen, aber
weiter gestiegen und die Energiepreise                                  ebenso bei anderen Gütern und Dienstleis-
bleiben auch in das Jahr 2023 hinein wei-                               tungen einschränken. Eine verlässliche und
ter hoch. Außerdem bestehen die Entlas-                                 dauerhafte Erhöhung der Einkommen ist
tungen aus vielen kleineren Maßnahmen,                                  daher unerlässlich und kann durch die Ent-
deren Wirkung einzeln betrachtet kaum                                   lastungspakete nicht ersetzt werden.
sichtbar ist. Die Gefahr eines deutlichen

                                                                                                                                 25
Steuer- und beitragsfreie                       Die im Entlastungspaket der Bundesregie-
Sonderzahlung?                                  rung enthaltene Möglichkeit einer steuer-
Seit der Corona-Pandemie erfreuen sich          und abgabenfreie Sonderzahlung in Höhe
steuer- und beitragsfreie Sonderzahlungen       von 3.000 Euro ist attraktiv, könnte sich
größerer Beliebtheit. Sie sind nicht nur bei    jedoch als vergiftetes Geschenk entpup-
Beschäftigten willkommen, auch Arbeit­          pen, wenn Arbeitgeber diese Einmal­
geber sind gerne auf diese Weise groß­          zahlung als Ersatz für eine dauerhafte
zügig, denn sie müssen für diese Zahlung        tabellenwirksame Erhöhung zu nutzen
an die Beschäftigten ebenfalls keine Sozial-    versuchen. Zudem verzichten nicht nur die
abgaben zahlen. Arbeitgeber im öffent­          öffentlichen Haushalte dabei auf Steuer­
lichen Dienst müssen allerdings auch            einnahmen, auch die Sozialversicherungen
berücksichtigen, dass sie im Fall von steuer-   verlieren Beitragseinnahmen. Und diese
freien Sonderzahlungen im Vergleich zu          Ausfälle müssen am Ende von den Beschäf-
regulären, steuerpflichtigen Zahlungen an       tigten über mögliche Beitragserhöhungen
Beschäftigte, weniger Steuereinnahmen           wieder ausgeglichen werden.
erzielen.                                       Die Belastung durch die hohen Preissteige-
                                                rungen sind dauerhaft, daher erfordert sie
                                                auch dauerhafte Einkommenssteigerungen.

26
7}	Die Situation der
     öffentlichen Haushalte
Bei Tarifverhandlungen in der Privatwirt-     In den Jahren vor Beginn der Corona-Krise
schaft stehen die Forderungen der Beschäf-    nahmen Bund, Länder und Gemeinden
tigten dem Interesse der Arbeitgeber an       deutlich mehr ein, als sie ausgaben. So
möglichst hohen Gewinnen gegenüber.           kamen Rekordüberschüsse von 50 und 60
Das Verhältnis von Lohn und Profit steht      Milliarden Euro zustande. Auch die Kom-
bei Verhandlungen mit öffentlichen Arbeit-    munen erzielten 2018 und 2019 Über-
gebern nicht im Vordergrund. Doch Löhne       schüsse von fast neun bzw. 4,5 Milliarden
und Gehälter der Beschäftigten im öffent­     Euro.
lichen Dienst müssen, wie alle Leistungen     In den Corona-Jahren 2020 und 2021
der öffentlichen Daseinsvorsorge, aus den     gingen Städte und Gemeinden zunächst
öffentlichen Kassen finanziert werden.        ebenfalls davon aus, ins Defizit zu rutschen.
Regelmäßig versuchen sich die Arbeitgeber     Die Unterstützungszahlungen von Bund
mit dem Argument „Die öffentlichen Kassen     und Ländern glichen hohe Ausgaben
sind leer!“ aus der Verantwortung zu          jedoch aus, so dass die Kommunen am
stehlen. In Krisenzeiten, insbesondere wie    Ende sogar Überschüsse erzielen konnten.
jetzt in Zeiten notwendig hoher Ausgaben      Auch jetzt befürchten Kommunen wieder
aus den öffentlichen Haushalten, meinen       Haushaltsdefizite. Und die Verhandlungs-
sie erst recht, damit auch die Mehrheit der   führerin der Kommunen, Karin Welge,
Bevölkerung auf ihrer Seite zu haben.         warnt schon im Vorfeld der Tarifrunde vor
Doch dieses Argument kann grundsätzlich       „zu hohen Forderungen“. Gleichzeit wird
nicht überzeugen, weil Beschäftigte im        weiterhin über die Finanzierung notwen­
öffentlichen Dienst das gleiche Recht auf     diger Entlastungen von Bürger*innen und
gute Bezahlung haben, wie alle anderen        der Wirtschaft zwischen Bund, Ländern
auch. Und auch um ein attraktiver Arbeit-     und ihren Kommunen verhandelt.
geber zu bleiben, sind gute Einkommen
wichtig.

                                                                                        27
Sie können auch lesen