Tattoos, Turmschädel und gefeilte Zähne - Europa Körperkult bei den Wikingern - Historische ...

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Europa Körperkult bei den Wikingern

Tattoos, Turmschädel und gefeilte Zähne
Kein Fußballer ohne Tätowierung, kein Punk ohne Piercing – das ist                                                      te und häufig angeführte Beleg stammt von
nichts Neues unter der Sonne. Körpermodifikationen sind aus vielen                                                      dem arabischen Diplomaten Aḥmad ibn
                                                                                                                        Faḍlān aus dem ersten Viertel des 10. Jh.,
Kulturen bekannt. Forschungen der letzten Jahre zeigen, dass es                                                         der als Gesandter zu den Wolgabulgaren
vergleichbare Praktiken schon bei den Wikingern gab.                                                                    reiste und dort ostskandinavischen Wi‐
                                                                                                                        kingern, den Rus, begegnete. Er beschreibt
                                                                                                                        deutlich beeindruckt die perfekten Körper
Von Matthias S. Toplak                                                                                                  der Männer »hoch wie Palmbäume«, die
                                                                                                                        »von den Spitzen der Zehen bis zum Na‐

Z
       u allen Zeiten versuchte der Mensch,                                                                             cken mit dunkelgrünen Mustern bedeckt
       durch sein Aussehen eine bestimm‐                                                                                sind«. Allerdings lässt sich diese Passage
       te Identität nach außen zu vermit‐                                                                               nicht eindeutig übersetzen. Aus dem ara‐
teln. Zum Beispiel konnte eine besondere
Tracht – Kleidung oder Schmuckattribute –
die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zum
Ausdruck bringen und von anderen Grup‐
pen abgrenzen. Oftmals entwickelten sich
diese konkreten Zeichen zu modischen
Statussymbolen einer sich als überlegen
fühlenden Gruppe und – sukzessive losge‐
löst von ihrer ursprünglichen Bedeutung –
zu einem rein ästhetischen Schönheits‐
ideal. Extreme Fälle stellen permanente
Eingriffe wie Tätowierungen oder Zier‐
                                                                                            Kunstgegenstand der
narben dar. Anders als Schmuck oder                                                         Wikingerzeit: Axt aus ei-
Trachtelemente lassen sich derartige Ver‐                                                   nem dänischen Kammer-
änderungen am Körper nur unter be‐            wilden Nordmänner auch ihren Körper mit       grab des späten 10. Jh.     bischen Original geht nicht klar hervor,
stimmten Umständen im archäologischen         aufwendigen Mustern tätowierten. Kon‐         mit kunstvollen Einlege-    ob diese Muster tätowiert oder nur aufge‐
                                                                                            arbeiten im Mammen-
Befund fassen; entweder bei ausgezeich‐       krete Belege für diese Annahme sind je‐                                   malt waren, da dasselbe arabische Wort
                                                                                            Stil.
neter Erhaltung von organischer Substanz,     doch kaum zu finden.                                                      auch für Wandbemalungen verwendet
wie bei den Tätowierungen skythischer             Tätowierungen lassen sich in Europa                                   wird. Ibn Faḍlān wertete diese Körper‐
Mumien, oder wenn Knochen‐ oder Zahn‐         spätestens ab dem Neolithikum vor über                                    verzierung jedoch als »un‐islamisch«, was
                                                                                            Wikingerzeitliche Täto-
struktur verändert wurde. Neueren Be‐         5000 Jahren nachweisen. Berühmtester                                      wiederum zu echten Tätowierungen pas‐
                                                                                            wiernadel? Eisernes Ob-
funden zufolge sind auch in der skandina‐     und zusammen mit zwei neuen Funden aus                                    sen würde, da diese bei koptischen Chris‐
                                                                                            jekt aus einem Grab des
vischen Wikingerzeit einige Körpermodi‐       Oberägypten ältester Beleg ist die Glet‐      berühmten Bootsgräber-      ten heute noch als Abgrenzung zum Islam
fikationen nachzuweisen.                      schermumie »Ötzi« vom Hauslabjoch in          felds von Vendel.           üblich sind.
                                              Südtirol. In der klassischen Antike waren                                     Zwei weitere historische Quellen bele‐
Tätowierte Wikinger?                          Tätowierungen zur Markierung von Skla‐                                    gen zumindest, dass Tätowierungen bei
   Das populäre, medial vermittelte Bild      ven oder Kriminellen bei Römern und Grie‐                                 einigen Völkern in Europa im Frühmittel‐
wie etwa in der Serie Vikings zeigt zumeist   chen üblich, freiwillige Tätowierungen als                                alter bekannt waren. Papst Hadrian verbot
einen wilden Krieger mit langen Haaren,       ästhetisch empfundener Körperschmuck –                                    im 8. Jh. in einer Bulle den heidnischen
Bart und oftmals auch kunstvollen Täto‐       wie einige ausgezeichnet erhaltene »Eis‐                                  Brauch der Tätowierung in Britannien.
wierungen, die wie selbstverständlich als     mumien« aus Kammergräbern des 5. Jh.                                      Vermutlich bezog er sich, ebenso wie Isi‐
elementare Aspekte eines wikingischen         v. Chr. im Altai‐Gebirge für die skythische                               dor von Sevilla ein Jahrhundert zuvor, auf
Schönheitsideales wahrgenommen wer‐           Kultur belegen – wurden von Römern und                                    die keltischen Pikten, deren Stammesname
den. Aufgrund der Neigung, selbst Alltags‐    Griechen als barbarisch und unzivilisiert                                 bereits auf Tätowierungen oder Bemalun‐
gegenstände wie Löffel oder Essschalen        empfunden.                                                                gen des Körpers hinweist.
mit kunstvollen Verzierungen zu schmü‐                                                                                      Archäologisch lässt sich hingegen nur
cken, und der enormen Bedeutung, welche       Bemalte Krieger,                                                          wenig als Beleg anführen. Ein kammartiges
die verschiedenen Kunststile der skandi‐      hoch wie Palmbäume                                                        Eisenobjekt aus einer wikingerzeitlichen
navischen Wikingerzeit offensichtlich für     Mögliche Hinweise für Tätowierungen in                                    Bestattung auf dem Gräberfeld von Vendel
die damalige Gesellschaft hatten, fällt es    Skandinavien zwischen dem 8. bis 11. Jh.                                  in Schweden wird unter Vorbehalt als Tä‐
nicht schwer, sich vorzustellen, dass die     sind dagegen rar. Der vielversprechends‐                                  towiernadel interpretiert, eine Deutung,

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Tattoos, Turmschädel und gefeilte Zähne - Europa Körperkult bei den Wikingern - Historische ...
Kleine Statuette aus Rällinge,   die Betreiber moderner Tattoo‐Studios
mutmaßlich der altnordische      nicht unbedingt teilen. Auf der Rückseite
Gott Freyr. Die Muster auf der
                                 einer kleinen Figurine aus dem schwedi‐
Rückseite erinnern an Täto-
wierungen.                       schen Rällinge, die als Darstellung des alt‐
                                 nordischen Gottes Freyr gedeutet wird,
                                 sind Muster eingeritzt, die als Tätowie‐
                                 rungen gesehen werden, ebenso gut aber
                                 auch nur einfache Verzierungen sein könn‐
                                 ten. Leichen mit Tätowierungen, wie bei
                                 einigen Mumien aus Grönland aus dem
                                 15. Jh., sind aus der skandinavischen Wi‐
                                 kingerzeit nicht bekannt, was aber alleine
                                 schon der schlechten Erhaltung von orga‐
                                 nischem Gewebe im nordischen Klima
                                 geschuldet sein dürfte.

                                 Gefeiltes Grinsen
                                 Eine ebenso permanente, aber weitaus un‐
                                 gewöhnlichere Form der wikingerzeitli‐
                                 chen Körpermodifikation ist erst seit eini‐
                                 gen Jahren bekannt. Bei etwa hundert
                                 Männern, hauptsächlich von der schwedi‐
                                 schen Insel Gotland, waren horizontale
                                 Riefen in die Schneidezähne gefeilt. Das
                                 Feilen der Zähne ist in vielen Kulturkrei‐
                                 sen, z. B. in Afrika oder Südostasien, eine
                                 übliche Form des Initiationsritus, aus der
                                 skandinavischen Wikingerzeit wie gene‐
                                 rell aus Europa waren jedoch lange keine
                                 vergleichbaren Fälle bekannt. Für dieses
                                 Phänomen wurden bisher verschiedene
                                 Deutungsansätze vorgebracht: als Mar‐
                                 kierung von Sklaven, für ein besonders
                                 grimmiges, kriegerisches Aussehen oder
                                 als Erkennungsmerkmal früher Handels‐
                                 gilden. Sicher erscheint zumindest, dass
                                 die gefeilten Stellen, zumeist auf den
                                 Schneidezähnen des Oberkiefers, unter
                                 Oberlippe und Bart nur sehr eingeschränkt
                                 sichtbar waren, selbst wenn man sie mit
                                 einer dunklen Paste beispielsweise aus
                                 Ruß einfärbte. Demnach mussten sie ganz
                                 bewusst von ihrem Träger gezeigt werden,
                                 was es ermöglichte, sie für Initiationsri‐
                                 ten und als konspiratives Identifikations‐
                                 merkmal eines geschlossenen Verbundes
                                 zu nutzen. Eine Funktion als modischer
                                 oder ästhetischer Körperschmuck ist da‐
                                 gegen eher unwahrscheinlich. Da die gro‐
                                 ße Mehrheit der Zahnfeilungen bisher aus
                                 Männergräbern bekannt ist, die keinerlei
                                 Hinweise auf kriegerische Aktivitäten der
                                 Bestatteten liefern, ist beim aktuellen For‐
                                 schungsstand anzunehmen, dass die Fei‐
                                 lungen Schiffsgemeinschaften oder Han‐
                                 delsverbände, ähnlich späterer Gilden,
                                 kennzeichneten.

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Europa Körperkult bei den Wikingern

Hunnischer Einfluss im                        Horizontal eingefeilte    ten. Mit dem Vordringen der Hunnen nach            Zudem lassen sich mehrere Fälle künst‐
hohen Norden?                                 Riefen an den Schneide-   Europa Ende des 4. Jh. als Auftakt der Völ‐    lich deformierter Schädel aus dem Zeit‐
                                              zähnen eines Mannes
Die vermutlich extremste Form von Kör‐                                  kerwanderung verbreiteten sich Turm‐           raum um das 10./ 11. Jh. aus Ost‐ und Süd‐
                                              aus Gotland.
permodifikationen in der Wikingerzeit aber                              schädel – vermutlich assoziiert mit der        osteuropa nachweisen; ein deformierter
ist über ein Jahrhundert weitestgehend                                  Vormachtstellung der Hunnen und als mo‐        Frauenschädel wurde auf einem Gräber‐
ignoriert worden. Auf drei weit voneinan‐                               disches Statussymbol – auch unter den ger‐     feld des bedeutsamen Handelsplatzes von
der entfernt liegenden Gräberfeldern der                                manischen Stämmen in Mitteleuropa. So          Wolin im heutigen Polen gefunden und
schwedischen Insel Gotland waren drei                                   wurden im 5. und frühen 6. Jh. auf einer       kann in die Mitte des 11. Jh. datiert werden,
erwachsene Frauen mit typisch gotländi‐                                 Reihe von Gräberfeldern Frauen mit de‐         ebenso ein Kinderschädel aus der Slowa‐
                                              Schneidezahn eines
scher Tracht bestattet worden, deren Köp‐                               formierten Schädeln bestattet. Mit dem         kei. Aus Bulgarien sind eine Reihe defor‐
                                              Mannes mit mehreren
fe zu so genannten Turmschädeln defor‐        Feilungen von der Insel   Niedergang des Hunnenreiches im Laufe          mierter Frauen‐ und Männerschädel von
miert waren. Dazu wurden die noch elasti‐     Öland.                    des 6. Jh. endete in Mitteleuropa auch suk‐    protobulgarischen Gräberfeldern des 8./
schen Schädelknochen von kleinen Kindern                                zessive die Sitte der Schädeldeformierung.     9. Jh. bekannt, vereinzelte Funde datieren
in den ersten ein bis zwei Lebensjahren                                     Trotz der Lage zwischen anderen wi‐        bis in das 11. Jh. Und auch im mittelasiati‐
durch eine zirkulär um den Kopf umlau‐                                  kingerzeitlichen Bestattungen wurden die       schen Raum – Choresmien südlich des
fende Bandage so geformt, dass der Kopf ei‐                             drei Frauen von Gotland aufgrund ihrer de‐     Aral‐Sees – kennt man die Sitte der künst‐
ne langgezogene, eiförmige Gestalt annahm.                              formierten Schädel in das 6. Jh. datiert und   lichen Schädeldeformation mittels um‐
    Der Brauch, den Kopf zu deformieren,                                als merowingerzeitliche Langobardinnen         laufender Bandagen aus den literarisch‐
breitete sich vom neolithischen Vorder‐                                 interpretiert – entsprechend der gängigen      geografischen Werken mehrerer arabi‐
asien in den Kaukasus und nach Zentral‐                                 Forschungsmeinung, wonach die Sitte der        scher Reisender des 10. und 12. Jh.
asien aus, wo er um Christi Geburt zu ei‐                               Turmschädel in Europa mit dem Übergang
nem Charakteristikum der frühen hunni‐                                  von Spätantike zum Frühmittelalter en‐         Frauen aus dem Osten?
schen Kengol‐Gruppe wurde. In Europa                                    dete. Eine genauere Untersuchung der Be‐       Die neuesten naturwissenschaftlichen Un‐
finden sich Schädeldeformationen bereits                                stattungen und Trachtbeigaben – bei zwei       tersuchungen zur Herkunft der Turm‐
ab dem 2./ 3. Jh. auf Gräberfeldern in Un‐                              Frauen reiche Fibel‐ und Schmuckgarni‐         schädel aus bajuwarischen Gräberfeldern
garn und Rumänien, beeinflusst von sar‐                                 turen – sowie der Kontext der Gräberfel‐       der Völkerwanderungszeit deuten auf eine
matisch‐alanischen Stämmen, welche die                                  der zeigen jedoch eindeutig, dass alle drei    fremde Herkunft der Frauen aus dem süd‐
Sitte der Schädeldeformationen vermut‐                                  in der zweiten Hälfte des 11. Jh. angelegt     osteuropäischen Raum hin, obwohl sie
lich von den Hunnen übernommen hat‐                                     worden sein müssen.                            nach hiesigen Bestattungssitten und in lo‐

42   AiD 6 | 2018
Tattoos, Turmschädel und gefeilte Zähne - Europa Körperkult bei den Wikingern - Historische ...
Populäre Ideen und Wirklichkeit
                                                                                                                      Veränderungen am Körper zur Inszenie‐
                                                                                                                      rung oder Präsentation einer bestimmten
                                                                                                                      kulturellen, sozialen oder auch religiösen
                                                                                                                      Identität bzw. schlicht als ästhetisch emp‐
                                                                                                                      fundener Körperschmuck waren somit
                                                                                                                      vereinzelt auch in der Wikingerzeit üblich.
                                                                                                                      Jedoch ergeben die sukzessive ans Licht
                                                                                                                      kommenden archäologischen Befunde ein
                                                                                                                      ganz anderes Bild, als zu erwarten wäre.
                                                                                                                      Die medial schon fest mit der populären
                                                                                                                      Vorstellung des wilden Wikingerkriegers
                                                                                                                      assoziierten Tätowierungen können zwar
                                                                                                                      als wahrscheinlich angenommen, aber
                                                                                                                      nicht zweifelsfrei belegt werden. Statt‐
                                                                                                                      dessen lassen sich zwei unerwartete For‐
                                                                                                                      men von Körpermodifikationen nachwei‐
                                                                                                                      sen. Die Sitte der Schädeldeformation
                                                                                                                      gelangte durch einzelne Frauen mit Turm‐
                                                                                                                      schädeln vermutlich aus dem südosteuro‐
                                                                                                                      päischen Raum nach Norden, wurde dort
                                                                                                                      aber wohl nicht aktiv betrieben. Gefeilte
                                                                                        Grab einer jungen Frau        Zähne hingegen sind bisher ohne Paralle‐
                                                                                        mit deformiertem Schä-
                                                                                                                      len im restlichen Europa und müssen beim
                                                                                        del aus dem Gräberfeld
                                                                                                                      gegenwärtigen Forschungsstand als ei‐
                                                                                        von Ire, Kirchspiel Hellvi,
                                                                                        Gotland, während der          genständige Entwicklung der skandinavi‐
                                                                                        Ausgrabungen 1941.            schen Wikingerzeit gewertet werden.

kaler Tracht beigesetzt worden waren. Da‐   Skandinavien und besonders Gotland in

                                                                                                                      Alama
von ausgehend erscheint es naheliegend,     die osteuropäischen Gebiete und bis hi‐
dass auch die drei Frauen mit Turmschä‐     nunter ans Schwarze und Kaspische Meer
deln von Gotland möglicherweise aus dem     sind für die Wikingerzeit durch archäolo‐
                                                                                        Turmschädel einer etwa
südosteuropäischen oder mittelasiati‐       gische Funde wie auch historische Quellen
                                                                                        55 bis 60 Jahre alten
schen Raum nach Norden zugewandert          gut belegt.
                                                                                        Frau aus dem Gräberfeld
waren. Enge Handelsverbindungen von                                                     von Havor, Kirchspiel
                                                                                        Hablingbo, Gotland.

                                                                                                                                                  AiD 6 | 2018   43
Tattoos, Turmschädel und gefeilte Zähne - Europa Körperkult bei den Wikingern - Historische ...
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