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LWL-Archivamt für Westfalen 91 2019 Archivpflege in Westfalen-Lippe Themen in diesem Heft 71. Westfälischer Archivtag in Herford: „Zukunft ist jetzt! Digitale Wege der Überlieferungsbildung, Erschließung und Zugänglichmachung“ Handreichungen zur Bewertung von Unterlagen der kommunalen Ordnungsverwaltung KEK-Förderung für Kommunalarchive
Inhalt 71. Westfälischer Archivtag in Herford Stefan Schröder: 71. Westfälischer Archivtag am 12. und 13. März 2019 in Herford 2 Wilfried Reininghaus: Der 2. März 1919 – ein Meilenstein der Demokratiegeschichte in Westfalen. Beobachtungen zu den ersten Kommunalwahlen nach demokratischem Wahlrecht 4 Antonia Riedel und Hannah Ruff: Neues von DiPS.kommunal – Entwicklungen und Erfolge 10 Fachliches aus den DiPS.kommunal Arbeitskreisen Markus Meinold: Beispiel: Gewerberegister 13 Peter Worm: Beispiel: Ratsinformationssysteme 15 Beiträge Beatrix Pusch: Beispiel: Geobasisdaten 23 Berichte aus den Diskussionsforen 27 Mario Glauert: Müssen wir anders verzeichnen? Erschließung zwischen analogen Archivgewohnheiten und digitalen Nutzererwartungen 32 Beate Sturm: Findbuchzimmer adé? Fachliche Anforderungen an Archivtektonik im Netz und Online-Findmittel 37 Antje Diener-Staeckling: Digitalisate ins Netz – Zwischen Datenmengen und strukturierter Auslese 43 Weitere Beiträge Arbeitskreis Bewertung kommunalen Schriftguts in Nordrhein-Westfalen: Handreichung zur Bewertung von Unterlagen der kommunalen Ordnungsverwaltung. Teil 5: Rettungswesen, Feuer- und Katastrophenschutz 50 Kommunalarchive in Westfalen-Lippe profitieren von KEK-Förderung 54 Gründung des Notfallverbundes Dortmund – Kulturgut gemeinsam schützen 55 Die Quellenhefte des Kreisarchivs Warendorf 55 Kurzberichte Erfassung der nordrhein-westfälischen Stadtbücher bis 1800 im Index Librorum Civitatum 56 130 Jahre Firma Gebr. Stockmann Orgelbau in Werl. Archivalienzugang im Stadtarchiv Werl 57 Neue nichtamtliche Bestände für das Archiv LWL 58 Stadtarchivar Thomas Gießmann trat Ende Mai in den Ruhestand 59 Stadtarchivar von Harsewinkel und Gemeindearchivar von Herzebrock-Clarholz, Eckhard Möller, geht zum Jahresende in Rente 60 Bücher 62 Aktuelles Info 64 LWL-Archivamt in eigener Sache 64 Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019
Editorial Münster, im Oktober 2019 Sehr geehrte Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Oktoberheft der Archivpflege in Westfalen-Lippe enthält zunächst und vor al- lem die Erträge des 71. Westfälischen Archivtags, der am 13. und 14. März in Her- ford stattfand und von rd. 290 Archivarinnen und Archivaren aus Westfalen und dem ganzen Bundesgebiet besucht wurde. Etwas salopp war das Rahmenthema formuliert: „Zukunft ist jetzt! Digitale Wege der Überlieferungsbildung, Erschlie- ßung und Zugänglichmachung.“ In der ersten Arbeitssitzung standen der aktuelle Sachstand von DiPS.kommunal im Rahmen des Lösungsverbundes DA NRW und vor allem die operative Praxis der elektronischen Langzeitarchivierung im Mittelpunkt. Thema der hier gedruckten Beiträge, die auf den Referaten des Archivtages fußen, ist also weniger, wie ein elektronisches Langzeitarchiv beschaffen sein muss, wie man es erwirbt, einrichtet produktiv setzt, sondern es handelt sich um Fallstudien (‚Use-Cases‘) aus der Pra- xis. Konkret: Wie analysiert man Quellsysteme und welche Schritte sind erforderlich, um die wesentlichen Datenfelder und die dazu gehörenden Metadaten zu identi- fizieren und um sicherzustellen, dass die archivwürdigen Daten und Metadaten ins elektronische Langzeitarchiv überführt werden können. Beispielhaft vorgeführt wer- den diese Archivierungsschritte anhand der Gewerberegister, der Ratsinformations- systeme und der Geobasisdaten. Die weiteren abgedruckten Aufsätze widmen sich der Präsenz der Archive im WWW zwischen altehrwürdigen Regelwerken der Ver- zeichnung auf der einen und den Ansprüchen, den Recherchegewohnheiten und Nutzererwartungen auf der anderen Seite. Dass hier Diskrepanzen zu überwinden sein werden und manche archivarischen Routinen der Erschließung auf den Prüf- stand müssen, um neue Wege des Zugangs zu ermöglichen, liegt auf der Hand. Besonders hinweisen möchte ich auf den Aufsatz von Wilfried Reininghaus, mit dem der Herforder Archivtag eröffnet wurde und der spannende Einblicke in die Anfänge der Weimarer Demokratie in Westfalen ermöglicht. In der Serie des ‚Arbeitskreises Bewertung kommunalen Schriftguts‘ in Nord- rhein-Westfalen ist in diesem Heft der nunmehr fünfte Teil der Handreichung zur Bewertung von Unterlagen der kommunalen Ordnungsverwaltung abgedruckt. Er ist dem Rettungswesen, Feuer- und Katastrophenschutz gewidmet. Unter den – allesamt lesenswerten – Kurzberichten seien diejenigen erwähnt, die das Ausscheiden zweier Kommunalarchivare aus dem aktiven Dienst betreffen. An dieser Stelle sei den Kollegen Thomas Gießmann (Rheine) und Eckehard Möller (Herzebrock-Clarholz/Harsewinkel) sehr herzlich für ihr regionales wie auch überre- gionales archivfachliches und archivpolitisches Engagement gedankt! Sie haben sich damit bleibende Verdienste um das kommunale Archivwesen erworben. Dr. Marcus Stumpf Leiter des LWL-Archivamtes für Westfalen Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019 1
71. Westfälischer Archivtag am 12. und 13. März 2019 in Herford Tagungsbericht von Stefan Schröder Unter dem Rahmenthema „Zukunft ist jetzt! Digitale W ege tur im Digitalen Archiv NRW, die Vertragsgestaltung im KDN der Überlieferungsbildung, Erschließung und Zugänglich- (Dachverband kommunaler IT-Dienstleister) und erläuterten machung“ waren Stadt und Kreis Herford Gastgeber des die Voraussetzungen, unter denen sich bis zu fünf Kom- 71. Westfälischen Archivtags am 12. und 13. März 2019 munalarchive einen Mandanten (kleinste Rechte einheit) in Herford. Das Kreishaus bot ein modernes Veranstal- für DiPS.kommunal teilen können. Dabei sind vor allem tungsambiente für die rund 290 Teilnehmenden. Die Er- organisatorische, rechtliche und auch technische Mindest öffnung durch den 1. stellvertretenden Vorsitzenden der bedingungen zu erfüllen, die derzeit nur im Kreis Gütersloh Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe, Michael Pavli- vorangetrieben werden. Der Regelfall dürfte wohl bleiben, cic, schlug den Bogen von der Kooperation zwischen Stadt dass ein Kommunalarchiv einen Mandanten betreibt. Die und Kreis beim Kommunalarchiv Herford als Beispiel erfolg- Entwicklung von Schnittstellen wird in Arbeitsgruppen or- reich gelebter kommunaler Zusammenarbeit zu den He- ganisiert, an denen neben den Archiven auch Sachbearbei- rausforderungen der digitalen Welt, darunter die sich auch ter, kommunale IT und Hersteller beteiligt sind. Es folgte ei- auf die kommunale Welt auswirkende eGovernment-Ge- ne Übersicht über die fertigen, die in Arbeit befindlichen setzgebung des Landes Nordrhein-Westfalen, die digitale und die geplanten Schnittstellen (DMS, Gewerberegister, Dienstleistungen auch im Archiv erwartende Bürgerschaft Ratsinformationssysteme, Baugenehmigungsverfahren, Ar- und den nur kooperativ erfolgreich gangbaren Weg in die chivische Fachsoftware u. a.). Abschließend wurde die An- digitale Langzeitarchivierung. Ähnliche Themen wurden bindung von Daten aus dem elektronischen Langzeitarchiv auch in den Grußworten von Landrat Jürgen Müller und an eine Archivsoftware gezeigt. Personelle Ressourcen sind dem Bürgermeister der Hansestadt Herford, Tim Kähler, an- bei allen digitalen Langzeitarchivierungslösungen in den gesprochen, bevor Marcus Stumpf, der Leiter des LWL-Ar- Archiven in ausreichendem Maß einzuplanen. chivamtes für Westfalen, einen kurzen Programmüberblick Werkstattberichte verdeutlichten an konkreten Bei- bot, um dann zum Eröffnungsvortrag des ehemaligen Lei- spielen den Sachstand bei der Datenübernahme ins Lang- ters des Landesarchivs NRW, Wilfried Reininghaus, über- zeitarchiv aus Gewerberegistern (Markus Meinold, Stadt- zuleiten. archiv Hamm), bzw. aus Ratsinformationssystemen (Peter Dieser nahm mit dem 2. März 1919 die ersten Kommu Worm, LWL-Archivamt) und von Geobasisdaten (Beatrix nalwahlen in Westfalen nach demokratischem Recht in Pusch, Kreisarchiv Soest). Für das Gewerbe-Fachverfahren den Blick – ein Meilenstein in der westfälischen Geschich- MIGEWA wird die entwickelte Schnittstelle derzeit g etestet. te, aber auch ein Forschungsdesiderat. Von Interesse waren Zu Ratsinformationssystemen (RIS) wurde die Empfehlung sowohl die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen erster der Bundeskonferenz der Kommunalarchive inzwischen Reichstagswahl im Januar und den Kommunalwahlen vom in der Praxis getestet und kann als gute Grundlage die- März 1919, als auch die örtlichen Verhältnisse der großen nen. Für einige RIS liegen bereits Aussonderungsschnitt- Parteien, zu denen sich zahlreiche Wählerlisten gesellten. stellen vor, die aber gesondert angekauft werden müs- Beispielhaft wurde der Blick auf Stadt und Landkreis Her- sen. Unter den kommunal geführten Geobasisdaten ford gerichtet. Insgesamt unterschied sich die Situation in ist die Deutsche Grundkarte 1:5000 durch die Amtliche Westfalen von Ort zu Ort teils deutlich. So kann die Frage, Basiskarte abgelöst worden, so dass die Daten der letzten wer zur Wahl stand, wie hoch die Wahlbeteiligung war und DGK 5- Ausgabe 2008 in das Langzeitarchiv übernom- wie sehr Frauen in den Räten repräsentiert waren, nicht men werden, wofür der Facharbeitskreis Südwestfalen-IT länger verallgemeinert werden. Da die Anzahl der Ratssitze ein Konzept erstellt hat. Darüber hinaus beschäftigt er gegenüber den vorherigen Kommunalwahlen nach preußi- sich mit der komplexeren Amtlichen Liegenschaftskarte, schem Dreiklassenwahlrecht stieg, ergaben sich Chancen dem Amtlichen Liegenschaftsbuch und dem Amtlichen für neue Bewerber, wobei Reininghaus feststellen konnte, Liegenschaftskataster- Informationssystem. Die Arbeits- dass der Adel die Gemeinderäte verlassen musste und die ergebnisse der bestehenden Arbeitsgruppen können von „kleinen Leute“ sich oft gegen die „großen“ durchsetzten. neuen DiPS.kommunal-Kunden direkt genutzt werden. Allerdings blieben weibliche Ratsmitglieder die Ausnahme. Die Diskussionsforen am Nachmittag des ersten Tages Der Nachmittag mit dem Themenblock „Elektronische boten viel Raum für Erfahrungsaustausch. Olaf Schmidt- Langzeitarchivierung in der Praxis“ unter Moderation von Rutsch (LWL-Industriemuseum, Dortmund), der kurzfristig Vinzenz Lübben (Kommunalarchiv Minden) stand ganz im die Leitung für „Oral History auch für kleine Archive: Ein- Zeichen der Langzeitarchivierungslösung DiPS.kommunal. satz und Methodik“ übernommen hatte, präsentierte das Antonia Maria Riedel und Hannah Ruff (LWL-Archivamt für Thema am Beispiel des eigenen Hauses. Dabei betonte er Westfalen, Münster) präsentierten die Organisationsstruk- die Bedeutung einer quellenkritischen und distanzierten 2 Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019
Stefan Schröder: 71. Westfälischer Archivtag am 12. und 13. März 2019 in Herford 71. Westfälischer Archivtag in Herford (Foto: LWL-Archivamt für Westfalen) Auseinandersetzung mit Oral History-Dokumenten. Zeit- Unmöglichkeit?“ vor. Inhaltlich fast ein Workshop, brach- aufwände und Kosten für die Digitalisierung zeigten, dass te sie die Interessierten zu praxisnahen Erkenntnissen. Am Oral History-Projekte auch in Archiven Anwendung finden Beispiel einer individuellen Wissenslandkarte wurden Wis- können, aber gut vorbereitet sein müssen. sensbereiche identifiziert, deren Weitergabe innerhalb des Im Diskussionsforum „Erinnerungskultur in der Kom- Archivs bzw. an Stellennachfolger einen Kompetenzverlust mune: aktiv gestalten oder mitmachen?“ stieß Moderator deutlich verringern helfen. Christoph Laue (Stadtarchiv Herford) auf ein diskussions- Der lokalhistorische Vortrag von Sonja Langkafel (Städ- freudiges Publikum, das zahlreiche Praxisbeispiele ein- tisches Museum Herford) beleuchtete die besondere Be- brachte. Die Gruppe war jedoch uneinig, wieviel Einsatz ziehung des Tagungsortes zu den hier und im Umkreis von Archive dabei leisten könnten. Als Konsens wurde festge- 1945 bis 2015 stationierten Britischen Armeeeinheiten, die halten, dass Mitarbeit wichtig, aktives Mitgestalten aber zwar eine Enklave in der Stadt bildeten, aber auch Kultur schwierig sei. Aufwand und Nutzen für das Archiv sollten und Städtebau prägten. in einem vertretbaren Verhältnis stehen. Der Abend des ersten Tagungstages wurde auf Einla- Gregor Patt vom LVR-Archivberatungs- und Fortbil- dung des Kreises Herford mit einem gemeinsamen Abend- dungszentrum in Pulheim-Brauweiler moderierte das Dis- essen beschlossen, bevor es am nächsten Tag mit der Aktu- kussionsforum „Förderung durch die KEK: Ideen für Be- ellen Stunde weiterging. Dabei erläuterte Bettina Joergens standserhaltungsprojekt und Tipps für die Antragstellung“ (Landesarchiv NRW) die Verzögerungen beim Relaunch bei der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schrift- des Archivportals NRW; es werde mit Hochdruck an den lichen Kulturguts. Zunächst wurde die Förderung im BKK- technischen Herausforderungen gearbeitet. Hans-Jürgen Sonderprogramm vorgestellt. Projekte sollten einjährig sein, Höötmann (LWL-Archivamt) erläuterte die ab 2020 ge- eine Gefährdung des Archivguts vermeiden oder Schäden planten Veränderungen bei der LISE, die eine Förderung beseitigen sowie Sicherheit für die Zukunft bieten. Ab 2020 von Reinigung, Verpackung und Restaurierung neben der ist eventuell eine Kombination mit der Landesinitiative Sub- Massenentsäuerung bei weiterhin 60 % Landesförderung stanzerhalt (LISE) möglich. Abgelehnte Anträge könnten ermöglichen sollen. Marcus Stumpf erläuterte die För- überarbeitet neu gestellt werden. Plädiert wurde dafür, be- derungsmöglichkeiten durch die KEK, die in diesem Jahr reits vorab Projektantragsideen zu entwickeln und in An- 4,5 Millionen € zur Verfügung stellt. Anschließend wies er tragsform zu bringen, die dann kurzfristig genutzt werden auf den im Abschluss befindlichen neuen Magazinanbau könnten. Alternativ bleibe noch die KEK-Modellprojektför- am LWL-Archivamt mit neuem Schulungsraum und mehr derung, insbesondere für Archive, die den im BKK-Sonder- Platz für Digitalisierungstechnik hin. Hinweise auf den programm erforderlichen Mindesteigenanteil von 5.000 € Westfälischen Genealogentag 2019, auf die Mottoabstim- nicht aufbringen können. mung zum Tag der Archive 2020 und die Einladung zum Im vierten Diskussionsforum stellt Lisa Grefe (synartIQ nächsten Westfälischen Archivtag am 17./18. März 2020 GmbH, Bielefeld) „Wissenstransfer im Archiv: ein Ding der in Hagen folgten, bevor die im Herbst 2018 eingestellten Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019 3
71. Westfälischer Archivtag Landesarchivinspektoranwärter vorgestellt und mit Sabrina ven (Kontakt, Öffnungszeiten etc.) einen großen Anteil der Heumüller und Peter Worm zwei langjährige verdiente Be- Suchanfragen im Archivportal NRW ausmachen und daher schäftigte des LWL-Archivamtes verabschiedet wurden. nicht vernachlässigt werden dürften. Moderiert von Claudia Becker (Stadtarchiv Lippstadt) Den Abschluss der Sektion bildete der Vortrag von Antje wurde der zweite Themenblock „Unterwegs im Netz“, Diener-Staeckling (LWL-Archivamt) zur Digitalisierung von der mit dem Vortrag von Mario Glauert (Brandenburgi- Archivalien und Strategien ihrer Onlinestellung. Da die Di- sches Landeshauptarchiv, Potsdam) „Vom Titel zum Tag. gitalisierung analoger Archivalien von der Öffentlichkeit er- Verzeichnung zwischen analogen Archivgewohnheiten wartet wird, sollten Archive dies genau planen, um von den und digitalen Nutzererwartungen“ begann und neue, un- Vorteilen (Schutz der Originale, vereinfachte Einsichtnahme, gewohnte, aber diskussionswürdige Thesen lieferte. Mit leichtere Reproduktion) zu profitieren. Entsprechend soll- der Frage, ob wir in der digitalen Welt anders erschließen ten Bestände (nicht einzelne Archivalien) nach festen Kri- müssten und der Feststellung, dass eine Normung in die- terien ausgewählt werden. Auch die Datenpflege nach der sem Bereich fehlt, wies Glauert auf die Vielfalt von Erschlie- Digitalisierung ist nicht zu vernachlässigen. ßungsdaten im deutschen Archivwesen hin, die für Benut- Eine Podiums- und Plenumsdiskussion über Aus- und zerinnen und Benutzer nur dann bestmöglich durchsuchbar Weiterbildung in Zeiten des demografischen Wandels bil- seien, wenn deren Suchgewohnheiten (Google-Schlitz) in dete den Abschluss des Archivtages. Unter der Moderation den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt würden. von Marcus Stumpf diskutierten Irmgard Christa Becker Daher plädierte er für eine Erweiterung der reinen Stich- (Archivschule Marburg), Susanne Freund (FH Potsdam), Ute wortsuche in archivischen Datenbanken und Portalen um Langkamp (Kreisarchiv Steinfurt) und Astrid Schulz (Bezirks- Suchalgorithmen, die in der Lage sind, unterschiedlichste regierung Köln) darüber, wie man Nachwuchs gewinnen Kontextinformationen automatisch mit zu berücksichtigen, kann, wobei alle Ausbildungsmöglichkeiten des mittleren da Archivnutzende archivische Klassifikationen in der Regel und gehobenen Dienstes zur Sprache kamen. Der höhere nicht verstehen. Nur so, jedenfalls nicht mit den bekann- Dienst wurde bewusst ausgeklammert. Daneben wurde ein ten archivischen Erschließungsstrategien, sei die Zukunft in großer Bedarf an Fortbildungsangeboten erkannt. Form von „Big Data“ für die Archive zu meistern. Im An- Wie in den vergangenen Jahren wurde der Tagungsver- schluss referierte Beate Sturm (Kreisarchiv Kleve) über fach- lauf bereits kurz nach der Veranstaltung im „archivamt- liche Anforderungen an Findmittel im Internet. Sie setz- blog“ dokumentiert. n te dabei auf das Archivportal NRW, eine gut strukturierte Tektonik unter Einschluss auch der noch nicht erschlosse- Dr. Stefan Schröder LWL-Archivamt für Westfalen nen Bestände mit einer teils tiefen Erschließung der Be- stefan.schroeder@lwl.org stände. Nicht Perfektion, sondern Kundenorientierung sei anzustreben. Gedruckte Findbücher behielten bei einigen Nutzern den Vorzug vor dem Internet. In der Diskussion wurde deutlich, dass allgemeine Informationen zu Archi- Der 2. März 1919 – ein Meilenstein der Demokratiegeschichte in Westfalen.1 Beobachtungen zu den ersten Kommunalwahlen nach demokratischem Wahlrecht Erklärungen für eine Forschungslücke von Wilfried Reininghaus Der 2. März 1919 war ein Meilenstein in der Demokratie- ten nach den gleichen Prinzipien erfolgen wie die Wahlen geschichte Westfalens. An diesem Tag endete die Frist, die zur Deutschen Nationalversammlung im Januar 1919. Für die preußische Regierung den Städten und Gemeinden ge- den Gesamtbereich der Wahlen im öffentlichen Sektor hat- setzt hatte, um Kommunalwahlen durchzuführen. Sie soll- te ein Beschluss des Rats der Volksbeauftragten am 12. No- 4 Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019
Wilfried Reininghaus: Der 2. März 1919 – ein Meilenstein der Demokratiegeschichte in Westfalen vember 1918 festgelegt, dass alle Frauen und Männer nach den müssten, ist die Scheu von Forschern verständlich, ein vollendetem 20. Lebensjahr gleiches, freies und geheimes solches Vorhaben überhaupt anzufangen. Wahlrecht ausüben konnten. Damit war das Dreiklassen- Genau an diesem Punkt setzte vor einem Jahr meine wahlrecht auf Landes- und Gemeindeebene abgeschafft. Neugierde ein. Zur Vorbereitung von Vorträgen über die Die Wahlen im Januar 1919 prägten freilich ande- Altkreise Coesfeld, Lüdinghausen und Soest wollte ich we- re Rahmenbedingungen als die Kommunalwahlen. Das nigstens die Ergebnisse der Gemeindewahlen einbeziehen.5 Reich – und in seinem Gefolge sein größter Teilstaat Preu- Im Detail betrachtet, boten sie große Überraschungen. Sie ßen – hatte sein Gebiet in 37 Großwahlkreise (bzw. 24 wichen oft so markant von den aggregierten Kreisergeb- in Preußen) aufgeteilt. In Westfalen bildeten die Re- nissen der Januarwahlen ab, dass es lohnend erschien, den gierungsbezirke Münster und Minden sowie die lippi- Ursachen nachzugehen. Im Altkreis Lüdinghausen, also in schen Staaten Wahlkreis 17, der Regierungsbezirk Arns- einer vermeintlichen Zentrumshochburg, gab es im Süden berg Wahlkreis 18. In diesen Wahlkreisen stimmten bis – also dort, wo der Bergbau umging – Orte, in denen die zu 1,3 Millionen Menschen wie im Arnsberger Wahlkreis SPD Mehrheiten gewann. Umgekehrt: dort, wo das Zen- über Wahllisten ab, die fünf oder sechs Parteien einge- trum im Januar 90 % der Stimmen gewonnen hatte, konn- reicht hatten. Den einzelnen Wählerinnen und Wählern te heftiger Wahlkampf innerhalb der Gemeinden ausbre- waren die Kandidatinnen und Kandidaten im Normal- chen. Beispielsweise stritten sich in Senden Bauerschaften fall nicht bekannt. Das änderte sich grundlegend bei der und Kirchdorf um die Zahl der ihnen zustehenden Manda- anberaumten Kommunalwahl. Jetzt ging es darum, wer te. Ein Aufbrechen der Zentrumsliste in rivalisierende Wahl- künftig in der eigenen Gemeinde über Kunst und Kul- listen war vielerorts Merkmal der Kommunalwahlen. Parti- tur, Steuern, Schulen und Straßenbau zu entscheiden hat- kularinteressen kamen hinzu. In Osterwick (Kreis Coesfeld) te. Nun waren die Kandidaten und Kandidatinnen in der zertrümmerten Kriegsbeschädigte die Wahlurnen, weil ihr Mehrzahl in ihren Gemeinden bekannt. Solche Perspek- Vertreter nicht über einen Listenplatz abgesichert war. Den tiven mobilisierten die Wählerinnen und Wähler in den Kreis Soest zerteilte eine strenge Konfessionsgrenze. In den meisten der damals noch bestehenden 1.600 Gemeinden katholischen Dörfern der Ämter Werl und Körbecke ge- der Provinz Westfalen oft mehr als bei der Wahl zur Na- wann das Zentrum überall um die 90 % der Stimmen, falls tionalversammlung im Januar, auch wenn sich dies nicht es nicht in unterschiedliche Listen zerfiel. In den evangeli- immer in der Wahlbeteiligung niederschlug. schen Dörfern der Börde stimmte teilweise überhaupt nie- Wie kann angesichts solcher Bedeutung erklärt werden, mand für das Zentrum, vielmehr stritten sich die DDP, DVP dass die Kommunalwahlen des Jahres 1919 in der Literatur und die SPD um die Stimmen. zur frühen Weimarer Republik bisher so wenig Resonanz Diese ersten Befunde konnten für mich nur eine Kon- fanden? Oder anders herum: Muss ich mich nicht selbstkri- sequenz haben. Über die Kommunalwahl 1919 in West- tisch fragen, ob ich mit meiner Betonung dieser Wahl nicht falen ließ sich nicht, so wie es ursprünglich geplant war, etwas übertreibe? Es gibt hierzu nur einen einzigen Auf- in einem problemorientierten Essay in den „Westfälischen satz, den ein Archivar in der DDR an entlegener Stelle publi- Forschungen“ schreiben. Auf eine kurze Formel gebracht: zierte. Er wertete damals, 1967, den Bestand „Preußisches Alle Gemeinden unterschieden sich in ihrem Abstimmungs- Innenministerium“ in Merseburg aus.2 Die Ortsgeschich- verhalten; sie ließen sich nicht über einen Kamm scheren. te in Westfalen berücksichtigte zwar die Wahlen nach der Deshalb musste für möglichst viele Städte und Gemeinden Revolution, konzentrierte sich aber meistens auf die im Ja- in Westfalen Ergebnisse ermittelt und ausgewertet wer- nuar. Zu den Januarwahlen liegen die Ergebnisse mindes- den. Ich bin dem LWL-Institut für westfälische Regionalge- tens auf Ebene der Großwahlkreise vor, wenngleich erfah- schichte, vor allem Thomas Küster, sehr dankbar, dass es rene Parteienforscher wie Lothar Albertin dringend geraten meinen Vorschlag annahm, aus diesem Material ein Buch haben, die Ebene darunter mit zu berücksichtigen.3 Auf zu machen, das dann auch noch pünktlich zum 100. Jah- der Reichsebene spielt das Wahlergebnis vom Januar 1919 schon deswegen in der Forschung eine große Rolle, weil 1 Vortrag auf dem Westfälischen Archivtag in Herford am 12.03.2019. Der es mit der Bildung der sog. „Weimarer Koalition“ aus SPD, Titel greift ein Zitat der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Bundestag am 9. November 2018 auf; „Es lebe die deutsche Republik“, DDP und Zentrumspartei den Start in die Republik ermög- in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.11.2018, S. 2. lichte. Dagegen standen die Kommunalwahlen im Abseits, 2 Udo Dräger, Die Kommunalwahlen in Preußen im Jahre 1919, in: Wissen- schaftliche Zeitschrift des Pädagogischen Instituts Magdeburg 4 (1967), auch weil es zeitgenössisch keinerlei Zusammenfassung S. 62–100. gab, wie wir sie heute kennen. Wenn in einem Bundesland 3 Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Re- publik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei Kommunalwahl stattfinden, so aggregiert das zuständige und der Deutschen Volkspartei, Düsseldorf 1972. Statistische Landesamt jeweils die Daten zu einem landes- 4 Die Ergebnisse zur letzten Kommunalwahl 2014 sind abzurufen unter: weiten Befund.4 Daraus lassen sich bei allen lokalen Beson- https://www.wahlergebnisse.nrw.de/kommunalwahlen/2014/index_obb_ lr.html (Zugriff: 04.01.2019). derheiten allgemeinere Trends und Entwicklungen ablesen. 5 Wilfried Reininghaus, Wahlen in den Kreisen Coesfeld, Lüdinghausen und Für die Weimarer Zeit gab es Vergleichbares nicht. Ange- Münster-Land im Januar und März 1919, in: Geschichtsblätter des Kreises Coesfeld 43 (2018), S. 153–172; ders., Wahlen und Wahlkämpfe in der sichts der Vielzahl von Städten und Gemeinden, deren Er- Stadt und im Landkreis Soest 1918/19, in: Soester Zeitschrift 130 (2018), gebnisse in Westfalen und Lippe zusammengerechnet wer- S. 117–140. 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71. Westfälischer Archivtag restag der Kommunalwahl und zum Westfälischen Archiv- am Vorabend der Wahl auf einer abschließenden Volksver- tag 2019 erschien.6 sammlung die Frage aufwarf: „Ist eine sozialdemokratische Die praktische Konsequenz für mich war im Sommer Mehrheit eine Gefahr für die Stadt Herford?“ Seine Ant- letzten Jahres, Westfalen kreuz und quer zu bereisen, in wort war selbstverständlich: Nein. Im bürgerlichen Block die Archive von Minden bis Olpe, von Borken bis Stein- fehlten die Angestellten, die eine eigene Liste aufstellten. heim, von Lengerich bis Laasphe, um möglichst viel Mate- Die SPD hatte sich bereits früh, am 13. Februar 1919, ent- rial zu sammeln. Hinzu kamen Zeitungen, die noch im Be- schieden, keiner Einheitsliste beizutreten. Mitten im Kom- sitz der Verlage oder ihrer Nachfahren liegen. Zeitungen munalwahlkampf musste sie aber erleben, dass sich wie waren überhaupt die wichtigsten Quellen, ohne die Ak- in Bielefeld eine Ortsgruppe der USPD in Herford bilde- ten der Kommunen zu unterschätzen. Eine Quellengattung te. Dies war nicht nur ein Resultat von Flügelkämpfen in- findet man nur in Archiven. Ich habe die beigefügten Um- nerhalb der Herforder SPD, sondern auch einer intensiven schläge mit ungültigen Stimmen schätzen gelernt, weil sie Agitation der westfälischen USPD-Zentrale in Hagen ge- mitunter aufschlussreiche Kommentare zu den vorgeschla- schuldet. Am 14. Februar reichte die USPD einen eigenen genen Listen ablieferten. Die schönste Trouvaille stammt Wahlvorschlag ein. Das Wissen darüber ist im Übrigen ei- aus Meinerzhagen: Ein bibelfester Wähler hatte statt des nem Fund in den Akten im Landesarchiv Abteilung West- Namens eines Kandidaten einen Zettel mit dem Verweis falen geschuldet. Die Materialsammlung des Büros Kölpin auf Jesaja 41, Vers 24, gesteckt. Der irritierte Wahlvorstand über links der SPD stehende politische Gruppen enthält teil- löste die Stelle auf. Sie lautet: „Ihr seid aus nichts und Eu- weise die damals aktuelle Hagener Registratur des Partei- er Tun ist aus nichts. Und Euch zu wählen ist ein Greuel“.7 büros für Ostwestfalen.9 Sie muss wahrscheinlich im Mai Das Buch enthält vollständige Analysen zu den größeren 1919 aus dem Parteibüro vom Geheimdienst des Wehr- Städten und Gemeinden über 20.000 Einwohner, fast al- kreiskommandos in Münster gestohlen worden seien. le mittleren und kleineren Städte sind vertreten sowie über In Herford war bei vier angetretenen Parteien ein Kopf- 500 Landgemeinden. Wenn möglich, wurde das Ergebnis an-Kopf-Rennen vorauszusehen. Es führte schließlich in der der Gemeinde mit den Januarwahlen verglichen sowie die Mandatsverteilung zu einer Patt-Situation. SPD (46,5 %, angetretenen Kandidatinnen und Kandidaten untersucht. 20 Sitze) und USPD (3,9 %; 1 Sitz) kamen zusammen auf Natürlich interessierte mich, ob und wenn ja Frauen auf den genau die eine Hälfte der Mandate. Die andere fiel an die Listen der Parteien oder anderer Gruppierungen standen. bürgerliche Liste (41,2 %; 18 Sitze) und die Angestellten Eine für mich persönlich überraschende Entdeckung durf- (8,4 %; 3 Sitze). Insgesamt fünf Frauen zogen in das Stadt- te ich dabei machen: Meine eigene P atentante A gnes Tütel parlament ein: Anna Pigusch und Wilhelmine Beiner für kandidierte, allerdings erfolglos, für die DDP in Schwerte. (SPD), Frieda Weber (Angestellte), Margot Kemper und Eli- Die Fülle des Materials kann ich hier nicht ausbreiten. Ich se Becher (Bürgerliste). Das der DVP nahe „Herforder Kreis- konzentriere mich im ersten Teil aus Reverenz für unseren blatt“ wertete das Ergebnis für seine Klientel als eine Nie- Tagungsort auf Stadt und Landkreis Herford. Anschließend derlage, während die „Herforder Zeitung“, die die DDP werde ich im zweiten Teil allgemeine Tendenzen der Kom- unterstützte, nüchterner reagierte. Als Gewinner sah sich munalwahl 1919 zusammenfassen. die USPD, die nicht damit gerechnet hatte, drei Wochen nach der Gründung einer Ortsgruppe gleich ein Mandat Kommunalwahlen in Stadt und Landkreis zu erobern. Es fiel an den Artisten und Schausteller Ar- Herford 1919 nold Deutgen.10 In der Kreisstadt Herford hatte die SPD bei den Wahlen zur In den beiden anderen Städten des Kreises Herford, in Nationalversammlung 50,7 % der Stimmen gewonnen und Bünde und Vlotho, wichen die Ergebnisse voneinander DNVP (19,4 %), DDP (15,9 %) und DVP (10,0 %) weit hinter ab.11 In Bünde gewann eine Bürgerliste 16 Mandate, die sich gelassen.8 Danach schlugen im bürgerlichen Lager die SPD acht. Das Kräfteverhältnis aufgrund der Wahlen zur Alarmglocken. Der Bund für Handel und Gewerbe gründe- Nationalversammlung wiederholte sich. In Vlotho kam es te am 17. Februar einen Bürgerverein, der eine gemeinsa- zu einer Patt-Situation, weil drei bürgerliche Listen und die me Wahlliste von DVP, DDP, DNVP und Zentrum aufstellte. SPD je neun Sitze in der Stadtverordnetenversammlung Die Mitwirkung der DDP daran war alles andere als selbst- verständlich, weil die DVP vor den Wahlen im Januar alles 6 Wilfried Reininghaus, „Darum wählt!“ Die ersten demokratischen Kom- getan hatte, um die DDP als „Judenpartei“ zu diskreditie- munalwahlen in Westfalen und Lippe 1919, Münster 2019. Der Vortrag ren. Nun wurde sogar Isidor Baruch, jüdischer Direktor der referiert die wichtigsten Inhalte des Buchs. 7 Hier zitiert nach Sauerländer Zeitung, Brilon, 10.03.1919; Central-Volks- Konfektionsfabrik Elsbach, auf dem 5. Platz der gemein- blatt Arnsberg 10.03.1919. Die Zeitungsmeldungen nannten irrtümlich samen Bürgerliste akzeptiert. Deren Leitvokabeln waren Jes. 21 Vers 10. „Bürgerfleiß und Bürgereintracht“, das Hauptziel war die 8 Reininghaus, Darum wählt (wie Anm. 6), S. 55 f. 9 Wilfried Reininghaus, Die enttäuschten Hoffnungen des Sozialisten Walter Abwehr der Sozialdemokratie: „Wir wollen nicht, daß so- Stern aus Niederntudorf 1918/19. Seine Briefe und Postkarten an Konrad zialdemokratische Experimente der Rückkehr gedeihlicher Ludwig in Hagen (USPD), in: Die Warte 77. Jg. Nr. 180 (2018), S. 6–12. 10 Zu Deutgen liegt eine Sammlung im Kommunalarchiv Herford (freundliche Zustände im Wege stehen“. Gegen diese Kampagne trat Mitteilung von Christoph Laue). für die SPD der gebürtige Herforder Carl Severing an, der 11 Reininghaus, Darum wählt (wie Anm. 6), S. 94. 6 Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019
Wilfried Reininghaus: Der 2. März 1919 – ein Meilenstein der Demokratiegeschichte in Westfalen errangen. Für die SPD, die bei den Januarwahlen nur bei te, Kaufleute und Handwerker auf den Listen, während 41 % gelegen hatte, bedeutete dies einen Zugewinn. Auf die SPD insbesondere Zigarrenarbeiter aufstellte. Eine der ihrer Liste stand an Nr. 2 Auguste Schmidt, eine Tochter von drei bürgerlichen Listen in Hiddenhausen betrieb eine ag- Pfarrer Adolf Schmidt und Fürsorgerin für Kriegsbeschädig- gressive Werbung vor der Wahl und forderte eine Sparsam- te. Wenn wir nur auf ihre Person sehen, können wir ermes- keit, eine sorgfältige Pflege des Schulwesens, Förderung sen, welche unterschiedlichen Lebenswege einzelne Kandi- von Handel und Gewerbe, Wohnungs- und Sozialfürsor- daten beschritten hatten. Auguste Schmidt wäre eigentlich ge. Über allem stand die Parole: „Es gilt die sozialistische eher im Bürgerblock in Vlotho zu erwarten gewesen. Mehrheit zu verhindern“. Dieses Ziel erreichten die gegen Das annähernd gleiche Stimmverhältnis zwischen bür- die SPD verbündeten Parteien in einer knappen Mehrheit gerlichem Lager und SPD war für die Landgemeinden im der Gemeinden, wobei die Tendenz der Einheitslisten of- Kreis Herford schon bei den Januarwahlen prägend gewe- fen ist. Frauen vermissen wir in den Landgemeinden fast sen.12 Es lässt sich in Zahlen ausdrücken. 48,5 % der Stim- vollständig. Nur in Schweicheln kandidierte die Hebamme men entfielen damals auf die SPD, auf DNVP, DDP, DVP Anna Nebel. und Zentrum zusammen 50,1 %. Unter solchen Vorzei- Insgesamt lassen sich die Befunde zum Landkreis Her- chen traten in den meisten Landgemeinden in der Regel ford im Gegensatz zu Bielefeld nicht quantifizieren, doch zwei Blöcke gegeneinander an: SPD einerseits, Bürgerliche dürfte sich am annähernden Gleichstand zwischen der SPD andererseits. Die SPD ließ sich an einigen wenigen Orten und den bürgerlichen Parteien gegenüber dem Januar we- auf Gespräche über Einheitslisten ein und führte sie z. B. in nig geändert haben. Aus dem Kreis Bielefeld liegen die Er- Spradow und Gohfeld erfolgreich zu Ende. In Spradow teil- gebnisse sämtlicher Landgemeinden vor, so dass ein Ge- te man sich sechs Sitze mit den Bürgerlichen, in Gohfeld samtergebnis ermittelt werden kann. 60,6 % der Stimmen stimmte die SPD dem Vorschlag zu, zehn der 21 Sitze zu er- fielen bei der Kommunalwahl an die SPD, 39,4 % an die halten. Im Allgemeinen folgte aber die SPD in Ostwestfalen bürgerlichen Parteien. Dieses klare Ergebnis täuscht dar- einem Votum ihrer Bezirksversammlung vom 13. Februar über hinweg, dass in den Hochburgen der Erweckungs 1919. Das von Carl Severing vorgegebene Wahlziel laute- bewegung, in Nieder- und Oberjöllenbeck, die SPD mit te: In jenen Orten rund um Bielefeld, „in denen wir“ nach deutlichem Abstand hinter dem bürgerlichen Block ein- den Wahlen im Januar „schon die Mehrheit haben, muß kam. Sie erreichte dort nur 22,4 % bzw. 33,9 %. Kompen- unser Sieg durch Steigerung unserer Stimmenzahl mora- siert wurden diese Ergebnisse durch 85,9 % in Sieker und lisch erhöht werden“. Gerade auf dem Land wollte die SPD 78,6 % in der Bauerschaft Schildesche. Schon der Vergleich beweisen, dass „die Kommune das gegebene Tätigkeitsge- zwischen Herford und Bielefeld und zwischen den Gemein- biet für praktische Arbeit im aufbauenden Sinne für Demo- den beider Kreise zeigt, wie heterogen die Wahlergebnisse kratie und Sozialismus“ sei. Die Partei ließ sich leiten von von Ort zu Ort ausfielen. der Beobachtung, dass fast überall der Gedanke vorherr- sche, „die alten Gemeinderäte, die auf Grund des Dreiklas- Eine zusammenfassende Auswertung senwahlrechts gewählt sind, zu beseitigen und durch neue der lokalen Befunde zu ersetzen“. Dieses Wahlziel hat die SPD im Kreis Herford Die örtlichen Befunde lassen sich unter folgenden Aspek- nicht vollständig erreicht. Die überlieferten Ergebnisse der ten zusammenfassend auswerten: (1.) Wer stand über- einzelnen Gemeinden meldeten siebenmal eine Gleichheit haupt zur Wahl? Parteien, Interessengruppen oder ande- der Sitze, siebenmal siegte das bürgerliche Lager, fünfmal re? (2.) Wie hoch war die Wahlbeteiligung? (3.) Wie fielen die SPD. Der äußerst knappe Sieg der SPD in Spenge zeigt, die Wahlergebnisse aus? (4) Wer waren die neuen bzw. al- dass jede Stimme zählte. Das „Herforder Kreisblatt“ kom- ten Stadt- und Gemeindeverordneten? mentierte den Wahlausgang hier: „Wären fünf bürgerliche Erstens: Wer stand überhaupt zur Wahl? Mehrere Mo- Wähler mehr zur Wahl gegangen, hätte die Sozialdemokra- delle gab es. Zum einen konnten fünf oder sechs Parteien tie keine Mehrheit erhalten“. In acht Gemeinden kam es wie bei der Januarwahl antreten. Zum anderen einigten zur Bildung einer Einheitsliste. Sie umfassten keineswegs sich eben diese Parteien auf eine Einheitsliste, auf der die nur die Honoratioren bzw. Großbauern einer Gemeinde. Mandate nach den Ergebnissen der Januarwahlen verteilt So wurden in Wallenbrück ein Gastwirt, zwei Maurer, ein wurden. Beides kam vor, es gab aber viele Zwischenstufen Kolon, ein Heuerling und ein Neubauer gewählt. Häufig und Abweichungen. Wegen der schlechten Ergebnisse im ließ die Zerstrittenheit der lokalen politischen Kräfte kei- Januar verzichteten einige Parteien, bei den Kommunal- ne Einheitslisten zu. In der „Wahlschlacht“ von Werfen wahlen anzutreten, z. B. das Zentrum in mehreren Städten zwischen SPD und DNVP hielt z. B. die Arbeiterpartei ih- Ostwestfalens, u. a. in Herford. Oder es bildeten sich Bünd- ren Gegnern vor, einen Zigarrenarbeiter auf Platz 1 gestellt nisse, um die Aussichten zu verbessern. Die Blockbildung zu haben, um den Arbeitern und kleinen Besitzern Sand in unter den Bürgerlichen gegen die SPD wurde schon er- die Augen zu streuen. In Tengern musste die SPD erleben, wähnt. Umgekehrt fanden SPD und USPD, feindliche Brü- dass sie von den alten Gemeinderatsmitgliedern verleum- det wurde. Schauen wir auf die Kandidaten der „bürger- lichen Parteien“, so standen bei ihnen vor allem Landwir- 12 Ebd., S. 155–158. Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019 7
71. Westfälischer Archivtag der seit 1917, im märkischen Sauerland manchmal wieder reichung von Wahllisten in den Landgemeinden und auch zueinander. Im bürgerlichen Lager konnte die Abneigung in Kleinstädten gefüllt mit solchen Vorab-Beratungen. Das zwischen der linksliberalen DDP, den Nationalliberalen und war ein Vorwahlkampf, wie er aus den USA bekannt ist. Konservativen unüberbrückbar sein. Sonntags nach dem Hochamt oder werktags in den Gast- Die Motive für die Aufstellung von zusätzlichen Wahl- stätten kam es zu mitunter heftigen Auseinandersetzun- listen waren gemischt. Interessengruppen wollten ihre An- gen, die mit einer Einigung oder auch kontrovers enden liegen durch Aufstellung selbständiger Listen zu Gehör konnten. Einen glücklichen Ausgang nenne ich solche Ver- bringen: Beamte, Angestellte, Eisenbahner oder Kaufleute handlungen, in denen am Ende ein Kompromiss stand, mit fallen in diese Kategorie. Am Militärstandort Münster kan- dem alle leben konnten. Als Beispiel nenne ich die Gemein- didierten sogar die Unteroffiziere. Kriegsbeschädigte be- de Hennen, heute Teil der Stadt Iserlohn. Einem klugen nutzten ihre mögliche Kandidatur als Druckmittel. Auch Kopf, dem Lehrer Jan Knop, gelang es nicht nur, alle sie- dort, wo sie keine eigene Liste einreichten, zwangen sie ben Siedlungen angemessen zu berücksichtigen, sondern die Parteien, einen ihrer Vertreter auf aussichtsreichen Plät- auch die Parteizugehörigkeiten und die wichtigsten Berufe zen aufzustellen. Dahinter steckten die sozialen Nöte einer nach Proporz in die Einheitsliste einfließen zu lassen. Nö- Gruppe, die unter den Kriegsfolgen dauerhaft zu leiden tig war dazu eine Erweiterung der Gemeindeversammlung hatte. Die scheinbar skurrilste Kandidatur gab es in Rhe- auf 15 Personen. Kontrovers endeten solche Fälle, in de- da, wo der Ziegenzuchtverein mit einer eigenen Liste an- nen im Vorfeld keine Einigung erzielt wurde. Stellten etwa trat. Dessen Vorstand verwahrte sich gegen den Vorwurf, die Ortsteile je eigene Listen auf und war die Wahlbetei- nur die Wahlliste aufblähen zu wollen. Vielmehr wolle er ligung unterschiedlich, so konnte das böse enden. In der lediglich auf die Notlage seiner Mitglieder aufmerksam ma- Gemeinde Ammeloe im Kreis Ahaus, bestehend aus einem chen und die Parzellierung der früheren städtischen Kuh- Kirchdorf und zehn Bauerschaften, stellten alle Siedlungen weide durchsetzen und vertrete im Übrigen die Interessen eigene Wahllisten auf. Zwei Bauerschaften mobilisierten der Kleinbürger, „also solche Leute, die sich nur Ziegen und so viele Wählerinnen und Wähler, dass sie überproportio- höchstens eine Kuh halten können“. Die Argumente wa- nal drei Mandate errangen, während zwei andere leer aus- ren offenbar stichhaltig: der Verein gewann zwei Mandate. gingen. Ähnlich verhielt es sich in Liesborn. Zwei Listen, Allgemein gesprochen: in der Regel waren Sonderkandida- nach „Bezirken“ getrennt, traten gegeneinander an. Der turen sozialgeschichtlich plausibel. Lippstädter „Patriot“ rechnete das Wahlergebnis nach und In den größeren Städten mit mehr als 20.000 Einwoh- fand heraus, dass der zweite Bezirk mehr Wahlberechtig- nern war die Orientierung der Kommunalpolitik an Partei- te mobilisiert hatte und diese „in rühmenswerter Weise“ en im Prinzip unstrittig, auch wenn hier Sondergruppen ihrer Wahlpflicht Genüge taten. Er sicherte sich deshalb nicht fehlten. Schon im Kaiserreich hatte sich dieser Trend mehr Mandate als der erste Bezirk, obwohl dort 120 Wahl- durchgesetzt. In mittleren und kleineren Städten sowie in berechtigte mehr wohnten. Eine Ursache für solche Fehl- Landgemeinden wurde sehr oft argumentiert, Kommunal- kalkulationen war, dass das vom Wahlrecht vorgegebene politik habe mit Parteien nichts zu tun. „Politik“ war nach d’Hondt’sche Höchstzahlverfahren und seine Auswirkun- Meinung vieler etwas, was in Berlin im Reichstag verhan- gen auf die Mandatsverteilung für die Zeitgenossen damals delt werde, aber nicht in ihrer Gemeinde; dort hatten die kaum kalkulierbar waren. lokalen Honoratioren das Sagen. Den Überblick über die Wahllisten kann ich nicht ab- Wo die Zentrumspartei im Januar überregional satte, ja schließen, ohne auf die Polen eingegangen zu sein. Bei übersatte Mehrheiten erhielt, kam es bei der Kommunal- den Januarwahlen war die Polnische National-Arbeiterpar- wahl häufig zu einer Auffächerung der Wahllisten. In ka- tei nicht angetreten. Die Polen hatten ihre Stimmen dem tholisch geprägten Städten waren es einzelne Berufe, die Zentrum (wegen der katholischen Religion) bzw. der SPD je eigene Kandidaten aufstellten: Handwerker, Kaufleute, (wegen ihres Status als Bergarbeiter) geliehen oder sie hat- Arbeiter, oft verbrämt als „Stände“. In SPD-Hochburgen ten Wahlenthaltung geübt. Das änderte sich bei der Kom- wie in den Bergarbeitergemeinden der Kreise Hörde oder munalwahl 1919 grundlegend. In allen Gemeinden des Bochum trat eine solche Zersplitterung nicht ein. Deutlich Ruhrgebiets, in denen polnischsprachige Staatsbürger in zeigte sich, dass die Zentrumspartei mehrere Flügel besaß, nennenswerter Zahl lebten, kandidierte die Polenpartei. Sie die für Reichstagswahlen Zweckbündnisse abgeschlossen erreichte in Bottrop und Herne je 30 %, und in Reckling- hatten, die bei Kommunalwahlen nicht galten. hausen rund 25 %. Der Spitzenwert lag in der Gemein- In Landgemeinden trat neben die vertikale Gliederung de Börnig (heute Herne) mit 34,7 %. Insgesamt zog sie der Wahllisten eine horizontale. Weniger wissenschaftlich in mehr als 40 Gemeindeparlamente ein. Die andere Zu- gesprochen: die Interessen der einzelnen Ortsteile mussten wanderergruppe aus dem preußischen Osten, die evangeli- angemessen berücksichtigt werden. Immer dann, wenn ei- schen Masuren, stellten keine eigenen Wahllisten auf, son- ne Landgemeinde mehrere Siedlungen umfasste, setzten dern wandten sich der DNVP zu. Diskussionen darüber ein, wie diese in der Gemeindever- Zweitens: Die Wahlbeteiligung sank bei den Kommu- sammlung angemessen repräsentiert werden konnten. Im nalwahlen in den meisten Städten gegenüber den Januar- Februar 1919 war daher die Zeit bis zur verbindlichen Ein- wahlen insgesamt deutlich. Hier und mehr noch in Landge- 8 Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019
Wilfried Reininghaus: Der 2. März 1919 – ein Meilenstein der Demokratiegeschichte in Westfalen meinden hing sie jedoch von der Zahl der konkurrierenden hen im Februar angelastet wurden – ob zu Recht oder Un- Wahlvorschläge ab. Zwei und mehr Wahlvorschläge führ- recht, kann hier nicht diskutiert werden. In den mittleren ten aber zu einer hohen Wahlbeteiligung, die sogar über und kleineren Städten gab es keine grundsätzlich anderen der im Januar liegen konnte, z. B. wenn die Polen eigene Tendenzen. Das Zentrum mobilisierte wiederum seine An- Listen aufstellten. Pauschale Aussagen über die Wahlbe- hänger, selbst wenn sie sich auf mehrere Listen verteilten, teiligung, die auf hochaggregierten Daten beruhen, soll- die SPD verbuchte in Diasporalagen einige kleine Erfolge, ten, wie die vielen Einzelbeispiele zeigen, mit großer Vor- die aber die Verluste in den Industriestädten nicht wett- sicht betrachtet werden; sie sagen nichts darüber aus, wer machten. Am schwersten sind die Landgemeinden einzu- wen auf lokaler Ebene tatsächlich mobilisieren konnte. Im schätzen. Die Konstellation änderte sich von Ort zu Ort. ländlichen Raum waren die vorbereitenden Verhandlungen Insgesamt kehrte sich jedoch der Trend aus den großen in den Ortsteilen in der Regel wichtiger als die Wahl selbst. Städten nicht um. Deshalb ist auch eine Aussage des frühe- Endete die Vorwahl positiv und konnte eine zufriedenstel- ren Frankfurter Stadtarchivars Dieter Rebentisch falsch, die lende Einheitsliste gefunden werden, sank die Wahlbeteili- bisher unwidersprochen im Raum stand: „Das neue Wahl- gung dramatisch und bis auf unter 1,0 %. Den Rekord hält recht machte die Sozialdemokratie schlagartig zur größten die Stadt Vreden, die eine Wahlbeteiligung von 0,007 % er- Rathauspartei der Weimarer Republik“.13 Das ist mindes- rechnete. Bei rund 1000 Wahlbeteiligten der Stadt wähl- tens für Westfalen schlicht falsch. te nur der siebenköpfige Wahlvorstand, weil vorab die Ein- Es gibt eine Möglichkeit, sich einem fiktiven Gesamt- heitsliste erstellt worden war. wahlergebnis der Kommunalwahl in Westfalen 1919 zu Drittens: Eine landesweite Zusammenfassung der Ein- nähern. Dabei hilft die Zusammensetzung des Provinzial- zelergebnisse fehlte 1919. Dennoch muss uns aus meh- landtags. Dieser wurde 1919 nach Abschaffung des Drei- reren Gründen interessieren, welche Trends bei der Kom- klassenwahlrechts indirekt ermittelt, auf der Grundlage der munalwahl überlokal festzustellen waren. Schließlich Wahl in den Städten und Gemeinden. Später wurde der entschied sich rund um den 2. März 1919, wer in der An- Provinziallandtag direkt gewählt. Die Zusammensetzung fangsphase der Weimarer Republik in den Städte- und Ge- des neuen Provinziallandtags, der erstmals im November meindevertretungen in Westfalen das Sagen hatte und 1919 zusammentrat, spiegelt also mittelbar die Ergebnis- wer die Kommunalpolitik bestimmte. Obendrein waren die se der Kommunalwahlen. Die Mandate waren wie folgt Kommunalwahlen ein Gradmesser für die Parteien, wie ih- verteilt: Zentrum 42,2 %, SPD 20,7 %, DNVP/DVP 22,3 %, re Wählerinnen und Wähler auf die Ereignisse der vergan- DDP 7,4 %, USPD 2,5 %, Parteilose 5 %. Die SPD hatte im genen sechs Wochen reagierten. In die sechs Wochen zwi- Vorfeld selbst schon eine Berechnung angestellt, die ähn- schen dem 19. Januar und dem 2. März fielen im Reich liche Relationen aufstellte. Das erhärtet endgültig die Ver- wie in Westfalen u. a. mehrere große Streiks und Putsch- mutung, dass die Partei von Ebert und Scheidemann bei versuche, das Zusammentreten der Nationalversammlung den Kommunalwahlen in Westfalen insgesamt massive in Weimar und die Diskussion um die Sozialisierung, die Verluste hinnehmen musste. Fortdauer der Versorgungsschwierigkeiten, der Einsatz der Viertens: Wer zog in die Kommunalparlamente ein? Freikorps und das Wiedererstarken der konservativen Kräf- Um es vorwegzunehmen: Es trat ein großer Wandel ein. te, die sich vom Schock der Revolution erholt hatten. Kom- Waren sie im Kaiserreich wegen des Dreiklassenwahlrechts munalwahlen konnten zum Protest gegen Entscheidungen von den lokalen Honoratioren beherrscht worden, so war dienen, die in Berlin oder in Weimar fielen. Bevor ich ein mit dem neuem Wahlrecht nun ein Wechsel vorauszu- Gesamtergebnis schätze, sollen die Ergebnisse bei den ein- sehen, wie Beobachtern schon im Februar 1919 klar wur- zelnen Gemeindetypen betrachtet werden. Bei den größe- de. Die Startvorteile für die Begüterten entfielen. Allein die ren Städten über 20.000 Einwohnern war die Tendenz ein- quantitative Erweiterung der meisten Stadt- und Gemein- deutig: Die SPD verlor gegenüber den Januarwahlen mehr deversammlungen eröffnete zusätzlich neuen Bewerbern als 10 %, das Zentrum sowie DNVP/DVP legten leicht zu, Chancen. Solche Erwartungen trafen zu. Nirgendwo lässt weniger als 1 %. Die linksliberale DDP verlor knapp 1 %. sich deshalb eine ungebrochene Kontinuität zwischen al- Die Verluste der SPD kamen rein numerisch den sonstigen ten und neuen Verordneten feststellen. Gleichwohl erken- Parteien, u. a. der USPD, den Polen und anderen, zugute. nen wir Tendenzen. Die SPD stellte in den Städten oft Par- Tatsächlich waren die Wählerwanderungen in jeder Stadt tei- und Gewerkschaftssekretäre auf, das Zentrum viele ziemlich komplex. Die Wahlanalyse der Zeitungen war klar. Handwerker und Kaufleute. Unternehmer waren im Kreis Nur in Ostwestfalen, vor allem in Bielefeld, behauptete sich der bürgerlichen Rechtsparteien zu finden, Lehrer standen die SPD und durchbrach die Dominanz der Nationallibe- auf allen Wahllisten. Der Adel zog sich auch auf dem Land ralen deutlich, in den Industriestädten blieb sie aber un- weitgehend aus den Gemeinderäten zurück. Dagegen ent- ter 50 %. Dramatisch waren die Verluste der SPD beispiels- decken wir dort viele Kleinbauern unter den Gemeinde- weise in Gelsenkirchen (– 25,5 %), Herne (– 21 %), Iserlohn (– 19 %), Buer oder Recklinghausen (rund 10 % Stimmen 13 Dieter Rebentisch, Programmatik und Praxis sozialdemokratischer weniger). In vielen Städten des Ruhrgebiets profitierte die Kommunalpolitik in der Weimarer Republik, in: Die alte Stadt 12 (1985), USPD von der Schwäche der SPD, der die Streiks und Unru- S. 33–56, 35. Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019 9
71. Westfälischer Archivtag verordneten. Für den Kreis Halle kann man das beziffern. Zentrumsmänner nach hinten. In Warburg jagten die Leh- 73 Heuerlinge und Kolonen standen nur 48 Landwirte und rerinnen Elisabeth Straßbach und Elisabeth Harre den Ho- Neubauern gegenüber. Um eine Äußerung der Lippischen noratioren, die sie nicht nominieren wollten, zwei Mandate Landeszeitung anlässlich der Wahl in der Gemeinde Son- ab. Ähnlich erfolgreich war die Fürsorgerin Aurelia Maes in neborn aufzugreifen: Die „kleinen Leute“ setzten sich ge- Lüdinghausen. Alle genannten Frauen stammten aus dem gen die „Herren“ durch. gehobenen Bürgertum. Anna Scholle aus Soest war das Über die Zahl der Frauen, die 1919 zu Stadt- und Ge- einzige mir bekannte Dienstmädchen in Westfalen, das für meindeverordneten gewählt wurden, kann ich keine ab- die SPD ein Mandat gewann. schließende Auskunft geben. Zu viele Daten fehlen. Die Lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung Auswertung der aktuell vorhandenen Wahlergebnisse er- schließen: Je länger ich recherchierte, desto mehr wuchs laubt jedoch eine Hochrechnung. Aktuell sind 118 „Rats- mein Respekt vor jenen Menschen, die sich nach dem En- frauen“ im Jahr 1919 ermittelt. Selbst wenn diese Zahl sich de des Dreiklassenwahlrechts in Parteien und auf lokalen durch Archivfunde noch leicht erhöhen sollte, so sind sie Wählerlisten in der Kommunalpolitik engagierten. Denn oft den geschätzt mehr als 15.000 männlichen Mandatsträger gehörte Mut dazu, im lokalen Kontext zu kämpfen und in Westfalen und Lippe 1919 gegenüberzustellen. Der An- auch nur zu kandidieren: als Bergarbeiter gegen den Ze- teil der Frauen an der Gesamtzahl der Stadt- und Gemein- chendirektor, als Heuerling gegen Großbauern, als Frau deverordneten lag also unter einem Promille. Bei der Be- gegen Männer. Sie alle hatten einen wichtigen Anteil an richterstattung über die Einführung des Frauenwahlrechts dem Aufbruch zur Demokratie, den die Kommunalwahl im vorigen Jahr ist meines Erachtens etwas zu kurz gekom- 1919 bedeutete. Sie war, um ein Wort von Bundespräsident men. Das aktive Wahlrecht war nun ein erster Schritt auf Frank-Walter Steinmeier zum 9. November 1919 aufzugrei- dem Weg der Frauen zur politischen Gleichberechtigung. fen, ein Meilenstein in der Demokratiegeschichte Westfa- Den zweiten Schritt, nämlich die erfolgreiche Wahrneh- lens.14 Und an deren lokale Wurzeln zu erinnern, kann uns mung des passiven Wahlrechts, verhinderten in der Regel nicht gleichgültig sein, die Aufgabe muss vielmehr eine die Männer. Ihnen gelang es, Frauen entweder auf hinte- Herzensangelegenheit sein, in der Gegenwart und in der re, aussichtslose Platzierungen zurückzudrängen oder Kan- digitalen Zukunft. n didatinnen so einzuschüchtern, dass sie von sich aus die Segel strichen. Das böse Wort „Alibikandidatinnen“ trifft Prof. Dr. Wilfried Reininghaus Senden zu. Hintere Platzierungen für Frauen lassen sich flächen- wilfried.reininghaus@t-online.de deckend für ganz Westfalen allenthalben nachweisen. Ei- ne einzige Frau stand in Westfalen auf dem ersten Listen- platz: Louise Becker in Halle von der DVP. Sie war aber nur Platzhalterin für ihren Mann, den späteren Stadtvor- steher von Halle. Ich will meine Sympathien für diejenigen nicht verbergen, die gegen solche Arroganz der Männer aufbegehrten, und nenne einige mit Namen. Gertrud Blo- 14 Zum Begriff „Demokratiegeschichte“ vgl. Tim B. Müller/Hedwig Richter me und Hedwig Geißler verdrängten in Dorsten führende (Hrsg.), Demokratiegeschichten, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), Heft 3. Neues von DiPS.kommunal – Entwicklungen und Erfolge von Antonia Riedel und Hannah Ruff Die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der wird unter dem Dach des Digitalen Archivs NRW (DA NRW) Stadt Köln betriebene Softwarelösung für elektronische beständig weiterentwickelt. Langzeitarchivierung DiPS.kommunal ist speziell auf die Seit dem Start von DiPS.kommunal Ende 2017 haben Anforderungen kommunaler Archive zugeschnitten und sich inzwischen mehr als zwanzig Archive dem Verbund angeschlossen. Ebenso wie die Beschäftigten der Archive 10 Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 | 2019
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