Nachrichten aus hessen - GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND ARCHIVE - Sonderheft 2020 - Hessisches ...
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Sonderheft nachrichten aus hessen 2020 GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND ARCHIVE IMPULSE – ARCHIVE AKTUELLE ZUKUNFTS NEUE FELDER UND HISTORISCHE FORSCHUNGS PERSPEKTIVEN DER DER GESCHICHTS- FORSCHUNG TENDENZEN QUELLENARBEIT WISSENSCHAFT
2 INHALT archivnachrichten Sonderheft 2020 INHALT ■ IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE ■ ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN FORSCHUNG DER QUELLENARBEIT 4 Archive und historische Forschung. Ein Impuls 40 Public History und der Einsatz archivalischer Andreas Hedwig Quellen in der (Lehr-)Praxis Cord Arendes 14 Gegen die Alleinherrschaft der Gegenwart. Archive und wissenschaftliche Forschung als 46 Ein „Vetorecht“ der Quellen? Dialog- und Kooperationspartner Empirisches Arbeiten im universitären Unter- Eckart Conze richt Torsten Riotte 18 Speichern und Erinnern Aleida Assmann 52 Archivalisches Quellen für die Forschung unverzichtbar? Attraktivität und Bedeutung von Archivgut im ■ AKTUELLE FORSCHUNGSTENDENZEN digitalen Zeitalter Nicola Wurthmann 21 Landesgeschichte – Raum und Zeit im Visier Sabine Mecking 58 Archivische Quellen im Rahmen akademischer Zulassungsarbeiten. Ein Problemaufriss 27 Die Geschichte des Bundesgerichtshofs. Lars Adler Zusammenarbeit des Bundesarchivs und des Arbeitsbereichs Zeitgeschichte an der Universität Mainz ■ NEUE FELDER Michael Kißener, Claudia Zenker-Oertel DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT 32 Schlaf im Archiv. 64 Digital Humanities in der Geschichtswissenschaft. Was ist und was soll eine Geschichte des „Schnittstelle“ zwischen Archiv, Bibliothek, Schlafs? Museum und Universität Hannah Ahlheim Gerrit Jasper Schenk
archivnachrichten Sonderheft 2020 EDITORIAL 3 72 Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und 82 Forschungsförderung und Drittmittel- Archiven im Kontext der Digital Humanities einwerbung im Hessischen Landesarchiv. Stefan Schulte Stand und Perspektive Francesco Roberg 77 Die digitale Integration von historischer Forschung, Gedächtniseinrichtung und Infrastrukturen. ■ IMPRESSUM Zur Konsortinitiative 4Memory in der NFDI Johannes Paulmann, John Carter Wood 87 Impressum Editorial Die Zusammenarbeit zwischen universitärer Ge- nähern uns den zentralen Fragestellungen in vier Schrit- schichtswissenschaft und Archiven muss immer wieder ten. Zunächst werden Impulse gesetzt, die einen allge- neu definiert und ausgelotet werden. Aktuelle wissen- meinen Überblick über die universitäre Geschichtsfor- schaftliche Fragestellungen schaffen neue Anforderun- schung sowie die Situation des Hessischen Landesarchivs gen. Moderne und zukünftige Arbeitsansätze gilt es im geben. Das Kapitel über aktuelle Forschungstendenzen gegenseitigen Austausch und Gespräch zu diskutieren stellt konkrete Beispiele (landes-)historischer Wissen- und weiterzuentwickeln. schaft vor und befragt diese hinsichtlich der Auswertung archivalischer Quellen. Dieser Ist-Stand wird im nächsten Das Hessische Landesarchiv veranstaltete aus die- Kapitel hinterfragt, in welchem nach dem Sinn und der sem Grund am 19. Februar 2020 im Hessischen Staats- Praktikabilität empirischen Forschens in der Geschichts- archiv Darmstadt einen Workshop zum Thema „Ge- wissenschaft unserer Tage gefragt wird. Den Abschluss schichtswissenschaft und Archive“, damit Wissenschaft bilden vier Texte, die sich mit den Herausforderungen und Archive über derzeitige Trends und zukünftige und Chancen der Digital Humanities beschäftigen. Standards miteinander ins Gespräch kommen. Beste- hende Hürden und Hemmschwellen konnten anhand Das vorliegende Sonderheft wird damit eine Reihe der Referate und Diskussionen erkannt werden. Ziel ist, von Anstöße geben, um die Kooperation zwischen diese schließlich weiter abzubauen und in einen inten- universitärer Wissenschaft und Archiven zu optimieren siveren Austausch als bisher zu treten. und für die Bedürfnisse und Wünsche beider Partner zu sensibilisieren. Auf dem Workshop gehaltene Referate werden hier in gebündelter Form als Sonderheft der „Archivnach- Rouven Pons, Hessisches Landesarchiv richten aus Hessen“ veröffentlicht. Ergänzt werden sie durch die beiden fundierten Denkanstöße von Aleida Assmann und Eckart Conze, die bereits in zurücklie- genden Heften der Archivnachrichten aus Hessen ab- gedruckt wurden. Da das Referat von Prof. Dr. Sabine Mecking inhaltlich stark mit ihrem Denkanstoß in Heft 19/2 (2019) übereinstimmte, wurde für die Drucklegung auf dieses Manuskript zurückgegriffen. Der Beitrag von Johannes Paulmann und John Carter Wood wurde ei- gens für das vorliegende Heft verfasst. Viele neue Anstöße gibt das Heft, die hoffentlich ei- nen intensiven Gedankenaustausch zwischen der univer- sitären Wissenschaft und den Archiven befördern. Wir
4 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 ■ Archive und historische Forschung Ein Impuls1 Andreas Hedwig, Hessisches Landesarchiv Es ist ein gutes Zeichen, dass das Veranstaltungsan sich der Archivar wieder zurück an seinen Schreibtisch, gebot des Workshops „Archive und historische For- um sich in seine Forschungen zu vertiefen. So ist für schung“ des Hessischen Landesarchivs ein so erfreu- beide, für Historiker und Archivar, die Welt in Ordnung. liches Echo erfahren hat. Schon die hohe Zahl an Teil- nehmern und Teilnehmerinnen dieses Workshops – es Entspricht dieses Bild heute noch der Realität? Ja waren annähernd 100 – hat unterstrichen: Es besteht und nein! Erst kürzlich wurde es wieder prominent ge- ein spürbares Interesse, ja ein echter Bedarf, dass würdigt. Auf der festlichen Eröffnungsveranstaltung Archive und Geschichtswissenschaft intensiver mitei- des 89. Deutschen Archivtags im vergangenen Jahr in nander ins Gespräch kommen. Die Intention des Work- Suhl beschrieb Götz Aly sein in langen Jahren gewach- shops war es, Möglichkeiten und Chancen einer bes- senes respektvolles und wertschätzendes Verhältnis seren Zusammenarbeit auszuloten und gegebenenfalls zu den Archivaren und den Archiven. Er resümierte: existierende Herausforderungen ins Visier zu nehmen „So schlecht steht unser Archivwesen nicht da“ und und zu meistern. bedankte sich in aller Form bei den Archivarinnen und Archivaren für die großartige Unterstützung seiner For- Die drei Themenschwerpunkte des Workshops – schungen.2 aktuelle Forschungstendenzen, Zukunftsperspektiven der Quellenarbeit, neue Felder der Geschichtswis- In der Tat: Es gibt sie noch, die Archive und die Ar- senschaft – ergaben sich aus einer ganzen Reihe von chivare, die dem soeben beschriebenen Bild entspre- Vorabgesprächen, die Rouven Pons für das Hessische chen. Zumal die kleineren Kommunal-, Wirtschafts-, Landesarchiv mit Vertreterinnen und Vertretern der Partei-, Kirchen- oder Spezialarchive bestätigen die universitären Forschung und Lehre geführt hatte. Die stereotypen Erwartungen immer wieder. Im positiven inhaltliche Breite der angekündigten Referate, aber Sinne! Es müssen vor dem inneren Auge lediglich die auch die generationelle Mischung und die vielfältigen Archivmagazine mit modernen Kompaktus-Regalanla- akademischen Hintergründe der Referentinnen und gen ausgestattet werden, in denen staubfrei kartonier- Referenten aus den Bereichen Geschichtswissenschaft tes Archivgut lagert, und das Büro bedarf eines PCs. und Archiv versprachen eine anregende Veranstaltung, deren Ergebnisse dieses Sonderheft der „Archivnach- Besagte kleinere Archive beherbergen an Umfang richten aus Hessen“ dokumentiert. und Inhalt einigermaßen überschaubare Mengen ein- schlägigen Archivguts. In vielen Kommunen beispiels- ■ Die heile Welt der Archive weise fungieren die Archive als die Kompetenzzentren Als Einstieg in das Themenfeld und damit als Impuls der Stadtgeschichte. Dort gibt es sie also durchaus sei es erlaubt, das Stereotyp aufzurufen, das sehr viele noch, die „heile Welt“ der Archive – nicht nur als Ste- Menschen, auch die meisten Historiker und Historike- reotyp in den Köpfen, sondern zu guten Teilen in der rinnen, mit „dem Archivar“ assoziieren. Der Archivar – Realität. „die Archivarin“ kennt dieses Muster nicht – verwahrt wichtige historische Dokumente aus Pergament oder Doch verändern sich die Archive – wenn auch von altem Papier in großen Räumen mit unendlich vielen außen betrachtet kaum wahrnehmbar – seit einigen verstaubten Regalen. Er kennt dieses Archivgut persön- Jahrzehnten grundlegend. Die modernere Ausstattung lich so gut, dass er wertvolle Tipps geben kann, welche ist mehr als Fassade und der Einsatz der IT mehr als ein der Dokumente die Historikerin oder der Historiker Symptom. Die Archive stehen inmitten eines tiefgrei- unbedingt einsehen sollte. Ist er in guter Stimmung, fenden Wandlungsprozesses, der mit ihrer Rolle als Ser- holt er gar bisher völlig ungehobene Schätze der his- vice-Einrichtung für die historische Forschung nur mit- torischen Erkenntnis aus seinem Archiv hervor. Hat der telbar etwas zu tun hat. Dieser Prozess spielt sich sozu- Kunde die erhofften Quellen von ihm erhalten, zieht sagen auf „der anderen Seite“ ihrer Aufgaben ab. Denn
archivnachrichten Sonderheft 2020 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG 5 Archive sind nicht nur dazu da, Archivgut zu verwalten Der Archivar Fritz Geisthardt bei der Arbeit im Hessischen und nutzbar zu machen. Mindestens genauso wichtig ist Hauptstaatsarchiv, 1960er Jahre (HHStAW Abt. 3008/1) für sie, Archivgut in der Verwaltung, für die sie zuständig sind, zu ermitteln und in das Archiv zu übernehmen. Mit rischen Forschung aus Sicht der Archive beschließen den wachsenden Papiermengen in der Verwaltung seit diesen Impulsbeitrag.3 den 1960er und 1970er Jahren ist diese Aufgabe für sie immer prägender geworden, und der in den 1980er ein- ■ Die Spielregeln setzende digitale Medienwechsel stellt die Archive vor Die Nutzung der Archive, zumal die Nutzung der durch weitere enorme Herausforderungen. die öffentliche Hand betriebenen Archive, hat heu- te nichts Ungewöhnliches mehr. Es bedarf zwar einer Dieser Impuls bemüht sich, die grundlegenden Ver- förmlichen Anmeldung, zuweilen ist der Lesesaal nicht änderungsprozesse des Archivwesens zu reflektieren, sehr komfortabel ausgestattet, die Öffnungszeiten sind um die daraus resultierenden Folgen und Chancen für kurz oder es fehlt das WLAN. Grundsätzlich jedoch ist die historische Forschung aus drei Perspektiven zu be- das gefragte Archivgut ohne größere Schwierigkeiten trachten. Erstens soll es um die Spielregeln der Archive erreichbar und im Lesesaal nutzbar. gehen: Wer betreibt Archive? Was folgt daraus für die Archive, für die Forschung? Zweitens wird nach den Das war nicht immer so. Das öffentliche Archivwe- Akteuren in den Archiven und ihren Bewegungsräu- sen, so wie wir es heute kennen, entwickelte sich erst men gefragt: Welche Aufgaben haben Archivarinnen im 19. Jahrhundert parallel zur Geschichtsforschung als bzw. Archivare? Wie entwickelt sich das Berufsbild? akademischer Disziplin, die ihre Methode nicht zuletzt Welche Rolle spielt die Forschung, welche kann sie auf die in den Archiven deponierten Schriftquellen künftig spielen? Drittens soll die „Nachfrageseite“ der ausrichtete. Im Zuge der Herausbildung des deutschen Archive in den Blick genommen werden: Welchen Be- Nationalstaats spielte die Geschichtsforschung eine darf haben Archivnutzer und nutzerinnen? Welche die wichtige sinnstiftende Rolle und wurde in Kultur und Forschung? Die Perspektiven und Chancen der histo- Gesellschaft breit rezipiert. Die deutschen Länder, al-
6 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 len voran Preußen, entwickelten ein dem französischen Diese Entwicklungen sensibilisierten für die Auf- Vorbild folgendes öffentliches Archivwesen. Ende des gaben der Archive, denn diese verwahren in großem 19. Jahrhunderts trat eine universitäre Spezialausbil- Umfang Unterlagen, die personenbezogene Daten dung für Archivare hinzu, die auf die Sammlung und enthalten: Meldedateien, Standesregister, Personal-, Verwahrung sowie die Nutzbarmachung des Archiv- Prozess-, Kranken-, Steuer-, Bauakten usw. Für diese guts spezialisiert war. Es lag nahe, dass sich vor allem Unterlagen bedurfte es eines rechtlichen Ausgleichs Historiker dem Beruf des Archivars verschrieben und zwischen dem Persönlichkeitsschutz der im Archivgut – da sie im buchstäblichen Sinne „an den Quellen“ dokumentierten Bürgerinnen und Bürger einerseits saßen – auch selbst Geschichtsforschung betrieben.4 und der Forschungsfreiheit nach Art. 5 Grundgesetz Damit waren die Archive für die wissenschaftliche For- andererseits. Dies regeln seit Ende der 1980er Jahre schung offen, offener jedenfalls als für die Heimat- und die Archivgesetze des Bundes und der Länder. Familienforschung, die man sich mit Gebühren vom Halse hielt. Darüber hinaus fordert der Datenschutz, dass die Behörden für ihre Unterlagen ein zeitliches Ende festle- Erst in den 1980er Jahren änderte sich das Ver- gen und nicht unnötig personenbezogene Informatio- ständnis der öffentlichen Archivträger – des Bundes, nen horten. Auch dafür schuf man Regeln und übertrug der Länder, der Kommunen – für ihre Archive grund- die Entscheidung darüber, ob Unterlagen archiviert legend. Anlass war der politische Widerstand gegen oder vernichtet werden sollten, exklusiv den Archiven. eine geplante Volkszählung. Die hierfür erforderliche Datenerfassung empfanden viele Menschen als über- Die Archivgesetze klärten auch, was der Begriff For- griffig und unzulässig. Mehrere Verfassungsbeschwer- schung umfassen sollte. Forschung sollte als ein grund- den führten zu dem sogenannten Volkzählungsurteil legendes Bürgerrecht verstanden werden, von der des Bundesverfassungsgerichts von 1983, das neue journalistischen Recherche über die privat motivierte 10 rechtliche Grundlagen für den Datenschutz schuf und DIE STAATLICHEN ARCHIVSPRENGEL Tätigkeitsbericht des Hessischen Landesarchivs 2019 Ahnenforschung, die Orts- und Regionalforschung bis das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hin zur wissenschaftlichen Forschung.5 etablierte. Diese Festlegungen entsprechen einem allgemei- DIE STAATLICHEN ARCHIVSPRENGEL Die staatlichen Archivsprengel in Hessen nen Grundsatz: Wer ein Archiv betreibt, bestimmt dessen Aufgaben. Es ist daher nicht erstaunlich, dass der Zugang zu Privatarchiven – des Adels, von Firmen, Vereinen oder der Parteien – teilweise eingeschränkt ist, da die Archivträger die Regeln festlegen. Die öf- KASSEL fentliche Hand als Archivträger bewegt sich in der Bundesrepublik hingegen im Rahmen des im Grund- gesetz bzw. in den Länderverfassungen begründeten öffentlichen Rechts. Die Archivgesetze spiegeln daher die mit ihnen verbundenen rechtlichen und auch poli- MARBURG tischen Ansprüche einer demokratischen Gesellschaft wider. GIESSEN Die öffentlichen Archive sind damit mehr als Insti- tutionen des historischen Erkenntnisgewinns. Heribert Prantl und Hans-Christian Ströbele etwa sprechen von einer demokratiesichernden Funktion. Denn die Archi- FRANKFURT AM MAIN ve sorgen – in ihren Entscheidungen unabhängig – für WIESBADEN eine geregelte und transparente Vernichtung oder für OFFENBACH die dauerhafte Verwahrung bzw. Archivierung behörd- DARMSTADT ■ HESSISCHES STAATSARCHIV DARMSTADT licher Unterlagen bis hin zu den Ministerien und Verfas- ■ HESSISCHES STAATSARCHIV MARBURG ■ HESSISCHES HAUPTSTAATSARCHIV sungsschutzbehörden. Sie übernehmen nur eine kleine WIESBADEN Auswahl der Behördenunterlagen als informationsdich- te und relevante Dokumente über die Entscheidungen von Politik, Verwaltung und Justiz und sorgen für deren sichere Verwahrung und für die Zugänglichkeit des Ar- chivguts für Forschende.6 HLA Tätigkeitsbericht_2019_rz.indd 10 30.04.20 14:37
archivnachrichten Sonderheft 2020 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG 7 Plakat des Revuekabaretts „Blackout“ in Wiesbaden „Volkszählung oder Volksüberwachung?“, 1987 (HHStAW Abt. 3012 Nr. 1129)
8 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 bis hin zu den Editionsreihen der Monumenta Germa- niae Historica.7 Vor allem die landesgeschichtliche Forschung hat von den Archiven stark profitiert. Das war in Hessen nicht anders als in vielen anderen deutschen Ländern bzw. Bundesländern. Hier spielten die Historischen Kommissionen, in denen die Archivare stark vertre- ten waren, eine wichtige Rolle. Schon ein Blick auf die produktiven, wirkungsmächtigen Landeshistoriker bestätigt diese Einschätzung. Für die Zeit nach 1945 etwa lassen sich für Hessen beispielsweise aufzählen: Edmund E. Stengel, Karl Demandt, Walter Heinemeyer, Hans Philippi, Georg Wilhelm Sante, Wolf-Heino Struck, Hellmuth Gensicke, Otto Renkhoff, Wolf-Arno Kropat, Walter Mühlhausen, Friedrich Knöpp und Eckhart G. Franz. Von diesen zwölf Genannten waren nur zwei, Stengel und Mühlhausen, keine Archivare. Diese „His- toriker-Archivare“ und das sie unterstützende Personal in den Staatsarchiven prägten die hessische Landesge- schichte bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts in be- währten, traditionellen Bahnen, denn ihr Forschungsin- teresse lag vor allem im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, und sie orientierten sich an den historischen Internetauftritt des Hessischen Landesarchivs Ende April 2020 Territorien. Die Zeitgeschichte hatte es vergleichswei- se schwer; hier konnten die Landtagskommission für Was bedeutet dies für die Forschung? Nur Gutes, die politische und parlamentarische Geschichte des denn diese Prinzipien öffnen die Archive in jeder Hin- Landes Hessen sowie die Historische Kommission für sicht für die Forschung, und sie verleihen ihnen Spiel- Nassau immerhin einige Akzente setzen.8 räume. Archive sollen, das sagt nicht nur das Hessische Archivgesetz, „als Häuser der Geschichte“ aktiv an der Spätestens zur Jahrtausendwende jedoch wurde es Geschichtsvermittlung mitwirken. Sie fördern Publikati- für die in den Historischen Kommissionen organisier- onen, Quelleneditionen und historische Darstellungen, ten Historiker-Archivare immer schwieriger, ihre Arbeit und sie werden auch immer wieder einbezogen in ge- fortzusetzen. Sie fanden kaum mehr Bearbeiter für ihre schichtspolitische Fragen, wie Landesjubiläen began- Projekte, von denen etliche eingestellt werden muss- gen werden sollen oder woran wie durch Ausstellun- ten. Der Grund dafür: Die Kommissionen verloren nach gen, Publikationen und Vortragsreihen erinnert werden und nach ihren Rückhalt in den Staatsarchiven. soll. Da sich die Archive den Archivgesetzen und damit einem pluralistischen, liberalen, demokratischen ge- Denn für die Archive änderten sich die Rahmenbe- sellschaftlichen Anspruch und der Forschungsfreiheit dingungen grundlegend. Seit Ende der 1960er wuchs verpflichtet sehen, ist die Gefahr einer apologetischen der öffentliche Sektor massiv an und baute entspre- Geschichtsvermittlung gering. chend seine Verwaltung aus. Dies bewirkte u.a. eine deutlich höhere behördliche Aktenproduktion, die das ■ Die Archivarinnen und Archivare aufkommende Fotokopieren in den 1970er Jahren wei- Wie bewegen sich die Archivarinnen und Archivare in- ter steigerte. In den späteren 1980er Jahren trat der nerhalb des beschriebenen Rahmens? Wie stehen sie Einsatz der EDV und der damit aufkommenden Dru- zur Geschichte als historischer Disziplin? cker hinzu. Diese Entwicklungen erzeugten eine riesi- ge Bugwelle von behördlichem Schriftgut, welche die Im 19. und 20. Jahrhundert spielten sie in den Archive mit ihren herkömmlichen Methoden und ohne historischen Hilfswissenschaften und zumal in der Personalzuwachs nicht bewältigen konnten. Landesgeschichte eine wichtige Rolle. Von ihrer hilfs- wissenschaftlichen Kompetenz künden bis heute die Die 1990er Jahre markierten ein „Wendejahrzehnt“. beeindruckenden umfangreichen Serien lokal- oder re- Der archivarische Berufsstand reagierte mit einem gionalhistorischer Urkundenbücher und Quellenwerke Professionalisierungsschub. Die verwaltungsinterne
archivnachrichten Sonderheft 2020 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG 9 Archivarsausbildung für den Bund und die Länder der Archivschule Marburg (Foto: Willi Schuhmacher) damaligen BRD – seit 1949 (mit Ausnahme von Bay- ern) in Marburg zentralisiert – wurde aus dem Staats- moderne aktive Vermittlungs- und Öffentlichkeitsar- archiv Marburg herausgelöst, verselbstständigt und beit treten. Im Hessischen Landesarchiv umfasst die- reformiert.9 Der wissenschaftliche Historiker-Archivar se alle zentralen Publikationen, den Tätigkeitsbericht, wurde zurückgedrängt zugunsten eines Managerty- die Archivnachrichten, den Mail-Newsletter sowie die pus, der sich konsequent den sogenannten „archivi- Social-Media-Angebote; es geht ferner um Ausstellun- schen Kernaufgaben“ zuwenden sollte: dem Records gen, die Organisation von Vorträgen und Tagungen, Management, der Behördenberatung, der Überliefe- die Durchführung von Führungen usw. Forschungsar- rungsbildung, der Erhaltung, der Erschließung und der beit im Dienst wird heute nur noch eingesetzt, um die Nutzbarmachung des Archivguts. Die neue Rolle der genannten Formate der Vermittlungsarbeit inhaltlich Archivarinnen und Archivare definierten, so das da- „anzureichern“. Alle weiteren Aktivitäten der Archi- malige Credo, vor allem die Archivgesetze. Sie sollten varinnen und Archivare in der historischen Forschung rechtskundige Partner der Verwaltung und des Daten- entfallen auf deren Freizeit, d.h. auf ihr privates wissen- schutzes sein, unter Berücksichtigung der Wirtschaft- schaftliches Interesse.10 lichkeit nur die wichtigsten Unterlagen archivieren und diese serviceorientiert der Öffentlichkeit und der For- Eine Umfrage zum Einsatz der Arbeitszeiten in den schung zur Verfügung stellen. deutschen Landesarchiven aus dem Jahr 2010 macht deutlich, wie stark sich die Archive in den Jahrzehnten Eigene historische Forschungen der Archivarinnen davor verändert hatten. Demnach setzten die Archive und Archivare im Rahmen des Dienstgeschäfts wur- ihr Personal vor allem für die Erschließung und die Er- den massiv zurückgedrängt. An ihre Stelle sollte eine haltung des Archivguts ein, auch die Auskunftserteilung
10 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 Zugleich wiesen die Befragten jedoch auf Defizite des Nutzungskomforts hin. Sie bemängelten die un- genügenden Online-Angebote sowie die Qualität der Erschließungsinformationen, die aus ihrer Sicht kompli- zierte Online-Recherche im Archivinformationssystem Arcinsys und die geringe Anzahl der online angebote- nen digitalisierten Archivdokumente. Daraufhin lud das Hessische Landesarchiv zu Grup- pen-Interviews ein, an denen einmal Genealogen und nicht-professionelle Orts- und Regionalforscher teil- nahmen und ein weiteres Mal Vertreterinnen und Ver- treter der wissenschaftlichen Forschung. Beide Grup- pen unterstrichen, dass sie die Archive und ihre Ange- bote sehr wertschätzten, zugleich betonten sie jedoch, dass sie jede Maßnahme, die ihnen die Recherche erleichtern könnte, begrüßen würden. Sie wünschten sich einen möglichst direkten, barrierefreien, zugleich Fachaufgaben der deutschen Landesarchivs 2010 möglichst umfassenden Zugang zum Archivgut, idea- lerweise online, der die jeweiligen Spezialforschungs- und Benutzung (Lesesaalbetrieb) beanspruchten viel gebiete berücksichtige. Personalressourcen. Für die Bildungs- und Öffentlich- keitsarbeit standen nur ca. vier Prozent des Personals Die Haltung der Befragten mutete auf den ersten zur Verfügung. Hieran hat sich bis heute kaum etwas Blick utopisch an und, aus archivarischer Sicht, gar als geändert – auch nicht im Hessischen Landesarchiv.11 recht naiv. Denn gegen diese Erwartungen spricht allein der Umfang des staatlichen Archivguts. In den ■ Die Nutzerinnen und Nutzer hessischen Staatsarchiven werden aktuell ca. 166 lfd. Wurde bisher die Angebotsseite der Archive betrach- tet, soll nun die „Nachfrageseite“ in den Blick kom- Verteilung der Nutzerinnen und Nutzer des Hessischen Landes men. Die Archive müssen sich eingestehen, dass sie in archivs im Bundesgebiet 2016, die an der Umfrage teilgenom diese Frage bisher wenig Energie investiert haben: Die men haben Wahrnehmung der Archivnutzer und ihrer Bedürfnisse beruhte im Wesentlichen auf der Auswertung der Be- nutzeranträge, in denen die Nutzerinnen und Nutzer angeben mussten, was sie in die Archive führte. Darü- ber hinaus wurden vereinzelt Umfragen durchgeführt, die regelmäßig bestätigten, dass die Nutzerinnen und Nutzer mit dem Service der Lesesäle sehr zufrieden waren. Eine – soweit bekannt bundesweit erstmalige – systematische, wissenschaftlich begleitete Nutzerbe- fragung startete das Hessische Landesarchiv im Jahr 2016. Sie erbrachte unerwartete Ergebnisse.12 Das Landesarchiv überraschte schon die große Zahl von über 1300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Die Wahrnehmung des Landesarchivs in der Öffentlichkeit war damit viel größer, als vermutet worden war. Weiter vermittelte die Umfrage einen differenzierten Eindruck von der regionalen und überregionalen Nachfrage nach den Angeboten der hessischen Staatsarchive und ihrer Bestände. Seitdem registriert das Landesarchiv viel aufmerksamer die ebenfalls erhebliche internatio- nale Benutzung.
archivnachrichten Sonderheft 2020 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG 11 Regalkilometer Schriftgut aufbewahrt. Mit dem zur Ver- wenigen Stellen aufgenommen oder gar kontinuierlich fügung stehenden Personal ist es mithin nicht im Ent- gepflegt. Die seltenen Ausnahmen basierten auf per- ferntesten möglich, beispielsweise eine inhaltlich-the- sönlichem und außerdienstlichem Engagement. Par- menorientierte Indexierung anzusetzen, geschweige allel dazu entwickelte sich die Geschichtswissenschaft denn den Gesamtbestand zu digitalisieren. zu einem guten Teil auf neuen Pfaden weiter und trieb ihre Forschung zunehmend ohne vertiefendes Quel- Interessant war jedoch, dass sich die Wünsche bei- lenstudium in den Archiven weiter. der Nutzergruppen kaum voneinander unterschieden – und dass sie im Grunde bereits seit Längerem bekannt Dieses Nebenher von Archiven und Geschichtsfor- waren. Als in dieser Frage geradezu legendär gilt eine schung, der beiden einst so eng miteinander verfloch- Gemeinsame Arbeitssitzung unter dem Titel „Archive tenen Sparten, bot letztlich keiner der beiden Seiten und historische Forschung“ auf dem 73. Deutschen eine Perspektive, so dass Bemühungen, wieder zu ei- Archivtag 2002 in Trier. Drei namhafte Historiker – ner engeren Kooperation zu kommen, im Raum stan- der Mediävist Theo Kölzer (Bonn), der Stadthistoriker den. Und in der Tat zeichnen sich erst seit einigen Jah- Gerhard Fouquet (Kiel) und der Zeithistoriker Rainer ren Ansätze für eine neue produktive Zusammenarbeit Hudemann (Saarbrücken) – formulierten bereits eben- zwischen Archiven und historischer Forschung ab, die diese Erwartungen. Die damalige Arbeitssitzung führ- Perspektiven und Möglichkeitsräume eröffnen. te vor Augen, dass die historische Forschung seitens der Archive möglichst passgenaue Angebote auf ihre ■ Perspektiven und Chancen jeweiligen Fragestellungen und Methoden wünsch- Wie sehen die jüngeren Entwicklungen in Hessen aus? te.13 Angesichts der wachsenden Anforderungen der Hier ist ab etwa dem Jahr 2000 vieles in Bewegung Archivträger an die Archive und deren zunehmende geraten. Die Rollen der Akteure haben sich neu jus- Konzentration auf die Bewältigung der sogenannten tiert. Vor allem wurden die gegenseitigen Erwartungs- Kernaufgaben fanden diese Erwartungen unter den haltungen reduziert: Die Archive warten nicht mehr Archivarinnen und Archivare jedoch kaum Anklang. auf universitäre Forschungsprojekte, die ihr Archivgut nutzen. Die Historischen Kommissionen verlassen Ein echter Dialog geschweige denn eine aktive Ko- sich nicht mehr allein auf die Arbeit der Archivarinnen operation zwischen wissenschaftlicher Forschung und und Archivare. Die Forschungsprojekte betreibenden Archiven jedenfalls, so kann man für die Zeit ab den Hochschullehrerinnen und -lehrer erwarten von den 1990er Jahren zusammenfassen, wurde nur an ganz Archiven nicht mehr, dass sie ihnen ihre Quellen pro- jektgerecht aufbereiten. Um es positiv zu wenden: Die Beteiligten gehen unbefangener und ohne Erwartungen aufeinander zu, um zu sehen, was gemeinsam möglich ist. So hat sich die universitäre Forschung stärker als zuvor gegenüber den Archiven und einer Landesgeschichte geöffnet, die ihrerseits methodenoffener geworden ist. Zahlrei- che gemeinsame Tagungs-, Ausstellungs- und Publika- tionsprojekte sind so entstanden, die von sich reden machten, traditionelle Pfade der Landesgeschichte hinter sich gelassen und gegenseitiges Vertrauen auf- gebaut haben.14 Es sei an dieser Stelle beispielsweise an die beiden Tagungen im Hessischen Landtag zu den NS-Belastun- gen der hessischen Landtagsabgeordneten (2013) und zum Thema „Landesbewusstsein und Identitätspolitik nach 1945“ (2016) erinnert. Im Umfeld der Historischen Kommission für Hessen und des Staatsarchivs Marburg machten Tagungen, Publikationen und Ausstellungen zu Landgraf Carl von Hessen-Kassel oder „Luther und Eu- ropa“ von sich reden, aber auch zahlreiche kleinere Aus- stellungs- und Tagungsprojekte wie zu den Finanzkrisen
12 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 Führung im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden rische Informationsressourcen komfortabel aufbereitet und im Internet präsentiert. In den vergangenen Jahren in der Geschichte, zur Friedenspolitik der hessischen hat LAGIS eine vertiefte Expertise für die intelligente Landgrafschaft, zur NS-Euthanasie usw. Als ein neues Vernetzung von Daten und Informationsquellen entwi- zeitgeschichtliches Format hat der Arbeitskreis hessi- ckelt und damit das HLGL zu einem starken Partner der sche Zeitgeschichte Kontinuität entwickelt. Die Teilneh- hessischen Landegeschichte gemacht. merinnen und Teilnehmer aus ganz Hessen tagen seit zehn Jahren jährlich zweimal an wechselnden Orten, Neu ist der an der Philipps-Universität Marburg ein- tauschen Informationen über Forschungsaktivitäten aus, gerichtete Lehrstuhl für hessische Landesgeschichte diskutieren Projektvorhaben und machen Landeszeitge- mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte, den Frau Prof. schichte sichtbar, lebendig und inspirierend. Dr. Sabine Mecking innehat. Sie gehört zum Organi- sationsteam des Arbeitskreises Zeitgeschichte und hat Die an den Staatsarchiven in Darmstadt, Marburg Wintersemester 2019/20 an der Marburger Universität und Wiesbaden angesiedelten Historischen Kommis- eine Ringvorlesung initiiert, bei der das HLGL und das sionen unterstützen vor allem landeshistorische Pub- Hessische Landesarchiv als Mitveranstalter auftraten. likationen. Die Marburger Kommission ist hier beson- Die Ringvorlesung lieferte reichlich Inspiration, was ders produktiv und hat sich inzwischen auch anderen eine moderne Landes- bzw. Regionalzeitgeschichte zu „Formaten“ geöffnet: Internet-Projekten, Tagungen leisten im Stande ist.16 und Ausstellungen. Sie ist in der Lage, Projekte flexi- bel organisatorisch und finanziell zu unterstützen, und Die Expertise des Hessischen Landesarchivs und fungiert als Netzwerk und Kommunikator zwischen seiner Archivarinnen und Archivare liegt in diesem Forschung und Archiven. Kontext sicher vor allem darin, kompetent Auskunft über den Informationsgehalt und die Relevanz der In dem Miteinander spielt das Hessische Landesamt archivierten Unterlagen für die Forschung Auskunft für Geschichtliche Landeskunde – HLGL – eine wichtige geben zu können. Bewährte Angebote wie Führungen, Rolle.15 Es hat das Landesgeschichtliche Informations- Ausstellungen oder Lesekurse oder universitäre Übun- system LAGIS auf den Weg gebracht, das landeshisto- gen werden weiter ihre Rolle spielen, um Interessierte
archivnachrichten Sonderheft 2020 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG 13 an die Originalquellen heranzuführen. Darüber hinaus zu nutzen. Es ist ein zentrales Anliegen, Forschung kann das Landesarchiv den Austausch über Frage- dadurch anzuregen, möglichst direkt, vielseitig und stellungen und Methoden der Grund- bzw. Hilfswis- qualitativ hochwertig Archivgut zu digitalisieren und in senschaften anbieten. Das schließt selbstverständlich großen Mengen im Internet zu präsentieren. Das An- auch die neuen digitalen Entwicklungen im Bereich der gebot historischer Quellen in großer Bandbreite und Edition historischer Quellen und die Nutzungsperspek- in großem Umfang im Netz liefert ungeahnte Möglich- tiven des digitalisierten Archivguts ein. keiten, in ihnen neue Strukturen und Konstellationen zu entdecken, Vergleiche viel leichter als bisher zu ziehen, Unter den deutschen Landesarchiven ist das hes- neue Fragestellungen und statistisch unterlegte Argu- sische eines der leistungsfähigsten. Noch vor Ba- mentationen zu entwickeln. den-Württemberg und dem Bundesarchiv bietet es die umfangreichste Zahl von Erschließungsdaten zu seinen Das Landesarchiv konzentriert derzeit Ressourcen Archivbeständen im Internet an – inzwischen können auf die Digitalisierung seiner historischen Quellen aus weit über sieben Millionen Erschließungseinheiten 1200 Jahren Geschichte im großen Stil, und es koope- online über das Archivinformationssystem Arcinsys riert eng mit dem HLGL in der Weiterentwicklung der aufgerufen werden, die weit über 50% des insgesamt Aufbereitung archivischer Erschließungsdaten, um sie im HLA vorhandenen Archivguts repräsentieren. Das für die Forschung besser zugänglich zu machen und sie Hessische Landesarchiv ist darüber hinaus bei Weitem leichter in Lehre und Forschung nutzten zu können. Im größter Online-Anbieter digitalisierter Archivdoku- Vordergrund stehen zurzeit Projekte, Normdaten von mente: Über 30 Millionen Digitalisate sind über Arcin- Orten und Personen in die Erschließungsinformationen sys online einsehbar. Und schließlich ist das Hessische einzupflegen, um Vernetzungen sichtbar zu machen. Landesarchiv besonders erfolgreich in der Einwerbung Im Rahmen internationaler Projektpartnerschaften von Drittmitteln. Es nutzt dabei unterschiedlichste Op- geht es ferner um die Typisierung von Schriftgut, die tionen und Förderinstrumente, wozu in erheblichem Erkennung von Formularen, die automatisierte Hand- Umfang forschungsnahe DFG-Projekte zählen. Ein ver- schriftenerkennung sowie um Techniken der Mas- gleichbares Niveau erreicht in der Bundesrepublik nur sendigitalisierung von historischem Schriftgut. Diese das Landesarchiv Baden-Württemberg. Ansätze bergen enormes Forschungspotenzial. Die Erfahrungen mit unseren regionalen, nationalen und Aus Sicht des Hessischen Landesarchivs zeichnet internationalen Kooperationspartnern sind sehr ermu- sich in den letzten Jahren immer deutlicher ab, dass tigend, diesen neu eingeschlagenen Weg konsequent es jetzt darum gehen muss, die sich bietenden Chan- weiter zu verfolgen. cen der Digitalisierung für die historische Forschung 1 In ausführlicherer Fassung mit umfangreicherem Anmerkungsapparat findet sich hgg. vom Norbert Kartmann, Wiesbaden 2016 (Schriften des Hessischen Landtags); der Beitrag gedruckt in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 70 (2020), das https://www.kgj-hessen.de/downloads/geschichte.pdf (Zugriff 10. Juni 2020); Helmut Ende 2020 erscheint. Berding: Parlamentarismus in Hessen – Der Beitrag des Forschungsvorhabens „Poli 2 Vgl. Tagungsblog Verband deutscher Archivarinnen und Archivare: https://deut tische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen“ zur Hessischen Landes scher-archivtag.vda-blog.de/2019/09/17/eroeffnungsveranstaltung-89-deutscher-ar geschichte, in: 25 Jahre Kommission des Hessischen Landtags für das Forschungsvor chivtag-in-suhl/ (Zugriff 10. Juni 2020). Zum Stereotyp des Archivars: u.a. Thomas haben „Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen, hgg. vom Lange, Thomas Lux: Historisches Lernen im Archiv, Schwalbach/Ts. 2004, S. 5ff., Hessischen Landtag, Wiesbaden 2004 (Hessische Schriften zum Föderalismus und und das unter Stichwort „Archivar“ in wikipedia wiedergegebene Gedicht „Der alte Landesparlamentarismus 11), S. 19ff. Archivar“ von August Sperl, https://de.wikipedia.org/wiki/Archivar (Zugriff 10. Juni 9 Vgl. zuletzt Philip Haas, Martin Schürrer: Was von Preußen blieb. Das Ringen um die 2020). Ausbildung und Organisation des archivarischen Berufsstandes nach 1945, Marburg 3 Die folgenden Ausführungen gehen von den allgemeineren historischen Entwick 2020 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 183). lungen aus und greifen bei Konkretisierungen in der Regel auf die hessischen Gege 10 Hinweise für die Dynamik und Nachhaltigkeit dieser jüngeren Entwicklung hin benheiten zurück. zu einer „Professionalisierung“ des Archivarsberufs und weiterführende Literatur: 4 Eckhart G. Franz: Einführung in die Archivkunde, Darmstadt 72007, S. 7ff., S. 73f.; https://www.archivschule.de/DE/wir-ueber-uns/archivschulploetz/; https://www. Lange, Lux: Historisches Lernen (wie Anm. 2), S. 7ff.; Clemens Rehm: Geheimnis – archivschule.de/DE/forschung/archivwissenschaftliche-kolloquien/ (Zugriff 10. Juni Gedächtnis, in: Irmgard Becker, Clemens Rehm (Hrsg.): Archivrecht für die Praxis. Ein 2020); vgl. auch die Themen der Deutschen Archivtage https://de.wikipedia.org/ Leitfaden, München 2016, S. 3ff. wiki/Deutscher_Archivtag und die jeweils dazugehörigen Dokumentationen in Buch- 5 Vgl. die Beiträge von Clemens Rehm und Christine Axer in: Becker, Rehm (wie Anm. form, publiziert durch den Verband deutscher Archivarinnen und Archivare. 4), S. 133ff.; Hannes Berger: Das deutsche Archivrecht im Wandel, in: Zeitschrift für 11 Der Archivar Nr. 4 (2011), S. 397ff. Ganz ähnliche Zahlen bieten seit 2006 die jährlich Landesverfassungsrecht und Landesverwaltungsrecht 2016, S. 12ff. veröffentlichten Statistiken des Hessischen Landesarchivs, vgl. Tätigkeitsberichte 6 Heribert Prantl: Das Gedächtnis der Gesellschaft. Die Systemrelevanz der Archive. des Hessischen Landesarchivs https://landesarchiv.hessen.de/publikationen/taetig Warum Archivare Politiker sind, in: Alles was Recht ist. Archivische Fragen – juristische keitsberichte (Zugriff 10. Juni 2020). Antworten. 81. Deutscher Archivtag in Bremen, hgg. vom VdA – Verband deutscher 12 Die Ergebnisse in: Archivnachrichten aus Hessen 1/2017, S. 37ff. Vgl. weiter die Archivarinnen und Archivare e.V. Bd. 16, Fulda 2012, S. 17ff.; Christian Ströbele: Ge Quartalsberichte über einschlägige Kennzahlen des Hessischen Landesarchivs: heimdienstakten ins Bundesarchiv – Neuregelung des Archivrechts, in: Verlässlich, https://landesarchiv.hessen.de/quartalsberichte (Zugriff 10. Juni 2020). richtig, echt – Demokratie braucht Archive. 88. Deutscher Archivtag in Rostock, hgg. 13 Archive und Forschung. Referate des 73. Deutschen Archivtags 2002 in Trier, hgg. vom VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. Bd. 23, Fulda 2019, S. vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare, Red. Robert Kretzschmar, Sieg 15ff. (Bericht von Anne Vechtel). burg 2003 (Der Archivar, Beiband 8), S. 311ff. 7 Ulrich Reuling: Von der „Atlaswerkstatt“ zur Landesbehörde, in: Hundert Jahre His 14 Nicht zuletzt war hier ein Generationswechsel auf den universitären Lehrstühlen torische Kommission für Hessen 1897–1997, Marburg 1997 (Veröffentlichungen der ausschlaggebend. Historischen Kommission für Hessen 61), S. 1169f.; Walter Heinemeyer, Die Historische 15 https://www.lagis-hessen.de/lagis1/hela.html (Zugriff 10. Juni 2020). Kommission für Hessen 1897–1997, in: ebd., S. 1215ff. 16 Die Beiträge werden Ende 2020 publiziert im Hessischen Jahrbuch für Landesge 8 Vgl. 50-jähriges Bestehen der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, schichte 70 (2020).
14 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 ■ Gegen die Alleinherrschaft der Gegenwart Archive und wissenschaftliche Forschung als Dialog- und Kooperationspartner Eckart Conze, Philipps-Universität Marburg Archive sind gewaltige Wissensspeicher. Sie sind Orte Beamte, die an der Spitze des Gemeinwesens standen, des Sammelns, des Aufbewahrens und des Ordnens. im Archeion die dokumentarische Überlieferung ihrer Als Häuser der Geschichte ermöglichen sie der Gegen- Staaten. Herrschaft und Politik der Gegenwart waren wart die Begegnung und die Auseinandersetzung mit ohne diese Überlieferung nicht denkbar. Die Autorität der Vergangenheit. In der Aneignung und Auswertung der Archonten speiste sich auch daraus, dass sie die archivalischer Wissensbestände entsteht Geschichte, Vergangenheit nicht nur kannten, sondern gleichsam formt sich – immer wieder neu – unser Bild der Vergan- über sie verfügten. genheit. Jede Gegenwart ist gewordene Gegenwart; individuelle und kollektive Identitäten erwachsen aus Kein Nachdenken über das Verhältnis von ge- dieser Gewordenheit, deren permanente Vergegen- schichtswissenschaftlicher Forschung und Archiven wärtigung ohne Archive nicht möglich wäre. Auch des- kommt daran vorbei, sich diese nicht nur kulturelle, halb sind Archive wirkmächtige Institutionen. Im klassi- sondern auch politische Bedeutung des Archivs be- schen Griechenland verwahrten die Archonten, hohe wusst zu machen. Poststrukturalistische Philosophen wie Jacques Derrida oder Michel Foucault haben in ih- rem Werk auf die Macht des Archivs hingewiesen, auch wenn sie mit ihrem metaphorischen Archivbegriff weit hinausgegangen sind über die Archive als Institutionen dokumentarischer Geschichtsüberlieferung: von den großen staatlichen Einrichtungen bis hin zu kleinen privaten Sammlungen, die in und mit ihren Beständen unabdingbar sind für die historische Forschung, ja his- torische Forschung erst ermöglichen. Historische For- schung braucht Archive. In der Kooperation von Archiven und geschichts- wissenschaftlicher Forschung begegnen sich Histo- riker. Zwar hat das Leitbild des Historiker-Archivars schon seit geraumer Zeit zugunsten einer eher prak- tisch-technischen Ausrichtung der Archivarstätigkeit an Bedeutung verloren, und diese Entwicklung wird an- gesichts der voranschreitenden Digitalisierung und der flächendeckenden Ausbreitung elektronischer Spei- cher- und Ordnungsmedien so bald nicht an ihr Ende gelangen. Dennoch sprechen Forscher und Archivare nicht zuletzt aufgrund ihrer gemeinsamen akademi- schen Ausbildung die gleiche Sprache. Das wiederum ist eine zentrale Voraussetzung für eine fruchtbare Ko- operation, in der sich die Kenntnisse und Kompetenzen von Archivaren und Forschern wechselseitig ergänzen und die dadurch qualitativ hochwertige, quellenge- stützte historische Forschung erst ermöglicht. Die wis- Blick in das Magazin des Grundbucharchivs in Neustadt senschaftliche Forschung braucht Archivare, die in der
archivnachrichten Sonderheft 2020 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG 15 Lage sind, mit den sich verändernden Fragestellungen ckelt, sondern sogar institutionalisiert. Im Arbeitskreis und Themenhorizonten der forschenden Historiker um- Hessische Zeitgeschichte, kollegial geleitet von Vertre- zugehen, die daher mit den Forschungsentwicklungen tern der zeithistorischen Forschung und des Archivwe- auf unterschiedlichen Gebieten vertraut sind bezie- sens, begegnen sich forschende Wissenschaftler und hungsweise sich immer neu vertraut machen und die Archivare, um sich über aktuelle Entwicklungen und die Erkenntnisinteressen der Forschung zu übersetzen Projekte der landeszeithistorischen Forschung zu infor- verstehen in die Sprache archivalischer Überlieferung. mieren, aber eben auch um den Austausch zwischen Forschung und Archiv zu intensivieren, um persönliche Dies geht weit über eine reine Service-Funktion von Kontakte – Vernetzungen – zu ermöglichen. Auch das Archiven und Archivaren hinaus. Archive als Dienstleis- weithin positiv wahrgenommene Forschungsprojekt ter: Das ist eine Sichtweise, die zu Hierarchisierungen zur NS-Belastung von Abgeordneten des Hessischen geradezu einlädt, die aber der komplexen Wechselbe- Landtags nach 1945 (mit der Studie von Albrecht ziehung von Forschung und Archiv nicht gerecht wird. Kirschner, einem wissenschaftlichen Symposium im Archivare sind für die geschichtswissenschaftliche For- Hessischen Landtag 2013 und der sich anschließenden schung Kooperationspartner auf Augenhöhe. Im Ideal- Vertiefung der Forschung in qualitativen Einzelunter fall sollten sich Archivare und Forscher in ihren jewei- suchungen) konnte sich so produktiv entwickeln, weil ligen Geschichtslandschaften in einem permanenten die das Forschungsvorhaben koordinierende Arbeits- Dialog befinden, der die Dynamiken und Perspektiven gruppe Vertreter von Forschungs- und Archivland- der Forschung in den Archivbereich einspeist und schaft zusammenbrachte. der zugleich die Potentiale der Überlieferung auf For- schungsdiskussionen und Forschungsprojekte bezieht. Dialog und Dialogfähigkeit, Austausch und Ver- netzung sind also entscheidend. Aber sie sind keine In der hessischen Zeitgeschichtslandschaft bei- Selbstläufer; sie wollen und müssen gepflegt werden: spielsweise hat sich in den letzten Jahren ein solcher, für formell und informell, im individuellen Kontakt wie in alle Beteiligten fruchtbarer Dialog nicht nur gut entwi- der institutionalisierten Begegnung. Die wissenschaft- Die Servicefunktion wird in hessischen Archiven großgeschrieben: Magaziner bei der Ausgabe von Archivalien im Lesesaal des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden
16 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 liche Verantwortung von Archivaren ist dabei kaum prophetische Gaben, aber eine fundierte wissenschaft- hoch genug zu veranschlagen, und das bezieht sich liche Urteilsfähigkeit, und auch diese kann – ceterum nicht allein auf die Ordnung und Aufbewahrung von censeo – von kontinuierlichem Dialog zwischen Archi- Quellen. Archive generieren neues Wissen, sie sind varen und Forschern nur profitieren. Orte der Wissensproduktion, und das nicht nur durch das forschungsbezogene Angebot ihrer existierenden Ihre zukunftsbezogene wissenschaftliche und kul- Überlieferung, sondern auch durch die kontinuierliche turelle Verantwortung setzt politisch, gerade auch Schaffung neuer Überlieferung. Die hohe Verantwor- geschichtspolitisch neutrale Archive voraus. Das ist in tung von Archivaren in der Auswahl von aufzubewah- Deutschland als Anspruch heute fest etabliert, aber der renden Quellen und Dokumenten wird noch immer Weg dahin war lang. Die Geschichte von Archiven ist – unterschätzt. Dabei geht es hier um nichts Geringeres kaum anders als die der Geschichtswissenschaft – auch als – lange vor wissenschaftlichen Untersuchungen und die Geschichte ihrer Mitwirkung an Herrschaftslegiti- Publikationen – um die Entstehung historischer Über- mierung, ihrer politisch-ideologischen Vereinnahmung, lieferung und damit die Formation unseres kulturellen ihrer Beteiligung an Geschichtsklitterung und Vergan- Gedächtnisses zwischen Erinnern und Vergessen. Eine genheitspolitik. In der deutschen Zeitgeschichte betraf verantwortungsvolle Selektion bedarf höchster indi- das immer wieder die Zeit des Nationalsozialismus und vidueller und institutioneller Kompetenz; sie braucht den Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945. nachvollziehbare Verfahren nach wissenschaftlichen Wichtige Arbeiten zeigen mittlerweile, wie öffentliche Plausibilitätskriterien. Die geschichtswissenschaftliche und private Archive alles andere als frei waren von den Forschung ist auf diese Bewertungskompetenz ange- Konjunkturen und Dynamiken der Auseinandersetzung wiesen, sie muss sich auf sie verlassen und Archivaren mit dem Nationalsozialismus. Nicht wenige Archive wa- damit vertrauen können. Was ist nicht nur heute der Ar- ren geschichtspolitische Akteure, zum Teil in eigener chivierung wert, sondern was kann und was sollte auch Sache und mit eigenen Interessen. Eine Reihe wichti- in weiter Zukunft zur historischen Überlieferung gehö- ger Unternehmensarchive wurde in den letzten Jahren ren? Wie werden sich wissenschaftliche Interessen ent- dafür zum Teil heftig kritisiert, natürlich zusammen wickeln? Solche Fragen zu beantworten, verlangt nicht mit ihren Mutterunternehmen. Aber auch die Debatte Tonbänder des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Weltdokumentenerbe seit 2017
archivnachrichten Sonderheft 2020 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG 17 über die NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amts war in Teilen eine Auseinandersetzung über die geschichts- politische Rolle des Politischen Archivs des Auswärti- gen Amts im Umgang mit der NS-Belastung deutscher Diplomaten und bei der Entstehung und Stabilisierung von Geschichtslegenden. In der Bundesrepublik Deutschland sind Archive heute Institutionen im öffentlichen Raum, in einer öf- fentlichen Geschichtslandschaft. Daraus ergeben sich Anforderungen wie Offenheit, Transparenz und ihre Verantwortung im Kontext historischer Forschung. Artikel 5, Absatz 1, des Grundgesetzes garantiert be- kanntlich das Recht jeder Person, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Das Spannungsfeld von Informationsfreiheit und Da- ten- beziehungsweise Persönlichkeitsschutz ist in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden, sowohl in der Archivwelt als auch in der zeithistorischen Forschung.1 Kooperation hat in diesem Bereich überkommene An- tagonismen abgelöst. An die Stelle willkürlicher Prakti- Digitale Speichermedien ken, die in der NS-Forschung Personenschutz mitunter zum Täterschutz hatten verkommen lassen, sind zumin- dest im staatlich-öffentlichen Bereich klarere, kalku- lierbarere, auch transparentere Regelungen getreten. Das ist eine Entwicklung, die weiter vorangetrieben werden muss: im Interesse der Wissenschaft, aber auch im Interesse von Archiven als demokratischen und den Werten von Freiheit und Demokratie verpflichteten In- stitutionen. Die Geschichtswissenschaft braucht verantwor- tungsbewusste und dialogbereite Archivare. Archive wiederum brauchen Historiker, die nicht nur Service- leistungen abrufen wollen, sondern sich als Kooperati- onspartner verstehen, geleitet von dem gemeinsamen Interesse an historisch-kultureller Überlieferung und deren wissenschaftlicher Erforschung. Das ist heute glücklicherweise kein bloßes Wunschdenken mehr, sondern weithin geübte Praxis. Doch diese Praxis von Austausch, Vernetzung und Zusammenarbeit ist nicht selbstverständlich, sie muss weiterentwickelt und ge- pflegt werden. An Herausforderungen mangelt es nicht. Deren größte bildet derzeit die Digitalisierung unserer Welt. Was das jenseits der technischen Möglichkeiten für die historische Überlieferung und deren Erforschung bedeutet, ist erst in Ansätzen erkennbar. Die enormen Potentiale, aber auch die großen Gefahren der Digi- talisierung sind nur von Archivaren und Wissenschaft- lern gemeinsam zu erkunden. Archive und historische Forschung müssen die Chancen der Digitalisierung gemeinsam nützen; aber sie müssen sich zugleich auch 1 Vgl. dazu Eckart Conze: Zeitgeschichtsforschung und Persönlichkeitsschutz. Inter verbünden im Kampf gegen eine digitale Geschichtslo- essen, Spannungen, Perspektiven, in: Eva-Marie Felschow, Katharina Schaal (Hrsg.): Persönlichkeitsschutz in Archiven der Hochschulen und wissenschaftlichen Institutio sigkeit und die Alleinherrschaft der Gegenwart. nen, Leipzig 2013, S. 24–38.
18 IMPULSE – ARCHIVE UND HISTORISCHE FORSCHUNG archivnachrichten Sonderheft 2020 ■ Speichern und Erinnern Aleida Assmann, Universität Konstanz ■ I. chiv der Menschheit, das mithilfe von Suchmaschinen Die neue Rechtsprechung des Europäischen Gerichts- blitzschnell durchsuchbar ist und zu dem immer mehr hofs, die im Mai 2014 ein „Recht auf Vergessenwerden“ Menschen Zugang haben. Dieses digitale Mega-Archiv im Internet eingeführt hat, macht auf einen tief greifen- hat die Eigenschaft, von allen Seiten blitzschnell und den kulturellen Wandel aufmerksam. Offensichtlich ist mühelos alles Mögliche aufzunehmen, aber nichts zu das Gleichgewicht zwischen Erinnern und Vergessen, vergessen. das bislang als selbstverständlich vorausgesetzt wur- de, in Unordnung geraten, seit technische Maschinen Auf der langfristigen Basis akkumulierter Speicher- die Kontrolle über die Sortierung des gespeicherten techniken wie Schrift und Buchdruck, Photographie, Datenvorrats übernommen haben. Seitdem ist das Film und Tonträger hat sich die Menschheit mit dem Erinnertwerden nicht mehr nur ein Segen, sondern Internet eine neue Gedächtnisprothese zugelegt, die auch zu einem Fluch geworden. Was auf irgendeinem die Grundstruktur der Kultur dramatisch verändert hat. Weg ins Internet gelangt ist, wird mit dem bloßen Ver- Das hat der Rechts- und Politikwissenschaftler Viktor streichen der Zeit nicht mehr dekomponiert und kann Mayer-Schönberger in einem prägnanten Statement auch nicht mehr geschreddert werden. Es ist unbe- folgendermaßen zusammengefasst: „Seit Beginn der merkt hinübergeglitten in das universale Online-Ar- Menschheitsgeschichte war das Vergessen für uns Menschen die Regel und das Erinnern die Ausnahme (...). Aufgrund der weiten Verbreitung digitaler Tech- niken ist das Vergessen heute zur Ausnahme und das Erinnern zur Regel geworden.“ Das Gleichgewicht zwischen Erinnern und Verges- sen, so die These, ist außer Kraft gesetzt, seit die kul- turelle Überlieferung auf digitale Träger übergegangen ist, die ihr Speichervolumen in kurzen Zeitabständen verdoppeln. Jeder und jede, die mit ihrem Smart- phone ständig Fotos macht, weiß, wie leicht es ist, in kürzester Zeit enorme Daten-Massen anzuhäufen und Archivbestände anzulegen. Auf digitaler Basis sind be- wegte und unbewegte Bilder, Töne und Texte einfach und unbegrenzt speicherbar. Genau genommen ist das Vergessen genauso einfach geworden wie das Er- innern: Mit derselben Anstrengung – es geht ja immer nur um einen Klick – können wir speichern und löschen. Doch das erweist sich inzwischen immer mehr als ein Trugschluss: Was einmal eingespeist wurde in die weltweiten Datenströme, die von Server zu Server flie- ßen, kann nicht mehr so einfach rückgängig gemacht werden. Es bilden sich obsolete aber obstinate Daten- schichten, die mit einem Klick jederzeit wieder an die Oberfläche zurückgeholt werden können. Diese Situa- tion hat Nietzsche bereits mit seiner Beschreibung des Vorgangs des Erinnerns vorweggenommen: „Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorü- ber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch Modernes Speichermedium. Server des Hessischen Haupt als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren staatsarchivs Wiesbaden Augenblicks.“
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