Ton GREENLAW spuren LAVINIA ERINNERUNGEN AN EINE JUGEND
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LAVINIA GREENLAW TONSPUREN
LAVINIA GREENLAW TONSPUREN ERINNERUNGEN AN EINE JUGEND Aus dem Englischen von Anne Brauner OKTAVEN
Die Originalausgabe mit dem Titel The importance of Music to Girls erschien 2007 bei Faber & Faber Limited, London. Dies ist eine Erinnerungsarbeit – Fakten wurden verfälscht. Namen wurden geändert. 1. Auflage 2022 Oktaven ein Imprint des Verlags Freies Geistesleben Landhausstraße 82, 70190 Stuttgart www.geistesleben.com ISBN 978-3-7725-3029-6 auch als eBook erhältlich Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2007 Lavinia Greenlaw Deutsche Ausgabe: Copyright © 2022 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart Gestaltungskonzept: Maria A. Kafitz Umschlagfoto: © Cavan Images / getty images Satz: Bianca Bonfert
Für Georgia Elizabeth, die auszieht
1 DER WALZER MEINES VATERS Ein kaputter Knöchel an der Hand Die meine umschließt; Bei jedem falschen Schritt von dir kratzte mein rechtes Ohr über den Gürtel. Theodore Roethke, My Papa’s Waltz In den ersten Lebensjahren ist das Tanzen in meiner Erinnerung geräuschlos, als wäre es eine rein körper liche Angelegenheit. Bestimmt summte mein Vater eine Melodie, während ich auf seinen Schuhen stand und er mit mir tanzte, doch mir sind die Riesenschrit- te im Gedächtnis geblieben, die ich auf einmal machen konnte. Die Welt bäumte sich unter einem Fuß auf und drückte mich zur Seite, wenn dieser Fuß einen ge- waltigen hohen Bogen beschrieb. Ich wusste nicht, ob ich soweit mitkommen konnte, doch im letzten Mo- ment holte die Welt auch mein übriges Ich nach. Und so ging es weiter: Die Welt zog und schob, ich dagegen schlingerte und reckte mich. Es war kein sanftes Spiel und genau aus diesem Grund liebten wir vier Kinder es. Wir fanden es toll, 7
herumgeworfen zu werden – sei es von einer Achter- bahn, Rutsche oder Schaukel, im aufgewühlten Meer, auf einem Trampolin oder aber von Erwachsenen, die uns in ihrer Geschwindigkeit im Kreis umherschleu- derten und uns einen Vorgeschmack auf die Dimen- sionen des Erwachsenenlebens lieferten. Wir hatten einen jungen Onkel, der beim Spielen weniger Rück- sicht nahm als mein Vater. Er schnappte sich meine Hände und schwang mich im Kreis wie ein Geschirr- tuch mit nassem Salat bis ich dachte, er würde mir die Arme ausrenken. Während mir der Schmerz in die Schultern schoss und mein Verstand schrumpf- te, staunte ich gleichzeitig über die Möglichkeit einer solchen Bewegung. Angst hatte ich nicht. Zwar wusste ich, dass ich mir etwas brechen konnte und hatte auch bereits eine Vorstellung, wie es sich anfühlen wür- de, doch gleichzeitig wusste ich genau, dass es nicht soweit kommen würde. Der Walzer war interessanter als ähnliche Spiele, weil man der Wucht etwas entgegensetzen musste. Man musste die Spannung zwischen dem Bemühen, stillzu- halten, und dem Vertrauen auf die Führung austarieren. Ich stemmte mich in die väterlichen Schuhe, spannte die Arme an und vergrub die Fingernägel in seinen Man- schetten wie jemand, der sich an eine _Klippe klammert. Auf diese Weise nimmt der Tanz seinen Anfang: Etwas – die Musik, die Schritte, dein Partner – hält dich, doch du musst den Halt erwidern, die notwendige Spannung aufbauen, und dagegenhalten. 8
In meiner Kindheit wurde ich oft zurückgehalten oder gebremst. Bevor wir das Haus verließen, dauer- te es Stunden, uns alle bereitzumachen und bereitzu- halten – als wollte man vier Teller kreiseln lassen. Da ging ein Handschuh verloren, der Mantel wollte nicht angezogen werden, jemand war eingeschnappt oder hungrig oder brauchte eine frische Windel. Wir ver- brachten viel Zeit mit Warten – darauf, irgendwohin gebracht oder abgeholt zu werden, auf das Ende eines Schultages oder den Anbruch eines neuen Tages. Wir reisten als Karawane im Kameltempo und brauchten mit unseren beiden tuckernden Morris zwei Tage für die zweihundertfünfzig Meilen von London an die walisische Westküste. Einmal losgelassen, waren wir übermütig und un- geduldig. War es irgendwo hoch, kletterten wir hi- nauf und sprangen hinunter; war es steil, rasten wir auf Fahrrädern, Schlitten oder Brettern abwärts. Wir rannten oder rollten jeden Hügel hinunter, ohne uns von Brennnesseln, Glasscherben, Hundekacke oder Steinen abhalten zu lassen. Wenn sich die Landschaft in Regen, Laub, Nebel oder Schnee hüllte, rasten wir weiter hindurch, so schnell wir konnten, und fürch- teten uns nicht vor dem, was nun im Verborgenen lag. Hin und wieder wehrte sich die Welt und ich stieß schmerzhaft mit ihr zusammen. Im Alter von vier Jah- ren rutschte ich eine Rutsche hinunter während ich an einem Bambushalm aus dem Garten lutschte. Er traf vor mir auf und bohrte sich fünf Zentimeter tief in 9
meinen Gaumen. Anschließend beugte ich mich über ein Waschbecken und sah zu, wie es sich mit meinem Blut füllte. Ich spürte nichts. Interessant war höchs- tens, dass meine Schwester mir ihren Teddybär geben wollte, von dem sie sich normalerweise niemals trenn- te. Als ich nach der Operation, in der das Bambusstück entfernt wurde, aufwachte, richtete sich meine Neu- gier nur auf das Kohlenfeuer gegenüber dem Bett und den Geschmack des Speiseeises, das es im Kranken- haus gab. Lange Zeit war dieser Unfall nur etwas, das meinem Mund zugestoßen war. Andere mussten mich auf die Bedeutung hinweisen. «Das Bambusrohr steckte ganz nah am Gehirn», sag- te meine Mutter zu einem späteren Zeitpunkt. «Wir dachten, dass es dir mehr oder weniger gut ging, aber die Chirurgen wussten nicht, ob sie das Stück ohne bleibende Schäden entfernen konnten.» «Darum erschießen sich die Leute so», fügte mein Bruder hinzu. «Außerdem hätte es deine Sprache beeinträchti- gen können», fuhr meine Mutter fort. «Wenn dein Gaumen sich verformt hätte.» Durch die Deformierung begriff ich erst, dass ich eine eigene Gestalt besaß, zu der ich zurückfinden konnte wie meine Spielzeugkatze, die auf einer Trommel saß und deren Körperteile elastisch in Spannung gehalten wurden. Sobald ich auf die Unterseite der Trommel drückte, fiel die Katze auf die Knie oder sackte seitlich 10
weg. Sobald ich die Finger wegnahm, schnellte sie mit tänzerischem Schwung zur Seite. Die Unmittelbar- keit, mit der sie ihre Gestalt veränderte und ruckzuck zurückerlangte, faszinierte mich ebenso wie die Zwei- deutigkeit ihres strahlenden Gesichtchens – begierig zu gefallen und gleichzeitig undurchdringlich. Bisher hatte sich mein Körper wie der jener Spiel- zeugkatze angefühlt, als eine Ansammlung von Einzel- teilen. Wenn ich beispielsweise mit der Hand den Stab eines Heizstrahlers berührte oder mir einen Nagel in den Fuß trat, entdeckte ich, dass sie zu mir gehörten. Mittlerweile wusste ich, dass mein Mund meine Stim- me formte und mein Gehirn genau dort war, direkt darüber. Dreißig Jahre später sah ich es kristallklar auf einem Röntgenbild, auf dem die obersten Wirbel mei- nes Rückgrats meinen Kopf nach vorn stießen statt sich zurückzubiegen und meinen Schädel zu halten. Bei dem Unfall war mein Kopf so ruckartig nach hin- ten gestoßen worden, dass er diesen Vorfall seitdem kompensierte, was mir das Gefühl gab, kopflos in den nächsten Augenblick, Gedanken oder Satz zu kippen statt mich aufrecht anzunähern. Der Körper läppert sich also zusammen und die Welt weist mahnend auf die körperlichen Grenzen hin, wenngleich sie dabei erstaunlich gnädig sein kann. Mit acht Jahren sprang ich durch ein Fenster und erinne- re mich bis heute, wie das Glas sich blähte und mich festhielt, bevor es in tausend Stücke zersprang. Ich schwebte in der Luft, war dem Verfolger entkommen, 11
und wurde gehalten. Seitdem ist mir nie wieder etwas derart Friedliches begegnet. Ich trat aus dem Scher- benkreis wie eine Leiche aus dem Kreideumriss und trug nur Kratzer auf beiden Knien davon. Diese Zusammenstöße mit der Welt zeigten mir ihr Wesen und ihre Gesetze sowie die meinen auf. Ich hat- te getanzt, bevor ich meinen Körper kennengelernt hatte, ohne zu verstehen, was mich bewegte. Musik war es damals noch nicht. 12
2 DAPPLES AND GREYS Oder es sang eine Stimme und reichte ein Stück weit aus der Erwartung heraus … Rainer Maria Rilke, Die Große Nacht Die Frauen in unserer Familie haben die gleiche Stim- me. Am Telefon kann niemand meine Mutter, meine Schwester, meine Tochter und mich auseinander halten. Zeitweise spule ich den Anrufbeantworter zurück und habe das Gefühl, ich hätte mir selbst eine Nachricht hinterlassen. Beim Gesang sticht jedoch der glasklare Sopran meiner Mutter hervor. Wir anderen haben trockene tiefe Singstimmen. In der Kirche und bei Konzerten haben wir Mühe; wenn die Oberstim- men in die Höhe gehen, brechen wir ein, warten und konzentrieren uns auf die Begleitstimmen. Meine Mutter wurde nie laut. Als Ärztin war sie kli- nisch pragmatisch. Wenn sie sich einen Finger aus- renkte, verarztete sie sich selbst. Wenn die Zeit nicht reichte, einen Kuchen zu backen, servierte sie die Back- mischung roh als Pudding. Wenn es ihr nicht gelang, vier Kinder nachts in ihren Betten zu halten, fixierte 13
sie uns mit Laufgeschirren für Kleinkinder. (Zeitwei- se erinnerten wir sie selbst daran, indem wir «Zügel! Zügel!» riefen). Ihre Übersicht war atemberaubend und befreiend und gleichzeitig auf eine gewisse Weise zu klar. Manchmal wollte ich einfach nicht mehr se- hen als das, was ich erwartet hatte. Selbst wenn Fragen bereits formuliert sind, kann es unmöglich sein, sie zu stellen. Meine Mutter war so zu- rückgezogen und ich derart geprägt, sie nicht zu kennen, dass ich sie niemals gefragt hätte, mit wem sie zu Mit- tag gegessen hatte, geschweige denn, wie es ihr ging. Al- lerdings enthüllen wir beim Singen einen Teil unseres Wesens, den wir in der Sprechstimme verbergen können. Als würden wir die Tür zu einer inneren Akustik öffnen, und die Akustik der Stimme meiner Mutter war der ab- solute Raum. Wenn sie mich in den Schlaf sang, schenk- te sie mir Frieden, doch es war, als würde ich in Leere ge- wickelt. Ich fühlte Liebe und Unendlichkeit, und sobald ich singe, treten diese Gefühle erneut hervor. Was wir einem Kind vorsingen, das zu jung zum Mit- singen ist, ist vielleicht ebenso wenig gesteuert, wie wenn wir vor uns hinsingen. Meine Mutter sang keine Klagelieder, aber die zurückgenommene Stimmung von »Greensleeves« oder »Scarborough Fair« wur- de mir durch ihre Stimme klarer als durch die Worte, sobald ich sie endlich verstand. Als ich noch zu jung war, um einer Geschichte in Gänze zu folgen, hielt ich mich an Kleinigkeiten fest, die ihre Stimme mit foren- sischer Sorgfalt darlegte (mein Vater hatte sie erstmals 14
in dem Sezierraum einer medizinischen Hochschule gesehen, als sie eine Leiche obduzierte: ein großes Beiboot, eine enge Gasse, ein Batisthemd, all die hüb- schen Pferdchen. Volkslieder, Schlager und Seemannslieder wurden von Pathos befreit und ihre Bilderwelt in Licht und Schatten geklärt. In «What Shall We Do With The Drunken Sailor?» war kein Hauch von Rum, Meersalz oder fröhlichen Matrosen zu hören. Für mich persön- lich hing es an dem Vers: «Put him in the longboat un- til he’s sober.» Ich stellte mir eine hohe Schiffswand vor, den dunklen, tiefen Abgrund irgendwo, nicht auf dem Wasser treibend, sondern abseits, einen Ort der Bestrafung oder der Ruhe – was wusste ich? In dem Lied «Cockles and Mussels» schob Molly Malone ihre Schubkarre durch breite Straßen und enge Gassen und auch hier dockte meine Vorstellungskraft an dem kleinen Mädchen und den hochaufragenden Häusern an – an der Fantasie, das allein im Dunkeln zu erdul- den. Das seltsam düstere Lied «Pretty Little Horses» faszinierte mich besonders und wenn meine Mutter über «Blacks and bays, dapples and greys» sang, flirr- ten sie durch meine Gedanken wie Sonnenstrahlen übers Wasser. An anderer Stelle sog ich mein Material aus dem Klang: das «cambric shirt» aus «Scarborough Fair» mit seinem groben Saum aus zwei c’s, die einem in der Kehle stecken blieben; oder aus der dehnbaren Länge des nachgezogenen «Greensleeves», woran das Lied wiederholt zupfte. 15
Bevor wir alt genug waren, um mit dem Bus zu fah- ren, brachte meine Mutter uns zur Schule, hin und wieder auch im Morgenrock. Mein jüngster Bruder schlingerte als Wickelkind über die Rückbank, wäh- rend wir Älteren uns zankten und sie sang: «Who will buy this wonderful morning? Such a sky you never did see …» Heute ist mir klar, dass das vermutlich ironisch gemeint war. Aber vielleicht wollte sie uns doch dar- auf aufmerksam machen, wie wundervoll der Morgen tatsächlich war. Wir singen nicht, wenn wir gehetzt sind. Der Ge- sang meiner Mutter war Teil ihrer Coolness, wie die kühle weiße Hand, die sie allmorgendlich auf meine Wange legte, um mich zu wecken, oder ihre kühle Art, mich festzuhalten, wenn ich in Rage geriet, als wäre sie aus Marmor und ich aus brodelndem Matsch. Bei ihrer hochmütigen Ausstrahlung konnte man sicher sein, dass sie im Fall einer Autopanne in ihrem rü- schenbesetzten himmelblauen Morgenmantel notfalls hoch erhobenen Hauptes durch London stolzieren würde. Sie hatte noch immer die königliche Haltung einer Debütantin, außerdem wäre es ihr scheißegal ge wesen. So wie sie alles für uns getan hätte, würde sie auch alles andere tun. Diese besungene Welt war in ihrer Wahrhaftigkeit beschaulich wenngleich nicht sonderlich bequem. Sie schickte mich in den Weltraum und schon sehr früh entwickelte sich die Vorstellung von den Tiefen des Alls zu einer Quelle des Trostes. Ich schloss die Augen 16
und vertraute der Stimme meiner Mutter, selbst wenn sie mich loszulassen schien, denn ich begriff, dass dieses Loslassen aus Liebe geschah. 17
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