VerfGH des Landes Berlin, Beschluss vom 16.06.2021 108/20

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VerfGH des Landes Berlin, Beschluss vom 16.06.2021 - 108/20

Fundstelle                        openJur 2021, 22168          Rkr:  AmtlSlg: 

Tenor
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     1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 10. Dezember 2019 - 7 Ws 8 - 14/19 REHA - verletzt den Beschwerdeführer
     in seinen Grundrechten auf willkürfreie Entscheidung (Art. 10 Abs. 1 VvB), rechtliches Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB) und
     effektiven Rechtsschutz (Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB).
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     2. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.
 3
     3. Damit ist der Beschluss des Kammergerichts vom 17. April 2020 - 7 Ws 8 - 14/19 REHA - gegenstandslos.
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     4. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
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     5. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe
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     I.
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     Der am 18. Juli 1953 geborene Beschwerdeführer wendet sich gegen die Zurückweisung seiner Beschwerde durch das
     Kammergericht, mit der dieses die Zurückweisung seines Antrags auf strafrechtliche Rehabilitierung wegen seiner
     Unterbringung in verschiedenen Kinder- und Jugendheimen der Deutschen Demokratischen Repu-blik (DDR) durch das
     Landgericht Berlin bestätigt hat.
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     Er lebte mit seiner Mutter und seiner zwei Jahre jüngeren Halbschwester in Ost-Berlin im Haushalt seiner Großeltern.
     Sein Vater war im Jahr 1959 nach West-Berlin ausgereist und hatte zunächst versucht, seinen Sohn nachzuholen. Da
     seine Mutter hiermit nicht einverstanden war, versuchte der Beschwerdeführer im Alter von neun Jahren, die Grenze zu
     übertreten, wurde aber von Grenzposten aufgegriffen und in ein Kinderheim verbracht. Nach ihrer Neuverheiratung im
     Jahre 1963 war die Mutter des Beschwerdeführers zu seiner Rücknahme in ihren Haushalt nicht (mehr) bereit.
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     Der Rat des Stadtbezirks Berlin-Prenzlauer Berg wies den Beschwerdeführer am 7. September 1962 in das
     Spezialkinderheim "Rankenheim" in Groß-Köris ein und am 29. August 1966 in das Sonderkinderheim in Burgstädt. Dort
     hielt er sich bis zum 25. August 1968 mit einer Unterbrechung vom 9. bis 11. Juli 1968 auf, in der er sich im
     Durchgangsheim in Alt-Stralau befand. Am 26. August 1968 wurde er in das Jugendheim in der Berliner Ackerstraße
     eingewiesen, wo er bis zu seiner Unterbringung im Jugendwerkhof in Hennickendorf wohnte. Dort musste er sich vom
     29. Juli 1969 bis zum 23.3.1971 aufhalten mit zwei Unterbrechungen vom 14. November 1969 bis zum 16. März 1970
     und vom 9. Juni 1970 bis zum 3. Dezember 1970, in denen er sich im Jugendwerkhof Torgau befand. Für die
     Aufenthalte in Torgau rehabilitierte ihn das Landgericht Berlin mit Beschluss vom 10. August 2011 (551 Rh 368/11).
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     Mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 14. Juli 2017 beantragte der Beschwerdeführer seine
     strafrechtliche Rehabilitierung u. a. wegen der vorgenannten Aufenthalte in Erziehungsheimen.
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     Das Landgericht Berlin hat den Antrag des Beschwerdeführers vom 14. Juli 2017 auf Rehabilitation wegen haftähnlicher
     Heimeinweisungen mit Beschluss vom 11. Januar 2019 zurückgewiesen (551 Rh 419 bis 425/17). Zur Begründung hat
     es ausgeführt, eine Einweisung aus Gründen der politischen Verfolgung lasse sich mangels Archivierung der Akten
     ebenso wenig feststellen wie ein grobes Missverhältnis der angeordneten Rechtsfolgen zu dem Einweisungsgrund. Das
     Kammergericht hat die hiergegen gerichtete Beschwerde mit Beschluss vom 10. Dezember 2019 mit der Begründung
     zurückgewiesen, dass der Beschwerdeführer aus Fürsorgegründen eingewiesen worden sei. Da er in seiner
     schriftlichen Stellungnahme vom 12. Mai 2011 neben seinen Bestrebungen, als Kind zu seinem Vater in die
     Bundesrepublik Deutschland zu ziehen, und dem siebenmaligen Aufsuchen des Grenzbereichs Alkoholprobleme seiner
     1974 an den Folgen des Alkoholkonsums verstorbenen Mutter und unentschuldigtes Fehlen in der Schule angegeben
     habe, sei die inzwischen in Kraft getretene gesetzliche Vermutung rechtsstaatswidriger Einweisungsgründe widerlegt.
     Dem entspreche die Tatsache, dass der Abschlussbericht des Sonderkinderheims in Burgstädt vom 6. Juli 1968 einen
     politisch oder sachfremd motivierten Aufnahmegrund nicht enthalte. In dem schweren individuellen Leid, das ihm
     widerfahren sei, seien systematische Menschenrechtsverletzungen im Rahmen eines Gesamtunrechtssystems nicht zu
     erblicken.
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     Mit Beschluss vom 17. April 2020, dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt am 4. Mai 2020,
     hat das Kammergericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers mit der Begründung fehlender Gehörsverletzungen
     zurückgewiesen.
     Gegen den Beschluss vom 10. Dezember 2019, mit dem das Kammergericht die Beschwerde des Beschwerdeführers
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     Gegen den Beschluss vom 10. Dezember 2019, mit dem das Kammergericht die Beschwerde des Beschwerdeführers
     zurückgewiesen hatte, richtet sich dessen am 3. Juli 2020 eingegangene Verfassungsbeschwerde. Mit dieser macht der
     Beschwerdeführer die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Rechts auf Ehe und Familie geltend
     sowie einen Verstoß gegen das Willkürverbot und das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Das Kammergericht habe
     verkannt, dass die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts gemäß § 10 Abs. 3 StrRehaG für das Vorliegen
     rechtsstaatswidriger Heimaufenthalte streite. Soweit es die Vermutung als widerlegt angesehen habe, habe es seine
     bereits in seiner Stellungnahme vom 12. Mai 2011 getätigten Angaben zu politisch motivierten Einweisungsgründen und
     die ihm während der Heimaufenthalte widerfahrene menschenunwürdige Behandlung nicht gehört und die gebotene
     Aufklärung des Sachverhalts unterlassen. Die Heimeinweisungen seien aufgrund seiner mehrfachen Bestrebungen
     erfolgt, im Alter von 9 Jahren die Grenze zu passieren und zu seinem in die Bundesrepublik Deutschland ausgereisten
     Vater zu ziehen. Dass seine (jüngere) Halbschwester von den Behörden bei der Mutter belassen worden und der Vater
     zu der Übernahme der elterlichen Sorge für ihn bereit gewesen sei, spreche gegen das Vorliegen von Fürsorgegründen
     für seine Inobhutnahme durch die Behörden. Hiergegen spreche auch, dass er zwecks Umerziehung in geschlossenen,
     haftähnlichen Heimen untergebracht und mit Essensentzug bis hin zu Unterernährung, schwersten körperlichen und
     seelischen Misshandlungen, nicht entlohnter Arbeit und Isolationshaft diszipliniert worden sei.
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     Die weiteren Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, aber hiervon keinen Gebrauch gemacht.
15
     II.
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     Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
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     1. Die angegriffene Entscheidung verstößt gegen den Gleichheitssatz in der Ausprägung des Willkürverbots (Art. 10
     Abs. 1 VvB), gegen den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes (Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB), und verletzt den Anspruch
     auf rechtliches Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB).
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     Nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger
     Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz - StrRehaG) ist ein Urteil für
     rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben (sog. Rehabilitierung), soweit die Entscheidung der politischen
     Verfolgung gedient hat (§ 1 Satz 1 Abs. 1 Nr. 1 StrRehaG), die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu
     der zugrunde liegenden Tat stehen (§ 1 Satz 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG) oder die Entscheidung sonst mit wesentlichen
     Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist (vgl. BVerfG, Stattgebender
     Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 718/08 -, Rn. 19, juris, wonach die Aufzählung nicht abschließend ist).
     Diese Vorschriften finden nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG auf eine außerhalb eines Strafverfahrens ergangene
     gerichtliche oder behördliche Entscheidung, mit der eine Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, entsprechende
     Anwendung, gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG insbesondere auf die Anordnung einer Unterbringung in einem Heim
     für Kinder oder Jugendliche, die der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat. Dies gilt
     gemäß § 2 Abs. 2 StrRehaG auch für das Leben oder die Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen. §10 Abs. 1
     Satz 1 StrRehaG verpflichtet die Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Nach der am 29.
     November 2019 - kurz vor der verfahrensgegenständlichen Entscheidung des Kammergerichts vom 10. Dezember 2019
     - in Kraft getretenen Vorschrift des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung
     in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat,
     wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung stattfand, in der eine zwangsweise
     Umerziehung erfolgte.
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     a) Indem das Kammergericht ohne hinreichende Ermittlungen entschieden hat, die Vermutung des §10 Abs. 3 Satz 1
     StrRehaG sei widerlegt, hat es die Rechte des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz verletzt.
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     Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 15 Abs. 4 VvB muss grundsätzlich zu einer umfassenden
     tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss
     vom 24. September 2014 - 2 BvR 2782/10 - Rn. 52 juris). Es ist verletzt, wenn die Gerichte die prozessrechtlichen
     Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung der ihnen vorgelegten
     Fragen nicht möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann
     (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 - Rn. 19 juris). An die zur
     Amtsermittlung führende Darlegung durch den Antragsteller sind insoweit keine allzu hohen Anforderungen zu stellen
     (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2014, a. a. O., Rn. 51 bis 53 juris).

     Der Beschwerdeführer hat einen rehabilitationsfähigen Sachverhalt dargelegt. Ein solcher ist auch anzunehmen, wenn
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     Der Beschwerdeführer hat einen rehabilitationsfähigen Sachverhalt dargelegt. Ein solcher ist auch anzunehmen, wenn
     durch eine Heimeinweisung die Ausreise eines Kindes zu einem aufnahmebereiten Elternteil außerhalb der DDR
     verhindert werden soll oder die eines Elternteils, der das Kind weiterhin besuchen möchte. Denn das Recht auf Ausreise
     gehört zu den grundlegenden Menschenrechten und damit zugleich zu den wesentlichen Grundsätzen jeder
     freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung (Beschluss vom 24. September 2013 - VerfGH 172/11 - Rn. 14 ff, abrufbar
     unter www.gesetze.berlin.de, unter Hinweis auf Art. 13 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der
     Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 - AEMR -, Art. 2 Abs. 2 des 4. Zusatzprotokolls vom 16. September 1963
     zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK -
     und Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966; BGH,
     Urteil vom 3. November 1992 - 5 StR 370/92 - juris Rn. 40 ff). Der Beschwerdeführer hatte vorgetragen, Auslöser für
     seine Heimeinweisungen seien die Ausreise seines Vaters in die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1959 und seine
     zahlreichen Versuche gewesen, zu ihm zu gelangen. Dieser Vortrag hätte das Kammergericht veranlassen müssen, die
     näheren Umstände der Ausreise des Vaters des Beschwerdeführers sowie von dessen Heimeinweisungen und
     Fluchtversuchen abzuklären, etwa durch Vernehmung des Beschwerdeführers, seiner Halbschwester und seines
     namentlich bekannten Vaters. Es ist nicht ersichtlich, dass alle Möglichkeiten, den Vater ausfindig zu machen,
     ausgeschöpft worden sind.
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     Nach den oben genannten Maßstäben hat das Kammergericht seine Aufgabe zur Gewährung effektiven
     Rechtsschutzes verfehlt, indem es den von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Hinweisen auf sachfremde Gründe
     nicht unter Ausnutzung aller ihm zur Verfügung stehender Mittel nachgegangen ist, sondern den Grund der
     Einweisungen schon wegen der nicht mehr auffindbaren Unterlagen der Jugendhilfe und der Heime als nicht weiter
     aufklärbar angesehen hat. Damit hat es dem Beschwerdeführer die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung
     erheblicher Tatsachen verweigert.
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     In Betracht kam auf der Basis des Vortrags des Beschwerdeführers zu der ihm in den Heimen widerfahrenen
     Behandlung und den Sanktionen auch ein sonstiges grobes Missverhältnis zwischen dem Anlass der Heimeinweisung
     und der angeordneten Unterbringung (OLG Dresden, Beschluss vom 16. Oktober 2018 - 1 Reha Ws 33/18 -, juris; OLG
     Rostock, Beschluss vom 16. Juli 2018 - 22 Ws Reha 16/17 -, juris; KG, Beschluss vom 22. Mai 2017 -4 Ws 47-48/17
     REHA - juris) bzw. ihren tatsächlichen Folgen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. Dezember
     2019 - 2 Ws (Reha) 12/19 - juris; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26. Oktober 2017 -2
     Ws (Reh) 36/17 -, Rn. 10 juris). Auch dieses kann einen Rechtsstaatsverstoß im Sinne der Rehabilitierungsvorschriften
     begründen. Eine hinreichende Tatsachenfeststellung zu möglichen (systematischen) Misshandlungen und
     menschenunwürdigen Sanktionen hat das Kammergericht unterlassen. Der Vermerk des Beschwerdeführers aus dem
     Jahre 2011 konnte diese Ermittlungen nicht ersetzen. Im Gegenteil lieferte er Anhaltspunkte für eine weitere Aufklärung.
     Dem hätte das Kammergericht durch Vernehmung des Beschwerdeführers und - soweit erreichbar - der von ihm
     bezeichneten Heimmitarbeiter zu den Lebensbedingungen des Beschwerdeführers während seiner Heimaufenthalte
     nachgehen müssen. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG vorgesehene Amtsermittlungspflicht der Gerichte
     berücksichtigt die Nähe der Rehabilitierung zum Strafverfahren und ist eine Ausprägung der besonderen Fürsorgepflicht
     des Gerichts gegenüber den Antragstellern vor dem Hintergrund der Schwierigkeit, häufig in ferner Vergangenheit
     liegende Sachverhalte zu ermitteln. Das Gericht muss Hinweisen auf Rechtsstaatsverstöße unter Ausnutzung aller ihm
     im Freibeweisverfahren zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. September 2014,
     a. a. O., Rn. 53 juris und vom 3. Mai 1995,a. a. O., Rn. 20 juris; Herzler, in: Herzler/Ladner/Peifer/Schwarze/Wende,
     Rehabilitierung, 2. Aufl. 1997, § 10 StrRehaG Rn. 5 und 8 a. E.).
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     Dem Erfordernis weiterer Ermittlungen steht nicht entgegen, dass die Mutter das Kind nach ihrer Neuverheiratung im
     Jahre 1963 nicht wieder aufnehmen wollte. Denn der Fürsorgebedarf stellt dann keinen Heimeinweisungsgrund dar,
     wenn ein anderer Elternteil bereit und in der Lage ist, das Kind bei sich aufzunehmen. Dem ist das Kammergericht
     ebenso wenig nachgegangen wie der Frage, ob die Verweigerung der Aufnahme des Kindes durch die Mutter zumindest
     auch durch die Angst vor Repressalien verursacht worden war oder sich sonst als kausale Folge der zwangsweisen
     Einweisung mit daran anknüpfender Entfremdung und der Angst darstellte, auch ihre Tochter könne ihr von Seiten des
     Ministeriums für Staatssicherheit weggenommen werden. Dies war angesichts der Vorgeschichte - insbesondere der
     sog. "Republikflucht" des Vaters - nicht fernliegend. Der Beschwerdeführer hat zudem vorgetragen, der seit 1963
     fehlende Rücknahmewille der Mutter habe auch an dem Einfluss seiner staatsnahen Großeltern gelegen (der Großvater
     war Volkspolizist, die Großmutter Schwester eines Staatsanwalts), bei denen seine Mutter gewohnt hatte und die seine
     Einweisung aufgrund seines ständigen Wunsches, zu dem "republikflüchtigen" Vater zu ziehen, befürwortet hätten.
     Auch hierzu hätten der Beschwerdeführer und seine Halbschwester gehört werden müssen.

     Erst wenn das Gericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, entscheidet es in freier Beweiswürdigung, wobei
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     Erst wenn das Gericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, entscheidet es in freier Beweiswürdigung, wobei
     gemäß § 10 Abs. 2 StrRehaG die Glaubhaft-machung und damit die überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt (BVerfG,
     Beschluss vom 24. September 2014, a. a. O., Rn. 55 juris aus der Zeit vor Inkrafttreten des §10 Abs. 3 StrRehaG n. F.).
     Erst nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten geht die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen
     zulasten des Antragstellers, dies allerdings nur, soweit nicht zu seinen Gunsten die am 29. November 2019 in Kraft
     getretene Vermutung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG eingreift.
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     b) Indem das Kammergericht allein auf der Basis des von ihm festgestellten Sachverhalts die gesetzliche Vermutung
     des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG als widerlegt angesehen hat, hat es zudem gegen das Willkürverbot verstoßen.
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     Ein Richterspruch verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver
     Willkür, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich aus diesem Grund nach objektiven
     Kriterien der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Eine fachgerichtliche Entscheidung ist
     danach nicht bereits wegen fehlerhafter Rechtsanwendung objektiv willkürlich, sondern erst dann in diesem Sinne
     schlechterdings unhaltbar, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder ihr Inhalt in krasser
     Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wurde (BVerfG, Beschluss vom
     24. September 2014, a. a. O., Rn. 29 juris).
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     Das ist bei dem Beschluss des Kammergerichts der Fall, weil die Annahme, die Vermutung des §10 Abs. 3 Satz 1
     StrRehaG sei widerlegt, auf der Basis des von ihm festgestellten Sachverhalts unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt
     nachvollziehbar ist.
29
     Nach § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG wird ein sachfremder Zweck der Anordnung der Unterbringung in einem Kinderheim
     vermutet, wenn darin eine zwangsweise Umerziehung erfolgte. Eine die Vermutung begründende Heimeinweisung lag
     nach der Rechtsansicht des Kammergerichts - die verfassungsrechtlich unbedenklich ist - in Bezug auf jede der
     Heimunterbringungen des Beschwerdeführers vor. Das Kammergericht sieht diese Vermutung allerdings als widerlegt
     an, weil kein sachfremder Grund für die Heimeinweisungen vorliege. Die Annahme, die Vermutung sei widerlegt, stützt
     das Kammergericht auf ungünstige familiäre Verhältnisse des Beschwerdeführers, auf daraus resultierende
     Fürsorgegründe und auf das Fehlen von Anhaltspunkten für eine Einweisung wegen politischer Verfolgung. Dies genügt
     den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
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     Ausweislich der Gesetzesbegründung soll sich die aufgrund des Zeitablaufs und des Fehlens archivierter Akten
     bestehende Beweisnot nicht zulasten des Betroffenen auswirken (BT-Drs. 12/4994, Seite 2, 26 bis 28). Diesem
     gesetzgeberischen Anliegen wird die Entscheidung des Kammergerichts in keiner Weise gerecht.
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     Das Kammergericht hat ausgeführt, die Angaben des Beschwerdeführers, dass maßgeblicher Grund für die
     Einweisungsanordnungen und Unterbringungen die sog. "Republikflucht" seines Vater und der fortlaufende Wunsch, zu
     ihm nach West-Berlin zu ziehen, gewesen sei, würden durch die durchgeführten weiteren Ermittlungen nicht gestützt.
     Da er mit der Alkoholsucht der Mutter und seinen Schulproblemen auch Fürsorgeprobleme angegeben habe, sei die
     gesetzliche Vermutung widerlegt. Damit hat das Kammergericht unberücksichtigt gelassen, dass die Angaben des
     Beschwerdeführers Anhaltspunkte ergeben haben, wonach neben möglichen Fürsorgegründen zugleich in erheblicher
     Weise sachfremde politische Gründe vorgelegen haben können. Das Ergebnis der sonstigen Ermittlungen zum Grund
     der Einweisungen hat keine hinreichenden Erkenntnisse für den einen oder anderen Grund erbracht. Die
     durchgeführten Ermittlungen bei dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR,
     dem Bundesarchiv, der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder), der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und
     Forschung, fünf weiteren Archiven, verschiedenen Landkreisen, Ämtern, Stadtverwaltungen und Bezirksämtern haben
     keinerlei Erkenntnisse zu Tage befördert, weil mit Ausnahme einzelner Meldebescheinigungen, des Abschlussberichts
     des Sonderheims in Burgstädt vom 6. Juli 1968 und seines Entlassungsscheins vom 27. August 1968 jegliche Akten
     und Unterlagen vernichtet worden waren oder aus sonstigen Gründen fehlten. Der Abschlussbericht enthält keinerlei
     Angaben zu dem Einweisungsgrund und setzt sich lediglich mit der Persönlichkeit, Entwicklung und dem schulischen
     Leistungsstand des Beschwerdeführers auseinander. Der Entlassungsschein erschöpft sich in Formalitäten. Für diese
     Situation der Unerweislichkeit hat der Gesetzgeber die Vermutungsregelung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG
     geschaffen.

     Auch die sonstigen bisher festgestellten Umstände sprechen gegen eine Widerlegung des sachfremden Zwecks der
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     Auch die sonstigen bisher festgestellten Umstände sprechen gegen eine Widerlegung des sachfremden Zwecks der
     Anordnungen und gegen die Annahme der Heimeinweisungen aus Kindeswohlgründen. Hierzu gehören insbesondere
     die Tatsachen, dass die 1955 geborene, zwei Jahre jüngere Halbschwester des Beschwerdeführers trotz angeblicher
     Kindesgefährdung bei der Mutter belassen wurde, dass die im selben Haushalt lebenden Großeltern auch für den
     Beschwerdeführer etwaige Erziehungsdefizite hätten ausgleichen können, dass einer Kindeswohlgefährdung bei der
     Mutter dadurch hätte begegnet werden können, dass das Kind von dem Vater aufgenommen worden wäre, dass der
     Beschwerdeführer nahezu ausnahmslos in der Umerziehung dienenden, teils geschlossenen Heimen untergebracht
     war und nicht in regulären, offenen Kinderheimen, dass er nach seinem Vortrag von Art, Ausmaß und Dauer her
     menschenverachtende Disziplinierungsmaßnahmen erleiden musste, die darauf gerichtet waren, seinen Willen zu
     brechen, und dass die Mehrzahl der Heime, in denen er sich aufhalten musste, auf Umerziehung ausgerichtet war.
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     Damit stellt sich die Wertung des Kammergerichts in diesem Punkt auf der Grundlage des von ihm festgestellten
     Sachverhalts als insgesamt nicht mehr vertretbar dar.
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     c) Soweit das Kammergericht die Argumente für eine sachfremde Einweisung - insbesondere das Vorbringen des
     Beschwerdeführers zu Ausreisebestrebungen von Vater und Sohn und einer alternativen Unterbringung bei seinem
     Vater in der Bundesrepublik Deutschland - nicht berücksichtigt hat, liegt hierin zugleich ein Verstoß gegen das Recht
     des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör gemäß Art. 15 Abs. 1 VvB, weil es diesen Vortrag von vornherein als
     unbeachtlich angesehen hat. Der Gehörsverstoß liegt darin, dass Anlass bestanden hätte, den behaupteten
     Einweisungsgrund im Rahmen der bestehenden Amtsermittlungspflicht weiter aufzuklären und den weiteren
     Beweisangeboten des Beschwerdeführers nachzukommen, und dies unterblieben ist. Das rechtliche Gehör gebietet
     nämlich, Argumente des Rechtsschutzsuchenden nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern in Betracht zu ziehen und
     ihnen gegebenenfalls nachzugehen.
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     2. Die angegriffene Entscheidung beruht auf den Verfassungsverstößen. Es ist nicht auszuschließen, dass das
     Kammergericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung kommen wird, zumal nach seiner
     Rechtsprechung die Unterbringung in Kinderheimen unter Ausschaltung aufnahmebereiter, in der DDR lebender
     Verwandter politische Verfolgung indiziert (Beschluss vom 24. September 2013, a. a. O., Rn. 1 bis 17 juris; KG,
     Beschluss vom 16. Juni 2011 - 2 Ws 351/09 REHA -, juris Rn. 42).
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     Auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verletzung seines Grundrechts auf Ehe und Familie gemäß Art. 12
     VvB kommt es danach nicht mehr an.
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     III.
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     Die angegriffene Entscheidung wird nach § 54 Abs. 3 VerfGHG aufgehoben und die Sache in entsprechender
     Anwendung des § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes an das Kammergericht
     zurückverwiesen.
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     Damit ist der Beschluss des Kammergerichts vom 17. April 2020 gegenstandslos.
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     Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
41
     Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.
42
     Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof abgeschlossen.
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