Tracking - ein Grund-prinzip des Lebens - Tracking, Teil 1 - zeitschrift ...
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Tracking, Teil 1 Tracking – ein Grund- naesthetics-AusbilderInnen-Team später, fühle ich mich in der Lage, den Zusammenhang zwischen den Führen-Folgen-Prozessen im Körper und Führen-Fol- prinzip des Lebens gen-Prozessen zwischen zwei Menschen darzustellen. Dieser Aufsatz ist aber nur eine Auslegeordnung. Sie soll helfen, dass wir in den nächsten Jahren weiter miteinander darüber diskutieren können. Autor: Stefan Knobel Der kybernetische Hintergrund Revolutionäre Umwälzung. Im Jahr 1947 haben Nor- bert Wiener und seine KollegInnen mit dem kyber- netischen Modell der Regelkreise oder Feedback- Schleifen eine große Revolution eingeleitet. Es wurde möglich, mit einem völlig neuen Ansatz über die Funk- tionsweise von Lebewesen – aber auch von Maschi- nen – nachzudenken. Und das zeigte Wirkung – vor al- lem in der technischen Entwicklung. Wir alle erleben, wie die technischen Innovationen der letzten Jahr- zehnte unser ganzes Leben verändern. Was vor siebzig Jahren undenkbar war, ist Realität geworden: Wir ver- fügen über drahtlose Telefone, mit denen man filmen, fotografieren und auf das Internet zugreifen kann. Wir sind zunehmend umgeben von selbstregulierenden technischen Systemen. Ein Beispiel sind die Fahrer- Die Kinästhetik sucht nach den Mustern der Individualentwicklung Assistenzprogramme in den modernen Automobilen. und stellt die Frage: Wie kann ein Mensch seine eigene Entwick- All das ist nur möglich, weil aufgrund der Feedback- lung proaktiv beeinflussen? Kontroll-Theorie eine ganz neue Nachrichtentechnik Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage sind die Begriffe entstanden ist. Führen und Folgen, Body-Tracking, Social-Tracking und Interak- tionsformen allgegenwärtig. Was steckt hinter diesen Begriffen? Neues Paradigma. Norbert Wiener, einer der Begrün- Was sind die Wirkungszusammenhänge? Warum ist Tracking ein der der kybernetischen Wissenschaft, formulierte es Grundprinzip des Lebens? Dieser Artikel versucht, soweit wie so: «Wir haben beschlossen, das gesamte Gebiet der möglich Ordnung zu schaffen. Regelungstechnik und der Informationstheorie, ob bei Maschine oder Lebewesen, mit dem Namen Kyberne- tik zu belegen» (Wiener 1948, S. 39). Zu diesem Artikel Die Begründer der Kybernetik hatten also nicht nur die technische Entwicklung im Blick. Sie fragten sich, Erster Artikel 2014. Im Januar 2014 habe ich in der LQ wie Informationen in einem Menschen und zwischen 01/2014 einen Artikel zum Thema «Body-Tracking» ge- den Menschen spielen. schrieben (Knobel 2014). Ich wollte damals eine Se- rie beginnen und versprach den LeserInnen, in einer Das, was wir daraus machen. Ihr Verdienst ist es, dass nächsten Ausgabe die Auseinandersetzung zum The- sie mit dem Reiz-Reaktions-Modell gebrochen haben. ma «Social-Tracking» folgen zu lassen. Dies ist nicht Und das ist ein wirklich großer Wurf. Denn das Reiz-Re- geschehen. Der Grund: Es zeigte sich, dass die Aus- aktions-Modell hat unser Denken über Jahrhunderte einandersetzung auf der Erfahrungsebene noch nicht geprägt. Und tut es noch immer. Noch immer verkauft weit genug gediehen war. uns die Wirtschaft – und nicht selten auch die Wis- senschaft –, dass ein bestimmter Duft Wohlbefinden Der Nebel lichtet sich. Jetzt, sechs Jahre und vie- auslöse, bestimmte Farben beruhigend wirken würden, le Stunden der Auseinandersetzung mit zahlreichen bestimmte Verhaltenstechniken von Führungsperso- Kinaesthetics-ExpertInnen und insbesondere im Ki- nen eine bessere Motivation der MitarbeiterInnen be- 6 thema 01 |20
wirken, kurzum eine vorhersehbare Reaktion bei Men- Es spielt also weniger eine Rolle, was der Mensch tut. schen auslösen würden. Viel wichtiger ist die Beobachtung des WIE im Verhal- ten. Dem ist aber kaum so. Das Verhalten eines Men- schen erscheint aus kybernetischer Sicht nicht länger als der Effekt einer linearen Wirkung von Stimuli oder Body-Tracking Reizen von außen oder innen. Als sehr viel stimmiger erscheint die bis jetzt unwiderlegte Beschreibung, Führen und Folgen im Körper. In den letzten Jahren dass das Verhalten vom Individuum selbst von innen wurden von Kinästhetik-AnwenderInnen immer wieder durch kontinuierliche Feedback-Kontrolle, das heißt interessante Phänomene beschrieben, die auf die Be- durch das fortlaufende zirkuläre Zusammenspiel von deutung des Führens und Folgens im Körper für die In- Motorik, Sensorik und Nervensystem gesteuert wird. dividualentwicklung hinweisen. Die Geschlossenheit dieser Regelkreise (salopp for- Ein Beispiel dafür sind die Beobachtungen rund muliert: «Nichts geht von außen direkt hinein») rückt um die Entwicklung der Bewegungskompetenz von die grundsätzliche Autonomie und Einzigartigkeit aller demenzbetroffenen Menschen. Vieles deutet darauf Lebewesen in den Mittelpunkt. Wir sehen also nicht hin, dass diese Menschen schon in einem sehr frühen die Außenwelt, sondern verarbeiten die Daten, die das Stadium die Bewegungsmuster so verändern, dass Auge im Zusammenspiel mit dem kinästhetischen Sin- sie ganz einfache Aktivitäten mit zunehmend höherer nessystem liefert und zu einem inneren Bild werden Körperspannung durchführen. Viele Berichte weisen lässt. Wir sehen also nicht das, was da draußen ist, darauf hin, dass die Koordination von Ziehen und Drü- sondern das, was wir daraus machen. cken im Körper oder das Spiel zwischen dem Anspan- nen und Loslassen von Muskeln für diese Menschen Steuerung von innen. Wenn man die Feedback-Kon- zunehmend schwieriger werden. Es könnte also sein, trolle als Erklärungsmuster für das menschliche Ver- dass die demenzielle Veränderung verstrickt ist mit halten verwendet, ergibt sich eine neue Ausgangslage. der zunehmend schwierigeren Gestaltung der Führen- Völlig unbestritten ist, dass das uns bekannte Leben Folgen-Prozesse im Körper – oder, dass die Gestaltung in das Milieu dieser Erde «eingetaucht» ist und sich im der motorischen Prozesse ein wesentlicher Faktor ist, Bereich des ihm Möglichen an dessen Einfluss anpasst. der die Demenzerkrankung mitbegünstigt oder aber Auch wenn das Leben aus «Materie» besteht, kann auch verzögern kann. man die Verhaltensweisen eines Lebewesens nicht von Wir müssen uns aber nicht auf eine schwerwiegen- den Eigenschaften der Materie ableiten. Vielmehr han- de Erkrankung beziehen, um die Bedeutung der Quali- delt es sich um eine feedback-kontrollierte Dynamik, tät der Führen-Folgen-Prozesse im Körper zu verste- die unprognostizierbar in jedem Moment neu entsteht, hen. Wir alle können an uns selber beobachten, wie aber doch wesentlich von der Lerngeschichte des mo- wenig es braucht, bis wir die Leichtigkeit des Seins torischen Verhaltens abhängig ist. Diese Dynamik ist verlieren. Eine kleine Verletzung oder ein Schmerz verantwortlich für die lebenslange Entwicklung des können dazu führen, dass wir unsere gewohnte Ge- Individuums. Das menschliche Verhalten ist also nicht schicklichkeit verlieren. von einer Instanz wie dem Gehirn oder den Genen de- terminiert. Leben ist ein dynamischer Informations- Auf die Seite drehen. Sich von der Rückenlage in die verarbeitungsprozess, der, wie oben erwähnt, durch Seitenlage zu drehen, ist einfach. Man stellt ein Bein das zirkuläre Zusammenspiel von Motorik, Sensorik auf, drückt ein bisschen und schon liegt man auf der und Nervensystem gesteuert wird. Seite. So weit, so gut. Aber wie funktioniert das wirk- lich? Genau hier setzt die Kinästhetik an. Mit der Fokus- Oft ist es für uns einfacher zu beschreiben, wie es sierung der Achtsamkeit auf die eigene Bewegungs- sich anfühlt, wenn etwas nicht funktioniert. Pflegende wahrnehmung können Menschen lernen, ihre Bewe- und TherapeutInnen haben viel Erfahrung, wie sich die gungsmöglichkeiten von sich aus zu entwickeln und gemeinsame Bewegung mit einem Menschen anfühlt, anzupassen. Wesentlich für die Qualität dieser Dyna- wenn die Fortbewegung nicht mehr so einfach möglich mik sind die Führen-Folgen-Prozesse, die sowohl im ist. Diese Erfahrungen ordnet man gerne verschiede- Körper eines Menschen (Body-Tracking) wie auch zwi- nen Klassen zu: Die PatientIn ist eine «SpastikerIn», schen zwei und mehreren Menschen (Social-Tracking oder neu: Pair-Tracking) beobachtet werden können. > thema 7
> eine «PusherIn», eine «HypotonikerIn». Manchmal Body-Tracking bei Smith. Die Verhaltenskybernetiker sagt man auch «Sie hat eben Parkinson» oder «Sie ist Karl Ulrich Smith und Thomas J. Smith haben die Füh- dement». ren-Folgen-Prozesse im menschlichen Körper unter- sucht. Sie gehen davon aus, dass solche Tracking-Pro- Wie funktioniert es? Wir sind uns gewohnt, pathophy- zesse auf allen physiologischen Ebenen des Menschen siologische Erklärungsmodelle zu Hilfe zu nehmen, um zu beobachten sind: «Während der letzten beiden Jahr- zu erklären, warum etwas nicht funktioniert. Bei einem zehnte ist offensichtlich geworden, dass das Konzept an Parkinson leidenden Menschen heißt die Erklärung: des kontinuierlich kontrollierten Trackings in sinnvol- Bestimmte Zellen, die den Neurotransmitter Dopa- ler Weise auf viele Erscheinungsformen der Feedback- min herstellen, sterben ab, der Grund liegt in einem Kontrolle bei lebenden Systemen übertragen werden Mangel an Dopamin. Dieser chemisch-physiologische kann. Feedbackkontrollierte Tracking-Operationen Wirkungszusammenhang ist aber nicht erfahrbar und treten auch genetisch bei einer Zellreparatur von DNS- deshalb im Alltag vom Individuum kaum beeinflussbar. Läsionen auf, die zu Mutationen führen können; dies Die Verhaltenskybernetik stellt mit der Feedback- kann auf dem Niveau der Zellen erfolgen, um die Aus- Kontroll-Theorie ein dynamisches Erklärungsmodell wirkungen der Umgebung auf die Zellteilung und Repli- zur Verfügung, das den ständigen inneren erfahrba- kation zu regulieren, oder auf dem der Organe, um die ren Anpassungsprozess in den Mittelpunkt der Be- Differenzierung der Zellen in Relation zur Umgebung obachtungen stellt. Die «normale» Fortbewegung von während ihrer Entwicklung zu kontrollieren» (Smith; der Rückenlage in die Seitenlage ist dann mit wenig Smith 1999, S. 61). Das heißt also, dass feedbackkon- Aufwand möglich, wenn im Körper hochdifferenzierte trollierte Tracking-Prozesse auf molekularen, zellulä- Führen-Folgen-Prozesse stattfinden. Einerseits muss ren und weiteren physiologischen Ebenen stattfinden. man in der Lage sein, zum Beispiel mit dem einen Bein Zusätzlich fanden die beiden Forscher auch neun un- ganz gezielt genau jenes Maß an Muskelanspannung terschiedliche Formen der zwischenmuskulären Inter- aufzubauen, das es ermöglicht, dass man auf der ent- aktion (vgl. Smith; Smith 1985, S. 247 – siehe Infobox sprechenden Seite mit der Gewichtsverlagerung des Seite 9). Bei all diesen Interaktionsformen im Körper Beckens beginnen kann. Andererseits muss zeitgleich spielt die zeitlich exakte Koordination des Führens die Spannung auf der anderen Körperseite ganz ge- und Folgens die ausschlaggebende Rolle. zielt und angepasst reduziert werden, sodass die Ge- wichtsverlagerung überhaupt möglich wird. Diesen Body-Tracking und Leistung. Die Auswirkungen sol- Führen-Folgen-Prozess kann man auch über Bewe- cher Verzögerungen auf die Leistung und Zielge- gungserfahrungen in unterschiedlichsten Aktivitäten nauigkeit der Führen-Folgen-Prozesse im Körper bei nachvollziehen (siehe unten «Body-Tracking erfahrbar bestimmten Aktivitäten wurden in etlichen Studien machen»). Aus dieser Nachvollzierbarkeit ergibt sich untersucht. Smith und Smith (1985, S. 248) nennen die Möglichkeit, das eigene Verhalten zu verändern. einige Beispiele: «Präzise kontrollierte Interaktionen zwischen Atembewegungen und anderen Körperbe- wegungen sind für viele Fähigkeiten, insbesondere für den Sport und das Musizieren, von großer Bedeutung. Eine Ungenauigkeit bei der Atmungsregelung trägt zu Fehlern beim Hornspielen, zu Seitenschmerzen beim Body-Tracking erfahrbar machen Laufen und zu Einschränkungen beim Schwimmen bei. Das folgende Beispiel ermöglicht es, die Bedeutung des […] Bramble und Carrier (1983) haben nachgewiesen, möglichst differenzierten Führens und Folgens im eigenen dass das Koordinationsmuster zwischen dem Atem- Körper nachzuvollziehen. rhythmus und den Beinbewegungen während des Laufens eine individuelle Variabilität zeigt, jedoch äu- • Stehen Sie langsam von einem Stuhl auf und beobach- ßerst stereotypisch für einen bestimmten Menschen ten Sie, wann Sie beginnen, die Muskeln des Ober- ist, und dass die Koordination bei trainierten Läufern schenkels anzuspannen, um die Beine zu strecken. verglichen mit untrainierten Läufern deutlich präziser • Stehen Sie noch einmal auf. Dieses Mal spannen Sie die ist.» Zum Schluss, dass bereits kleinste zeitliche Ver- Muskeln der Oberschenkel an, kurz bevor es eigentlich zögerungen in der Koordination fatale Auswirkungen notwendig wäre. Beobachten Sie die Wirkung dieser auf die Zielgenauigkeit des Verhaltens zeigen, kommt absichtlich herbeigeführten Ungenauigkeit des Führen- auch Schmidtke (vgl. 1958). Folgen-Prozesses in Ihrem Körper. 8 thema 01 |20
Verhaltensphysiologische Integration Exterozeptives Feedback Kinästhetisches Feedback Zucker Metabolisches Eigene Erfahrungen. Die meisten Menschen verfügen Fett Feedback über Erfahrungen, was passiert, wenn das Führen und Folgen im Körper gestört ist. Alle, die einmal ein biss- Neurohormonelles chen zu viel Alkohol getrunken haben, können genau Feedback beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn der Genuss von ADP Alkohol eine Zeitverzögerung im Führen und Folgen der ATP eigenen Körperteile bedingt. Das Gehen wird unsicher, Organisches Feedback die Sprachkontrolle wird beeinträchtigt, kurz, die Ko- Intrazelluläres molekulares Feedback ordination ist in den meisten Aktivitäten erschwert. Andere Erfahrungen zeigen sich, wenn man zum Bei- spiel aufgrund einer Verletzung die Grundspannung er- höht. Das führt gemäß der Weber-Fechner-Regel zu ei- ner weniger differenzierten Bewegungswahrnehmung bei der Ausführung von Aktivitäten – was wiederum die Fehlerkorrektur im Feedback-Kontroll-Prozess be- einträchtigt. Die neun zwischenmuskulären Interaktionsformen nach Smith und Smith (1985) sind: Social-Tracking 1. Interaktion entgegengesetzter Muskeln, wie zum Beispiel Bizeps und Trizeps, mittels gegenseitiger Social-Tracking. Der Begriff Social-Tracking ist seit Innervation; den 1980er-Jahren ein wichtiger Begriff im Kinaesthe- 2. Interaktion großer Haltungsbewegungen, die den Körper tics-Curriculum. Mit der Beschreibung der drei Inter- stützen, Fortbewegungs-Bewegungen, wie zum Beispiel aktionsformen hat er Einzug ins Kinaesthetics-Kon- Schritte beim Gehen, oder Wurfbewegungen der Arme zeptsystem gehalten. Es gibt viele Artikel, die sich sowie feine Hand- oder Gelenkbewegungen; mit der Bedeutung des Führens und Folgens zwischen 3. bilaterale Interaktion der Muskelgruppen; Menschen beschäftigen. 4. bilaterale Dominanz und Unterordnung der Muskelgrup- pen (Lateralität); Social-Tracking bei Smith. Karl Ulrich Smith hat schon 5. körpermotorische- und rezeptormotorische Interaktio- in den 1970er-Jahren den Begriff Social-Tracking ge- nen; prägt. Seine Definition: «Das sozialkybernetische 6. körpermotorische und externe atemmotorische Interak- Modell geht davon aus, dass soziales Verhalten in all tionen; seinen Formen auf einem gegenseitigen Social-Track- 7. Interaktion der ballistischen (geworfenen, impulsiven) ing des sensorischen Feedbacks zwischen zwei oder und Anspannungsbewegungen; mehr Personen beruht» (Smith; Smith 1999, S. 61). Er 8. Integration der Bewegungen in Bezug auf Werkzeuge summiert unter diesem Begriff alle möglichen sozialen oder Maschinen, bei denen die Art der innerkörperli- Führen-Folgen-Prozesse. «Wie in Abbildung 5 gezeigt chen Integrationen teilweise von der Maschinenbedie- wird, können sieben verschiedene Typen von Social- nung abhängt; und Tracking-Gruppenbeziehungen spezifiziert werden: 9. soziale Interaktion der Bewegungen. Interaktionen zwischen (1) Individuum und Gruppe; (2) in einer Gruppe; (3) zwischen verschiedenen Gruppen, Diese letzte Form beinhaltet jene spezialisierten sozialen (4) zwischen Gruppen vermittelnd; (5) zwischen Insti- Aktivitäten, die aufgrund ihrer Organisation von Interak- tutionen; (6) innerhalb von Institutionen und (7) zwi- tionen zwischen den motorischen Systemen von zwei oder schen Gruppen und Institutionen» (ebd., S. 62). mehreren Menschen abhängen und die aufgrund ihrer Smith geht davon aus, dass die Social-Tracking- Art eine Bewegungskoordination umfassen, die nicht für Prozesse einen direkten und indirekten Einfluss auf die individuelle Leistung charakteristisch ist. die physiologischen und somit Body-Tracking-Pro- zesse des Individuums ausüben: «In der Verhaltens- Die Abbildung fasst diese Hauptformen der motorischen kybernetik ist das Social-Tracking die Erweiterung des Koordination zusammen. Wie in der Abbildung angeregt, ist sozialen Verhaltens dieser elementaren biologischen die intermuskuläre Interaktion direkt bei der Bestimmung der Art der physiologischen Feedback-Effekte der Muskel- > kontraktion betroffen. thema 9
> Tracking-Operationen. Dabei geht man davon aus, dass Kontrolle über die Bewegungserfahrung in den all- Menschen sich für unterschiedliche Social-Track- täglichen Aktivitäten wiederzuerlangen und so zu ler- ing-Operationen engagieren, nicht nur um ihr offenes nen, ungeahnte Möglichkeiten zu entwickeln oder mit Verhalten zu koordinieren, sondern auch um ein ge- «schlechten Karten gut zu spielen». wisses Maß an anhaltender Feedback-Kontrolle über Man könnte sagen: Die Kinästhetik hat die Be- ihre physiologischen Funktionen zu erhalten. Unserer deutung der Qualität der Führen-Folgen-Prozesse Meinung nach gewährleistet die Theorie der Sozial- zwischen zwei Personen analysiert, kultiviert und er- kybernetik und ihre unterstützenden experimentellen möglicht es, die Kompetenz des Handlings gezielt zur Beweise den Schlüssel für das wissenschaftliche Ver- Potenzialentfaltung der beiden beteiligten Personen ständnis der Feedback-Beziehungen zwischen dem einzusetzen. Weil diese Kompetenz so bedeutend ist, externen sozialen und individuellen Verhalten und den ist es nicht zu vertreten, dass sie im Universalbegriff internen physiologisch-biologischen Funktionen; ein Social-Tracking untergeht. Deshalb sind wir auf der Verständnis, das den Sozialtheoretikern und Biologen Suche nach einem neuen Ordnungssystem, das den über ein Jahrhundert lang entfallen war» (ebd., S.61). Kern der Kinästhetik-Kompetenz beim Namen nennt. Insbesondere betont Smith, dass Social-Tracking die Lern- und Entwicklungsprozesse des Säuglings und der Kleinkinder nachhaltig beeinflusst: «Die Ex- Ein kinästhetisches Tracking-Modell perimente beweisen auch, dass die Entwicklung des Säuglings und des Kindes im allgemeinen vom Entste- Ein eigenes Modell. Der Feldforschungsprozess der hen und dem Erwerb von Social-Tracking-Fähigkeiten Kinästhetik hat in den letzten vierzig Jahren Perspek- sowohl beim kommunikativen als auch beim psycho- tiven an die Oberfläche gespült, die weit über die Be- motorischen Verhalten abhängen und darum herum schreibungen und Erkenntnisse von Karl Ulrich Smith organisiert werden» (ebd., S. 70). in den 1960er- und 1970er-Jahren zu den Themen Bo- dy-Tracking und Social-Tracking hinausgehen. Deshalb Social-Tracking: zu unspezifisch. Die Menschen wis- ist es an der Zeit, ein eigenes Kinästhetik-Tracking- sen seit Jahrhunderten, dass die Interaktion zwischen Modell zu entwickeln. Im Folgenden wird ein Entwurf zwei Menschen eine ganz andere Dimension des Aus- eines solchen Modells dargestellt (siehe S. 11 unten). tauschs ermöglicht, als wenn viele Menschen zusam- men sind. Wenn man ein schwieriges Thema bespre- Body-Tracking als ein Teil des Internal-Tracking. Na- chen will, fordert man ein «Gespräch unter vier Augen» türlich sind alle internen Trackingprozesse auf mole- ein. Die katholische Beichte ist ein Austausch zwi- kularer, zellulärer und physiologischer Ebene wichtig. schen dem Priester und der beichtenden Person. Deshalb braucht es für alle körperinneren Tracking- Auch die kinästhetische Feldforschung zeigt, dass prozesse einen Übertitel. Der Arbeitsbegriff dafür ist der Qualität des Führens und Folgens zwischen zwei «Internal-Tracking». Die Kinästhetik befasst sich aber Personen für die Individualentwicklung enorme Be- vor allem mit den erfahrbaren Führen-Folgen-Prozes- deutung zukommt. Das gilt für Menschen in allen Le- sen, die wir unter dem Begriff «Body-Tracking» zusam- benslagen. menfassen. Wir können sagen: Im Programm «Kinaesthetics Infant Handling» zeigt sich, dass die Interaktionskompetenz der Pflegenden • Unter Body-Tracking-Prozessen verstehen sich die zum Beispiel in der Intensivpflege von frühgeborenen erfahrbaren, beschreibbaren und gestaltbaren Kindern ausschlaggebend ist, wenn es darum geht, dem motorischen Führen-Folgen-Prozesse im Körper. Kind zu ermöglichen, die eigenen Vitalprozesse selbst • Je besser ein Mensch seine eigenen Body-Tracking- zu steuern. Prozesse gestalten kann, umso mehr Möglichkei- Im Programm «Kinaesthetics in der Erziehung» ten entstehen (frei nach dem Imperativ von Heinz zeigt sich, dass die Entwicklung einer hohen Bewe- von Foerster: Handle stets so, dass die Anzahl der gungskompetenz Eltern in die Lage versetzt, dem Kind Möglichkeiten steigt). zu ermöglichen, sich als Subjekt zu erfahren, und dass • Diese Führen-Folgen-Prozesse können anhand der dadurch ein Zugang zu den schlummernden Potenzia- ersten vier Konzepte des Kinaesthetics-Konzept- len ermöglicht wird. systems aus unterschiedlichen Perspektiven Dasselbe ist im Programm «Kinaesthetics in der erfahren, wahrgenommen, beobachtet und Pflege» zu beobachten. Bewegungs- und interaktions- beschrieben werden. kompetente Pflegende können Menschen helfen, die 10 thema 01 |20
RELATIVE / MEDIATED INTERGROUP INTRAGROUP • Die individuellen Body-Tracking-Prozesse werden maßgeblich durch die Social-Tracking-Prozesse und insbesondere durch die Qualität des Pair- Trackings beeinflusst. Pair-Tracking als ein Teil des Social-Trackings. Unter dem Begriff Social-Tracking werden, wie schon er- wähnt, alle möglichen Klassen des Führens und Fol- gens zusammengefasst. In den letzten vierzig Jahren hat sich durch die Kinästhetik immer deutlicher ge- zeigt, wie hoch das Potenzial der Interaktion von zwei Menschen über Bewegung und Berührung ist, wenn es darum geht, mehr Möglichkeiten zu entfalten. Wir ver- INTER- INDIVIDUAL - wenden für diese spezifische und eingrenzbare Track- INSTITUTIONAL GROUP ingform den Arbeitstitel «Pair-Tracking». Wir können GROUP- INSTITUTIONAL INTRA- sagen: INSTITUTIONAL • Unter Pair-Tracking verstehen wir die erfahrbaren Eine Darstellung von möglichen Dimensionen des Social- und gestaltbaren Aspekte in der Interaktion Trackings von Karl U. Smith und Thomas Smith (Smith; zwischen zwei Menschen mit dem Schwergewicht Smith 1999, S. 62). auf der Interaktion durch Bewegung und Berührung. • Die Qualität des Pair-Trackings ist deshalb sehr wichtig, weil sie einen direkten Einfluss auf die Body-Tracking-Prozesse der beiden beteiligten Personen hat. • Wenn das Pair-Tracking so gestaltet werden kann, Internal-Tracking Social-Tracking dass das Body-Tracking bei beiden Personen diffe- Body-Tracking Pair-Tracking renzierter erfahren werden kann, leistet die Physiological Tracking Group-Tracking (Einsatz der Lerngruppe Interaktion bei beiden Personen einen Beitrag zur in Kinaesthetics-Lernprozessen) Individualentwicklung in Richtung mehr Möglich- Cellular Tracking Trainer-Group-Tracking (ein Aspekt der Methodik und Didaktik von Kinaesthe- keiten. tics) Network-Tracking (wichtig für das Verständnis der Funktionsweise des Offene Fragen Kinaesthetics-Netzwerks) Cultural Tracking Ein Anfang. Die erste vage Darstellung des «Kinäs- et cetera thetik-Trackingmodells» ist nur ein Anfang. Die Ein- führung der beiden Begriffe Body-Tracking und Pair- Tracking hat das Potenzial, dass viele Menschen die Erklärung: Wirkung der Kinästhetik gezielter und differenzierter Eine erste Modellbeschreibung schafft mit «Internal-Track- beobachten können. Es geht nun darum, Hypothesen ing» einen Überbegriff für alle feedbackkontrollierten zu formulieren, um die Erfahrungen in der Praxis ein- Tracking-Prozesse im Inneren des Körpers. Im Gegensatz zuordnen zu können. Die Wirkungszusammenhänge dazu werden unter dem Begriff «Social-Tracking» alle zwischen den Body-Tracking-Prozessen und der Quali- sozialen Trackingformen zusammengefasst. tät des Pair-Trackings gilt es zu untersuchen. Der Begriff «Body-Tracking» wird für die in der Kinästhetik erfahrbaren und beschreibbaren motorischen Führen- Offene Fragen. Dadurch werden sich in Zukunft ver- Folgen-Prozesse im Körper verwendet. Der Begriff «Pair- mutlich viele neue Fragen und Hypothesen ergeben. Tracking» wird für die Prozesse des Führens und Folgens Eine mögliche Auswahl von Fragen, die bereits jetzt zwischen zwei Personen insbesondere über Berührung und gestellt werden können, wird im Folgenden formuliert. Bewegung verwendet. Die weiteren angedeuteten Tra- ckingformen müssen in Zukunft noch genauer untersucht, > beschrieben und benannt werden. thema 11
> • Stimmt die Hypothese, dass mit den ersten vier • Wie beeinflusst die Bewegungskompetenz von Konzepten des Konzeptsystems (vermutlich ohne Eltern und anderen Betreuungspersonen das die Interaktionsformen) die erfahrbaren und Bindungsverhalten und die Entwicklung von beeinflussbaren Aspekte des Body-Trackings Kindern? beschrieben werden können? • Entstehen in chronischen Schmerzsituationen Es werden sich noch mehr Fragen ergeben. Verantwor- Bewegungsmuster, die zunehmend undifferenzier- ten wir sie. ● tere Führen-Folgen-Prozesse im Körper zur Folge haben, die wiederum die Schmerzen verstärken? • Führen sturzverhindernde Maßnahmen (keine Schwellen und Unebenheiten im Wohnbereich) zu einer Verkümmerung der Führen-Folgen-Prozesse im Körper – was letztlich eine Verminderung der Anpassungsfähigkeit zur Folge hat und was wiederum zur Erhöhung der Sturzgefahr führt? • Welche Zusammenhänge bestehen zwischen der oben beschriebenen Störung der Führen-Folgen- Prozesse bei Menschen mit Demenz und der pathophysiologisch zu beobachtenden Zerstörung von neuronalen Verbindungen im zentralen Nervensystem? • Wie kann die Bedeutung und Wirkung der Qualität des Pair-Trackings auf die Individualentwicklung der beteiligten Menschen nachgewiesen werden? Quellen: > Knobel, Stefan (2014): Führen und Folgen – ein Grundprinzip des Verhaltens. Serie: Verhaltenskybernetische Erkenntnisse | Teil 1: Body Tracking. In: Lebensqualität. Die Zeitschrift für Kinaesthe- tics. Heft 1. S. 47 – 50. > Schmidtke, Heinz (1958): Der Einfluss der Bewegungsgeschwin- digkeit auf die Bewegungsgenauigkeit. In: Internationale Zeit- schrift für angewandte Physiologie einschließlich Arbeitsphysio- logie. Band 17. S. 252 – 270. > Smith, Karl U.; Smith, Thomas (1985): Cybernetic Factors in Motor Performance and Development. In: Goodman, David; Wilberg, Robert B.; Franks, Ian M. (Hg.): Differing Perspectives in Motor Learning, Memory and Control. North Holland: Elsevier Science Verlag. S. 239 – 288. ISBN 9-7800-8086681-9. > Smith, Karl U.; Smith, Thomas (1999): Wissenschaftliche Beiträge der Verhaltenskybernetik: Eine Perspektive. In: Kinästhetik Zeitschrift. Heft 5. S. 45 – 76. > Wiener, Norbert (1948): Cybernetics: or Control and Communicati- on in the Animal and the Machine. New York, Paris: Wiley, Herman. .verlag-lq.co www m Stefan Knobel ist von Beruf Krankenpfleger LQ und Kinaesthetics-Ausbilder. Er leitet im Eine Kooperationsprodukt von: stiftung lebensqualität Auftrag der European Kinaesthetics Associati- European Kinaesthetics Association on EKA und der stiftung lebensqualität das Wir- Kinaesthetics Deutschland kungsfeld Kinaesthetics-Projekte Neue Kinaesthetics Italien Kinaesthetics Österreich Länder. Kinaesthetics Schweiz ww t w.ki .n e nae s t h etic s 12 thema 01 |20
| 01 21 01 20 | | 02 20 kinaesthetics – zirkuläres denken – lebens kinae qualität stheti cs – zirku läres squalität denk n – leben en – äres denke leben ics – zirkul kinaesthet squa lität 03 20 | 04 20 | kinaesth etics – zirkulär es den ken – lebensq ualität ualität lebensq ken – es den zirkulär etics – kinaesth kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität In der Zeitschrift LQ können die LeserInnen am Knowhow teilhaben, das Kinaesthetics-AnwenderInnen und Kinaesthetics-TrainerInnen in zahllosen Projekten und im Praxisalltag gesammelt haben. Ergebnisse aus der Forschung und Entwicklung werden hier in verständlicher Art und Weise zugänglich gemacht. Es wird zusammengeführt. Es wird auseinander dividiert. Unterschiede werden deutlich gemacht. Neu entdeckte Sachverhalte werden dargestellt und beleuchtet. Fragen werden gestellt. Geschichten werden erzählt. Die LQ leistet einen Beitrag zum gemeinsamen analogen und digitalen Lernen. Bestellen Sie die Zeitschrift LQ unter www.verlag-lq.net oder per Post verlag lebensqualität verlag@pro-lq.net nordring 20 www.verlag-lq.net ch-8854 siebnen +41 55 450 25 10 Print-Ausgaben plus Zugang zur Online-Plattform Bestellung Abonnement LQ – kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität Ich schenke lebensqualität mir selbst einer anderen Person Meine Adresse: Geschenkabonnement für: Vorname Vorname Name Name Firma Firma Adresse Adresse PLZ Ort PLZ Ort Land Land eMail eMail
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