Und ein halbes Jahrhundert später stellt dieser Junge Großbritannien auf den Kopf - Torial
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AGENDA … und ein halbes Jahrhundert später stellt dieser Junge Großbritannien auf den Kopf Er ist der Mann, der das Vereinigte König- reich mit seiner fixen Idee vom EU-Austritt gespalten hat. Er war der Kotzbrocken in der Regierung May. Nun rumpelt sich Boris Johnson möglicherweise an die Spitze der Tories – denn er besitzt eine große, bittersüße Gabe: Er verführt TEXT VON REINHARD KECK 22
POLITIK Bum, bum, Boris! Boris Johnson, acht Jahre alt, blond und niedlich. Er trägt Foto: Sophie Baker / ArenaPAL Tweed, very British, und spielt in einem Londoner Park mit seinem Drachen FOCUS 25/2019 23
B L IENNDDA AG BLIND Er will Premierminis- ter des Vereinigten Königreichs werden. Das ist der Lebens- traum von Boris Johnson. Wahrschein- lich hat er ihn schon geträumt, als er als Mitglied auf die mäch- tigste Geheimgesell- schaft von Oxford eingeschworen wurde Der Clan Johnson mit Mutter Charlotte, Schwester Rachel und Bruder Leo. Es fehlen Vater Stanley und Bruder Jo Die Johnsons K aum eine Familie in Großbritannien findet sich häu- figer in den Schlagzeilen – von den Windsors abge- sehen. Und das hat auch mit dem Brexit zu tun. Schwester Rachel sowie die Brüder Leo und Jo gehören zu den EU-Befürwortern. Jo, ein früherer Staatssekretär, wechselte auf die Remainer-Seite und fordert ein zwei- tes Referendum. Auch Vater Stanley, der von Ali Kemal, einem Minister des Osmanischen Reiches, abstammt, zählt nicht zu den Brexit-Anhängern. Der Umweltakti- vist ist mindestens so kauzig wie sein Sohn: Er macht auch mit über 70 beim Dschungelcamp mit 24 FOCUS 25/2019
POLITIK O rdentlich sieht er aus. Das Haar gestriegelt, die blonde Mähne ist kürzer und halbwegs gezähmt. Er hat einige Kilos abge- speckt, sein Anzug sitzt besser als sonst. Früher tapste er durch die Welt wie ein Clown, nun wirkt Boris Johnson fit und ausgeruht, fast seriös. Ja, man könnte meinen, hier steht ein Staats- mann. Doch das Schelmengrinsen, das er einfach nicht unterdrücken kann, verrät ihn. Der Narr kehrt an den Hof zurück. Und diesmal will er auf den Thron. Unter dem Motto: „Back Boris – Steht Der Snob Johnson mit seinem Erzrivalen David Cameron und hinter Boris“ startete Johnson vorigen anderen Studenten im vornehmen Bullingdon Club in Oxford Mittwoch in London seinen Wahlkampf. Der Ex-Außenminister will Theresa May nachfolgen. Er will neuer Vorsitzender der Tory-Partei und Premierminister werden. Das ist seit jeher sein Lebenstraum. Es ist auch der einzige Job, dessen Format zu seinem Ego passt. Johnson gibt sich jetzt staatstragend, verspricht das Blaue vom Himmel. Eine „unabhängige, aufblühende Nation“ wolle er anführen und eine „fantastische, intensive und intime Beziehung“ mit den europäischen Partnern pflegen, sagte er beim Wahlkampfauftakt in Westminster. Er wolle nicht ohne einen Deal aus der EU ausscheiden. Man müsse aber „ener- gisch und ernsthaft“ einen Austritt ohne Deal vorbereiten – und fristgerecht am Der Radfan Johnson vor seiner Der Brexiteer auf der „Vote 31. Oktober die Union verlassen: „Eine Haustür mit dem Rennrad Leave Bus“-Tour vor drei Jahren Verzögerung bedeutet eine Niederlage.“ Er gelobt, das Land zu einen, für den Die Karriere Normalbürger und die Wohlhabenden zu kämpfen, die Wirtschaft zu fördern und S eine Ausbildung an den britischen Elite-Einrichtungen „der beste Verkäufer Großbritanniens im Eton und Oxford hat den Weg praktisch vorgezeichnet: Ausland zu werden“. Seine Fähigkeiten Der größte Teil der Spitzenjobs in Großbritannien habe er schließlich als Bürgermeister von geht an deren Absolventen. So wurde Boris Johnson 2008 London bewiesen. Auf seine unrühmli- Bürgermeister von London – und ein recht populärer dazu. chen Auftritte als Außenminister geht In den acht Jahren seiner Amtszeit förderte er den Radver- er nicht ein. Fotos: ddp/intertopics, eyevine, Getty Images, imago images kehr in der Millionenmetropole, nahm selbst das Rad, statt Für seine blumigen Versprechen ernte- protziger Limousinen, um zu Terminen zu fahren. So viel te Johnson stehende Ovationen von der Volksnähe kam an. Seine „Vote Leave“-Kampagne 2016 trug versammelten Tory-Prominenz.„Ein klas- vermutlich wesentlich zum Brexit-Votum und zum Rücktritt sischer Johnson“, kommentierte die BBC von David Cameron bei. Theresa May ernannte ihn kurz dar- anschließend, „wenig Klarheit. Und ein auf zum Außenminister. Von dem Amt trat er 2018 zurück. Mann, der sich absolut nicht dafür ent- schuldigt, wie er Politik betreibt.“ Zum Beispiel dafür, dass er als oberster Anfüh- rer der Leave-Kampagne mit Lügen und Not amused! Halbwahrheiten eine Schlammschlacht Alexander Boris de Pfeffel Johnson anzettelte, die das Königreich bis heu- im Amtszimmer des britischen te spaltet. Kurz nach dem erfolgreichen Außenministers, Carlton Gardens, Brexit-Votum stand er schon einmal vor London, April 2018 der Erfüllung seines Lebenstraums. 25
Zehn für Downing Street Nr. 10 Boris Johnson, 54, Michael Gove, 51, Mark Harper, 49, Matt Hancock, 40, Sajid Javid, 49, der ehemalige Außenminister war Bildungs- und Justizmi- studierte Philosophie, Politik Staatsminister für Gesund- der Innenminister, ist Sohn und frühere Londoner nister; seit Juni 2017 ist er und Wirtschaft in Oxford. Hatte heit. Er will sich für einen pakistanischer Migranten. Er Bürgermeister, hat beste Umweltminister. Der Ex-Prä- unter Theresa May keine Regie- geregelten EU-Austritt arbeitete bei der Deutschen Chancen auf einen Sieg. sident der Oxford Union ist ein rungsfunktion. Und präsentiert einsetzen und weist Bank und plädiert dafür, sich Er will im Zweifel auch ohne wortgewaltiger EU-Skeptiker sich als Newcomer mit frischen populistische Forderungen endlich anderen Themen und Deal aus der EU austreten und zählt zu den Favoriten Ideen. Er gilt aber als chancenlos zurück nicht nur dem Brexit zu widmen Doch sein Mitstreiter Michael Gove fiel Oxford-Abschluss: Boris, eine sehr bri- ßigen Lügner, Schummler, Verschwörer, ihm damals in den Rücken, sagte, Boris tische Version von Trump. Als Johnson der dazu anstiftete, einem unliebsamen sei unfähig, das Land zu führen. noch Außenminister war, klagten seine Journalisten die Rippen zu brechen, ein Diplomaten, er sei faul, lese seine Brie- grausamer Betrüger jener Frauen, die Die britische Version von Trump fings nicht und achte kaum auf Details, er verführt“, außerdem ein „untätiger Gove ist heute Umweltminister, Londoner Bürgermeister und und einer von zehn Kandidaten, der schlechteste Außenminister die sich ebenfalls um den Top-Job aller Zeiten“. Parris gehört zu bewerben. Doch gegen Hardliner jenem Establishment, das John- Johnson scheinen alle chancenlos. son aufmischen will, wie er neu- Der 54-Jährige ist der beliebtes- lich Freunden erzählte. Auch da te und bekannteste Bewerber. In tickt er wie Trump. den kommenden Tagen werden Ein neues Team soll die Brexit- die Tory-Abgeordneten so lange Verhandlungen übernehmen – abstimmen, bis nur noch zwei auch wenn es nichts mehr zu Spitzenkandidaten übrig bleiben. verhandeln gibt. Johnson hin- Anschließend dürfen die 160 000 gegen sagte im kleinen Kreis: Mitglieder der Konservativen per „Stellt euch vor, Trump würde Briefwahl den neuen Vorsitzenden sich des Brexits annehmen. Er bestimmen – am 22. Juli soll das würde verdammt hart reinge- Ergebnis feststehen. Es ist nur ein hen. Es gäbe alle Arten von Zu- winziger Teil der Bevölkerung, der sammenbrüchen, von Chaos. über das Amt des Premierministers Alle würden glauben, er sei ver- und somit über das Schicksal des Tea Time Johnson denkt vermutlich über die nächsten Schachzüge rückt. Aber tatsächlich würde Landes entscheidet. im Machtkampf nach und genießt seinen Garten in Oxfordshire man so etwas erreichen.“ Dabei ist die Vorstellung von Sein Credo: Boris first! Fotos: dpa, ddp/Simon Jones-The Sun/News Licensing, ddp/Ben Cawthra/Sipa USA Johnson als Premier für viele Bri- ten eine Horrorvision. Sicher ist: Groß- ihm fehle es an Ernsthaftigkeit. Die Opti- Ein No-Deal-Brexit wäre verheerend für britannien stünden noch chaotischere misten sagen, Johnson kenne seine Gren- Großbritannien. Das Land würde in eine Zeiten bevor. Und damit auch Europa. zen: „Als er Bürgermeister war, umgab er Rezession stürzen, die Preise für Lebens- Seine Wahl könnte alles auf den Kopf sich mit ziemlich vernünftigen Leuten, mittel steigen, die Versorgung mit Medi- stellen: die Beziehungen zu den engs- also hoffen wir mal, dass er das auch in kamenten wäre gefährdet. Doch womög- ten Nachbarn auf dem Kontinent, etab- Downing Street macht.“ lich ist ein solches Szenario genau das, lierte Allianzen. Es wäre ein disruptiver Andere glauben eher Matthew Parris, was Johnson herbeisehnt. Verschwende Moment – wie die Wahl Donald Trumps einem ehemaligen Tory-Politiker und niemals eine gute Krise, soll sein großes zum US-Präsidenten. Blond, krawal- Vertrauten von Margaret Thatcher. Der Vorbild Winston Churchill gesagt haben. lig, provokant, nicht so reich, dafür mit beschreibt Johnson als „gewohnheitsmä- „Johnson treibt dasselbe an wie Trump, es geht ihm darum, mehr Macht an sich zu reißen“, heißt es in einem Bericht der Beratungsagentur Signum Global. Dort erwartet man bei einer Wahl Johnsons Boris Johnson. Seine Kritiker sagen: ein Lügner, einen harten Brexit als wahrscheinlichs- tes Szenario. Denn damit könne er sich ein Rüpel, ein Frauenbetrüger eine Bühne schaffen, die ihn in seiner Vorstellung auf eine Stufe mit seinem Idol Churchill stellen würde. 26 FOCUS 25/2019
POLITIK Dominic Raab, 45, Rory Stewart, 46, Esther McVey, 51, Jeremy Hunt, 52, Andrea Leadsom, 56, Theresa Mays ehemaliger Mays Entwicklungshilfe- die Arbeitsministerin trat der Außenminister, war die Thatcher-Bewunderin Brexit-Minister, will die minister, gilt als Stimme der aus Protest gegen zunächst EU-Befürworter, kündigte ihren Ministerjob Sache jetzt selbst in die Hand Vernunft in der allgemeinen Mays Brexit-Deal zurück. Sie schlug sich dann aber auf wegen Mays Brexit-Kurs. Sie nehmen: Der Jurist steht für Brexit-Hysterie. verspricht ein besseres die Seite der Brexiteers. war schon einmal im Ge- einen harten Brexit ohne Der Schriftsteller ist ein Abkommen mit der EU. Ihre Er hat gute Chancen – und spräch für den Parteivorsitz. Kompromisse Außenseiter im Rennen Chancen: gering den Segen Trumps Ihre Aussichten jetzt: gering Einen No-Deal riskieren aus Eitelkeit? Inzwischen schreibt Johnson wieder Es gibt Menschen, die ihn für seine Der „Observer“-Kolumnist Nick Cohen für den „Telegraph“, für seine Kolumnen Unverschämtheit sogar bewundern. Der sagt, Johnson habe keine Überzeugungen, kassiert er ein erstaunliches Honorar von umstrittene rechtskonservative Journalist nur ein Ziel: „Johnson glaubt an das Vor- 275 000 Pfund im Jahr. Als Bürgermeister Toby Young gehört dazu. Er bezeichnete ankommen von Johnson. Um mehr geht von London interessierte ihn die angeb- Johnsons Stil als „ehrliche Unaufrichtig- es ihm nicht.“ keit“. Die Wähler glaubten Politi- Als Student wollte der Sohn kern sowieso nichts mehr. Ehrlich eines EU-Beamten Präsident sei es, die Intelligenz der Leute der Oxford Union werden, der nicht zu beleidigen und Aufrich- renommiertesten Studenten- tigkeit erst gar nicht vorzutäuschen. vereinigung. Er bewarb sich als Das dürfte auch Johnsons Um- Konservativer, verlor aber gegen gang mit Frauen beschreiben. Er den liberalen Absolventen einer habe mit „weit weniger als tausend staatlichen Schule – der sich Frauen“ geschlafen, tönte er einmal. über Eton-Sprösslinge wie ihn Gerade lässt er sich nach diversen lustig machte. 1985 probierte er Seitensprüngen von seiner zweiten es erneut. Diesmal gab er sich Frau, der Anwältin Marina Wheeler, liberal, sprach sich gegen That- scheiden. Johnson hatte die Mutter chers Politik aus und besiegte von vier seiner Kinder mit der PR- seinen Rivalen. Johnson habe Expertin und früheren Tory-Kom- keine Grundsätze, erklärte munikationschefin Carrie Symonds der Verlierer entgeistert. Nach betrogen. Die 31-Jährige will er in der Uni arbeitete Johnson als Kürze heiraten. Sie arbeitet auch für Reporter bei der „Times“ und Neue Liebe Carrie Symonds, früher Kommunikationschefin der seine Kampagne, poliert sein Image wurde gefeuert, weil er ein Zitat Tories, ist Johnsons Geliebte. Sie managt auch seinen Wahlkampf als Staatsmann auf. Johnson habe erfand, um einem Artikel Wür- seiner Freundin den neuen Haar- ze zu geben. Die Lüge erwies schnitt und die schlankere Figur zu sich als Karrierebeschleuniger: Für den liche Tyrannei der EU längst nicht mehr. verdanken, hat Biografin Purnell erfahren. konservativen „Daily Telegraph“ ging er Erst als Premierminister David Cameron, Statt Käse und Chorizo-Wurst müsse er anschließend nach Brüssel. Johnsons alter Oxford-Rivale, ein EU- nun Haferschleim und Nüsse frühstücken, Dank Johnson erfuhren die Leser nun, Referendum ankündigte, entdeckte er das beschwerte sich Johnson neulich. Wie „ein dass die EU den Briten in ihrem Regulie- Thema wieder. georgischer Einsiedler“. rungswahn kleinere Kondome, begradigte Die Chancen, dass Johnson in wenigen Bananen und viereckige Erdbeeren ver- Sein Stil: ehrliche Unaufrichtigkeit Wochen in die Downing Street einzieht, ordnen wollte. Dass Teebeutel abgeschafft Johnson kommt mit den unglaublichsten sind inzwischen nicht mehr so gering. würden, Chips nicht mehr nach Krabben Skandalen davon, profitierte sogar von Allerdings werde seine Zeit „nach weni- schmecken und Kinder unter acht Jahren seinen Eskapaden. Während der Brexit- gen Monaten“ wieder vorbei sein, eine keine Luftballons aufblasen dürften. Ein Kampagne ließ er einen Bus durchs Land Neuwahl oder ein zweites Referendum „potenter Cocktail aus Humor und kras- fahren, auf dem in großen Lettern stand, ihn aus dem Amt spülen, prophezeit ein ser Übertreibung“, wie seine Biografin die Briten würden der EU jede Woche 350 Minister, der anonym bleiben möchte. Sonia Purnell schreibt, prägte seine Arbeit Millionen Pfund überweisen – statt es in „Die Tory-Partei liegt auf der Intensiv- als Journalist. „Alles, was ich aus Brüssel das britische Gesundheitssystem zu ste- station. Boris ist für sie wie ein Schuss schrieb, hatte diesen erstaunlich explosi- cken. Der Slogan kam an, stimmte aller- Morphium“, erklärte der Beamte in der ven Effekt auf die konservative Partei und dings nicht. Weil er als Amtsträger Lügen „Times“: „Eine Weile wird sie sich toll gab mir wirklich dieses ziemlich seltsame verbreitete, könnte Johnson demnächst fühlen und danach erkennen, dass sie Gefühl der Macht“, sagte er selber. sogar vor Gericht erscheinen. sich umbringt.“ n FOCUS 25/2019 27
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