Ungeheure Möglichkeiten - Dirk E. Hebel Die Stadt als Rohstofflager - Architektur

Die Seite wird erstellt Sibylle-Rose Schenk
 
WEITER LESEN
Ungeheure Möglichkeiten - Dirk E. Hebel Die Stadt als Rohstofflager - Architektur
KIT-Fakultät Architektur
                              mit 2hs Architekten und
                              Ingenieur, Mehr.WERT.
                              Pavillon, Heilbronn
                              2019, Foto: Zooey
                              Braun, Stuttgart

Dirk E. Hebel

Ungeheure
Möglichkeiten
Die Stadt als Rohstofflager

24                                                       der architekt 4/20
Ungeheure Möglichkeiten - Dirk E. Hebel Die Stadt als Rohstofflager - Architektur
D    ie Bundesrepublik Deutschland gilt als
     rohstoffarmes Land. Deutschland impor-
tiert jedes Jahr rund 642 Millionen Tonnen
                                                 von Ressourcen und benutzen sich selbst zur
                                                 eigenen Reproduktion, oder wie Mitchell Joa-
                                                 chim es ausdrückt: „Die Stadt der Zukunft
                                                                                                  In dieser ersten Phase hin zu einer kreislauf-
                                                                                                  basierten Bauwirtschaft, dem Urban Mining,
                                                                                                  müssen wir allerdings heute noch Materi-
an Materialien. Die benötigte Rohstoffmen-       unterscheidet nicht mehr zwischen Abfall         alien ausschleusen, die diese beschriebenen
ge hierfür ist jedoch wesentlich größer, weil    und Rohstofflager“.3                             Kriterien nicht erfüllen – in der Hoffnung,
wir auch Halbzeuge und weiterverarbeite-              Die Betrachtung dieses anthropogenen        dieses bald nachholen zu können. Einherge-
te Produkte (Güter) importieren, die einen       Rohstofflagers als vorübergehenden Zu-           hend gilt es, sogenannte Materialpässe zu
wesentlich höheren Rohstoffverbrauch in          stand, abzielend auf einen endlosen Kreis-       erstellen und sie mit einem digitalen Kata-
den Produktionsländern haben als das fer-        lauf von Ressourcen, stellt einen radikalen      stersystem zu verbinden, damit zukünftige
tige Produkt vermuten lässt – und zwar um        Paradigmenwechsel für den Bausektor dar.         Generationen wissen, wo welche Materi-
den Faktor 2,5. Die direkte Materialnutzung      Das quantitative Potenzial der bereits beste-    alien in welcher Menge und wann verfügbar
der deutschen Wirtschaft liegt daher bei ei-     henden urbanen Mine als Materiallieferant        sein werden. Auch dies ist in sich ein riesiges
ner Masse von 1,3 Milliarden Tonnen unter        ist enorm hoch. Die Herausforderung liegt        Forschungs- und Beschäftigungsfeld, da hier
Abzug der Exporte.1 So geht das Umwelt-          allerdings darin, neue Konstruktionsmetho-       rechtliche Fragen und Gewährleistungen
bundesamt der Bundesrepublik Deutschland         den und Technologien zu entwickeln, um           neu konzipiert und verankert werden müs-
davon aus, dass diese Masse an direkter Ma-      diese Materialien in eine neue Generation        sen. Bereits heute entwickeln sich jedoch
terialnutzung jährlich einem Würfel aus Be-      qualitativ nachhaltiger, das heißt ökologisch    neue Geschäftsfelder, die die Prinzipien der
ton entspricht mit der Kantenlänge von 800       nicht schädlicher, technisch sortenreiner und    Kreislaufwirtschaft aus ökonomischen Grün-
Metern. Dieses Bauwerk wäre mit Abstand          ökonomisch attraktiver – weil endlos recy-       den einführen. So gibt es Firmen, die ihre
das höchste Gebäude Deutschlands und ver-        celbarer – Baumaterialien zu überführen. Es      Produkte nicht mehr verkaufen, sondern nur
drängte das bisherige – den Berliner Fernseh-    geht um die Neubewertung etablierter und         noch deren Nutzen in Rechnung stellen, um
turm mit 368 Metern – chancenlos auf Platz       liebgewonnener Materialien und Konstrukti-       nach Gebrauch das Material (welches sor-
zwei. Und zwar jedes Jahr aufs Neue.             onsprinzipien, die einer wirklichen und kon-     tengerecht eingebaut wurde) wieder in den
     Demgegenüber steht ein Berg von Abfall      sequenten Kreislaufwirtschaft gerecht wer-       Produktionsprozess zurückzuführen. Dabei
in Deutschland, der nicht minder imposant        den. Grundvoraussetzungen hierzu sind die        entwickeln die Firmen neues Know-how und
ist: Das Brutto-Abfallaufkommen entsprach        Sortenreinheit der eingesetzten Materialien      neue Technologien, um dies zu gewährlei-
im Jahr 2017 in Deutschland rund 412 Mil-        und der Einsatz einfach wieder lösbarer Ver-     sten. In diesem Ansatz liegt eine enorme
lionen Tonnen.2 Dies ist gleichbedeutend mit     bindungstechniken, um den Rückbau samt           Chance, um letztendlich den Bausektor
der Tatsache, dass wir jährlich einen immen-     Wiederverwendung oder Wiederverwertung           komplett neu zu denken und somit neue
sen physischen Zuwachs erleben und einen         aller Materialien und Bauteile, ähnlich dem      Geschäftsfelder zu entwickeln, die sich mit
Materialstrom von 1,7 Milliarden Tonnen          Aufbau, planen und organisieren zu können.       der Verwertung des riesigen Rohstofflagers
organisieren. Bau und Abbruchabfälle (ein-            Sortenrein gelten hierbei Baumaterialien,   Bundesrepublik Deutschland beschäftigen.
schließlich Straßenaufbruch) machten im glei-    die gleiche Werkstoffeigenschaften aufwei-
chen Jahr mit 220,3 Millionen Tonnen 53,4        sen im Gegensatz zu sogenannten Verbund-         Mehr.WERT.Pavillon
Prozent des Brutto-Abfallaufkommens aus,         werkstoffen. Sortenreine Materialien sind        Das Projekt Mehr.WERT.Pavillon4 demons-
wobei der Bodenaushub als Löwenanteil mit        nicht gemischt, legiert, beschichtet oder an-    triert einen gestalterischen Einsatz des oben
85 Prozent zu Buche schlägt.                     derswertig mit einem weiteren Material un-       beschriebenen städtischen Rohstofflagers.
     Die Zahlen lassen vermuten, dass wir ei-    terschiedlicher Werkstoffeigenschaften ver-      Alle im Projekt eingesetzten Materialien ha-
nerseits seit Jahrzehnten ein unfassbar großes   bunden. Ähnliches gilt für kreislaufgerechte     ben bereits mindestens einen Lebenszyklus
anthropogenes Materiallager in Deutschland       Konstruktionsmethoden und Fügetechniken.         durchlaufen, entweder in gleichbleibender
aufbauen und andererseits kein rohstoff-         Viele Materialien, die eigentlich aufgrund       oder veränderter Gestalt. Ebenfalls sind alle
armes, sondern ein ideenarmes Land sind,         ihrer Werkstoffeigenschaften als sortenrein      Materialien sortenrein verbaut und nach
wenn es darum geht, dieses gigantische Ma-       gelten, können aufgrund von Verunreini-          dem Rückbau wiederum komplett trennbar.
teriallager zu nutzen. Oder anders formuliert:   gungen und Kreislauf-ungerechter Fügetech-       Es kommen keinerlei Kleber, Silikonfugen,
Während unsere traditionellen Rohstoffquel-      niken nicht wiedergewonnen werden. Dies          Anstriche oder sonstigen Imprägnierungen
len und Vorstellungen davon immer schneller      liegt größtenteils an der Art und Weise, wie     zum Einsatz. Damit bedient sich das Projekt
zur Neige gehen, haben unsere Städte das Po-     diese Materialien und Produkte im Bauwesen       einerseits der bestehenden urbanen Mine,
tential, sich zu neuartigen Minen der Zukunft    miteinander gefügt werden. Verklebungen,         aber stellt gleichzeitig auch ein geplantes
zu entwickeln. Auf diese Weise werden sie        Nassdichtungen, Vermörtelungen oder Ver-         und entworfenes Materiallager in sich
gleichzeitig zu Verbrauchern und Lieferanten     fugungen können solche Verunreinigungen          selbst dar.
                                                 der Materialien hervorrufen und dadurch ei-
                                                 nen sortenreinen Rückbau verhindern.

der architekt 4/20                                                                                                                            25
Ungeheure Möglichkeiten - Dirk E. Hebel Die Stadt als Rohstofflager - Architektur
KIT-Fakultät Architektur
                        mit 2hs Architekten und
                        Ingenieur, Mehr.WERT.
                        Pavillon, Heilbronn
                        2019, Fotos: Felix Heisel   Schichtung, Abb.: KIT
                        (links), Zooey Braun,       Karlsruhe, Professur
                        Stuttgart (Mitte, rechts)   Nachhaltiges Bauen

Konzeptionell liegt dem Projekt eine stoff-         Pavillons. Darüber hinaus stellte der Herstel-   Der Mehr.WERT.Pavillon beweist insgesamt
liche Schichtung zugrunde: Die tragende             ler MAGNA Glaskeramik eine Konformitäts-         die Anwendbarkeit des Rohstofflagers auch
Struktur ist komplett aus Stahl gefertigt, der      erklärung für die Qualitätskontrolle der Pro-    in strukturellen Anwendungen und zeigt die
größtenteils aus einem zurückgebauten Koh-          duktion durch standardisierte mechanische        Schönheit, die den jeweiligen Materialien
lekraftwerk in Nordrhein-Westfalen stammt.          Prüfungen zur Verfügung. Wiederum wären          innewohnt. Seien es die angeschmolzenen
Das Recycling von Stahlschrott hat sich auf-        Materialpässe sehr hilfreich gewesen.5           Glasscherben der Fassade in ihrer eigenen
grund wirtschaftlicher Anreize seit langem              Die Bodenflächen im Garten und unter         Farbigkeit, die gebrauchten und mit Spuren
etabliert. Die Recyclingquote liegt nahe 90         dem Pavillon sind mit mineralischen Bauab-       versehenen Stahlelemente der Tragstruk-
Prozent. Die direkte Wiederverwendung von           bruchstoffen belegt, die direkt oder in wei-     tur, oder der strahlend weiße Boden aus
Baustahl hingegen wird derzeit nur in gerin-        terverarbeiteter Form von Recyclinghöfen         Keramikbruch. Allerdings weist der Prozess
gem Umfang praktiziert. Neben einer sorgfäl-        stammen. Beispiele sind Klinker- und Por-        des Planens und Bauens in der Kreislauf-
tigen Demontage aus dem Gebäudebestand              zellanbruch, aber auch Steine, die von dem       wirtschaft derzeit noch viele administrative,

ist hier die Kenntnis der Materialqualität und                                                       finanzielle, rechtliche und physio­   logische
der bisherigen Nutzung erforderlich, was im                                                          Hürden auf, die schnell abgebaut werden
vorliegenden Fall leider nicht nachvollziehbar                                                       müssen, um einen Paradigmenwechsel zu
war. Bei einer behördlich angeordneten Un-                                                           ermöglichen. Häufige Hindernisse für die
tersuchung erwies sich die Stahlqualität als                                                         Wiederverwendung und -verwertung sind
gleichwertig mit der von Standardbaustahl                                                            das mangelnde Vertrauen in die Qualität von
(S235JR oder S235J2), was die direkte Wie-                                                           recycelten Materialien, fehlende Unterlagen
derverwendung der Elemente in der neuen                                                              über Materialzusammensetzung und -histo-
                                                                             Arbeitsblatt 1

                                                      GSEducationalVersion

Konstruktion ermöglichte. Es zeigt jedoch                                                            rie, ein Missverhältnis zwischen Angebot
die Wichtigkeit der Einführung von Materi-                                                           und Nachfrage (sowohl qualitativ als auch
alpässen auf, um diesen Zusatzaufwand, der                                                           quantitativ), eine unzureichende Zeitplanung
heute der ökonomischen und zeitlichen Sinn-                                                          für Rückbauarbeiten, ein Mangel an Einrich-
haftigkeit des Wiederverwendens im Wege             jungen Start-Up StoneCycling in den Nie-         tungen und Fachwissen und die oft geringe
steht, zu vermeiden.                                derlanden direkt aus Bauschutt hergestellt       Wertschätzung gegenüber wiederverwen-
     Die Fassade zeigt wiederverwertete             werden. Die Möbel und Einbauten sind aus         deten Produkten. Architekten und Archi-
Glasmaterialien aus dem Glascontainer, wie          wiederverwerteten      Kunststoffmaterialien     tektinnen kommt hierbei eine sehr wichtige
Glaskeramik oder Schaumglas. Auch der Ein-          hergestellt. Hier finden sich 3D gedruckte       Rolle zu. Sie sind es, die ein neues Verständ-
satz von Glas im konstruktiven Bereich ist in       Stühle aus Haus-Kunststoffabfällen oder          nis des kreislaufbasierten Rohstofflagers um-
Deutschland durch nationale Normen gere-            eine Arbeitsplatte aus ehemaligen Kunst-         setzen und gestalten können und uns die
gelt. Die durch standardisierte Prüfungen un-       stoff-Schraubverschlüssen.                       ungeheuren Möglichkeiten, die das Lager
abhängiger, akkreditierter Prüflaboratorien                                                          bietet, vor Augen führen. Sie können eine
ermittelten Werte lieferten die Basisdaten für                                                       neue Sehnsucht erzeugen nach dem bereits
die Bemessungsspannungen und die Erstel-                                                             Vorhandenen und somit ökologisch, ökono-
lung eines Standsicherheitsnachweises des                                                            misch und gesellschaftlich Wertvolleren.

26                                                                                                                              der architekt 4/20
Ungeheure Möglichkeiten - Dirk E. Hebel Die Stadt als Rohstofflager - Architektur
Prof. Dirk E. Hebel ist Professor für Nach-      2 Vgl. Umweltbundesamt: Abfallaufkommen,        GrünRaum GmbH, Projekt- und Veranstal-
haltiges Bauen und Dekan an der Fa-              https://www.umweltbundesamt.de/daten/           tungsträger: Entsorgungsbetriebe der Stadt
kultät Architektur am Karlsruher Institut        ressourcen-abfall/abfallaufkommen#deutsch-      Heilbronn, Ministerium für Umwelt, Klima
für Technologie. Er erforscht alternative        lands-abfall, Aufruf: 28.06.2020.               und Energiewirtschaft Baden-Württemberg
Baumaterialien und Konstruktionsmethoden         3 Joachim, Mitchell: Turning waste into buil-   und Bundesgartenschau Heilbronn 2019
einer kreislaufbasierten Bauwirtschaft. Seine    ding blocks of the future city, BBC Online      GmbH, Projektfinanzierung: GreenCycle
Forschungen und Lehransätze sind unter           News 2013, http://www.bbc.com/future/           GmbH, Der Grüne Punkt – Duales System
anderem in den Publikationen „Building from      story/20130524-creating-our-cities-from-wa-     Deutschland GmbH und SER GmbH, Pro-
Waste – Recovered Materials in Architecture      ste, Seitenaufruf: 28.06.2020.                  jektpartner Pavillon: AMF Theaterbauten
and Construction” (Birkhäuser 2014 mit           4 Konzept und Entwurf: Lisa Krämer,             GmbH, Deutsche Foamglas GmbH, Glas
Marta H. Wisniewska und Felix Heisel) und        Simon Sommer, Philipp Staab, Sophie             Trösch GmbH, Hagedorn GmbH, Heinrich
in „Cultivated Building Materials” (Birkhäuser   Welter, Katna Wiese, Professur Nachhal-         Feeß GmbH & Co. KG, Magna Naturstein
2017 mit Felix Heisel) wiederzufinden.           tiges Bauen, KIT Karlsruhe, Ausführungs-        GmbH, Schröder Bauzentrum GmbH, De-
                                                 planung und Standsicherheit: 2hs Archi-         Fries, Smile Plastics, Spitzer-Rohstoffhan-
Anmerkungen                                      tekten und Ingenieur PartGmbB Hebel             dels GmbH, StoneCycling, Studio Dirk van
1 Vgl. Umweltbundesamt: Inländische Ent-         Heisel Schlesier mit Lisa Krämer und Simon      der Kooij.
nahme von Rohstoffen und Materialimporte,        Sommer, Strukturelle Formfindung: Prof.         5 Vgl. Heisel, Felix / Schlesier, Karsten / Hebel,
https://www.umweltbundesamt.de/daten/            Rosemarie Wagner, Professur Bautechno-          Dirk E: Prototypology for a Circular Building
ressourcen-abfall/rohstoffe-als-ressource/       logie, KIT Karlsruhe, Prüfingenieur: Prof.      Industry. The Potential of Re-Used and Recy-
inlaendische-entnahme-von-rohstoffen, Sei-       Matthias Pfeifer, Karlsruhe, Germany,           cled Building Materials, in: IOP Conference
tenaufruf: 28.06.2020.                           Ausführende Firmen Pavillon: AMF Thea-          Series, Heft 323 / 2019.
                                                 terbauten GmbH, Udo Rehm / FC-Planung
                                                 GmbH, Gebr. A. & F. Hinderthür GmbH,
                                                 Kaufmann Zimmerei und Tischlerei GmbH,

der architekt 4/20                                                                                                                             27
Sie können auch lesen