Unterrichtsentwicklung durch Bildungsexempel im Fachunterricht

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Unterrichtsentwicklung durch Bildungsexempel im Fachunterricht
Marburg/Trogen/Basel, September 2010

Unterrichtsentwicklung durch Bildungsexempel im Fachunterricht
Aufbau eines schuleigenen Lehrstückrepertoires in den kollegialen Lehrkunstwerk-
stätten der Kantonsschule Trogen und des Leonhard-Gymnasiums Basel*
von Hans Christoph Berg/Willi Eugster/Roger Morger

         I. Bildung und Lehrkunst in der Lehrer(weiter)bildung und Unterrichtsentwicklung
Einleitung
1. Im 400jährigen Rahmen des Schulsystems
2. Der Einsatz vor 50 Jahren: Klafki bringt Wagenschein bringt Newton
3. Zwei Lehrstück-Kostproben: Aesop-Fabeln mit Lessing, Faradays Kerze
Zusammenfassung: Indikation, Dosierung, Definition
         II. „Sternstunden der Menschheit im Unterricht der Kantonsschule Trogen“
1. Einführung
2. Methodenfreiheit und Eigenverantwortung
3. Fünf Schritte zu einem Schulprojekt
4. Die kollegiale Lehrkunstwerkstatt
5. Die Ergebnisse
         III. Wie lässt sich die Arbeit in der Basler Lehrkunstwerkstatt entlasten und beflügeln?

    I. Bildung und Lehrkunst in der Lehrer(weiter)bildung und
Unterrichtsentwicklung
Einleitung: Wie Lehrkunst von der Unterrichtsebene auf die Schulebene gekommen ist, und ob
und wie sie dort geht, das werden nachher meine beiden Korreferenten aus ihrer Schulleitersicht
darstellen. Zunächst will ich die Frage beantworten, wie Lehrkunst denn überhaupt auf die Unter-
richtsebene gekommen ist, und ob und wie sie dort geht. Dieser Antwort werde ich mich in drei
Schritten nähern. Erstens werde ich den Rahmen des 400jährigen neuzeitlichen Schulsystems skiz-
zieren und zweitens darein den 50jährigen Entwicklungsgang der Bildungs- und Lehrkunstdidaktik
einzeichnen. Dabei werde ich ein wenig ausholen müssen, um zu zeigen, dass und wie Lehrkunstdi-
daktik als Bildungsdidaktik sich an dem historischen Kulturauftrag der Schule orientiert, Lernen
und Bildung und Lebendigkeit zu verbinden – und dies neuerdings unter der Aufsicht von Bildungs-
standards. Drittens werde ich zwei im Lehrkunst-Ensemble vielfach erprobte Lehrstücke anspielen:
Aesop-Fabeln nach Lessing, und Faradays Kerze. Zur Vororientierung: „Lehrstücke“, das sind Un-
terrichtseinheiten (im üblichen Umfang von rund 15 Stunden), die bildungsdidaktisch (nach Klafki)
und lehrkunstdidaktisch (nach Wagenschein) ausgestaltet sind; ich werde diesen unterrichtsprakti-
schen Zentralbegriff abschliessend und zusammenfassend definieren.

1. Im 400jährigen Rahmen des Schulsystems
(1) Erst seit rund 400 Jahren wurden die vieltausendjährigen Schulen systematisch zu unserem heu-
tigen flächendeckenden und umfassenden Schulwesen ausgeformt. Programmatisch ist der Leitsatz
in der „Grossen Didaktik“ von Comenius – der Grundschrift unserer Professsion – es geht um „die
Kunst, allen alles zu lehren“. Dieser Grundsatz ist (mit der vorsichtigen Einschränkung „womög-
lich“) gültig bis heute: zum einen als Begründung der allgemeinen Schulpflicht, zum anderen als
Begründung eines allumfassenden Lehrplans. Seit Jahrhunderten gilt der professionelle Konsens:

*       Workshop „Unterrichtsentwicklung durch Bildungsexempel im Fachunterricht“ (Berg/Eugster/Morger)
auf dem 4. Kieler Schulleitungsymposium „Leistung und Leistungsmessung in der Schule“ am 17./18. September
2010

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Lehren und Lernen, oder neuerdings umgekehrt: Lernen und Lehren sind der Zentralprozess der
Schule, sind ihr „Kerngeschäft“! „Schule ist die optimale Organisation von Lernprozessen“ (Roth),
und „Schule ist ein Haus des Lernens“ (NRW-Kommission) – Selbstverständlich! Was denn sonst?

(2) Allerdings gibt es historisch zwei grosse „Störversuche“, zwei Versuche zur Reformation der
Lernschule: Da ist erstens das Aufkommen der seltsamen, ja wundersamen Bildungsidee vor rund
200 Jahren um 1800. Da berief doch tatsächlich ein militärisch geschlagener König einen adligen
Privatgelehrten, der nie eine Schule besucht hatte und gerade in Rom seinen Bildungsstudien frönte,
zum Schulminister mit dem tollkühnen Auftrag zur Bildungsreformation des Schulwesens – natür-
lich eine mission impossible für Humboldt! Aber seitdem reden und träumen wir immernoch und
immer wieder idealistisch vom Schulwesen als Bildungswesen, obwohl wir doch eigentlich realis-
tisch vom Schulwesen als „Lernwesen“ reden müssten.
Wir können uns die Spannweite des Widerspruchs zwischen Lernen und Bildung leicht klarmachen,
wenn wir bei uns über unseren Schuleingang – oder noch provozierender in unsere Unterrichtsräu-
me – die Leitsätze eines der Bildungsreformatoren schreiben würden. Da hat dieser Twen im Jahre
1769 gerade seine ehrenvolle und wohldotierte Lehrerstellung gekündigt und unternimmt jetzt eine
eigene Bildungsreise durch Europa und schreibt nun in sein Tagebuch: “... welcher Standpunkt, un-
ter einem Maste auf dem weiten Ozean sitzend, über Himmel, Sonne, Sterne, Mond, Luft, Wind,
Meer, Regen, Strom, Fisch, Seegrund philosophieren, und die Physik alles dessen aus sich heraus-
finden zu können. Philosoph der Natur, das sollte dein Standpunkt sein, mit dem Jünglinge, den du
unterrichtest! Stelle dich mit ihm aufs weite Meer und zeige ihm Fakta und Realitäten...(Herder:
Journal... 1769). – Zwanzig Jahre später wird Herder, in enger Absprache mit Goethe und Hum-
boldt, den Versuch zur Bildungsreformation des Weimarer Schulwesens unternehmen; auch dieser
Versuch blieb (wen wundert's) im Ansatz stecken: Ist die Bildungsreformation des Schulwesens
eine mission impossible?

(3) Die zweite historische „Lernschulstörung“ begann vor 100 Jahren um 1900 mit der von uns ver-
harmlosend „Reformpädagogik“ genannten Bewegung, die aber selber „eine Reformation der Schu-
le an Haupt und Gliedern“ (Hilker) forderte und in tausend Versuchen praktizierte. „Aus grauer
Städte Mauern, wir ziehn hinaus ins Feld. Wer bleibt, der soll versauern, wir ziehen in die Welt“, so
sangen die lebensreformerisch gestimmten Wandervögel; und viele zogen aus den alten „Schul-
LernHäusern“ (wie wir sie von Hanno Buddenbrook kennen) aus in die neuen „Land-Erziehungs-
Heime“. Andere forderten und praktizierten mit dem Münchner Stadtschulrat Kerschensteiner: „Aus
unserer Buchschule muss eine Arbeitsschule werden!“ Noch revolutionärer der Berliner Stadtschul-
rat Paulsen: „Reisst die Schulen ein, baut Häuser der Jugend!“ – Aber bekanntlich wurden seitdem
unsere Buchschulen nicht abgerissen sondern computerisiert. Ist auch die „Lebendigkeitsreformati-
on“ der Reformpädagogik eine mission impossible?

(4) Nachdem nun beide grossen Schulreformationsversuche an den Schullernhäusern abgeprallt
sind, drängt sich als historisches Fazit auf: Lebendige Bildung im Schullernbetrieb – Unmöglich!
Aber dieses historische Fazit halte ich für falsch, weil grob alternativ statt geschmeidig dialektisch:
Lerneffizienz oder Bildungsqualität – Nein! Wir brauchen Lerneffizienz und Bildungsqualität; ge-
nauer: Wir brauchen immer wieder die Qualität lebendiger Bildungs inmitten von Lerneffizienz!
Lebendige Bildungsprozesse dürfen eben die basalen Lernprozesse nicht ersetzen wollen, sondern
müssen immer wieder einmal – in der Grössenordnung von zehn Prozent! – die schulischen Lern-
prozesse ergänzen, durchdringen, steigern, erweitern, vertiefen, konzentrieren, und insgesamt ver-
dichten und umwandeln zur Ermöglichung lebendiger Bildung im Lernprozess: Schule soll ein
Haus des Lernens sein – mit Heimatrecht auch für lebendige Bildung!
In diesem Sinne ist eine lebendige Bildungsreform des Schulwesens – oder wenigstens einzelner
Schulen – auch immer wieder in Tausend kleineren und grösseren Versuchen als Herausforderung

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angenommen worden. Denn nur effiziente Lernschulen ganz ohne lebendige Bildung: Nein, das will
Niemand! Das gilt selbstverständlich auch für den derzeitigen gewaltigen Modernisierungsumbau:
„Bildungsstandards stehen im Einklang mit dem Auftrag der schulische Bildung. Denn Bildung
zielt auf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mit zentra-
len Gegenständen unserer Kultur ergibt“ (KMK 2003). – Gut, danke, sehr geschätzte Kultusministe-
rInnen! Nur wie schaffen wir das?

2. Der Einsatz vor 50 Jahren: Klafki bringt Wagenschein bringt Newton
(1) Auch die Lehrkunstdidaktik (Berg/Schulze 1995) unternimmt auf den Spuren von Wagenschein
und Klafki einen Neuversuch, ebenfalls bescheiden konzentriert. Auch unser Neuansatz will schuli-
sche Lernprozesse nicht etwa absetzen zugunsten von Bildungsprozessen – das wäre kontraproduk-
tiv! – sondern wir wollen Lernprozesse aufnehmen, umschmelzen und umwandeln zu lebendigen
Bildungsprozessen. Und memento: Konzentriert auf nur zehn Prozent! Aber wie kann das gehen?

Der Startpunkt der Bildungs- und Lehrkunstdidaktik war ein historischer Glücksfall in den 1950er
Jahren im Zusammentreffen von Lernen – Lebendigkeit – Bildung:
    • Für die Lernschule ist Newtons Gravitationstheorie im naturwissenschaftlichen Unterricht
        ein völlig unstrittiges und unverzichtbares, allerdings auch anspruchsvolles Zentralthema.
    • Zu diesem Thema legt Wagenschein einen reformpädagogisch inspirierten wissenschaftsau-
        thentischen und lebensnahen Lehrgang vor – „Der Mond und seine Bewegung“ (1953) –
        konzentriert auf eine Originalzeichnung Newtons, die die SchülerInnen aktiv durchdringen
        und sich anverwandeln.
    • Und genau an diesem Wagenschein-Lehrgang exemplifiziert und validiert der frühe Klafki
        seine „Theorie der Kategorialen Bildung“ (1959) mit ihrer Synthese von Materialbildung
        (im Sinne Diderots und der Enzyklopädisten) und Formalbildung (im Sinne von Humboldts
        neuhumanistischer Geistesschulung: „Lernen des Lernens“).
Die Ausprägung der Lehrkunstdidaktik gelang – in Kooperation mit Wagenschein und Klafki – erst
einige Jahrzehnte später mit Berg/Schulzes (1995) Konkretisierung zum Lehrstückunterricht (inzwi-
schen weitergeführt durch Wildhirt 2008); und nunmehr hat Klafki die Lehrkunstdidaktik in die
Neufassung seiner Bildungsdidaktik aufgenommen (Klafki/Braun 2007).

Die vier Zentralbegriffe der Lehrkunstdidaktik sind: Schlüsselthemen – Bildung – Methodentrias –
Lehrstück; ich kann sie hier natürlich nur knapp umreissen:
Erstens „Epochale Schlüsselthemen“ (Klafki) oder auch „Sternstunden der Menschheit“ (Zweig)
bzw. Sternstunden der Literatur, der Philosophie, der Chemie usw.: „Exempel“ von weitreichender
und tiefgründiger Erschliessungskraft. Modellhaft ist die Reihe der mathematisch-naturwissen-
schaftlichen Paradigmendurchbrüche in der Wagenschein-Opusliste: Eratosthenes – Euklid – Archi-
medes – Kopernikus – Galilei – Newton – Pascal. Das heisst
    • Auswahl eines kulturell, schulisch und persönlich zentral wichtigen Themas...
    • ...und Suche nach seiner exzellenten didaktischen Gestaltung als Unterrichtsvorlage – proto-
        typisch dafür ist Faradays populäre Kerzenvorlesung von 1861: „Alle im Weltall wirkenden
        Gesetze treten in der Kerze zutage...“; nun gut: fast alle.
Zweitens „Bildung“, im Sinne Klafkis konzentriert zur kategorialen Bildung, heisst
    • Erschliessung eines kulturellen, wissenschaftlichen Leit- und Zentralbegriffs...
    • ...als Lernobjekt in seiner materialen Fülle und als Lernersubjekt in all seiner formalen Po-
        tenz...
    • ...und dies in einer Gründlichkeit und Tiefe, die das Wesen der Sache und das Wesen des
        Lerners ergreift.
Drittens „Methodentrias“, nach Wagenschein (1968,42008) und Hausmann (1959), heisst Exempla-
risch – Genetisch – Dramaturgisch Lehren (vgl. Berg/Brüngger/Wildhirt, in: Wiechmann 42008);

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nunmehr weiter ausgestaltet zu „Acht Lehrstückkomponenten“ (vgl. Wildhirt 2008):
   • Exemplarisch: Eine Sternstunde der Menschheit miterleben, mitvollziehen, verstehen und
       als Schlüssel zu weiteren Erkenntnissen brauchen können.
   • Genetisch: Gewordenes als Werdendes entdecken – kulturgenetisch, und bis zum eigenen
       anfänglichen Staunen und Rätseln zurückgehen – individualgenetisch.
   • Dramaturgisch: Die Dramatik menschheitlicher Erkenntnisdurchbrüche nicht glätten son-
       dern authentisch inszenieren und damit für einen verständnisvollen Mitvollzug erschliessen.
Viertens „Lehrstück“, im Sinne von Berg/Schulze, heisst
   • Eine Unterrichtseinheit ausgestalten im Sinne von Wagenschein/Hausmann und Klafki...
   • ...und sie so darstellen, dass auch andere LehrerInnen sie in Variationen als 'improvisations-
       offenes Mitspielstück' in ihrem eigenen Unterricht inszenieren können.

(2) Ein entscheidendes Vorzeichen für unser Lehrkunstunternehmen ist ein fremder, frischer und zu-
gleich legitimer Blick auf die Schule: Wir sehen den Schulbetrieb auch als Kulturbetrieb – die schu-
lischen Lernprozesse haben ja die Funktion von authentischer Kulturtradition und Enkulturation im
Horizont von Persönlichkeitsentfaltung und Menschenrechtsverwirklichung – und so stellen wir den
Schulbetrieb im interinstitutionellen Vergleichsblick zunächst in die Reihe seiner verwandten
Kunst- und Kulturbetriebe wie Theater, Museen, Philharmonien. Den Blick dafür geöffnet hat uns
Hausmanns grosse Studie „Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts“ (1959). Und nun: Warum
nicht weitergehen von der Unterrichtsebene der Lehrstücke auf die Schulebene und analog einen
„Lehrstück-Spielplan im Lehrplan“ entwickeln und erproben – aber natürlich nach kulturellen Re-
geln bottom up und nicht dirigistisch top-down; aber memento: Natürlich nur zehn Prozent! Das ist
der Leitgedanke der lehrkunstdidaktischen Unterrichtsentwicklung auf der Schulebene, wie wir
nachher sehen werden.

3. Zwei Lehrstück-Kostproben (heute nur 2 von 40, vgl. aber www.Lehrkunst.ch)
Aesop-Fabeln mit Lessing (Prim, SI, SII): Wir sind im alten Griechenland und schauen dem
Sklaven Aesop über die bucklige Schulter, während er mitten in der Volksversammlung auf Samos
seine erste Fabel dichtet und damit verhindert, dass der Grosskönig Krösus von Lydien die freie In-
sel zum Vasallenstaat macht. Dank seiner Fabeln gelingt es Aesop immer wieder, seinen Kopf aus
der Schlinge zu ziehen, wenn es brenzlig wird. Auch für andere setzt er sich ein und zieht mit seinen
über 300 rettenden Geschichten durch die antike Welt. Nur einmal hat er Fabeln schlecht erzählt -
mit schlimmen Folgen. Er wird in Delphi über die Klippe gestürzt und stirbt.
In Aesops Nachfolge dichten Babrios, Phaedrus, Luther, La Fontaine, Lessing, Krylow, Thurber und
viele weitere in anderen Ländern und Zeiten neue Fabeln. In Lessings Fabelwerkstatt lernen die
Schülerinnen und Schüler der Primar- oder Sekundarstufe, Fabeln zu variieren, bis sie schliesslich,
angekommen im Gegenwartsland, alle zusammen am Elternabend die allerjüngste Fabel dichten.
Lessings „Abhandlungen über die Fabel“ von 1759 sind auch ein didaktisches Werk par excellence:
Sie verdeutlichen das dialektische Verhältnis aus abstrakten Aussagen und ihren konkreten Anwen-
dungen, zeigen den produktiv-kritischen Umgang der Aufklärung mit der Fabel auf und lassen
schließlich Schülerinnen und Schüler selber zu Fabeldichtern werden.
In höheren Jahrgangsstufen werden Fabeln gelesen, vorgelesen, analysiert, diskutiert, in reale Sze-
nen umgesetzt und Lessings Fabelstil wird durch Vergleich mit ähnlichen Fabeln anderer Dichter
herausgearbeitet. Fabeln werden „umerfunden“, Lessing wird vorgestellt, seine Veränderungen an
historischen Fabeln werden untersucht, um dann eigene Fabelvariationen zu entwickeln. Zuletzt
„erfinden“ die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Fabeln und erstellen so ein eigenes Fabel-
buch.

Faradays Kerze (Prim, SI, SII): Russflöckchen schweben durch das diesig-neblige London, als

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im Jahr 1826 die Kinder in Scharen zur Royal Institution strömen, um Michael Faradays Weih-
nachtsvorlesungen für die Jugend zu hören, dadurch das „Thor zum Eingang in das Studium der
Natur“ durchschreiten und aus erster Hand einen Einblick in die „Naturgeschichte einer Kerze“ ge-
winnen. Knapp zweihundert Jahre später folgen wir den Spuren Faradays: „Was brennt denn eigent-
lich, wenn eine Kerze brennt – der Docht oder das Wachs?“ – Weiter: „Wie kann das sein, schwar-
zer Russ aus einer weissen Kerze?“ – Schliesslich: „Bleibt denn gar nichts mehr übrig von der Ker-
ze, wenn sie verbrennt?“ Faraday führt den Flammensprung vor, bald können ihn alle und fragen
weiter, entwerfen Experimente zur Lösung ihrer Fragen: Flammen können über einem Drahtgitter
tanzen und zeigen, dass tatsächlich weisser Wachsdampf der Brennstoff ist, den wir im Inneren der
Flamme finden, dort, wo es fast dunkel ist, Tochterflämmchen werden erzeugt, Wachsdampf abge-
leitet und die Aggregatzustände gefunden... – Ganz am Ende, wenn wir weite Gebiete der Physik,
Chemie und Ökologie durchschritten haben, stellen wir mit der Kerze und ihren „Mitspielern“ (den
Ausgangsstoffen und den Endprodukten) den selbst gefundenen Kohlenstoffkreislauf zusammen.
Wagenschein fordert: „Faradays Kerze sollte jeder Lehrer kennen.“ – Schon längst ist seine Kerze
zum Lehrstück-Klassiker geworden, mehr als fünfzig Mal durch den Unterricht gegangen, durch
alle Jahrgangsstufen von der ersten Klasse bis zur elften.

Zusammenfassung: Indikation, Dosierung und Definition
(1) Indikation: Bildung durch Lehrkunst: Lehrstückunterricht als unterrichtspraktische Konkreti-
sierung ist dann – und nur dann! – indiziert, wenn LehrerInnen und SchülerInnen ein kulturell
hochbedeutsames und schulisch unstrittiges und persönlich zentrales Unterrichtsthema mit erwart-
bar hohem Lern- und Bildungsertrag unter grosser Eigenarbeit der SchülerInnen erarbeiten wollen
und können! (Erinnern wir uns: Kunst kommt von Können, käme sie von Wollen, hiesse sie Wulst.)
Wagenscheins Kriterium in Metaphern: Einen Brückenpfeiler setzen oder einen aussichtsreichen
Berg erklettern. Wagenscheins Exempel: Euklid – Eratosthenes – Archimedes – Galilei – Koperni-
kus/Kepler – Newton – Pascal. Die Lehrkunstmetapher: „Sternstunden der Menschheit im Unter-
richt wiederaufleuchten und einleuchten und weiterleuchten lassen!“
(2) Dosierung: Zehn Prozent: Lehrkunstdidaktik ist in Gudjons Standardwerk (102008) eins von
sieben „Neueren didaktischen Konzepten“, in Wiechmanns Bestseller (42008) eine von „Zwölf Un-
terrichtsmethoden“, in Klafkis Neufassung seiner Bildungstheorie eine von sechs „Sinndimensionen
einer modernen Allgemeinbildung“, in Meyer/Demuths Rundblick eine von neun Allgemeindidakti-
ken – die Akzeptanz als „Zehn-Prozent-Didaktik“ zeichnet sich ab; allerdings ist das unsere Ziel-
marke, realiter stehen wir mit unseren rund 50 (meist mehrfach unterrichtserprobten) Lehrstücken
schätzungsweise erst bei zwei, drei Prozent.
(3) Definition: Lehrkunstdidaktik definiert sich am triftigsten über ihre Produkte oder „Werke“:
„Lehrkunstdidaktik ist Lehrstückdidaktik“ (Berg/Schulze 1995, in Berg u.a. 2009) – das ist in der
Didaktik wegen ihrer krass unterentwickelten Werkdimension ungewöhnlich und fast befremdlich,
in den Künsten selbstverständlich. Also: Lehrkunstdidaktik ist eine Didaktik, die Unterrichtseinhei-
ten zu epochalen Themen der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte gemäss der Methodentrias von
Wagenschein/Hausmann und der Bildungstheorie von Klafki (ausdifferenziert zu acht Lehrstück-
komponenten) kunstvoll ausgestaltet zu kulturauthentischen, flexiblen und repertoirefesten Lehr-
stücken als improvisationsoffenen Mitspielstücken.
Kurz: Lehrkunstdidaktik ist eine lehrstückkomponierende und lehrstückinszenierende
Bildungsdidaktik.

    II. „Sternstunden der Menschheit im Unterricht der
Kantonsschule Trogen“

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1. Einführung
Die Kantonsschule Trogen, Schweiz besteht aus einem Gymnasium (9.-12. Schuljahr) einer
Fachmittelschule und einer Berufsfachschule Wirtschaft (10.-12. Schuljahr), einem Freiwilligen 10.
Schuljahr (Brückenjahr) und einer Sekundarschule (7.-9. Schuljahr). Um eine überzeugende
„corporate identity“ zu schaffen, entwickelte die Schule schon vor Jahren ein umfassendes
Weiterbildungskonzept. Dabei wird zwischen individueller und eher fachlicher und gemeinsamer
pädagogischer Weiterbildung unterschieden. Weiterbildung ist eine Teilfunktion der Schul- und
Unterrichtsentwicklung. Entwicklungsarbeit ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal. Weiterbildung,
soll sie denn im genannten Kontext eingebunden sein, muss verschiedene Anforderungen erfüllen:
    • sie fördert die Autonomie der Lehrenden
    • sie stärkt das Profil der Schule
    • sie ist nachhaltig
    • am Ende generiert sie bessere Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler

2. Methodenfreiheit und Eigenverantwortung
Methodenfreiheit und Eigenverantwortung der Lehrpersonen sind verfassungsrechtlich abgestützt.
Schul- und Unterrichtsentwicklung hat dem Rechnung zu tragen. Gesetzlich verankert ist aber
ebenso die Pflicht zur Weiterbildung. In den letzten Jahren nimmt die Bedeutung der schulinternen
und obligatorischen Weiterbildung zu. Schulen steuern die Schul- und Unterrichtsentwicklung
einerseits über die Weiterbildung und andererseits über die Rahmenbedingungen. Die
Kantonsschule Trogen hat einen mehrjährigen Schul- und Unterrichtsentwicklungsauftrag:
    • Differenzierung des Klassensystems
    • Förderung des selbständigen Lernens
    • Integration von ICT in den Unterricht
    • Förderung der Interdisziplinarität
Mit den Lehrpersonen werden jährliche Zielvereinbarungen vorgenommen. Sie entscheiden woran
sie wie arbeiten wollen. Die Schulleitung unterstützt und kontrolliert die Arbeit.
Die wenigen Hinweise zur Praxis machen deutlich wie der Spagat zwischen Methodenfreiheit und
Selbstbestimmung der Lehrpersonen und den strategischen Entwicklungszielen geleistet werden
kann.

3. Fünf Schritte zu einem Schulprojekt
Zentral gesteuerte Schul- und Unterrichtsentwicklungsarbeit beschäftigt sich häufig mit Methoden
und Strukturen. Die Inhalte sind im Lehrplan festgeschrieben. Die Verknüpfung zwischen Formen
und Inhalt bleibt der Lehrperson überlassen. An der Kantonsschule Trogen versuchten wir seit
geraumer Zeit auch den Inhalt in die Entwicklungstätigkeit einzubeziehen. Dies gelang uns
ansatzweise mit dem Themenwochenprogramm. Die Anfrage an den Rektor, ob die Schule sich
nicht an einem Unterrichtsentwicklungsprogramm mitmachen möchte, stiess auf offene Ohren. Als
Rektor beauftragte ich eine Lehrperson, mit dieser Gruppe Kontakt aufzunehmen, einmal an einem
Workshop teilzunehmen und zu berichten. Mit Begeisterung berichtete diese Lehrperson vom
Erfahrenen, worauf die Schulleitung beschloss, die Idee aufzugreifen. Der erste Schritt war erfolgt.
Eine nächste Probe soll vor der Schulleitung stattfinden. Auch hier war das Echo sehr positiv,
worauf wir den nächsten Schritt wagten: einen Workshop mit ausgewählten Personen durchführen.
Warum wählten wir nur eine Auswahl? Um eine Sache wirklich kennen zu lernen, muss man mit ihr
arbeiten. Damit ist der Aufwand sofort relativ gross. Erst nachdem die ausgewählten Personen
ebenfalls mit Interesse reagierten, wagten wir den Schritt in das Gesamtplenum. Alle hatten nun
vom Projekt Kenntnis. Ein gutes Dutzend zeigte nun Interesse an der Mitarbeit in der „Kollegialen
Lehrkunstwerkstatt“.

4. Die kollegiale Lehrkunstwerkstatt

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Jene Lehrpersonen, welche sich zur Mitarbeit in der Lehrkunstwerkstatt entschieden hatten, stellten
sich entweder der Aufgabe ein bestehendes Lehrstück im eigenen Unterricht zu inszenieren oder ein
eigenes Lehrstück aufzubauen. Beide Prozesse wurden durch ein Fachexpertenteam unter der
Leitung von Hans Christoph Berg begleitet und unterstützt. Die zumeist drei Tage dauernde
Werksatt gliederte sich in Einzelgespräche mit den Experten und in gemeinsame Workshops mit
allen Kollegen. Die Abbildung 1 zeigt die Organisation der Werkstatt.
Was ist daraus entstanden? Gegen zwanzig Lehrstücke sind in der Zwischenzeit an der Schule
inszeniert worden. Das ist ein schöner Leistungsausweis. Doch es ereignete sich noch viel mehr.
Die Lehrpersonen öffneten ihren Blick über die Fachgrenzen hinaus. Es entstand ein kollegiales
Fachgespräch über Inhalte und Methoden. Die Werkstatt förderte den Ideenaustausch, die
Zusammenarbeit und war im besten Sinne eine interdisziplinäre Lernwerkstatt.

    Abbildung 1

5. Die Ergebnisse

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Abbildung 2

In der Zeichnung von Werner Meier ist jedes Lehrstück in Form eines Piktogrammes im Schulbild
festgehalten.
Wie verhält es sich mit der Nachhaltigkeit? Vorerst sind die Lehrstücke an einzelne Personen
gebunden. Sie werden von diesen in ihren Klassen inszeniert. Zurzeit laufen nun Versuche mit
einem befristeten Klassentausch. Damit kommen weitere Klassen in den Genuss eines Lehrstücks.
Erste Erfahrungen sind positiv. Die Nachhaltigkeit ist erst dann wirklich gegeben, wenn es gelingt,
Lehrstückunterricht in das Ausbildungsprogramm zu integrieren.
Erbringen die Lernenden auch bessere Leistungen? Diese Frage können wir noch nicht empirisch
beantworten. Aussagen aus einer Evaluation stimmen allerdings zuversichtlich (Abbildungen 3-6).

Abbildung 3

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Abbildung 4

Abbildung 5

Abbildung 6

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Abbildung 7

Mit dem Fazit (Abbildung 7) wird das Erreichte noch einmal zusammengefasst, gleichzeitig aber
auch angedeutet, wohin die Entwicklung führen muss.

     III. Wie lässt sich die Arbeit in der Basler Lehrkunstwerkstatt
entlasten und beflügeln?

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