"Verbrechen ohne Namen" Ringen um ein neues Rechtsbewusstsein im Umfeld des Zweiten Weltkrieges - Fritz Bauer Institut

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"Verbrechen ohne Namen" Ringen um ein neues Rechtsbewusstsein im Umfeld des Zweiten Weltkrieges - Fritz Bauer Institut
Unterrichtsmodul 04                                         Fritz Bauer Institut
                                                                  Geschichte und Wirkung
                                                                  des Holocaust

      Friedrich Huneke

      »Verbrechen ohne Namen«
      Ringen um ein neues
      Rechtsbewusstsein im Umfeld
      des Zweiten Weltkrieges

      ISBN 978-3-932883-40-8
      Frankfurt am Main 2021

      Fritz Bauer Institut, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main

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"Verbrechen ohne Namen" Ringen um ein neues Rechtsbewusstsein im Umfeld des Zweiten Weltkrieges - Fritz Bauer Institut
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                         Friedrich Huneke

      Fritz Bauer Institut                                                      Für Hans-Jürgen Pandel
      Geschichte und Wirkung
      des Holocaust

      »Verbrechen ohne Namen«
      Ringen um ein neues Rechtsbewusstsein
      im Umfeld des Zweiten Weltkrieges

         3     Fach; Schulform; Klassenstufe
         3     Zeitrahmen
         3     Thema
         3     Lehrplanbezug
         3     Erwartete Kompetenzen
         5     Didaktische und methodische Perspektive
         9     Sachinformation
         22    Literatur
         26    Zwei Doppelstunden – Phasenschema für die Unterrichtsmodelle 1 und 2
         29    Die Mystery-Karten: Übersicht
         30    Material 1: Mystery-Karten Variante 1 (kürzere Form)
         52    Material 2: Mystery-Karten Variante 2 (ausführliche Form)

      Autor: Friedrich Huneke unterrichtet am St. Ursula Gymnasium in Hannover Geschichte,
      Politik, Deutsch und Darstellendes Spiel und ist als abgeordnete Lehrkraft am Historischen
      Seminar der Leibniz Universität Hannover in der Ausbildung von Lehramtsstudierenden für
      Geschichte tätig.
      Redaktion und Lektorat: Nadine Docktor, Dr. des. Andrea Kirchner
      Materialien: Das Fritz Bauer Institut hat die Nutzungsrechte an Text und Bild eingeholt.
      Sollten gegebenenfalls Rechteinhaberinnen und Rechteinhaber den Eindruck haben, nicht aus-
      reichend berücksichtigt worden zu sein, bittet das Institut um Hinweise.

–2–   Fritz Bauer Institut, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main
"Verbrechen ohne Namen" Ringen um ein neues Rechtsbewusstsein im Umfeld des Zweiten Weltkrieges - Fritz Bauer Institut
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                   Friedrich Huneke

      Fach; Schulform; Klassenstufe
      Geschichte, Politische Bildung
      Variante 1: Mittelstufe 10. Klasse
      Variante 2: Oberstufe 11.–13. Jahrgang

      Zeitrahmen
      180–270 Minuten (2–3 Doppelstunden)

      Thema
      In diesem Unterrichtsmodul entdecken die Schülerinnen und Schüler mithilfe der Mystery-
      Methode, wie im Umfeld des Zweiten Weltkrieges ein neues Rechtsbewusstsein auf Basis
      der Menschenrechte entstanden ist. Dabei setzen sie sich mit den Biografien, den Motiven
      und dem Handeln der beiden polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin (1900–1959) und
      Hersch Lauterpacht (1897–1960) auseinander, die maßgeblich dazu beitrugen, dass »Geno-
      zid« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« als Straftatbestände im Völkerstrafrecht ver-
      ankert wurden.

      Lehrplanbezug
      Völkerbund, Die nationalsozialistische Diktatur – Zerstörung von Demokratie und Menschen-
      rechten in Deutschland und Europa, Völkermord an den europäischen Juden, Vereinte Natio-
      nen, Nachkriegsordnung, Erinnerungskultur

      Erwartete Kompetenzen
      Die Kompetenzbezeichnungen unterscheiden sich in den Bundesländern. Das hier zugrunde
      gelegte fachdidaktische Modell1 lässt sich entsprechend einordnen:

          Narrative Kompetenz: Die Schülerinnen und Schüler
          □ k nüpfen an die ihnen bekannte Darstellung von »Tätern« und »Opfern« des Zweiten
             Weltkrieges an;
          □ arbeiten mithilfe der Mystery-Karten verschiedene Perspektiven und Blickwinkel heraus;

      1	Hans-Jürgen Pandel, Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, 2. Aufl., Schwalbach/Taunus 2017 (zuerst 2013), S.
         221–234.

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      Geschichte und Wirkung
      des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                       Friedrich Huneke

         □ erweitern mithilfe der Mystery-Karten die übliche Darstellung des Zweiten Weltkrieges
            um die gleichzeitig einsetzende Entstehung eines neuen Rechtsbewusstseins und den Be-
            mühungen um die völkerrechtliche Ächtung von »Genozid« und »Verbrechen gegen die
            Menschlichkeit« durch Verfolgte des NS-Regimes.
         Interpretationskompetenz: Die Schülerinnen und Schüler
         □ recherchieren Zusammenhänge zwischen handelnden Menschen und zeitgenössischen
            Lebensbedingungen;
         □ arbeiten die Handlungsmotive historischer Personen aus Quellen heraus;
         □ analysieren die Bedeutung historischer Begriffe und deren Wandel: Souveränität, Völ-
            kerrecht, Massaker, Völkermord/Genozid, Völkerrechtsdelikt, Rechtsbewusstsein.
         Gattungskompetenz: Die Schülerinnen und Schüler
         □ befragen autobiografische Texte handelnder Personen;
         □ vergleichen Textgattungen wie Erklärungen der Vereinten Nationen (unverbindlich) und
            UN-Konventionen (verbindlich) mit Blick auf die Reichweite und Wirksamkeit ihrer
            Aussagen.
         Geschichtskulturelle Kompetenz: Die Schülerinnen und Schüler
         □ erklären Zusammenhänge zwischen der historischen Erfahrung der Völkermorde der
            ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der gleichzeitigen Entwicklung eines neuen, an
            den Menschenrechten orientierten Rechtsbewusstseins;
         □ nehmen Stellung zur erinnerungskulturellen Vergegenwärtigung der UN-Konvention
            gegen Völkermord im Rahmen der Gedenkkultur.

         Mögliche Lernziele im Einzelnen
         Die Lernenden erarbeiten anhand der Biografie von Raphael Lemkin exemplarisch, wie es
         durch den Einsatz engagierter Persönlichkeiten und die Schaffung multilateraler Institutio-
         nen zeitgleich zu den Gräueltaten der Nationalsozialisten gelang, die Basis für ein neues
         Rechtsbewusstsein zu schaffen. Um diese Entwicklung zu analysieren, darzustellen und zu
         beurteilen, sind die Lernenden mittels der Mystery-Methode dazu angehalten,
         □ Fragen zu dem Widerspruch zwischen dem Straftatbestand des einzelnen Tötungsdelikts
            und der damaligen Schutzlosigkeit von Bevölkerungsgruppen gegen staatliche Massen-
            gewalt zu formulieren;
         □ die Begriffe »Völkerrecht« und »staatliche Souveränität« herauszuarbeiten;
         □ die multilateralen Ordnungsmodelle des Völkerbundes und der Vereinten Nationen mit
            den unilateralen Ordnungsmodellen konkurrierender Nationalstaaten zu vergleichen;
         □ mögliche Ursachen für das Scheitern von Lemkins erstem Versuch, Völkermord als Ver-
            brechen der »Barbarei« und des »Vandalismus« zu ächten (1933), zusammenzutragen;

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      des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                 Friedrich Huneke

          □ Lemkins Vorschlag für Völkerrechtsdelikte »Barbarei« und »Vandalismus« (1933) mit
             Hans Franks Äußerungen zum nationalsozialistischen »Deutschen Recht« (1935, 1939)
             zu vergleichen;
          □ die Aussagen »crime without a name« (Churchill 1941) und Lemkins Neologismus »Ge-
             nocide« (1944) in ihren historischen Kontext einzuordnen;
          □ das Völkerrechtsdelikt »Crime against Humanity« (Hersch Lauterpacht 1945) zu erläu-
             tern;
          □ prägende Erfahrungen in der Biografie Raphael Lemkins zu benennen;
          □ Zusammenhänge zwischen den Lebenserfahrungen Lemkins und seinen rechtspoliti-
             schen Projekten herauszuarbeiten;
          □ Verhaltensspielräume in historischen Kontexten zu erörtern (Lemkin, Lauterpacht);
          □ zu Entwicklungen der Menschenrechte im Völkerstrafrecht Stellung zu nehmen.

      Didaktische und methodische Perspektive
      Der Kanon der Unterrichtsthemen und Narrative zum 20. Jahrhundert ist von den zwei Welt-
      kriegen und dem Kalten Krieg geprägt. Die nationalstaatlichen, demokratischen Entwicklun-
      gen in der Zwischen- und Nachkriegszeit werden davon getrennt als nationale Neuanfänge
      thematisiert. Schritte zur Überwindung der engen nationalgeschichtlichen Narrative markieren
      wichtige Entwicklungen auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichtsbetrachtung.2 So
      gibt es mittlerweile eine Reihe binationaler Schulbücher wie beispielsweise ein deutsch-fran-
      zösisches3 und ein polnisch-deutsches4 Geschichtslehrwerk sowie ein deutsch-russisches5, das
      jedoch eher als Lehrerhandreichung konzipiert ist.
          Die supranationalen Ebenen der Entwicklung des Völkerrechts, des Völkerbundes, der
      Vereinten Nationen und der Europäischen Union bleiben dabei oft seltsam trocken, institu-
      tionenkundlich und wenig motivierend. Wissen und Kompetenzen werden ohne Anbindung
      an Reflexionen zur Identitätsbildung und zum Geschichtsbewusstsein der Lernenden ver-
      mittelt. Gegenüber dem unilateralen Ordnungsmodell konkurrierender Nationalstaaten in
      der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleiben die Stabilität und Sicherheit der multilateralen
      Nachkriegsordnung als Themen des Geschichtsunterrichts seltsam blass. Das vorliegende
      Unterrichtsmodul soll das reflexive Geschichtsbewusstsein um ein Identitätsbewusstsein er-
      weitern, das über nationale Identitätsstrukturen hinausgeht und ein europäisches und globales

      2	Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.), Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule –
         gymnasiale Oberstufe, das Berufliche Gymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg: Geschichte, Hannover 2017, S. 42
      3	Daniel Henri, Guillaume Le Quintrec, Peter Geiss (Hrsg.), Histoire/Geschichte, Bd. 2: Europa und die Welt vom Wiener Kon-
         gress bis 1945, Stuttgart,
      4   Deutsch-Polnische Schulbuchkommission (Hrsg.), Europa – Unsere Geschichte, 4 Bde, Wiesbaden 2016–2020.
      5	Helmut Altrichter u.a. (Hrsg.), Deutschland – Russland. Stationen gemeinsamer Geschichte, Orte der Erinnerung, 3 Bde, Mün-
         chen, Berlin, 2014–2019.

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Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                     Friedrich Huneke

      Bewusstsein entwickelt. Die Lernenden sollen zur Mündigkeit als Bürger, Europäer und Welt-
      bürger befähigt und auf das Leben in einer globalisierten Welt vorbereitet werden. Dazu soll
      die »Global Literacy«, also ein Verständnis für die Strukturierung globaler Abhängigkeiten
      und Friedenssicherung, gefördert werden.
           Dies kann durch die Auseinandersetzung mit der Historisierung des internationalen Men-
      schenrechtsschutzes anhand der folgenden Fragen unterstützt werden:
      □ Welche Ursachen, Formen und Folgen hatten Versuche zur Kodifizierung des internationa-
          len Strafrechts?
      □ Wie ist die historische Konkurrenz des individualrechtlichen Delikts »Crimes against Hu-
          manity« (Lauterpacht) und des gruppenbezogenen Delikts »Genocide« (Lemkin) mit Argu-
          menten zu diskutieren und zu bewerten? (Sachurteilsbildung)
      □ Welche Personengruppen setzten sich für supranationale Strafrechtsnormen und die Verfol-
          gung individueller und gruppenbezogener Menschenrechtsverletzungen ein?
          (biografisches Lernen, Personifizierung)6
      □ Welche Gegenkräfte widersetzten sich im 20. Jahrhundert der Kodifizierung des Völker-
          strafrechts? (historische Analyse, politisches Bewusstsein)
      □ Was bedeutet es für die Sicherheit in Europa heute, wenn aktuell wieder eine Welle nationa-
          ler Politikmodelle die internationale Diplomatie prägt? Stichwort: »America First«.
          (Gegenwartsgenese als Narrativ)
      □ Welche Bedeutung haben internationale und supranationale Ordnungsmodelle für die Stabi-
          lisierung der Lebenswelten? (Gegenwartsbezug, Identitätsbewusstsein)

      Am Beginn des Lernweges steht ein Zitat von Raphael Lemkin aus dem Jahr 1921, in dem
      er die Strafbarkeit des einzelnen Totschlagdelikts provokant der damaligen Straflosigkeit des
      Massenmordes gegenüberstellte:

           »Warum wird ein Mensch bestraft, wenn er EINEN anderen tötet,
           während die Tötung einer MILLION als ein geringeres Verbrechen gilt?«7
           (Raphael Lemkin, 1921)

      6    Gerhard Schneider, »Personalisierung/Personifizierung«, in: Michele Barricelli, Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis des
           Geschichtsunterrichts, 2. Aufl., Schwalbach/Taunus 2017 (zuerst 2012), S. 302–315.
      7	Raphael Lemkin, Totally Unofficial. The Autobiography of Raphael Lemkin, hrsg. von Donna-Lee Frieze, New Haven/Connecti-
         cut 2013, S. 19; Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Mensch-
         lichkeit. Eine persönliche Geschichte, Frankfurt am Main 2018, S. 213 f.

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Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                  Friedrich Huneke

      Diese kognitive Dissonanz provoziert Fragen nach historischen und heutigen Rechtsumstän-
      den. Erste Fragen und Spekulationen können in einem Mindmap gesammelt werden.
          Zur weiteren Klärung eignet sich die Mystery-Methode als eine Form forschend-entde-
      ckenden Lernens. Mit ihr soll die Entwicklung vom zeitgenössischen Begriff des ungesühnten
      »Massakers«, über die Wendung »crime without a name«8 (Churchill 1941), hin zum defi-
      nierten Delikt des Völkerrechts, für das Lemkin 1944 den Neologismus »Genocide« schuf,
      aufgedeckt werden. Für diesen Erarbeitungsprozess erhalten die Lernenden Informationen auf
      Karten, deren Zusammenhänge sie herausfinden und nach und nach in einer fachlich ange-
      messenen Erzählung zusammenführen sollen. Ähnlich wie Historiker und Historikerinnen aus
      Indizien, Quellen, chronologischen Zusammenhängen und perspektivischen Wahrnehmungen
      eine Geschichtsdarstellung konstruieren, können die Lernenden aus den Informationskarten
      die Geschichte der Völkermordkonvention und ihre Verwebung mit der Biografie von Raphael
      Lemkin herausarbeiten, darstellen und erzählen.
          Dazu werden die Lernenden in Kleingruppen eingeteilt. Der gemeinsame Einstieg (siehe
      oben) führt zu Fragen nach den Ursachen, Hintergründen und Folgen. Zu deren Beantwortung
      erhält jedes Team einen Kartensatz. Für die kurze Version (Variante 1) reicht für das Einlesen
      der Lernenden der Rest der ersten Doppelstunde von 90 Minuten aus. Sie lesen die Karten
      in ihrer Gruppe arbeitsteilig und werten sie im anschließenden Gespräch aus. Zur Ergebnis-
      sicherung dieser Unterrichtsvariante ist den Gruppen zu empfehlen, dass sie die Karten in eine
      sinnvolle Anordnung legen, nummerieren und die Zusammenhänge zwischen den Karten in
      eine Erzählung überführen. Als »roter Faden« dieser Erzählung sollen Stichwortnotizen an-
      gefertigt werden.
          Für die ausführlichere Version (Variante 2) können etwas größere Gruppen gebildet werden
      (4–6 Lernende), sodass jede und jeder Lernende arbeitsteilig nur wenige Texte zu lesen hat,
      deren Zusammenhang im Gruppengespräch geklärt werden muss.
          In der zweiten Doppelstunde sollen die Kleingruppen die Anfertigung ihrer Erzählungen
      abschließen, präsentieren und vergleichen. Zur Unterstützung können Lernplakate angefertigt
      werden, indem die Karten im Sinne eines Flussdiagramms aufgeklebt und mit Pfeilen und
      Kommentaren verbunden werden. Dies ist bei der Zeitplanung zu berücksichtigen. Die Prä-
      sentation der Erzählungen zu den Lebensgeschichten von Raphael Lemkin und in kürzerer
      Form von Hersch Lauterpacht kann als Gliederungshilfe in drei Zeiträume unterteilt werden:
      a) 1900–1933, b) 1934–1946, c) 1948–heute.
          Abschließend sollte ein Auswertungsgespräch stattfinden, zu dem die Schülerfragen vom
      Einstieg zur Beantwortung herangezogen werden.

      8	Winston Churchill, Prime Minister Winston Churchill‘s Broadcast to the World about the Meeting with President Roosevelt,
         1941, https://www.ibiblio.org/pha/timeline/410824awp.html (5.4.2021).

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Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                     Friedrich Huneke

         Stichwort: Mystery – eine Methode forschend-entdeckenden Lernens

         Der englische Begriff »mystery« bezeichnet ursprünglich eine rätselhafte, mehrdeutige
         Geschichte. Aus dem Kriminalroman ist das Konzept der Rekonstruktion eines Her-
         gangs inzwischen in die Szene der Unterhaltungs- und Lernspiele gelangt.
         Die Mystery-Methode eignet sich auch, um die Recherchearbeit der Historiker und
         Historikerinnen nachzuvollziehen, um Fragen an die Geschichte mithilfe von Nachfor-
         schungen, Quellen, Chroniken, Fachbegriffen und unter Beachtung fachlicher Regeln
         nachzugehen. Dazu gehört die Überprüfung von Fakten, die Orientierung über Stand-
         punkte, die Einordnung in den historischen Kontext und schließlich die wertende Pers-
         pektive, aus der die Geschichte erzählt werden soll.
         Der Lernweg führt von einer historischen Leitfrage zu ungeordneten Karten, die ver-
         schiedene Informationen anbieten. Jede Karte enthält – wie ein Puzzlestück, wie eine
         Quelle im Archiv oder eine Perspektive auf das Geschehen – einen Aspekt der zu er-
         zählenden Geschichte. Je nach Jahrgangsstufe können diese verteilten Informationen
         knapp und klar oder differenziert und mehrteilig sein.
         Je nach zeitlicher Ressource und Niveau der Lerngruppe können die Informationskar-
         ten komplexer gestaltet sein und Quellen- und Chronik-Karten, Lexikonkarten mit Be-
         griffserklärungen, Tipps und Hilfen zu den Aufgaben enthalten.
         Die Bruchstücke der verzweigten Überlieferung müssen genau wahrgenommen, auf
         logische Zusammenhänge überprüft und wie die Indizien eines Kriminalfalls zu einer
         stimmigen Erzählung zusammengefügt werden. Didaktisch steht also die narrative
         Kompetenz im Mittelpunkt, anhand der historischen Zeiterfahrung eine sinnvolle Dar-
         stellung zu entwickeln.

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      Geschichte und Wirkung
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Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                     Friedrich Huneke

      Sachinformation

      1. Einführung

      Die Völkermorde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts9, aus denen die Verbrechen des Natio-
      nalsozialismus singulär hervorstechen, schienen aufgrund einer unbegrenzten Souveränität der
      Nationalstaaten schwer völkerrechtlich zu benennen. Darauf weist auch Winston Churchills
      Wendung »crime without a name«, die er am 24. August 1941 in einer Radioansprache10 ge-
      brauchte, hin. Solche »Massaker«, wie sie damals genannt wurden, geschahen jedoch nicht
      ohne Widerspruch: Es gab zeitgenössische warnende Stimmen, welche die Ahndung derarti-
      ger Verbrechen im Rahmen eines neuen Rechtsbewusstseins forderten und damit ein Funda-
      ment unseres heutigen rechtsstaatlichen Selbstverständnisses begründeten. Eine historisch-
      politische Bildung, die junge Menschen zu mündigem Geschichts-11 und Bürgerbewusstsein12
      befähigen will, sollte die historischen Akteure und die Bedingungen dieses Wandels zum
      Thema machen.
          Während Kategorien wie »Täter« und »Opfer«, »Mitläufer« und »Widerstandleistende«
      dem Gegenstand der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Geschichtsunterricht einen
      Rahmen geben, finden diejenigen ethisch motivierten Menschen, die schon als Zeitgenossen
      Verfahren zur rechtlichen Ächtung von Massenverbrechen in Gang setzten, keinen Platz in
      diesem traditionellen Kanon festgefügter Rollenklischees, dessen Schematismus die Neugier
      von Lernenden schnell ermüden lässt.13 Verfolgte Minderheiten sollten nicht auf eine abstrakte
      Opferrolle reduziert werden. Vielmehr sollte die Vielfalt der Lebensgeschichten von Zeitge-
      nossen, die vor grundlegenden ethischen Entscheidungssituationen standen, thematisiert wer-
      den und die Lernenden zu Auseinandersetzung und Urteilsbildung herausfordern.
          In der Zeit des Nationalsozialismus stellte sich für die Mehrheitsbevölkerung die Frage
      nach Mitmachen oder Widerstehen; es gab Entscheidungsspielräume. Für die ausgeschlos-
      senen Minderheiten sahen die Entscheidungssituationen anders aus, und sie waren meist

      9	Dazu zählen die Vernichtungspolitik gegen die Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1904–1908, die
         Verfolgung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich 1915–1917, der Genozid des faschistischen Italiens an der
         cyrenäischen Bevölkerung 1930–1933 im Zuge des Zweiten Italienisch-Libyschen Krieges, der Völkermord an den Sinti und
         Roma und die Shoah.
      10 Churchill (Anm. 8).
      11 Pandel (Anm. 1), S. 123–160.
      12	Dirk Lange, »Bürgerbewusstsein. Sinnbilder und Sinnbildungen in der Politischen Bildung«, in: Gesellschaft. Wirtschaft. Poli-
          tik, (2008), H. 3, S. 431–439.
      13	Meik Zülsdorf-Kersting, »Historisches Lernen in der Gedenkstätte. Zur Stabilität vorgefertigter Geschichtsbilder«, in: Bert
          Pampel (Hrsg.), Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und
          zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011, S. 171–192.

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      Geschichte und Wirkung
      des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                 Friedrich Huneke

         eingeschränkter: Bleiben oder Gehen? Auf Besserung hoffen oder die Flucht ins Ungewisse
         wagen? Oder – wie in Lemkins und Lauterpachts Fall – Schweigen oder Chancen suchen,
         um ein neues, humanitäres Rechtsbewusstsein in Politik und öffentlichen Angelegenheiten
         zur Geltung zu bringen? Der Perspektive der Akteure und Machtmittel der Diktatur muss der
         Blickwinkel der Verfolgten, ihrer Zwangslagen, aber auch ihrer Entscheidungsspielräume und
         Gegenhandlungen gegenübergestellt werden. Diese sind geeignet, um moralisch-ethische Re-
         flexionen des Geschichtsbewusstseins zu diskutieren. Den Lernenden begegnen menschliche
         Grunderfahrungen wie Macht und Ohnmacht oder Freiheit und Unfreiheit, soziale Lebens-
         formen von der des überzeugten Nationalsozialisten, des Mitläufers, des Widerstandskämpfers
         und weitblickenden Helfers bis zum sich zur Wehr setzenden Verfolgten, und gesellschaftliche
         Entscheidungssituationen, die sich nach den Perspektiven der Mehrheit und der Minderheit
         unterscheiden.14 Solche problemeröffnenden Leitfragen sind geeignet, Jugendlichen die Aus-
         wirkungen von Exklusionsmechanismen bewusst zu machen. Diese historische Lehre ist auch
         für die Gestaltung der heutigen Zivilgesellschaft von großer Bedeutung.

         2. Einsatz für ein neues Rechtsbewusstsein: Biografien
         und Strukturen erforschen

                                                             Diesen Fragen soll vor allem am Beispiel der Bio-
                                                             grafie des polnisch-jüdischen Völkerrechtlers Raphael
                                                             Lemkin nachgegangen werden. Der englische Profes-
                                                             sor des Völkerrechts Hersch Lauterpacht, ebenfalls
                                                             polnisch-jüdischer Herkunft, wird in kürzerer Form
                                                             einbezogen. Dazu verbindet dieses Unterrichtsmodell
                                                             den biografischen Zugang über die Lebensgeschichten
                                                             Lemkins und Lauterpachts mit der Frage, wie man
                                                             Völkermord definieren und ahnden kann.
                                                                 Der Jurist, Rechtsanwalt und zeitweilige Warschau-
                                                             er Staatsanwalt Raphael Lemkin verfolgte seit 1933
                                                             das Projekt einer internationalen Anerkennung des
                                                             Völkermordes als eines Deliktes iuris gentium (Delikt
         Raphael Lemkin im Jahr 1951                         des Völkerrechts), zunächst von Polen aus und nach
                                                             seiner Flucht 1939 in den USA.

         14	Hans-Jürgen Pandel, »Zur didaktischen Strukturierung und Gegenwartsbezogenheit«, in: Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.), Ge-
             schichte konkret. Lehrerhandreichungen. Hinweise, Lösungen, Arbeitsblätter, Teil 1, Hannover 1998, S. 1.

– 10 –   Fritz Bauer Institut
         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                    Friedrich Huneke

             Während das Delikt des Völkermordes später bei den Nürnberger Prozessen nur eine sehr
         untergeordnete Rolle spielte, trug Hersch Lauterpacht, Professor für Völkerrecht in Cam-
         bridge, maßgeblich zur Formulierung des Anklagepunkts »Verbrechen gegen die Menschlich-
         keit« (im englischen Original richtiger »Crime against Humanity«) bei, der in Nürnberg erho-
         ben wurde. Lauterpacht saß im Nürnberger Gerichtssaal für einen historischen Moment dem
         Angeklagten Hans Frank gegenüber, der als Generalgouverneur für die besetzten polnischen
         Gebiete für die Vernichtungspolitik in dieser Region, und damit auch für den Mord an Lauter-
         pachts Familienmitgliedern, angeklagt wurde: wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.
         Um die Erarbeitungen und Materialien übersichtlich zu halten, wird der Themenkomplex um
         Lauterpacht hier nur recht kurz dargestellt. Als Gegenposition soll die Biografie des obersten
         NS-Juristen Hans Frank anhand von zwei Quellen skizziert werden.15

         3. Die Ausgangssituation

         Als einer der ersten Völkermorde des 20. Jahrhunderts gilt heute der deutsche Kolonialkrieg
         gegen die Völker der Herero und Nama 1904–1908.16 Jedoch blieb diese Vernichtungspolitik
         ohne rechtliche Folgen – für den Tatbestand gab es noch kein juristisches Delikt.
             Der zweite Fall erregte internationale Aufmerksamkeit. Der Verfolgung, Vertreibung und
         Ermordung der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich fielen von 1915 bis 1917
         etwa 800.000 bis 1.500.000 Menschen zum Opfer.17 Die Entente-Mächte Großbritannien,
         Frankreich und Russland kritisierten das Geschehen als »Verbrechen gegen die Menschheit«18
         und forderten eine Bestrafung der Täter. Tatsächlich ordnete Sultan Mehmed VI. im Vorfeld
         des Versailler Friedensvertrages 1919 die Anklage der verantwortlichen jungtürkischen Amts-
         träger an. Die Prozesse endeten mit 17 Todesurteilen, von denen drei vollstreckt wurden. Der
         an zentraler Stelle verantwortliche Innenminister Talaat Pascha und zwei weitere Minister
         konnten sich dem Todesurteil jedoch durch die Flucht in das vormals mit dem Osmanischen
         Reich verbündete Deutschland entziehen.

         15	Sands (Anm. 7); Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung, Ecklak 2014; Dieter Schenk, Hans Frank. Hitlers Kronjurist und
             Generalgouverneur, Frankfurt am Main 2006.
         16	»Brief an Generalstabschef Graf von Schlieffen, 5. Oktober 1904«, in: Michael Behnen (Hrsg.), Quellen zur deutschen Außen-
             politik im Zeitalter des Imperialismus 1890–1911, Darmstadt 1977, S. 292.
         17	Mihran Dabag, Kristin Platt (Hrsg.), Genozid und Moderne, Bd. 1: Strukturen kollektiver Gewalt im 20. Jahrhundert, Wiesba-
             den 1998, S. 152–205, hier: S. 200 f; Mihran Dabag, Kristin Platt (Hrsg.), Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids
             an den Armeniern erinnern sich, 2. Aufl., Paderborn 2016 (zuerst 2015).
         18	Annette Schaefgen, »Von der treuen millet zum Sündenbock oder Die Legende vom armenischen Dolchstoß. Der Völkermord
             an den Armeniern im Ersten Weltkrieg«, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völker-
             mords, Wien 2010, S. 35–59, hier: S. 53.

– 11 –   Fritz Bauer Institut
         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                Friedrich Huneke

             Am 15. März 1921 verübte der armenische Student Soghomon Tehlirian in Berlin ein At-
         tentat auf Talaat Pascha. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass der Attentäter sich vor
         Gericht verantworten musste, während der für den Massenmord maßgeblich verantwortliche
         Talaat Pascha unbehelligt in Berlin hatte leben können. Fast die gesamte Familie Tehlirians
         war der Verfolgung durch die Jungtürken zum Opfer gefallen. Er wurde nach nur zwei Ver-
         handlungstagen im Sommer 1922 als psychisch traumatisiert freigesprochen.

         4. Raphael Lemkin: transnationale Prägungen

         An dieser Stelle kommt Raphael Lemkin19 ins Spiel. Als Schulkind sah er sich in seiner Hei-
         matstadt Wolkowysk mit Ritualmordvorwürfen gegen die jüdische Gemeinschaft und einer
         stets schwelenden Pogromstimmung konfrontiert.20 Es entbrannten immer wieder Konflikte
         zwischen den verschiedenen dort lebenden ethnischen Gruppen – Polen, Juden, Weißrussen
         und Russen –, aber diese seien durch die Erfahrung der Nachbarschaft eingegrenzt worden,
         so beschreibt es Lemkin jedenfalls später in seiner Autobiografie.21 Auch eine Jugendlektüre
         habe ihn beeindruckt: Die Schilderung der Christenverfolgungen unter Nero im Jahre 64 n.
         Chr., die Lemkin dem historischen Roman des polnischen Nobelpreisträgers Henrik Sienkie-
         wicz Quo Vadis? (1895) entnahm.
             Im Ersten Weltkrieg verlief die Front mehrfach durch Lemkins Heimat, und seine Familie
         versteckte sich zeitweise im Wald vor dem Kriegsgeschehen.22
             Nach dem Abitur begann Lemkin 1919 in Krakau ein Jurastudium, das er 1926 in Lwów
         (ukrainisch Lwiw, deutsch Lemberg) mit der Promotion abschloss. Als junger Jurastudent
         hatte er den Prozess gegen den armenischen Attentäter auf Talaat Pascha gebannt verfolgt
         und Parallelen zwischen der Verfolgung verschiedener Minderheiten erkannt. Als Jurastudent
         konnte ihn die Selbstjustiz des Attentäters jedoch genauso wenig befriedigen wie der Hinweis
         eines seiner Professoren – vermutlich Juliusz Makarewicz23 – auf das Souveränitätsrecht der
         Staaten, das dem völkerrechtlichen Schutz von Minderheiten gegen eigene und fremde staat-
         liche Gewalt im Wege stehe.24 Er begann nach einer Lösung zu suchen.

         19	Lemkin (Anm. 7); Adam Redzik, »Raphael Lemkin (1900–1959). Father of the Genocide Convention«, in: Kasey McCall-
             Smith u.a. (Hrsg.), The Faces of Human Rights, Oxford 2020, S. 83–93; Adam Redzik, Rafał Lemkin (1900–1959). Co-Creator
             of International Criminal Law. Short Biography, Warschau 2017.
         20 Lemkin (Anm. 7), S. 18 f.
         21 Ebd., S. 3.
         22 Samantha Power, A Problem from Hell. America and the Age of Genocide, New York 2002, S. 20 f.
         23 Sands (Anm. 7), S. 212.
         24 Lemkin (Anm. 7), S. 20 f.

– 12 –   Fritz Bauer Institut
         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                     Friedrich Huneke

         5. Delicta juris gentium – die internationalen Juristenkongresse
         der Zwischenkriegszeit

         Lemkin engagierte sich neben seiner ersten Karriere als Staatsanwalt in Warschau auch inter-
         national: Er wurde Sekretär der polnischen Kommission für internationale juristische Zu-
         sammenarbeit und verkehrte mit juristischen Institutionen und Intellektuellen in Westeuropa.
         Damit hatte sich ihm ein Aktionsfeld eröffnet, in dem er den Schutz von Minderheiten vor-
         anbringen konnte. Er suchte auf den internationalen Konferenzen zur Vereinheitlichung des
         Strafrechts ein Forum für sein Projekt des Minderheitenschutzes.25 Die erste Konferenz 1927
         in Warschau stellte eine Liste der traditionellen delicta iuris gentium, also Delikte des Völker-
         rechts, zusammen.
             Für die fünfte Konferenz in Madrid im Oktober 1933 konzipierte Lemkin zwei neue Straf-
         tatbestände: Die Verbrechen der »Barbarei« und des »Vandalismus«.26 Den Begriff der »Bar-
         barei« definierte er als Zerstörung nationaler, ethnischer oder religiöser Kollektive, also die
         Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit. Unter »Vandalismus« fasste
         er die Zerstörung von Kulturgütern zusammen, welche den spezifischen Genius dieser Grup-
         pen repräsentierten.

         6. Die multilaterale Völkerbundordnung zerbricht

         Doch Lemkins Diskussionsimpuls fiel im Oktober 1933 bereits in eine Zeit neuer nationaler
         Spannungen. Im Deutschen Reich hatte die nationalsozialistische Revisionspolitik gegen die
         Versailler Friedensordnung und den Völkerbund eingesetzt, und in Polen gewannen nationa-
         listische Strömungen an Einfluss. Wenige Tage vor der Abreise zur Konferenz wurde Lemkin
         signalisiert, dass der Justizminister Polens, Czesław Michałowski (1930–36), seine Teilnahme
         an der polnischen Delegation ablehnte. In der Gazeta Warszawska, einer Warschauer Tages-
         zeitung des nationalistischen Lagers, waren antisemitische Artikel erschienen27, auch ganz
         konkret gegen Lemkins Projekt einer Ächtung von »Barbarei« und »Vandalismus«. Darin
         wurde behauptet, es diene nur den Interessen der Juden, und Lemkin nutze sein Amt als polni-

         25	Die folgenden Ausführungen nach: Claudia Kraft, Europa im Blick der polnischen Juristen. Rechtsordnung und juristische
             Profession in Polen im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa 1918–1939, Frankfurt am Main 2002, S. 311, Anm. 239.
         26	Raphael Lemkin, Les actes constituant un danger général (interétatique) considérés comme délits de droit des gens, Paris 1933;
             dt: Raphael Lemkin, »Akte der Barbarei und des Vandalismus als delicta juris gentium«, in: Internationales Anwaltsblatt, 19
             (1933), H. 6, S. 117–119.
         27	Albert S. Kotowski, Hitlers Bewegung im Urteil der polnischen Nationaldemokratie, Wiesbaden 2000, S. 74–84; ders., »›Polska
             dla Polaków‹. Über den Antisemitismus in Polen in der Zwischenkriegszeit«, in: Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.),
             Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918–1945,
             Paderborn 2007, S. 77–100.

– 13 –   Fritz Bauer Institut
         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                       Friedrich Huneke

         scher Staatsanwalt zugunsten jüdischer Interessen aus. Lemkin konnte seine Schrift28 in Mad-
         rid nur verteilen lassen, und sein Vorschlag blieb ohne Ergebnis. In Europa wich das Interesse
         an der »Integration in eine internationale Rechtsgemeinschaft«29 der nationalistischen Furcht
         vor staatlicher Souveränitätsabgabe. Lemkins Idee des Gruppenschutzes in einem System
         kollektiver Sicherheit fand in diesem politischen Klima keine Unterstützung mehr. Er verließ
         im Jahr 1934 den Dienst im staatlichen Justizwesen und baute in Warschau eine erfolgreiche
         Rechtsanwaltskanzlei auf.

         7. Flucht, Dokumentation des NS-Unrechts
         und der neue Begriff des »Genozids«

         Wie zerbrechlich die Abkehr von der multilateralen Völkerbundordnung durch eine erneute,
         unilaterale Diplomatie der konkurrierenden Nationalstaaten war, zeigte sich wenige Jahre spä-
         ter. Mit dem deutschen Überfall auf Polen wurde Lemkin zum Flüchtling. Sein Fluchtweg war
         abenteuerlich: von Wolkowysk über Litauen, Schweden, Russland und Japan in die USA, wo
         er dank seiner internationalen Kontakte eine Lehrtätigkeit an der Duke University (Durham,
         North Carolina, USA) aufnehmen konnte. Seine Familie hatte er von der drohenden Gefahr
         nicht überzeugen können, fast alle kamen später im Holocaust um.
             Während der eineinhalb Jahre seiner Flucht hatte Lemkin begonnen, juristisches Material
         über die nationalsozialistische Politik im besetzten Europa zu sammeln. In den USA suchte
         er den Kontakt zu amtlichen Stellen, um sein Projekt voranzubringen: Ab Juni 1942 wirkte
         er zunächst als Berater im Board of Economic Warfare und der Foreign Economic Adminis-
         tration in Washington, später dann beim US War Department als Experte für Internationales
         Recht.30
             Im November 1944 erschien seine 712 Seiten starke Dokumentation »Axis Rule in Oc-
         cupied Europe«. Darin kommentierte er akribisch gesammelte Verordnungen der deutschen
         Besatzungspolitik, um die Strukturen der Unrechtsherrschaft darzustellen. Sie sollte nach dem
         Krieg eine Basis für Entschädigungen liefern und Lemkins Projekt einer internationalen Ver-
         folgung von Verbrechen gegen Bevölkerungsgruppen unterstützen. Im neunten Kapitel führte
         Lemkin auf 20 Seiten den von ihm neu geprägten Begriff des »Genozids« ein:

         28 Lemkin (Anm. 26).
         29 Kraft (Anm. 25), S. 319.
         30 Lemkin (Anm. 7), S. 112.

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              »New conceptions require new terms. By ›genocide‹ we mean the destruction of a nation
              or of an ethnic group. This new word, coined by the author to denote an old practice in
              its modern development, is made from the ancient Greek word genos (race, tribe) and the
              Latin cide (killing), thus corresponding in its formation to such words as tyrannicide, ho-
              mocide, infanticide, etc.«31

         Alternativ zum Begriff »genocide« schlug Lemkin auch den Neologismus »ethnocide« vor.32
         Ziele dieses Verbrechens seien die Vernichtung der politischen und gesellschaftlichen Institu-
         tionen, der Kultur, Sprache, nationalen Gefühle, Religion und der wirtschaftlichen Existenz
         nationaler Gruppen, sowie die Zerstörung persönlicher Sicherheit, der Freiheit, Gesundheit,
         Würde und des Lebens der Individuen, die zu solchen Gruppen gehören.
              Lemkin unterschied zwei Phasen des Verbrechens: Erstens die Zerstörung der nationalen
         Eigenschaften und Lebensweisen der unterdrückten Gruppe; zweitens die mit Zwang betrie-
         bene Durchsetzung der nationalen Eigenheiten des Unterdrückers. Dieser Prozess könne die
         unterdrückte Gruppe oder nach ihrer Entfernung deren Territorium betreffen.

         8. Von der Definition zur Konvention »über die Verhütung
         und Bestrafung des Völkermords«

         Am Ende des Zweiten Weltkrieges standen Kriterien zur Bestrafung der Hauptkriegsverbre-
         cher zur Diskussion. Lemkin versuchte, das Delikt des Völkermordes einzubringen.
              Die Alliierten einigten sich im Londoner Statut vom 8. August 1945 auf vier Hauptankla-
         gepunkte für die Nürnberger Prozesse: Verschwörung, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und
         Verbrechen gegen die Menschlichkeit (engl.»crimes against humanity«). Im Verlauf des ersten
         Nürnberger Prozesses wurde der letzte Punkt, die Massengewalt gegen Gruppen der Zivil-
         bevölkerung, jedoch nur in Verbindung mit dem Kriegsgeschehen verfolgt, also ab dem 1.
         September 1939. Lemkins Begriff des »Genozids« wurde nur vereinzelt zitiert, vor allem von
         dem englischen Anklagevertreter David Maxwell Fyfe, der im Kreuzverhör des Diplomaten
         Konstantin von Neurath auf dessen Memorandum über die Behandlung der tschechischen Be-
         völkerung im August 1940 anspielte:

         31 Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress, 3. Aufl.,
         Clark/New Jersey 2005 (zuerst 1944), S. 79.
         32   Ebd., Anm. 1.

– 15 –   Fritz Bauer Institut
         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                   Friedrich Huneke

             »Sie wollten die Lehrer, die Schriftsteller und die Künstler der Tschechoslowakei, die Sie
             als Intelligenzschicht bezeichnen, loswerden, das heißt, die Leute, die die Geschichte und
             Tradition der Tschechoslowakei zu erhalten und an die kommenden Generationen zu über-
             liefern hatten.«

         Abschließend konstatierte Fyfe, dies sei »Genozid«.33 Der Angeklagte von Neurath schwieg.
         Aber diese Szene blieb eine Ausnahme im Prozessgeschehen. Lemkin hatte sein Konzept
         eines Straftatbestandes »Genozid«, als Schutz verfolgter Gruppen auch ohne Bezug auf krie-
         gerische Handlungen, in Nürnberg nicht durchsetzen können.
             Ein Straftatbestand »Genozid« galt als juristisch komplex und als wenig präzise nachweis-
         bar. Einige Staaten befürchteten auch Anklagen gegen sich selbst: Großbritannien aufgrund
         der Behandlung von Bevölkerungsgruppen seines Kolonialreichs, die USA wegen des Um-
         gangs mit der indigenen Bevölkerung Amerikas und der Afro-Amerikaner, die UdSSR wegen
         Zwangskollektivierungen und der Verschiebung der Nachkriegsgrenzen.
             Trotzdem gelang es Lemkin durch unnachgiebige Netzwerkarbeit, die neu gegründeten
         Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 zur Annahme der Genozid-Konvention zu be-
                                                                                        wegen.34 Der Charakter der Kon-
                                                                                        vention bedeutete grundsätzlich
                                                                                        eine völkerrechtliche Verbindlich-
                                                                                        keit, die schließlich, wenn auch
                                                                                        spät, durch die Einrichtung des
                                                                                        Internationalen Strafgerichtshofes
                                                                                        1998/2002 institutionalisiert wurde.
                                                                                        Allerdings wurde das Delikt des
                                                                                        »Vandalismus«, also die Gewalt
                                                                                        gegen Kulturgüter einer ethnischen
                                                                                        oder anders konstituierten Gruppe,
                                                                                        nicht in die Konvention aufgenom-
         Am 16.10.1950 war es soweit: Nachdem genügend Länder die Konven-               men.
         tion ratifiziert (= als verbindlich anerkannt) hatten, wurde sie durch ein
                                                                                             Lemkin, der aus einer polnisch-
         Protokoll im Büro des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Trygve
         Lie in Kraft gesetzt. – Stehend rechts: Raphael Lemkin                         jüdischen Familie stammte, hatte

         33 Sands (Anm. 7), S. 440 f.
         34	United Nations, »Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (CPPCG) (1948)«, in: United
             Nations Treaty Series, (1951) Nr. 78, S. 277–322, https://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume%2078/volume-78-I-
             1021-English.pdf (5.4.2021); dt. in: Bundestag, »Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu der Konvention
             vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes«, in: Bundesgesetzblatt, Teil II, Nr. 15 vom
             12.8.1954, S. 729–739, https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl254s0729.
             pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl254s0729.pdf%27%5D__1614936791442 (5.4.2021).

– 16 –   Fritz Bauer Institut
         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                        Friedrich Huneke

         damit auch ein persönliches Lebensziel erreicht. Von den 49 Mitgliedern seiner Familie waren
         sein Bruder und dessen Familie die einzigen Überlebenden. Diese traumatische Erfahrung hat
         ihn bis an sein Lebensende verfolgt; die Arbeit an der Genozid-Konvention widmete er seiner
         Familie, besonders seiner Mutter, aber auch seinen Freunden.35

         9. »Crimes against Humanity«:
         Hersch Lauterpacht kodifiziert Völkerrecht

                                                                                   Im Nürnberger Hauptkriegsverbre-
                                                                                   cherprozess war Lemkins Konzept
                                                                                   des gruppenbezogenen Straftatbe-
                                                                                   standes im Gegensatz zu dem indi-
                                                                                   vidualrechtlichen Delikt des »Crime
                                                                                   against Humanity« nicht zum Tragen
                                                                                   gekommen. Dessen Ausgestaltung
                                                                                   ging ebenfalls auf einen Juristen
                                                                                   polnisch-jüdischer Herkunft zurück:
                                                                                   Hersch Lauterpacht.36 Lauterpacht
                                                                                   stammte aus Żółkiew nahe Lwów.37
                                                                                   Er brach sein Jurastudium im damals
                                                                                   polnischen Lwów ab, als dort ein
                                                                                   numerus clausus für Juden eingeführt
                                                                                   wurde, und setzte es in Wien bei dem
         Hersch Lauterpacht mit dem traditionellen Kleidungsstück des eng-         Völkerrechtler Hans Kelsen fort.
         lischen Kronanwalts: einer langen Perücke. Hier in Begleitung seiner
                                                                                   Dort promovierte er 1921 zu dem
         Frau Rachel und seiner Nichte Inka vor dem Westminster Palace in
         London 1949. Sie war eines der wenigen Familienmitglieder Lauter-         Thema »Das völkerrechtliche Mandat
         pachts, welches die Shoah überlebt hatte.
                                                                                   in der Satzung des Völkerbundes«.
         Anschließend studierte Lauterpacht an der Universität Cambridge bei dem britischen Völker-
         rechtler Arnold McNair, dem er 1938 auf den Lehrstuhl für Internationales Recht folgte.
             Im August 1941 wurden sein Geburtsort Żółkiew und Lemberg in das Generalgouverne-
         ment unter Hans Frank eingegliedert, und Lauterpacht fürchtete um das Schicksal seiner jüdi-
         schen Familie. »Ich äußere meine Gefühle nicht gern, aber das lässt mich nicht los, es ist wie

         35 Lemkin (Anm. 7), S. 105, 132.
         36 Sands (Anm. 7); Elihu Lauterpacht, The Life of Hersch Lauterpacht, Cambridge 2010.
         37 Polnisch Lwów, deutsch Lemberg, ukrainisch Lwiw.

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         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                               Friedrich Huneke

         ein Albtraum«38, schrieb er an seine Frau Rachel. Lauterpacht war vorsichtig, er hatte vorsorg-
         lich in den USA Lehraufträge angenommen. Gleichzeitig engagierte er sich zunehmend poli-
         tisch und suchte Kontakt zu hochrangigen Juristen. So konsultierte ihn der US-Justizminister
         Robert H. Jackson für eine Rede zur Verfolgung von Kriegsverbrechen am 24. Januar 1942
         mit dem anklagenden Titel: »Die Herausforderung der internationalen Gesetzlosigkeit.«39 Vier
         Tage zuvor hatte der nationalsozialistische Staat in Berlin auf der geheimen, später so genann-
         ten Wannseekonferenz die europaweite Organisation und Koordination des bereits seit Som-
         mer/Herbst 1941 betriebenen Massenmords an der jüdischen Bevölkerung beschlossen. Zur
         selben Zeit gründeten neun alliierte Regierungen die Inter-Alliierte Kommission zur Bestra-
         fung von Kriegsverbrechen (Inter-Allied Commission for the Punishment of War Crimes), aus
         der 1943 die UN War Crimes Commission hervorging. Lauterpacht kehrte nach Cambridge
         zurück und publizierte 1944 einen Aufsatz über »The Law of Nations and the Punishment of
         War Crimes«.40 Im selben Jahr wurde er Mitglied der British War Crimes Executive.
             Bei Kriegsende stützte sich die Definition von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« im
         Statut des Internationalen Militärgerichtshofes vom 8. August 1945 auf Lauterpachts Bera-
         tung.41
             Zur Eröffnung des ersten Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses reiste Lauterpacht
         nach Nürnberg und schrieb die Entwürfe für die Eröffnungs- und Abschlussreden des briti-
         schen Hauptanklägers Sir Hartley Shawcross.
             Für Lauterpacht ging es um die individuelle Verantwortung, die juristisch klar zu definie-
         ren sei. Eine Textpassage, die er 1944 verfasst hatte, wurde fast wortwörtlich in das Nürnber-
         ger Urteil übernommen:

             »The rules of warfare, like any other rules of international law, are binding not only upon
             impersonal entities, but upon human beings. The rules of law are binding not upon an
             abstract notion of Germany, but upon members of the German government, upon German
             individuals exercising governmental functions in occupied territory, upon German officers,
             upon German soldiers.«42

         38 Lauterpacht (Anm. 36), Brief vom 13.7.1941, S. 175.
         39 Sands (Anm. 7), S. 246.
         40 Lauterpacht (Anm. 36), S. 198.
         41	Ana Filipa Vrdoljak, »Human Rights and Genocide. The Work of Lauterpacht and Lemkin in Modern International Law«, in:
             The European Journal of International Law, 20 (2009), H. 4, S. 1163–1194, hier: S. 1189.
         42 Zit. nach ebd., S. 1188.

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Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                            Friedrich Huneke

             Der britische Hauptankläger Shawcross wies mit diesem von Lauterpacht formulierten
         Rechtsgrundsatz das Argument der Angeklagten zurück, dass »nur der Staat und nicht das
         Individuum« ein Verbrechen gemäß Völkerrecht begehen könne. Solch ein Prinzip des Völ-
         kerrechts, so Shawcross, existiere nicht; der Einzelne sei von der Verantwortung nicht freige-
         sprochen.

         Beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess saßen sich am 20.11.1945 Hersch Lauterpacht am Tisch der britischen Anklage-
         vertreter (zweiter Tisch von links, an der hinteren Schmalseite) und Hans Frank unter den Angeklagten (mittlere Reihe am
         unteren Bildrand, mit Kopfhörer) gegenüber. Hans Franks Befehle zur Vernichtungspolitik hatten auch Lauterpachts Fami-
         lie betroffen.

         10. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
         der Vereinten Nationen

         Als eine Gruppe engagierter Intellektueller um Eleanor Roosevelt (1884–1962), der Witwe
         des 1945 verstorbenen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, das Projekt einer
         internationalen Menschenrechtserklärung in Angriff nahm, schien die Situation für ihr Vorha-
         ben aufgrund der Kriegserfahrung günstig, ähnlich wie es die Delikte »Genozid« und »Crime
         against Humanity« zeigten. Die historischen Akteure dieser drei Projekte sahen sich allerdings
         in einer Konkurrenzsituation und befürchteten eine Behinderung durch die parallelen Be-

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Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                            Friedrich Huneke

         mühungen. Das eigentliche Problem stellte jedoch der beginnende Kalte Krieg dar, der die
         geplante Weiterentwicklung der Menschenrechtserklärung von der völkerrechtlich unverbind-
         lichen Erklärung zu einer verbindlichen, strafbewehrten Konvention verhinderte. Trotzdem
         weisen regionale Projekte wie die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates
         auf das dynamische Potenzial der Erklärung hin. In der öffentlichen Diskussion bleibt der
         unvollendete Charakter der Erklärung meist unerwähnt und entfaltet kaum sein appellatives
         Potenzial.

         Eleanor Roosevelt, die sich maßgeblich für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einsetzte, mit einem Abdruck der
         Erklärung.

         11. Resümee der Sachanalyse

         Im frühen 20. Jahrhundert waren völkerrechtliche Regelungen zur Einhegung staatlicher Ge-
         walt gegen die Zivilbevölkerung und gegen verschieden definierte Gruppen – ethnisch, religi-
         ös, national – noch recht begrenzt. Es handelte sich nur um ein ius in bello, also Rechtsgrund-
         sätze, die nach der Martens’schen Klausel (1874), der Haager Landkriegsordnung (1907) und
         den Genfer Konventionen (1864, 1906 ff.) die Gewalt gegen Militärpersonen und fremde

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         des Holocaust
Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                                                Friedrich Huneke

         Zivilbevölkerungen ausschließlich in Kriegssituationen deutlich einschränkten. Allerdings
         fehlten schiedsgerichtliche Regelungen. Auch wurde weder Gewalt gegen Teile der eigenen
         Zivilbevölkerung erfasst noch staatliche Gewalt in Friedenszeiten inkriminiert. Immerhin gin-
         gen diese Regelungen in ein Verständnis als Völkergewohnheitsrecht über; auf dieses ältere
         Recht konnte in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zurückgegriffen werden.
             Die staatliche Gewalt im Osmanischen Reich gegen den armenischen Bevölkerungsan-
         teil 1915–1917 wurde zwar von den gegnerischen Alliierten Großbritannien, Frankreich und
         Russland mit der Formel »Verbrechen gegen die Menschheit«43 scharf gerügt, auch wurden
         1919 auf deren Druck hin unter der Regierung Sultan Mehmeds VI. 17 türkische Würdenträ-
         ger verurteilt. Die Prozesse hinterließen aber keine Folgen in Völkerrecht und Erinnerungs-
         kultur.
             Immerhin führte das multilaterale Ordnungssystem des Völkerbundes zu Bestrebungen,
         nationale Minderheiten zu schützen. In diesem Sinne weitergehende Vorstöße des polnischen
         Juristen Raphael Lemkin, »Barbarei« gegen Menschengruppen und »Vandalismus« gegen
         Kulturgüter zu Delikten des Völkerrechts zu erklären, fielen jedoch in den 1930er Jahren be-
         reits in eine Zeit der Renationalisierung des Politik- und Rechtsverständnisses und blieben
         zunächst erfolglos.
             Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden »Verbrechen gegen die Mensch-
         lichkeit« in der Kopplung an Kriegszustände und auf der Ebene einer UN-Konvention gegen
         Genozid zu Straftatbeständen des Völkerrechts erklärt. Die Menschenrechtserklärung der
         Vereinten Nationen kam zwar am 10. Dezember 1948 zustande, aber in den Jahren des Kalten
         Krieges blieb ihr die Anerkennung als verbindliche Rechtsnorm, als Konvention, versagt.
             Erst nach dem Ende der Systemkonkurrenz und weitere Jahre später durch das multilatera-
         le Römische Statut vom 17. Juli 1998 gelang die Strafbewehrung mithilfe des Internationalen
         Strafgerichtshofs in Den Haag. Zu seiner Zuständigkeit gehören Völkermord, Verbrechen
         gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Der Gerichtshof nahm seine Tätigkeit am
         1. Juli 2002 auf und ist aktuell für 124 Vertragsstaaten zuständig. Während die europäischen
         Staaten ausnahmslos dazu zählen, gehören ihm andere Staaten nicht vollgültig an: China, In-
         dien, die USA, Russland, Türkei und Israel stehen gegenwärtig (2020) nicht zum Römischen
         Statut.

         43	Sheila Paylan, Agnieszka Klonowiecka-Milart, »Examining the Origins of Crimes against Humanity and Genocide«, in: Morten
             Bergsmo u.a. (Hrsg.), Historical Origins of International Criminal Law, Bd. 3, Brüssel 2015, S. 557–586, hier: S. 559.

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Unterrichtsmodul: »Verbrechen ohne Namen«                                    Friedrich Huneke

         Literatur

         Quellen
         Bundestag, »Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu der Konvention
            vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes«, in:
            Bundesgesetzblatt, Teil II, Nr. 15 vom 12.8.1954, S. 729–739,
            https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jump-
            To=bgbl254s0729.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl254s0729.
            pdf%27%5D__1614936791442 (5.4.2021).
         Winston Churchill, Prime Minister Winston Churchill‘s Broadcast to the World about the
            Meeting with President Roosevelt, 1941,
            https://www.ibiblio.org/pha/timeline/410824awp.html (5.4.2021).
         Elihu Lauterpacht, The Life of Hersch Lauterpacht, Cambridge 2010.
         Raphael Lemkin, »Akte der Barbarei und des Vandalismus als delicta juris gentium«, in:
            Internationales Anwaltsblatt 19 (1933), H. 6, S. 117–119.
         Raphael Lemkin, Les actes constituant un danger général (interétatique) considérés comme
            délits de droit des gens, Paris 1933.
         Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation, Analysis of Govern-
            ment, Proposals for Redress, Washington 1944.
         Raphael Lemkin, Totally Unofficial. The Autobiography of Raphael Lemkin, hrsg. von Donna-
            Lee Frieze, New Haven/Connecticut 2013.
         United Nations, »Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide
            (CPPCG) (1948)«, in: United Nations Treaty Series, (1951) Nr. 78, S. 277–322.

         Sekundärliteratur
         Wolfgang Benz (Hrsg.), Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermords,
            Wien 2010.
         Mihran Dabag, Kristin Platt (Hrsg.), Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an
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         Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hrsg.), Zwischen großen Erwartungen und bösem Er-
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         Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung, Ecklak 2014.

– 22 –   Fritz Bauer Institut
         Geschichte und Wirkung
         des Holocaust
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