Verdrängungswettbewerb im deutschen Einzelhandel : auf dem Rücken der Beschäftigten - WSI
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Aus der Praxis DOI: 10.5771 / 0342 - 300X - 2018 - 2 - 150 Verdrängungswettbewerb im deutschen Einzelhandel : auf dem Rücken der Beschäftigten JÜRGEN GLAUBITZ Mit über 3 Mio. Beschäftigten zählt der Einzelhandel zu (2) Auch die Leiharbeit erlebte durch „Hartz“ einen enor- den größten Wirtschaftsbereichen. Die Handelslandschaft men Aufschwung. Nachdem später die Regeln etwas ist tief zerklüftet, zwischen greller Glitzerwelt und Reste- strenger gefasst und ein Mindestlohn eingeführt wurde, rampe : Flagship-Stores in Einkaufsmeilen, Shoppingpara- suchten viele Firmen nach neuen Methoden, um Perso- diese und Konsumpaläste auf der einen Seite – auf der nalkosten zu drücken. Sie suchten nach Schlupflöchern, anderen Seite viel Tristesse, Billiganbieter, 1-€-Shops und um die schon billigen Leiharbeiter durch noch billigere Leerstände in den Nebenzentren und abseits der Haupt- Kräfte zu ersetzen. So begann der Boom der Werkverträge. einkaufsstraßen. Große Konzerne dominieren den Markt. Es findet ein erbitterter Verdrängungswettbewerb statt. (3) Die Ladenöffnungszeiten wurden über die Jahre peu à Zehntausende kleinerer Anbieter sind bereits ausgeschie- peu ausgedehnt. 2006 wurde im Rahmen der Föderalis- den. Die Unternehmen locken mit niedrigen Preisen, ho- musreform der Ladenschluss schließlich zur Ländersache. hen Rabatten und lustiger Werbung : gute Nachrichten für Seither ist überwiegend – bis auf Bayern, Rheinland-Pfalz, die Verbraucher. Weniger gut sieht es für die Beschäftigten Saarland und Sachsen – an sechs Tagen die Rund-um-die- dieses bedeutenden Wirtschaftsbereiches aus. Der Wett- Uhr-Öffnung möglich. Die verlängerten Öffnungszeiten bewerb findet zunehmend auf ihrem Rücken statt : Zwei (Spätöffnung) haben zur Ausweitung prekärer Beschäfti- Drittel von ihnen arbeiten in Teilzeit oder als Minijobber, gung geführt. (gewerbliche Vervielfältigung, Aufnahme in elektronische Datenbanken, Veröffentlichung nur noch 34 % sind in tarifgebundenen Unternehmen be- Diese Datei und ihr Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Verwertung schäftigt. Das führt zu drastischen Lohneinbußen. Und (4) Über Jahrzehnte galt zwischen den Tarifparteien ein nach einem aufreibenden Arbeitsleben droht den meisten Konsens, wonach die Personalkosten nicht Gegenstand dann die Altersarmut. des ruinösen Wettbewerbs sein sollten. Die Allgemein- verbindlichkeit der Tarifverträge (AVE ) sei geboten, so argumentierten etwa die NRW -Arbeitgeber, „um die so- ziale Komponente der Marktwirtschaft im Einzelhandel zu erhalten“. 1 Doch dann wurde im Jahre 2000 die AVE von ihnen aufgekündigt und per Satzungsänderung die 1 Gesetzliche und tarifpolitische Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT -Mit- Rahmenbedingungen gliedschaft) ermöglicht. Dies führte in der Folge zu einer weitreichenden Erosion der Tarifvertragsstrukturen und Der Wettbewerb im Handel wird maßgeblich auch durch zu einem dramatischen Rückgang der Tarifbindung. online oder offline) sind nicht gestattet. rechtliche Rahmenbedingungen und verbandspolitische Entscheidungen beeinflusst. Auf einige wesentliche Punk- te sei hier kurz hingewiesen : © WSI Mitteilungen 2018 (1) Die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die „Hartz-Gesetze“ hat sich in gravierender Weise negativ auf die Personalpolitik der Unternehmen ausgewirkt. In- 1 Einzelhandelsverband NRW in einem Schreiben vom folge der Neuregelung bei der geringfügigen Beschäftigung 17. 09. 1999 (Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung) an kam es zu einem regelrechten Minijob-Boom. Die meisten das Ministerium für Arbeit , Soziales, Stadtentwicklung, Minijobber arbeiten heute im Handel. Kultur und Sport des Landes NRW . 150
WSI MITTEILUNGEN, 71. JG., 2/2018 – Die Vertriebs- und Kommunikationskanäle werden immer mehr vernetzt. Die Beziehungen zwischen Er- 2 Wettbewerbs- zeugern, Lieferanten, Dienstleistern, Händlern und und Konzernstrukturen Kunden verändern sich grundlegend. im deutschen Einzelhandel – Je stärker die Online-Umsätze boomen, desto weniger bleibt für den innerstädtischen Handel übrig. Verlierer Das wirtschaftliche Umfeld für den Einzelhandel ist der- sind vor allem Klein- und Mittelstädte, vielen droht zeit recht günstig, der relativ stabile Arbeitsmarkt und eine Verödung. steigende Realeinkommen sorgen für gute Umsätze. Die – Die Markttransparenz erhöht sich enorm, Preis- und demografische Entwicklung führt tendenziell zu immer Produktvergleiche werden einfacher. Das Internet ver- mehr „Alten“ (älter als 67 Jahre) und immer weniger stärkt den Wettbewerbsdruck zusätzlich. „Jungen“ (jünger als 25 Jahre). Gleichzeitig steigt die Zahl – Die verschiedenen Verkaufskanäle werden immer der Single-Haushalte. Dies hat große Bedeutung für die mehr verzahnt und verbunden (Mehr-Kanal-Han- weitere Entwicklung der Branche (Ladengestaltung, al- del). Online-Händler eröffnen Showrooms, stationäre tersspezifische Konsumgewohnheiten, Nahversorgung, Händler betreiben Online-Shops. Die Trennung zwi- seniorenfreundlicher Service u. a. m.). Der Wettbewerb im schen Offline- und Online-Handel wird sukzessive Einzelhandel wird vorrangig über Preiskämpfe, Öffnungs- aufgehoben. zeiten und Fläche geführt. Die Digitalisierung intensiviert den Konkurrenzkampf und induziert einen tief greifenden Maßgeblicher Treiber ist der Internet-Riese Amazon. Kein Strukturwandel. Strukturbestimmend ist zugleich, dass anderer experimentiert so viel mit zukunftsweisenden Konzerne dominieren : Es gibt tendenziell immer weniger Konzepten, kein anderer Akteur zeichnet sich durch eine Unternehmen – mit immer mehr Umsatz. Im Fokus steht solche Innovationsgeschwindigkeit aus. Der ehemalige dabei vor allem der Lebensmitteleinzelhandel. Gemessen Buchhändler hat sich zum Alles-Verkäufer entwickelt. am bundesweiten Absatz teilen sich die vier Großen (Ede- Immer mehr Konsumenten informieren sich heute vor ka, Rewe, Schwarz-Gruppe und Aldi) über 85 % des Mark- Internetkäufen beim Branchenriesen. „Er ist Preisanker, tes. Zum Vergleich : 1999 waren es immerhin noch acht Produktfinder und Bewertungsplattform.“ 3 große Handelsketten, die es laut Bundeskartellamt zusam- Es ist immer das Gleiche, Amazon prescht vor und die men auf 70 % brachten. In mehreren Teilbranchen gibt es Branche zittert. Einige der Innovationen aus seinem „Sor- enge Oligopole : Die Umsatzanteile der jeweiligen TOP -3- timent“ sind Marktplatz, Bezahldienste, 1-Klick, Prime, Player betragen bei Drogerien 97 %, bei den Supermärkten Dash, Prime Now, Pantry, Filmdatenbank, Online-Video- 90 %, bei der Großfläche 67 % und bei den Lebensmittel- thek, Amazon Business (Shop für Geschäftskunden) und discountern 66 %. Signifikant geringer ist der Konzentra- Amazon Fresh (frische Lebensmittel). Für einen Pauken- tionsgrad (noch) bei Bekleidung und bei Möbeln. 2 schlag sorgte die Nachricht, dass der Online-Händler den Konzentration ist zum einen das Ergebnis organischen weltgrößten stationären Bio-Händler Whole-Foods kauft. Wachstums oder der Verdrängung von Konkurrenz ; zum Amazon dringt in immer mehr Handels- und Lebensbe- anderen forciert sie weitere Konzentration. Größe fördert reiche vor. So auch in die privaten : Der „Smart Agent“ weitere Größe. (Umsatz-)Größe bedeutet hohe Beschaf- Alexa ist ein zentrales Instrument, um herauszubekom- fungsmengen und damit Nachfragemacht gegenüber Lie- men, was die Kunden „wünschen“. Die Nutzer füttern das feranten und Produzenten. Günstige Einkaufspreise und System mit Informationen aus ihrer Privatsphäre ; und Konditionen sind garantiert. Diese Vorteile ermöglichen Amazon lernt alles über die Nutzer. Es ist keineswegs un- es den Konzernen, im Verkauf aggressive Preis- und Ra- zutreffend, wenn die taz schreibt : „Die Abhörwanze von battaktionen anzubieten. IM Alexa“. 4 Die Daten werden verwendet, um Kaufent- Die Digitalisierung ist ein weiteres dominantes Thema scheidungen durchzuspielen, Verhaltensmuster zu perfek- in der Branche. Der online getätigte Umsatz hat in zehn tionieren und Werbung zu optimieren. Jahren seinen Marktanteil von 4 auf 10 % erhöht, bis 2020 Und schneller als Pilze schießen derzeit neue On- dürfte dieser auf 15 bis 20 % weiter ansteigen. Je nach Teil- line-Marktplätze aus dem Boden. Erfolgreiche Internet- branche und Sortiment gibt es große Unterschiede. Wäh- rend bei den Online-Sortimenten der „ersten Stunde“ (Bücher, Medien, Technik) eine gewisse Sättigung festzu- stellen ist, weitet sich das per Internet angebotene Waren- 2 Vgl. Wabe-Institut (2017) : Konzentrationsprozesse und Ver- drängungswettbewerb im deutschen Handel, Chartstudie, sortiment mit großer Dynamik weiter aus. Derzeit liegt Berlin. Bekleidung mit deutlichem Abstand vorn, es folgen Elek tro / Telekommunikation, Bücher / E-Books und Schuhe. 3 IFH (Institut für Handelsforschung) (2017) : Amazonisierung des Handels schreitet voran, Pressemitteilung des IFH Köln Die Digitalisierung verändert den Handel mit einer vom 22. 06. 2017. ungeheuren Wucht – es kommt zu tief greifenden Neu- strukturierungen : 4 Taz (Die Tageszeitung) vom 05. 11. 2016. 151
Aus der Praxis plattformen (wie Amazon oder Ebay) können wegen der Ansammlung von Kundendaten zu entscheidenden Wett- 3 Zur Situation der Beschäftigten bewerbsvorteilen gelangen. Dies könnte zu einer weiteren Konzentration von Marktmacht und letztlich zu Mono- im deutschen Einzelhandel polstrukturen führen. Für die Wettbewerbsstruktur des Einzelhandels ent- Deregulierung, Tarifflucht und der intensive Preis- und scheidend ist auch der nicht nur andauernde, sondern Verdrängungswettbewerb haben tiefe Spuren hinterlas- sich zuspitzende Preiswettbewerb. Immer wieder einmal sen : Hunderttausende Vollzeitstellen wurden im Laufe ist die Rede davon, die „Geiz-ist-geil-Mentalität“ sei vo- der Jahre abgebaut, prekäre und atypische Beschäftigung rüber, der Verbraucher achte mehr auf Qualität. Fakt ist dominiert, untertarifliche Entlohnung wird zur Regel. aber : Der Preis bleibt die „schärfste Waffe“ im Wettbe- Die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen haben sich werb. Händler setzen mit Tiefpreisen und / oder Rabatten deutlich verschlechtert. 6 die Konkurrenz unter Druck. Dabei sind große, finanz- Von den insgesamt 3,1 Mio. Arbeitnehmerinnen und kräftige Konzerne strukturell im Vorteil (s. o.). In weiten Arbeitnehmern waren zuletzt 37 % in Vollzeit, 36 % in so- Bereichen des Handels herrscht ein sehr intensiver Preis- zialversicherungspflichtiger Teilzeit sowie 21 % ausschließ- wettbewerb. Online-Händler und Discounter sorgen für lich und 6 % im Nebenjob geringfügig beschäftigt. 7 Mit immer neue Preisrunden. Über Dynamic Pricing können anderen Worten : Rund 2 Mio. Beschäftigte, überwiegend Preise permanent auf der Basis des aktuellen Marktbedarfs Frauen, befinden sich in einem prekären oder atypischen angepasst werden. Amazon hat allein im September 2016 Arbeitsverhältnis. 3,6 Millionen Mal seine Preise geändert. Der Textilhandel Das war nicht immer so : Im Jahre 2000 hatte noch wird von Billigware überschwemmt („Alles muss raus“), die Hälfte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Möbeleinzelhandel gibt es explosive Preiskämpfe („Ra- einen Vollzeitjob. In der Folgezeit stieg die Zahl der Mini- battschlachten“). Discounter und Billiganbieter boomen. jobs sprunghaft an – zwischenzeitig auf ein Rekordhoch Das Bewusstsein für reelle Preise geht verloren. „Je mehr von knapp einer Million. Die „Hartz-Gesetze“ und die Discount- oder Off-Price-Formate auf dem deutschen Liberalisierung der Öffnungszeiten (Spätöffnung) wirkten Markt agieren, umso mehr wird sich das Preisgefüge nach wie Katalysatoren für prekäre Beschäftigung. Es wurden unten verschieben.“ 5 Schleusen geöffnet für einen Minijob-Boom, für Dum- Strukturbildend ist ferner die Verkaufsflächenexpan- pinglöhne und den missbräuchlichen Einsatz von Leih- sion : Die Handelsunternehmen haben in den letzten Jahr- arbeit und Werkverträgen. Nach Einführung des Mindest- zehnten riesige Verkaufsflächen aufgebaut : Von 77 Mio. lohnes 2015 entwickelte sich die Zahl der geringfügig Be- qm vor 25 Jahren auf derzeit 124 Mio. qm. Da der reale schäftigten leicht zurück, Ende 2016 ist sie in der gesamten Einzelhandelsumsatz dieser Entwicklung oft nicht folgen Wirtschaft indes wieder angestiegen. konnte, öffnete sich die Schere zwischen Fläche und Um- Der Frauenanteil im Einzelhandel beträgt rund 70 %. satz. In einigen Teilbranchen wird Flächenexpansion ge- Besonders hoch ist er unter den Teilzeitbeschäftigten mit zielt als ein Instrument zur Verdrängung der Konkurrenz ca. 90 %, bei den Vollbeschäftigten liegt die Quote bei gut eingesetzt. Dies ist auch deshalb eine brisante Strategie, 50 %. weil gleichzeitig die Online-Umsätze überproportional Die tarifliche Situation im Einzelhandel wirkt unmit- steigen. telbar auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Zuwächse resultieren vor allem aus der Großflächen- Beschäftigten ein : Die Tarifeinkommen konnten in den expansion im Bereich Möbel und Baumärkte, Neueröff- letzten zehn Jahren nicht in dem Maße erhöht werden nungen im Drogeriebereich und der Ansiedlung auslän- wie etwa im produzierenden Gewerbe. Es gibt weiterhin discher Einzelhändler. Zudem entstehen weitere große einen erheblichen Nachholbedarf, was dann auch ein für Flächen durch neue Shoppingcenter. Das „Flächenwett- die Rentenberechnung wichtiger Faktor ist. Das durch- rüsten“ sorgt für erhebliche strukturelle Probleme. Die schnittliche Jahreseinkommen der abhängig Beschäftigten Verkaufsfläche ist sehr ungleich im Raum verteilt – rie- insgesamt beträgt in Deutschland laut Deutscher Renten- sigen Überkapazitäten, z. B. in Ballungsgebieten, stehen Leerstände und verödete Passagen in vielen Klein- und Mittelstädten gegenüber. Durch eine Ausdehnung der Öffnungszeit wird kein 5 Meinungsbeitrag „Bundesrepublik Discount“, in : Der Han- zusätzlicher Umsatz generiert, sondern vorhandener Um- del 7–8 / 2017, S. 8. satz zeitlich oder räumlich umverteilt. Einige Unterneh- 6 Siehe dazu im Einzelnen : Deutscher Bundestag, Antwort men – insbesondere des Lebensmittelhandels – setzen dies der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion gezielt als Mittel im Verdrängungskampf ein. Die verlän- Die Linke, Arbeitsbedingungen im Einzelhandel, Druck- sache 18 / 7325. gerten Öffnungszeiten wirken ähnlich wie zusätzliche Ver- kaufsflächen : Der Umsatz verteilt sich auf mehr Quadrat- 7 Vgl. ver.di FB Handel (Hrsg.) (2017) : Einzelhandel 2017, meter und auf mehr Stunden. Branchendaten, Berlin. 152
WSI MITTEILUNGEN, 71. JG., 2/2018 versicherung aktuell 36 267 €. Für den Einzelhandel liegt durchschnittlich noch mindestens 10 % als zu versteuern- die tarifliche Vergütung im Gehaltsbereich in der mittle- des Renteneinkommen abgezogen werden. ren Gruppe (Verkäufer / Verkäuferinnen) derzeit zwischen Deutlich wird : Auf Lohnarmut folgt Altersarmut. 1940 € und 2471 € im Monat (Beispiel NRW ). Hinzu kom- Tarifflucht, prekäre und atypische Beschäftigung, unter- men Urlaubsgeld, Jahressonderzahlung und Leistungen durchschnittliche Tarifeinkommen und erwerbsbiografi- der tariflichen Altersversorgung. Damit ergibt sich in der sche Unterbrechungen sind die wesentlichen Gründe Endstufe dieser Gruppe für Vollzeitbeschäftigte ein Jah- dafür, dass das Gros der Handelsbeschäftigten von Alters- reseinkommen von 32 431,88 €. Im Verhältnis zu der ge- armut 9 bedroht wird. Als Fazit ist festzuhalten : nannten Bezugsgröße erreicht das Jahreseinkommen der – Fast zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel (Beispiel nehmer im deutschen Einzelhandel mit niedrigen Jah- NRW ) gerade 89 %. Und diese Beispielrechnung bezieht reseinkommen (Minijobs, Teilzeit) sind später direkt sich wohlgemerkt nur auf die tarifgebundenen Beschäf- von Altersarmut betroffen. tigten und blendet die ökonomische Situation der vielen – Auch die Tarifflucht führt zu dramatischen Einbußen Einzelhandelsbeschäftigten aus, die in tariffreien Zonen bei der Altersrente. Untertarifliche Entlohnung führt sowie in Teilzeitarbeit oder Minijobs arbeiten. im konkreten Fall dazu, dass selbst auf eine 45-jährige Der Anschluss der Einzelhandelsbeschäftigten an die Vollzeitbeschäftigung die Altersarmut folgt. Durchschnittseinkommen wird zusätzlich dadurch er- – Nach vorsichtigen Berechnungen sind mindestens schwert, dass in der Branche die Tarifflucht grassiert. Viele 2,5 Mio. Beschäftigte im deutschen Einzelhandel akut Unternehmen gehen aus der Tarifbindung und verschaf- von Altersarmut bedroht. Die meisten von ihnen sind fen sich durch niedrigere Löhne Wettbewerbsvorteile. Frauen, die gleich mehreren Risikofaktoren ausgesetzt Nur noch 30 % der Einzelhandelsunternehmen sind heu- sind : Sie stellen das Gros der im Einzelhandel Beschäf- te tarifgebunden, gerade einmal 34 % aller Beschäftigten tigten, sind damit die Hauptbetroffenen der vielfach arbeiten in einem Unternehmen, das an den Branchenta- unterdurchschnittlichen Entlohnung ; ein durch Teil- rifvertrag gebunden ist. Nicht-tarifgebundene Arbeitgeber zeitarbeit, Minijobs und Erwerbsunterbrechungen wie Amazon, Zalando, Globus, Dehner, Porta, Toys R Us, (Mutterschaft und Elternzeit) reduziertes Arbeitsvolu- Obi, Tedi, der „privatisierte“ Bereich von Edeka und Rewe men tritt als weiteres Risikopotenzial hinzu. u. a. m. zahlen ihren Beschäftigten oft bis zu 30 % weniger als im Branchentarifvertrag vereinbart. 8 Die unterdurchschnittliche Einkommenssituation der im Einzelhandel Beschäftigten ist folgenreich für ihre ren- tenrechtlichen Ansprüche : Die ökonomische Situation im 4 Forderungen an Politik Ruhestand ist ein Spiegelbild des Erwerbslebens. Faktoren, die die Rentenansprüche mindern, sind u. a. untertarifli- und Arbeitgeber che Entlohnung, atypische Beschäftigungsformen, unter- durchschnittliche Tarifeinkommen, Phasen der Unterbre- Bisherige Bundesregierungen sind der wirtschaftlichen chung und eine geringe Anzahl der Beschäftigungsjahre. Ideologie der Deregulierung und Flexibilisierung gefolgt. Treffen mehrere dieser Punkte gleichzeitig zu, ist die Ne- Dies hat zu einer erheblichen Verschlechterung der Ar- gativwirkung besonders groß. Frauen sind davon in be- beits- und Lebensbedingungen im Einzelhandel geführt. sonderem Maße betroffen. Hier ist ein fundamentales Umdenken notwendig, der Das Ausmaß der Armutsgefährdung der Einzelhan- Wettbewerb im Einzelhandel braucht Regulierung : delsbeschäftigten lässt sich quantifizieren, wenn man die Rentenansprüche einiger typischer Beschäftigungsgrup- (1) Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente müssen neu pen durchrechnet. Bei einer tarifgemäßen Entlohnung ausgerichtet werden. Minijobs sollten abgeschafft und da- (Tarifgebiet NRW ) ergibt sich Folgendes : Eine vollzeit- beschäftigte Verkäuferin käme nach 45 Berufsjahren in der Endstufe der G I auf eine Bruttorente von maximal 8 Vgl. hierzu auch Süddeutsche Zeitung „Der Einzelhandel ca. 1200 €. Wenn die gleiche Verkäuferin zehn Jahre teil- floriert, Umsatz und Gewinn markieren einen Rekord. Doch zeitbeschäftigt war, sinkt die zu erwartende Rente auf die Löhne bleiben wegen der grassierenden Tarifflucht maximal ca. 1000 € brutto. Wenn jemand in dem gleichen niedrig“ (SZ vom 8.6.2017). Job 45 Jahre teilzeitbeschäftigt war (Stundenfaktor 0,7) 9 Das Armutsrisiko wird über die Armutsgefährdungsgrenze reduziert sich die Rente auf maximal ca. 850 €. Im Falle definiert : Wer alleinlebend ist und weniger als 60 % des einer untertariflichen Entlohnung von 30 % ergibt sich, mittleren Nettoeinkommens (exakt : des mittleren Äquiva- dass eine Verkäuferin nach 45 Jahren ununterbrochener lenzeinkommens) monatlich zur Verfügung hat, lebt an der Grenze zur Armut. Dieser Wert wird jährlich neu ermittelt. Vollzeitarbeit auf eine Bruttorente von maximal ca. 860 € Nach den letzten aktuellen Daten bedeutet das : Wer als kommt. Und wohlgemerkt : Bei diesen Beispielen han- Single weniger als 1003 € im Monat zur Verfügung hat, gilt delt es sich jeweils um Bruttorenten. Davon müssen dann als armutsgefährdet. 153
Aus der Praxis mit wieder in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gerecht werden. Es braucht einen Wettbewerb, in dem für umgewandelt werden. Notwendig ist ein Rückkehrrecht alle Unternehmen die gleichen rechtlichen Pflichten gel- von Teilzeit auf Vollzeit. Der Missbrauch bei Werkverträ- ten, in dem sich alle Arbeitgeber an Tarifverträge halten. gen und Leiharbeit muss beendet werden. Die Arbeitgeberverbände sind aufgefordert, mit ver.di eine Reform der Allgemeinverbindlichkeit (AVE ) zu orga- (2) Die zunehmende Machtkonzentration im Handel nisieren, an deren Ende eine Erleichterung der Allgemein- braucht stärkere Kontrolle. Ein Kernpunkt dabei ist die verbindlicherklärungen steht. 10 Das Mindeste für alle Kontrolle der sich immer schneller herausbildenden Beschäftigten sind tarifliche Standards bei der Bezahlung Marktmacht im Internet (Plattformen). und bei den Arbeitsbedingungen. Dies ist auch notwen- dig, um wieder einen einheitlichen Wettbewerbsrahmen (3) Wettbewerbsverzerrungen, die aus ungerechtfertigter zu schaffen, der auch die Betriebe, die Tariflöhne zahlen, Steuerprivilegierung bestimmter Unternehmen resultie- vor Schmutzkonkurrenz schützt. Die Wiedereinführung ren, müssen beseitigt werden. Dies betrifft insbesondere der AVE liegt aber auch im öffentlichen Interesse, denn die Ausnutzung von Steuervorteilen multinationaler Kon- wenn es so weitergeht wie bisher, wird die Allgemeinheit zerne wie Amazon. herangezogen, um Teile der Personalkosten zu überneh- men. Sei es durch „Aufstocken“ von Niedriglöhnen oder Immer mehr Unternehmen im Einzelhandel verschaffen sei es für die Aufstockungsleistungen bei Armutsrenten sich Wettbewerbsvorteile, indem sie mittels Tarifflucht (Grundsicherung). ■ Personalkosten einsparen. Immer weniger Arbeitnehmer fallen unter den Schutz von Tarifverträgen. In der Kon- sequenz heißt das : Die Beschäftigten subventionieren die Preiskriege ihrer Arbeitgeber ! Dieser Irrsinn muss aufhö- AUTOR ren, diese Abwärtsspirale gilt es zu stoppen. Die Arbeit- JÜRGEN GLAUBITZ, Dr., war bis zu seinem Ruhestand Ab- geber im Handel müssen ihrer sozialen Verantwortung teilungsleiter Wirtschaftspolitik beim ver.di-Landesbezirk NRW . Arbeitsschwerpunkte : Handel, Strukturanalysen, Firmenpor träts. @ mail@j-glaubitz.de 10 Vgl. hierzu auch den Beitrag von J. Wiedemuth in diesem Heft. 154
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