Verdrängungswettbewerb im deutschen Einzelhandel : auf dem Rücken der Beschäftigten - Nomos eLibrary

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Aus der Praxis 

      DOI: 10.5771 / 0342 - 300X - 2018 - 2 - 150

      Verdrängungswettbewerb
      im deutschen Einzelhandel :
      auf dem Rücken der Beschäftigten
      JÜRGEN GLAUBITZ

      Mit über 3 Mio. Beschäftigten zählt der Einzelhandel zu                      (2) Auch die Leiharbeit erlebte durch „Hartz“ einen enor-
      den größten Wirtschaftsbereichen. Die Handelslandschaft                      men Aufschwung. Nachdem später die Regeln etwas
      ist tief zerklüftet, zwischen greller Glitzerwelt und Reste-                 strenger gefasst und ein Mindestlohn eingeführt wurde,
      rampe : Flagship-Stores in Einkaufsmeilen, Shoppingpara-                     suchten viele Firmen nach neuen Methoden, um Perso-
      diese und Konsumpaläste auf der einen Seite – auf der                        nalkosten zu drücken. Sie suchten nach Schlupflöchern,
      anderen Seite viel Tristesse, Billiganbieter, 1-€-Shops und                  um die schon billigen Leiharbeiter durch noch billigere
      Leerstände in den Nebenzentren und abseits der Haupt-                        Kräfte zu ersetzen. So begann der Boom der Werkverträge.
      einkaufsstraßen. Große Konzerne dominieren den Markt.
      Es findet ein erbitterter Verdrängungswettbewerb statt.                      (3) Die Ladenöffnungszeiten wurden über die Jahre peu à
      Zehntausende kleinerer Anbieter sind bereits ausgeschie-                     peu ausgedehnt. 2006 wurde im Rahmen der Föderalis-
      den. Die Unternehmen locken mit niedrigen Preisen, ho-                       musreform der Ladenschluss schließlich zur Ländersache.
      hen Rabatten und lustiger Werbung : gute Nachrichten für                     Seither ist überwiegend – bis auf Bayern, Rheinland-Pfalz,
      die Verbraucher. Weniger gut sieht es für die Beschäftigten                  Saarland und Sachsen – an sechs Tagen die Rund-um-die-
      dieses bedeutenden Wirtschaftsbereiches aus. Der Wett-                       Uhr-Öffnung möglich. Die verlängerten Öffnungszeiten
      bewerb findet zunehmend auf ihrem Rücken statt : Zwei                        (Spätöffnung) haben zur Ausweitung prekärer Beschäfti-
      Drittel von ihnen arbeiten in Teilzeit oder als Minijobber,                  gung geführt.
      nur noch 34 % sind in tarifgebundenen Unternehmen be-
      schäftigt. Das führt zu drastischen Lohneinbußen. Und                        (4) Über Jahrzehnte galt zwischen den Tarifparteien ein
      nach einem aufreibenden Arbeitsleben droht den meisten                       Konsens, wonach die Personalkosten nicht Gegenstand
      dann die Altersarmut.                                                        des ruinösen Wettbewerbs sein sollten. Die Allgemein-
                                                                                   verbindlichkeit der Tarifverträge (AVE ) sei geboten, so
                                                                                   argumentierten etwa die NRW -Arbeitgeber, „um die so-
                                                                                   ziale Komponente der Marktwirtschaft im Einzelhandel
                                                                                   zu erhalten“.  1 Doch dann wurde im Jahre 2000 die AVE
                                                                                   von ihnen aufgekündigt und per Satzungsänderung die
      1 Gesetzliche und tarifpolitische
                                                                                   Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT -Mit-
        Rahmenbedingungen                                                          gliedschaft) ermöglicht. Dies führte in der Folge zu einer
                                                                                   weitreichenden Erosion der Tarifvertragsstrukturen und
      Der Wettbewerb im Handel wird maßgeblich auch durch                          zu einem dramatischen Rückgang der Tarifbindung.
      rechtliche Rahmenbedingungen und verbandspolitische
      Entscheidungen beeinflusst. Auf einige wesentliche Punk-
      te sei hier kurz hingewiesen :

      (1) Die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die
      „Hartz-Gesetze“ hat sich in gravierender Weise negativ
      auf die Personalpolitik der Unternehmen ausgewirkt. In-
                                                                                   1	Einzelhandelsverband NRW in einem Schreiben vom
      folge der Neuregelung bei der geringfügigen Beschäftigung
                                                                                     17. 09. 1999 (Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung) an
      kam es zu einem regelrechten Minijob-Boom. Die meisten                         das Ministerium für Arbeit , Soziales, Stadtentwicklung,
      Minijobber arbeiten heute im Handel.                                           Kultur und Sport des Landes NRW .

150                                    https://doi.org/10.5771/0342-300X-2018-2-150
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                                                                        – Die Vertriebs- und Kommunikationskanäle werden
                                                                          immer mehr vernetzt. Die Beziehungen zwischen Er-
    2 Wettbewerbs-
                                                                          zeugern, Lieferanten, Dienstleistern, Händlern und
      und Konzernstrukturen                                               Kunden verändern sich grundlegend.
      im deutschen Einzelhandel                                         – Je stärker die Online-Umsätze boomen, desto weniger
                                                                          bleibt für den innerstädtischen Handel übrig. Verlierer
    Das wirtschaftliche Umfeld für den Einzelhandel ist der-              sind vor allem Klein- und Mittelstädte, vielen droht
    zeit recht günstig, der relativ stabile Arbeitsmarkt und              eine Verödung.
    steigende Realeinkommen sorgen für gute Umsätze. Die                – Die Markttransparenz erhöht sich enorm, Preis- und
    demografische Entwicklung führt tendenziell zu immer                  Produktvergleiche werden einfacher. Das Internet ver-
    mehr „Alten“ (älter als 67 Jahre) und immer weniger                   stärkt den Wettbewerbsdruck zusätzlich.
    „Jungen“ (jünger als 25 Jahre). Gleichzeitig steigt die Zahl        – Die verschiedenen Verkaufskanäle werden immer
    der Single-Haushalte. Dies hat große Bedeutung für die                mehr verzahnt und verbunden (Mehr-Kanal-Han-
    weitere Entwicklung der Branche (Ladengestaltung, al-                 del). Online-Händler eröffnen Showrooms, stationäre
    tersspezifische Konsumgewohnheiten, Nahversorgung,                    Händler betreiben Online-Shops. Die Trennung zwi-
    seniorenfreundlicher Service u. a. m.). Der Wettbewerb im             schen Offline- und Online-Handel wird sukzessive
    Einzelhandel wird vorrangig über Preiskämpfe, Öffnungs-               aufgehoben.
    zeiten und Fläche geführt. Die Digitalisierung intensiviert
    den Konkurrenzkampf und induziert einen tief greifenden            Maßgeblicher Treiber ist der Internet-Riese Amazon. Kein
    Strukturwandel. Strukturbestimmend ist zugleich, dass              anderer experimentiert so viel mit zukunftsweisenden
    Konzerne dominieren : Es gibt tendenziell immer weniger            Konzepten, kein anderer Akteur zeichnet sich durch eine
    Unternehmen – mit immer mehr Umsatz. Im Fokus steht                solche Innovationsgeschwindigkeit aus. Der ehemalige
    dabei vor allem der Lebensmitteleinzelhandel. Gemessen             Buchhändler hat sich zum Alles-Verkäufer entwickelt.
    am bundesweiten Absatz teilen sich die vier Großen (Ede-           Immer mehr Konsumenten informieren sich heute vor
    ka, Rewe, Schwarz-Gruppe und Aldi) über 85 % des Mark-             Internetkäufen beim Branchenriesen. „Er ist Preisanker,
    tes. Zum Vergleich : 1999 waren es immerhin noch acht              Produktfinder und Bewertungsplattform.“  3
    große Handelsketten, die es laut Bundeskartellamt zusam-               Es ist immer das Gleiche, Amazon prescht vor und die
    men auf 70 % brachten. In mehreren Teilbranchen gibt es            Branche zittert. Einige der Innovationen aus seinem „Sor-
    enge Oligopole : Die Umsatzanteile der jeweiligen TOP -3-          timent“ sind Marktplatz, Bezahldienste, 1-Klick, Prime,
    Player betragen bei Drogerien 97 %, bei den Supermärkten           Dash, Prime Now, Pantry, Filmdatenbank, Online-Video-
    90 %, bei der Großfläche 67 % und bei den Lebensmittel-            thek, Amazon Business (Shop für Geschäftskunden) und
    discountern 66 %. Signifikant geringer ist der Konzentra-          Amazon Fresh (frische Lebensmittel). Für einen Pauken-
    tionsgrad (noch) bei Bekleidung und bei Möbeln.  2                 schlag sorgte die Nachricht, dass der Online-Händler den
         Konzentration ist zum einen das Ergebnis organischen          weltgrößten stationären Bio-Händler Whole-Foods kauft.
    Wachstums oder der Verdrängung von Konkurrenz ; zum                Amazon dringt in immer mehr Handels- und Lebensbe-
    anderen forciert sie weitere Konzentration. Größe fördert          reiche vor. So auch in die privaten : Der „Smart Agent“
    weitere Größe. (Umsatz-)Größe bedeutet hohe Beschaf-               Alexa ist ein zentrales Instrument, um herauszubekom-
    fungsmengen und damit Nachfragemacht gegenüber Lie-                men, was die Kunden „wünschen“. Die Nutzer füttern das
    feranten und Produzenten. Günstige Einkaufspreise und              System mit Informationen aus ihrer Privatsphäre ; und
    Konditionen sind garantiert. Diese Vorteile ermöglichen            Amazon lernt alles über die Nutzer. Es ist keineswegs un-
    es den Konzernen, im Verkauf aggressive Preis- und Ra-             zutreffend, wenn die taz schreibt : „Die Abhörwanze von
    battaktionen anzubieten.                                           IM Alexa“.  4 Die Daten werden verwendet, um Kaufent-
         Die Digitalisierung ist ein weiteres dominantes Thema         scheidungen durchzuspielen, Verhaltensmuster zu perfek-
    in der Branche. Der online getätigte Umsatz hat in zehn            tionieren und Werbung zu optimieren.
    Jahren seinen Marktanteil von 4 auf 10 % erhöht, bis 2020              Und schneller als Pilze schießen derzeit neue On-
    dürfte dieser auf 15 bis 20 % weiter ansteigen. Je nach Teil-      line-Marktplätze aus dem Boden. Erfolgreiche Internet-
    branche und Sortiment gibt es große Unterschiede. Wäh-
    rend bei den Online-Sortimenten der „ersten Stunde“
    (Bücher, Medien, Technik) eine gewisse Sättigung festzu-
    stellen ist, weitet sich das per Internet angebotene Waren-        2    Vgl. Wabe-Institut (2017) : Konzentrationsprozesse und Ver-
                                                                            drängungswettbewerb im deutschen Handel, Chartstudie,
    sortiment mit großer Dynamik weiter aus. Derzeit liegt                  Berlin.
    Bekleidung mit deutlichem Abstand vorn, es folgen Elek­
    tro / ​Telekommunikation, Bücher / ​E-Books und Schuhe.            3    IFH (Institut für Handelsforschung) (2017) : Amazonisierung
                                                                            des Handels schreitet voran, Pressemitteilung des IFH Köln
         Die Digitalisierung verändert den Handel mit einer
                                                                            vom 22. 06. 2017.
    ungeheuren Wucht – es kommt zu tief greifenden Neu-
    strukturierungen :                                                 4	Taz (Die Tageszeitung) vom 05. 11. 2016.

                                                                    https://doi.org/10.5771/0342-300X-2018-2-150                                                151
                                                             Generiert durch IP '46.4.80.155', am 02.11.2021, 08:46:26.
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Aus der Praxis 

                  plattformen (wie Amazon oder Ebay) können wegen der
                  Ansammlung von Kundendaten zu entscheidenden Wett-
                                                                                             3 Zur Situation der Beschäftigten
                  bewerbsvorteilen gelangen. Dies könnte zu einer weiteren
                  Konzentration von Marktmacht und letztlich zu Mono-
                                                                                               im deutschen Einzelhandel
                  polstrukturen führen.
                      Für die Wettbewerbsstruktur des Einzelhandels ent-                     Deregulierung, Tarifflucht und der intensive Preis- und
                  scheidend ist auch der nicht nur andauernde, sondern                       Verdrängungswettbewerb haben tiefe Spuren hinterlas-
                  sich zuspitzende Preiswettbewerb. Immer wieder einmal                      sen : Hunderttausende Vollzeitstellen wurden im Laufe
                  ist die Rede davon, die „Geiz-ist-geil-Mentalität“ sei vo-                 der Jahre abgebaut, prekäre und atypische Beschäftigung
                  rüber, der Verbraucher achte mehr auf Qualität. Fakt ist                   dominiert, untertarifliche Entlohnung wird zur Regel.
                  aber : Der Preis bleibt die „schärfste Waffe“ im Wettbe-                   Die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen haben sich
                  werb. Händler setzen mit Tiefpreisen und / ​oder Rabatten                  deutlich verschlechtert.  6
                  die Konkurrenz unter Druck. Dabei sind große, finanz-                          Von den insgesamt 3,1 Mio. Arbeitnehmerinnen und
                  kräftige Konzerne strukturell im Vorteil (s. o.). In weiten                Arbeitnehmern waren zuletzt 37 % in Vollzeit, 36 % in so-
                  Bereichen des Handels herrscht ein sehr intensiver Preis-                  zialversicherungspflichtiger Teilzeit sowie 21 % ausschließ-
                  wettbewerb. Online-Händler und Discounter sorgen für                       lich und 6 % im Nebenjob geringfügig beschäftigt.  7 Mit
                  immer neue Preisrunden. Über Dynamic Pricing können                        anderen Worten : Rund 2 Mio. Beschäftigte, überwiegend
                  Preise permanent auf der Basis des aktuellen Marktbedarfs                  Frauen, befinden sich in einem prekären oder atypischen
                  angepasst werden. Amazon hat allein im September 2016                      Arbeitsverhältnis.
                  3,6 Millionen Mal seine Preise geändert. Der Textilhandel                      Das war nicht immer so : Im Jahre 2000 hatte noch
                  wird von Billigware überschwemmt („Alles muss raus“),                      die Hälfte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
                  im Möbeleinzelhandel gibt es explosive Preiskämpfe („Ra-                   einen Vollzeitjob. In der Folgezeit stieg die Zahl der Mini-
                  battschlachten“). Discounter und Billiganbieter boomen.                    jobs sprunghaft an – zwischenzeitig auf ein Rekordhoch
                  Das Bewusstsein für reelle Preise geht verloren. „Je mehr                  von knapp einer Million. Die „Hartz-Gesetze“ und die
                  Discount- oder Off-Price-Formate auf dem deutschen                         Liberalisierung der Öffnungszeiten (Spätöffnung) wirkten
                  Markt agieren, umso mehr wird sich das Preisgefüge nach                    wie Katalysatoren für prekäre Beschäftigung. Es wurden
                  unten verschieben.“   5                                                    Schleusen geöffnet für einen Minijob-Boom, für Dum-
                      Strukturbildend ist ferner die Verkaufsflächenexpan-                   pinglöhne und den missbräuchlichen Einsatz von Leih-
                  sion : Die Handelsunternehmen haben in den letzten Jahr-                   arbeit und Werkverträgen. Nach Einführung des Mindest-
                  zehnten riesige Verkaufsflächen aufgebaut : Von 77 Mio.                    lohnes 2015 entwickelte sich die Zahl der geringfügig Be-
                  qm vor 25 Jahren auf derzeit 124 Mio. qm. Da der reale                     schäftigten leicht zurück, Ende 2016 ist sie in der gesamten
                  Einzelhandelsumsatz dieser Entwicklung oft nicht folgen                    Wirtschaft indes wieder angestiegen.
                  konnte, öffnete sich die Schere zwischen Fläche und Um-                        Der Frauenanteil im Einzelhandel beträgt rund 70 %.
                  satz. In einigen Teilbranchen wird Flächenexpansion ge-                    Besonders hoch ist er unter den Teilzeitbeschäftigten mit
                  zielt als ein Instrument zur Verdrängung der Konkurrenz                    ca. 90 %, bei den Vollbeschäftigten liegt die Quote bei gut
                  eingesetzt. Dies ist auch deshalb eine brisante Strategie,                 50 %.
                  weil gleichzeitig die Online-Umsätze überproportional                          Die tarifliche Situation im Einzelhandel wirkt unmit-
                  steigen.                                                                   telbar auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der
                      Zuwächse resultieren vor allem aus der Großflächen-                    Beschäftigten ein : Die Tarifeinkommen konnten in den
                  expansion im Bereich Möbel und Baumärkte, Neueröff-                        letzten zehn Jahren nicht in dem Maße erhöht werden
                  nungen im Drogeriebereich und der Ansiedlung auslän-                       wie etwa im produzierenden Gewerbe. Es gibt weiterhin
                  discher Einzelhändler. Zudem entstehen weitere große                       einen erheblichen Nachholbedarf, was dann auch ein für
                  Flächen durch neue Shoppingcenter. Das „Flächenwett-                       die Rentenberechnung wichtiger Faktor ist. Das durch-
                  rüsten“ sorgt für erhebliche strukturelle Probleme. Die                    schnittliche Jahreseinkommen der abhängig Beschäftigten
                  Verkaufsfläche ist sehr ungleich im Raum verteilt – rie-                   insgesamt beträgt in Deutschland laut Deutscher Renten-
                  sigen Überkapazitäten, z. B. in Ballungsgebieten, stehen
                  Leerstände und verödete Passagen in vielen Klein- und
                  Mittelstädten gegenüber.
                      Durch eine Ausdehnung der Öffnungszeit wird kein                       5	Meinungsbeitrag „Bundesrepublik Discount“, in : Der Han-
                  zusätzlicher Umsatz generiert, sondern vorhandener Um-                       del 7–8 / ​2017, S. 8.

                  satz zeitlich oder räumlich umverteilt. Einige Unterneh-                   6    Siehe dazu im Einzelnen : Deutscher Bundestag, Antwort
                  men – insbesondere des Lebensmittelhandels – setzen dies                        der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
                  gezielt als Mittel im Verdrängungskampf ein. Die verlän-                        Die Linke, Arbeitsbedingungen im Einzelhandel, Druck-
                                                                                                  sache 18 / ​7325.
                  gerten Öffnungszeiten wirken ähnlich wie zusätzliche Ver-
                  kaufsflächen : Der Umsatz verteilt sich auf mehr Quadrat-                  7    Vgl. ver.di FB Handel (Hrsg.) (2017) : Einzelhandel 2017,
                  meter und auf mehr Stunden.                                                     Branchendaten, Berlin.

152                                              https://doi.org/10.5771/0342-300X-2018-2-150
                                          Generiert durch IP '46.4.80.155', am 02.11.2021, 08:46:26.
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    versicherung aktuell 36 267 €. Für den Einzelhandel liegt          durchschnittlich noch mindestens 10 % als zu versteuern-
    die tarifliche Vergütung im Gehaltsbereich in der mittle-          des Renteneinkommen abgezogen werden.
    ren Gruppe (Verkäufer / ​Verkäuferinnen) derzeit zwischen             Deutlich wird : Auf Lohnarmut folgt Altersarmut.
    1940 € und 2471 € im Monat (Beispiel NRW ). Hinzu kom-             Tarifflucht, prekäre und atypische Beschäftigung, unter-
    men Urlaubsgeld, Jahressonderzahlung und Leistungen                durchschnittliche Tarifeinkommen und erwerbsbiografi-
    der tariflichen Altersversorgung. Damit ergibt sich in der         sche Unterbrechungen sind die wesentlichen Gründe
    Endstufe dieser Gruppe für Vollzeitbeschäftigte ein Jah-           dafür, dass das Gros der Handelsbeschäftigten von Alters-
    reseinkommen von 32 431,88 €. Im Verhältnis zu der ge-             armut  9 bedroht wird. Als Fazit ist festzuhalten :
    nannten Bezugsgröße erreicht das Jahreseinkommen der                – Fast zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
    Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel (Beispiel                nehmer im deutschen Einzelhandel mit niedrigen Jah-
    NRW ) gerade 89 %. Und diese Beispielrechnung bezieht                 reseinkommen (Minijobs, Teilzeit) sind später direkt
    sich wohlgemerkt nur auf die tarifgebundenen Beschäf-                 von Altersarmut betroffen.
    tigten und blendet die ökonomische Situation der vielen             – Auch die Tarifflucht führt zu dramatischen Einbußen
    Einzelhandelsbeschäftigten aus, die in tariffreien Zonen              bei der Altersrente. Untertarifliche Entlohnung führt
    sowie in Teilzeitarbeit oder Minijobs arbeiten.                       im konkreten Fall dazu, dass selbst auf eine 45-jährige
        Der Anschluss der Einzelhandelsbeschäftigten an die               Vollzeitbeschäftigung die Altersarmut folgt.
    Durchschnittseinkommen wird zusätzlich dadurch er-                  – Nach vorsichtigen Berechnungen sind mindestens
    schwert, dass in der Branche die Tarifflucht grassiert. Viele         2,5 Mio. Beschäftigte im deutschen Einzelhandel akut
    Unternehmen gehen aus der Tarifbindung und verschaf-                  von Altersarmut bedroht. Die meisten von ihnen sind
    fen sich durch niedrigere Löhne Wettbewerbsvorteile.                  Frauen, die gleich mehreren Risikofaktoren ausgesetzt
    Nur noch 30 % der Einzelhandelsunternehmen sind heu-                  sind : Sie stellen das Gros der im Einzelhandel Beschäf-
    te tarifgebunden, gerade einmal 34 % aller Beschäftigten              tigten, sind damit die Hauptbetroffenen der vielfach
    arbeiten in einem Unternehmen, das an den Branchenta-                 unterdurchschnittlichen Entlohnung ; ein durch Teil-
    rifvertrag gebunden ist. Nicht-tarifgebundene Arbeitgeber             zeitarbeit, Minijobs und Erwerbsunterbrechungen
    wie Amazon, Zalando, Globus, Dehner, Porta, Toys R Us,                (Mutterschaft und Elternzeit) reduziertes Arbeitsvolu-
    Obi, Tedi, der „privatisierte“ Bereich von Edeka und Rewe             men tritt als weiteres Risikopotenzial hinzu.
    u. a. m. zahlen ihren Beschäftigten oft bis zu 30 % weniger
    als im Branchentarifvertrag vereinbart.  8
        Die unterdurchschnittliche Einkommenssituation der
    im Einzelhandel Beschäftigten ist folgenreich für ihre ren-
    tenrechtlichen Ansprüche : Die ökonomische Situation im
                                                                       4 Forderungen an Politik
    Ruhestand ist ein Spiegelbild des Erwerbslebens. Faktoren,
    die die Rentenansprüche mindern, sind u. a. untertarifli-
                                                                         und Arbeitgeber
    che Entlohnung, atypische Beschäftigungsformen, unter-
    durchschnittliche Tarifeinkommen, Phasen der Unterbre-             Bisherige Bundesregierungen sind der wirtschaftlichen
    chung und eine geringe Anzahl der Beschäftigungsjahre.             Ideologie der Deregulierung und Flexibilisierung gefolgt.
    Treffen mehrere dieser Punkte gleichzeitig zu, ist die Ne-         Dies hat zu einer erheblichen Verschlechterung der Ar-
    gativwirkung besonders groß. Frauen sind davon in be-              beits- und Lebensbedingungen im Einzelhandel geführt.
    sonderem Maße betroffen.                                           Hier ist ein fundamentales Umdenken notwendig, der
        Das Ausmaß der Armutsgefährdung der Einzelhan-                 Wettbewerb im Einzelhandel braucht Regulierung :
    delsbeschäftigten lässt sich quantifizieren, wenn man die
    Rentenansprüche einiger typischer Beschäftigungsgrup-              (1) Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente müssen neu
    pen durchrechnet. Bei einer tarifgemäßen Entlohnung                ausgerichtet werden. Minijobs sollten abgeschafft und da-
    (Tarifgebiet NRW ) ergibt sich Folgendes : Eine vollzeit-
    beschäftigte Verkäuferin käme nach 45 Berufsjahren in
    der Endstufe der G I auf eine Bruttorente von maximal
                                                                       8    Vgl. hierzu auch Süddeutsche Zeitung „Der Einzelhandel
    ca. 1200 €. Wenn die gleiche Verkäuferin zehn Jahre teil-
                                                                            floriert, Umsatz und Gewinn markieren einen Rekord. Doch
    zeitbeschäftigt war, sinkt die zu erwartende Rente auf                  die Löhne bleiben wegen der grassierenden Tarifflucht
    maximal ca. 1000 € brutto. Wenn jemand in dem gleichen                  niedrig“ (SZ vom 8.6.2017).
    Job 45 Jahre teilzeitbeschäftigt war (Stundenfaktor 0,7)
                                                                       9    Das Armutsrisiko wird über die Armutsgefährdungsgrenze
    reduziert sich die Rente auf maximal ca. 850 €. Im Falle                definiert : Wer alleinlebend ist und weniger als 60 % des
    einer untertariflichen Entlohnung von 30 % ergibt sich,                 mittleren Nettoeinkommens (exakt : des mittleren Äquiva-
    dass eine Verkäuferin nach 45 Jahren ununterbrochener                   lenzeinkommens) monatlich zur Verfügung hat, lebt an der
                                                                            Grenze zur Armut. Dieser Wert wird jährlich neu ermittelt.
    Vollzeitarbeit auf eine Bruttorente von maximal ca. 860 €
                                                                            Nach den letzten aktuellen Daten bedeutet das : Wer als
    kommt. Und wohlgemerkt : Bei diesen Beispielen han-                     Single weniger als 1003 € im Monat zur Verfügung hat, gilt
    delt es sich jeweils um Bruttorenten. Davon müssen dann                 als armutsgefährdet.

                                                                    https://doi.org/10.5771/0342-300X-2018-2-150                                               153
                                                             Generiert durch IP '46.4.80.155', am 02.11.2021, 08:46:26.
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Aus der Praxis 

                  mit wieder in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung                  gerecht werden. Es braucht einen Wettbewerb, in dem für
                  umgewandelt werden. Notwendig ist ein Rückkehrrecht                        alle Unternehmen die gleichen rechtlichen Pflichten gel-
                  von Teilzeit auf Vollzeit. Der Missbrauch bei Werkverträ-                  ten, in dem sich alle Arbeitgeber an Tarifverträge halten.
                  gen und Leiharbeit muss beendet werden.                                    Die Arbeitgeberverbände sind aufgefordert, mit ver.di
                                                                                             eine Reform der Allgemeinverbindlichkeit (AVE ) zu orga-
                  (2) Die zunehmende Machtkonzentration im Handel                            nisieren, an deren Ende eine Erleichterung der Allgemein-
                  braucht stärkere Kontrolle. Ein Kernpunkt dabei ist die                    verbindlicherklärungen steht.  10 Das Mindeste für alle
                  Kontrolle der sich immer schneller herausbildenden                         Beschäftigten sind tarifliche Standards bei der Bezahlung
                  Marktmacht im Internet (Plattformen).                                      und bei den Arbeitsbedingungen. Dies ist auch notwen-
                                                                                             dig, um wieder einen einheitlichen Wettbewerbsrahmen
                  (3) Wettbewerbsverzerrungen, die aus ungerechtfertigter                    zu schaffen, der auch die Betriebe, die Tariflöhne zahlen,
                  Steuerprivilegierung bestimmter Unternehmen resultie-                      vor Schmutzkonkurrenz schützt. Die Wiedereinführung
                  ren, müssen beseitigt werden. Dies betrifft insbesondere                   der AVE liegt aber auch im öffentlichen Interesse, denn
                  die Ausnutzung von Steuervorteilen multinationaler Kon-                    wenn es so weitergeht wie bisher, wird die Allgemeinheit
                  zerne wie Amazon.                                                          herangezogen, um Teile der Personalkosten zu überneh-
                                                                                             men. Sei es durch „Aufstocken“ von Niedriglöhnen oder
                  Immer mehr Unternehmen im Einzelhandel verschaffen                         sei es für die Aufstockungsleistungen bei Armutsrenten
                  sich Wettbewerbsvorteile, indem sie mittels Tarifflucht                    (Grundsicherung).    ■
                  Personalkosten einsparen. Immer weniger Arbeitnehmer
                  fallen unter den Schutz von Tarifverträgen. In der Kon-
                  sequenz heißt das : Die Beschäftigten subventionieren die
                  Preiskriege ihrer Arbeitgeber ! Dieser Irrsinn muss aufhö-                 AUTOR
                  ren, diese Abwärtsspirale gilt es zu stoppen. Die Arbeit-
                                                                                             JÜRGEN GLAUBITZ, Dr., war bis zu seinem Ruhestand Ab-
                  geber im Handel müssen ihrer sozialen Verantwortung                        teilungsleiter Wirtschaftspolitik beim ver.di-Landesbezirk NRW .
                                                                                             Arbeitsschwerpunkte : Handel, Strukturanalysen, Firmenpor­
                                                                                             träts.

                                                                                              @ mail@j-glaubitz.de
                  10 Vgl. hierzu auch den Beitrag von J. Wiedemuth in diesem
                     Heft.

154                                              https://doi.org/10.5771/0342-300X-2018-2-150
                                          Generiert durch IP '46.4.80.155', am 02.11.2021, 08:46:26.
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