Verkehrswende: aufgehoben oder aufgeschoben? - Corona-Szenarien für den ÖPNV - civity ...
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Verkehrswende: aufgehoben oder aufgeschoben? Corona-Szenarien für den ÖPNV Ein Diskussionsbeitrag der civity Management Consultants
2 VERKEHRSWENDE: AUFGEHOBEN ODER AUFGESCHOBEN? Executive Summary › Der Corona-Virus hat massive Folgen für den deut- › Zusätzlich ist der Finanzierungsbedarf auch für die schen ÖPNV und die Verkehrswende. Im besten Fall Jahre nach 2020 zu adressieren. Insbesondere die Kom- sind es zwei verlorene Jahre, im schlechtesten Fall ver- munen werden die zusätzlichen Verluste nicht alleine lieren wir ein halbes Jahrzehnt. finanzieren können. › Auf Basis zum Verlauf der Pandemie bekannter An- › Jetzt ist daher dringend eine vorausschauende und zu- nahmen haben wir ver-schiedene Szenarien erstellt, in packende Verkehrspolitik gefragt, damit Deutschland denen wir im Extremfall einen Fahrtenrückgang von nicht durch falsche Anreize und fehlenden finanziellen bis zu 50% bis Ende 2023 erwarten. Ausgleich für die ÖPNV-Branche im schlimmsten Falle eine „Verkehrtwende“ zurück zu mehr MIV droht. › Als Konsequenz erwarten wir Nettoerlösausfälle der ÖPNV-Verkehrsunternehmen von 5 bis 10 Mrd. € bis Ende 2023. › Selbst bei zeitgleichen massiven Kosteneinsparungen mit Hilfe massiver Angebotsreduktion und Kurzarbeit rechnen mit einem zusätzlichen Defizit in Höhe von 4 bis 8 Mrd. € für alle deutschen SPNV- und ÖSPV-Un- ternehmen. › Ein Großteil der Verluste tritt erst nach der eigentli- chen Pandemie in den Jahren 2021 bis 2023 auf. › Je länger die Krise dauert bzw. falls es einen zweiten Shut-Down im Herbst geben sollte, desto dauerhafter werden auch die Marktanteilsverluste in Richtung MIV und Fahrrad ausfallen. › Der ÖPNV in seiner Gesamtheit ist daher jetzt unmit- telbar gefordert, mit eigenen Strategien für Hygiene und Stammkundenbindung die schlimmsten Szenarien abzuwenden und das gegenwärtige Image der „Viren- schleuder“ zu bekämpfen.
COVID-19 — SZENARIEN ÖPNV 3
4 VERKEHRSWENDE: AUFGEHOBEN ODER AUFGESCHOBEN? Aufgehoben oder aufgescho- Es zeigt sich, dass mitnichten an jedem Ort ben? Corona und die ÖPNV- und für jeden Verkehrsträger gleich starke Verkehrswende Effekte bestehen: Während am Hamburger Hauptbahnhof noch ca. ein Drittel der übli- Anfang 2020 hieß es in der ÖPNV-Branche chen Passantenfrequenz besteht, liegen die noch: „Dies ist unsere Zeit“. Die Verkehrs- Rückgänge am Flughafen München eher bei wende war das politische Top-Thema. Die 80%. Die wichtige Rolle des ÖPNV für die Managerinnen und Manager des ÖPNV wuss- Sicherstellung der Mobilität in Ballungsregio- ten gar nicht, wo und wie sie das Geld ausge- nen zeigt sich am Beispiel einer S-Bahn-Stati- ben sollten, das ihnen die Politik zur Verfü- on in Berlin, wo die gemessenen Werte immer gung stellen wollte, um endlich die noch bei ca. 50% des Ausgangsniveaus liegen. Verkehrswende in Angriff zu nehmen. Mit anderen Worten: der ÖPNV ist nach wie vor das Rückgrat der Pendlerströme in unse- Mit dem SARS-CoV-2-Virus legte der Hoch- ren Städten. Er ist und bleibt alternativlos. geschwindigkeitszug ÖPNV nun eine lupen- reine Schnellbremsung hin: Mit 50–90% Nach der Umstellung auf Notfahrpläne, der Fahrgastverlusten je nach Unternehmen und Kasernierung von Leitstellenmitarbeitern/ Region ist der öffentliche Verkehr de facto innen und der Umstellung der Verwaltung auf zum Stillstand gekommen. Der eigentliche Homeoffice stellen sich für die Branche nun Klimaretter ÖPNV wurde abrupt zur gefähr- zwei Top-Fragen: lichen Virenschleuder – das genaue Ausmaß des damit verbundenen Imageschadens ist 1. Wann kommen die Fahrgäste zurück? Da- heute noch gar nicht absehbar. Neue Mobili- mit verbunden: Wann sind wir wieder auf tätsformen haben über Nacht de facto den Vorkrisenniveau? Und wie groß werden die Betrieb eingestellt. Ob sie im bisherigen Um- Erlösausfälle bis dahin sein? fang nach der Krise wiederkommen, ist kei- neswegs sicher. 2. Wann ist die Verkehrswende wieder das Top-Thema? Bzw. was bleibt für den ÖPNV Die zum Schutz vor einer unkontrollierten langfristig an Mitteln und Priorität übrig? Ausbreitung des Corona-Virus getroffenen Maßnahmen zu räumlicher Distanzierung Hierzu haben wir drei verschiedene Szenarien haben messbare Auswirkungen auf die öffent- erstellt, die einen Eindruck von den wesentli- lichen Verkehrssysteme. chen Entscheidungsparametern vermitteln, von denen eine schnelle Erholung des ÖPNV Analysten des civity-Datenteams haben an- abhängen wird. hand von Google-Auslastungsdaten unter- sucht, wie sich die Rückgänge in dieser Woche Die Szenarien sind erste Abschätzungen und am Beispiel eines Großflughafens, eines Bahn- bewusst nicht als Prognosen formuliert – denn verkehrsknotens sowie einer S-Bahn-Station dafür ist die Lage in Summe aktuell einfach verhalten. noch viel zu dynamisch. Die Auslastungsdaten werden als relativer Wert für einen Standort ausgegeben und zei- gen sowohl den üblichen Wochenverlauf (grau) sowie den in den ersten drei Arbeitsta- gen der aktuellen Woche ermittelten Verlauf.
CORONA-SZENARIEN FÜR DEN ÖPNV 5 Abb. 1 PERSONENAUFKOMMEN AN BEISPIELHAFTEN VERKEHRSPUNKTEN Hamburg HBF 100 80 60 40 20 0 Mo 0 Uhr Mo 12 Uhr Di 0 Uhr Di 12 Uhr Mi 0 Uhr Mi 12 Uhr Flughafen München 100 80 60 40 20 0 Mo 0 Uhr Mo 12 Uhr Di 0 Uhr Di 12 Uhr Mi 0 Uhr Mi 12 Uhr Berlin Sonnenallee 100 80 60 40 20 0 Mo 0 Uhr Mo 12 Uhr Di 0 Uhr Di 12 Uhr Mi 0 Uhr Mi 12 Uhr Passantenfrequenz: vor Corona aktuelle Woche (KW 14)
6 VERKEHRSWENDE: AUFGEHOBEN ODER AUFGESCHOBEN? Szenario 1: Schnelle Erholung Marktanteilsgewinne für den MIV und das (Best Case) Fahrrad erst einmal bestehen. Diesem Szenario liegen folgende Annahmen › Sport- und Kulturveranstaltungen beginnen zugrunde: wieder regulär mit der neuen Saison bzw. neuen Spielzeit nach dem Sommer. › Die Schule beginnt im Mai wieder für die Klassen 1 bis 6, um Beschäftigte so von der › Die Maskenpflicht wird Mitte bis Ende heimischen Kleinkinderbetreuung zu be- 2021 wieder abgeschafft, nachdem dank freien. Mehr Schüler steigen um auf Fahr- einer Durchimpfung der Bevölkerung eine rad und Elterntaxi. Alle anderen Schüler Herdenimmunität gesichert wurde. beginnen erst wieder nach den Sommerfe- rien. › Die Wirtschaft schrumpft 2020 nur im ein- stelligen %-Bereich und folgt ab 2021 wie- › Hochschulen und Universität starten erst der dem „normalen“ Wachstumspfad von wieder mit dem Wintersemester 2020/21. 1–2% jährlich. Studenten werden danach insbesondere im Spätsommer vermehrt auf das Fahrrad › Ab Mitte 2021 wird die Klimawende zum umsteigen. Top-Thema im Bundestagwahlkampf, u. a. durch den zweiten schneefreien Winter in › Im ÖPNV wird das Tragen von Communi- Folge. ty-Masken (Mund-Nasen-Schutz) bundes- weit als Pflicht in den allgemeinen Beförde- › Ab 2022 erreicht der ÖPNV wieder Vorkri- rungsbestimmungen der Verkehrs- senniveau und gewinnt systematisch zuvor unternehmen aufgenommen. Berufspendler an das Fahrrad und den MIV verlorene beginnen ab Anfang Mai wieder damit, den Marktanteile zurück. ÖPNV zu nutzen. Trotzdem bleiben die Abb. 2 SZENARIO 1 — MONATLICHE KOSTEN- UND ERLÖSENTWICKLUNG in Mio. € 2.500 2.000 1.500 0 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 Gesamtaufwendungen Gesamterträge ÖPNV & SPNV ÖPNV & SPNV (ohne Verlustausgleich)
CORONA-SZENARIEN FÜR DEN ÖPNV 7 Abb. 2 SZENARIO 1 — ENTWICKLUNG KOSTENDECKUNG 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0% 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 Kostendeckung ÖPNV & SPNV (ohne Verlustausgleich) Szenario 2: Zweiter Lockdown › Ab Mitte 2021 ist aufgrund der beginnen- mit langfristigen Rückschlä- den Durchimpfung die Lage wieder unter gen Kontrolle. Ab 2022 beginnt die wirkliche Erholung, das Vorkrisenniveau erreicht der Es gelten grundsätzlich die gleichen Annah- ÖPNV wieder ab 2023. men wie im Szenario 1, allerdings: › Durch die Wiederherstellung des sozialen Lebens über den Sommer sowie der Kultur- und Freizeiteinrichtungen ab August/Sep- tember gerät die Infektion im Spätherbst erneut außer Kontrolle. Im Spätherbst 2020 kommt es daher zu einem zweiten Shut-Down. › Aufgrund geschlossener Grenzen und dem zweiten Shut-Down erlebt Deutschland 2020 eine Rezession von über 10%. › Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Rettung der deutschen Automobilindus- trie sind die Top-Themen im Bundestag- wahlkampf 2021.
8 VERKEHRSWENDE: AUFGEHOBEN ODER AUFGESCHOBEN? Abb. 3 SZENARIO 2 — MONATLICHE KOSTEN- UND ERLÖSENTWICKLUNG in Mio. € 2.500 2.000 1.500 0 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 Gesamtaufwendungen Gesamterträge ÖPNV & SPNV ÖPNV & SPNV (ohne Verlustausgleich) Abb. 4 SZENARIO 2 — ENTWICKLUNG KOSTENDECKUNG 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0% 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 Kostendeckung ÖPNV & SPNV (ohne Verlustausgleich)
CORONA-SZENARIEN FÜR DEN ÖPNV 9 Szenario 3: Dauerhafte Schä- „Im Worst Case erreicht der ÖPNV das digung des ÖPNV (Worst Vorkrisenniveau erst wieder in der Mitte Case) des Jahrzehnts.“ Es gelten die gleichen Annahmen wie im Sze- nario 2, allerdings: › Verlorene Marktanteile des ÖPNV in Rich- tung MIV und Fahrrad sind dauerhaft ver- loren. › Der ÖPNV erreicht das Vorkrisenniveau erst wieder in der Mitte des Jahrzehnts. › Fahrrad und elektrifizierte private PKW werden als zentrales Instrument im Kampf gegen den Klimawandel angesehen. Abb. 5 SZENARIO 3 — MONATLICHE KOSTEN- UND ERLÖSENTWICKLUNG in Mio. € 2.500 2.000 1.500 0 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 Gesamtaufwendungen Gesamterträge ÖPNV & SPNV ÖPNV & SPNV (ohne Verlustausgleich)
10 VERKEHRSWENDE: AUFGEHOBEN ODER AUFGESCHOBEN? Abb. 6 SZENARIO 3 — ENTWICKLUNG KOSTENDECKUNG 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0% 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 Kostendeckung ÖPNV & SPNV (ohne Verlustausgleich) Ergebnisse Im dritten Szenario erwarten wir noch we- sentlich größere langfristigere Auswirkungen Im ersten Szenario erwarten wir im deut- und Struktureffekte auf den ÖPNV und rech- schen ÖPNV 6 bis 7 Mrd. Personenfahrten nen mit fast 50% weniger Personenfahrten weniger bis Ende 2023. Dies führt zu Nettoer- (ca. 13 Mrd.) im deutschen ÖPNV. Dies wür- lösverlusten in Höhe von bis zu 5 Mrd. € bis de zu Nettoerlösausfällen in Höhe von knapp Ende 2023. Selbst bei einem energischen Ge- 10 Mrd. € führen sowie einem entsprechenden gensteuern der Verkehrsunternehmen, das finanziellen Mehrbedarf der Verkehrsunter- heißt Angebotsreduktion und Kurzarbeit, nehmen von über 8 Mrd. € – nach Berück- würde bei den Unternehmen des SPNV und sichtigung sämtlicher Einsparmöglichkeiten. des ÖSPV so ein zusätzliches Defizit in Höhe von fast 4 Mrd. € entstehen. Dies würde aber auch ein bis zu um ein Drit- tel reduziertes Fahrplanangebot im deutschen Im zweiten Szenario gehen wir bis Ende ÖPNV bedeuten. Gleichzeitig dürften die 2023 für den gesamten deutschen ÖPNV von Bestellerentgelte trotz Fahrplanreduktion über 12 Mrd. Personenfahrten weniger aus. nicht reduziert werden. Das heißt, diese wür- Dies führt nach ersten Abschätzungen zu Net- den sich bezogen auf die erbrachte Leistung toerlösausfällen von 8–9 Mrd. € bis Ende aus Sicht der Aufgabenträger erhöhen. Sollte 2023. Ebenfalls unter Berücksichtigung massi- es zu einer Kürzung der Bestellerentgelte auf- ver Angebotsreduktionen und Kurzarbeit ver- grund von Leistungsreduktion kommen, wäre bliebe weiterhin ein erhöhter Finanzierungs- das zu erwartende Defizit für alle Unterneh- bedarf von über 6 Mrd. €. men bedeutend größer.
CORONA-SZENARIEN FÜR DEN ÖPNV 11 In allen Szenarien zeigt sich, dass die wesent- sollte, sind insbesondere die Abos in großer lichen Risiken in der Zeit nach dem Shut- Gefahr. Während im Szenario 1 der Fahrgast- Down liegen. Der Großteil der Erlösausfälle verlust durch die stetigen Aboeinnahmen noch resultiert erst aus der Zeit nach der eigentli- in wesentlichen Teilen kompensiert werden chen Krise. kann, ist dies in den anderen beiden Szenari- en nicht mehr möglich. Der ÖPNV verliert Je länger die Krise dauert bzw. falls es zu ei- daher Stammkunden und somit Marktanteile nem zweiten Shut-Down im Herbst kommen an den MIV und das Fahrrad. Abb. 7 ERLÖS- UND NACHFRAGEENTWICKLUNGEN in Mio. € Erlöse (Nettoerlöse aus Fahrausweisen) 1 .1 00 100 % 1.000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 in Mio. Fahrten Nachfrage 1 .1 00 1.000 900 800 100 % 700 600 500 400 300 200 100 0 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 01 03 05 07 09 11 2020 2021 2022 Szenario 1 Szenario 2 Szenario 3
12 VERKEHRSWENDE: AUFGEHOBEN ODER AUFGESCHOBEN? Empfehlungen für die Akteure Finanzierung Deshalb müssen Kommunen nun dringender Zur Sicherung der ÖPNV-Finanzierung be- als je zuvor über neue Formen der Finanzie- darf es nun unmittelbarer und weitreichender rung des ÖPNV nachdenken. Insbesondere Entscheidungen. Zum einen ist der Finanzie- die effektive Einbindung der Nutznießer des rungsbedarf aufzuzeigen, der während des ÖPNV ist hier zu prüfen. eigentlichen Shut-Downs entsteht, aber insbe- sondere auch in den Folgejahren. Hygiene Gerade die kommunalen Verkehrsunterneh- Neben der Finanzierung gibt es aber weitere men mit Verlustausgleich stehen vor gewalti- wichtige Entscheidungspunkte. Der ÖPNV als gen finanziellen Herausforderungen. Inner- Ganzes muss seinen Beitrag zur Verhinderung halb der kommunalen Querverbünde sind bei eines zweiten Shut-Downs leisten. Hierzu ge- historisch niedrigen Ölpreisen und damit ver- hört es, dass Hygiene in den Fahrzeugen und spätet auch historisch niedrigen Gaspreisen Verkehrsanlagen direkt nach der Sicherheit aktuell keine zusätzlichen Finanzierungspiel- des Betriebs zum zweiten wesentlichen strate- räume zu erwarten. Die Kommunen selbst gischen Ziel des Betriebes werden muss. werden aufgrund der Abhängigkeit von der prozyklischen Gewerbesteuer vielmehr ihre eigenen Kosten massiv senken müssen, sofern es keine Unterstützung von Bund und Län- dern gibt.
CORONA-SZENARIEN FÜR DEN ÖPNV 13 Die Verkehrsunternehmen müssen ihren Bei- an besonders verkehrsreichen Verkehrsstati- trag dazu leisten, dass ein möglicher zweiter onen eine gleichmäßige Verteilung inner- unkontrollierter Ausbruch des Virus nicht halb der Fahrzeuge zu unterstützen durch den ÖPNV begünstigt wird. Hierzu muss der gesamte deutsche ÖPNV konzertiert › Da die Maximalkapazität der Fahrzeuge reagieren, um bis zur Herdenimmunität nicht derzeit nicht ausreicht bzw. wie gerade vom weiter als „Virenschleuder“ in Verruf zu gera- VDV berechnet das Vierfache der heutigen ten. Entscheidend ist hier, dass die Branche Maximalkapazität notwendig wäre, damit besonnen, proaktiv und entschlossen voran- genug Abstand gehalten werden kann, muss schreitet und mit eigenen Vorschlägen den temporär auch über andere Schutzmaßnah- ÖPNV sicherer macht, beispielsweise durch: men nachgedacht werden, so etwa den ak- tuell politisch diskutierten Einsatz von Mas- › Häufige(re) Desinfizierung und Reinigung ken zum Schutz anderer zu. der Fahrzeuge und Stationen. Hierbei ist auch zu prüfen, ob nach Wiener Vorbild › Es ist daher zu prüfen, inwieweit die Auf- auch sichtbar mobile Reinigungsteams die nahme einer Community-Maskenpflicht Fahrzeuge im laufenden Betrieb reinigen, (Mund-Nasen-Schutz) in die Allgemeinen um das subjektive Hygiene- bzw. Sicher- Beförderungsbestimmungen der Verkehrs- heitsgefühl zu erhöhen unternehmen oder die Schaffung der poli- tischen Rahmenbedingungen mittels An- › Ausstattung von Stationen und Fahrzeugen ordnungen hierzu einen wesentlichen mit Desinfektionsspendern. Eine stärkere Beitrag zur sicheren Nutzung des ÖPNV Kommunikation von Hygienefragen auch leisten kann. Die politische Diskussion in der übergreifenden Kundenkommunika- läuft gegenwärtig in Österreich und damit tion bzw. Bewerbung nachgezogen auch wohl in Bayern und Deutschland darauf zu › Zu den Hauptverkehrszeiten muss weiter- hin die gewohnte werktägliche Maximalka- › Im Bahnverkehr könnte bis zu einer mehr- pazität gefahren werden, um eine notwen- heitlichen Akzeptanz eines Mund-Nasen- dige Verteilung der Fahrgäste zu Schutz, auch erst damit begonnen werden, ermöglichen einzelne Waggons speziell für Maskenträger zu reservieren. › Um die Nachfragespitzen in den Hauptver- kehrszeiten zu reduzieren, sollten die › Bei Massenverkehrsmitteln wie U-Bahn Schulanfangszeiten gestaffelt werden. Dazu und S-Bahn wäre zudem zu prüfen, inwie- müssen allerdings Schulen, Eltern, Behör- weit die Maskenpflicht auch mit Zugangs- den und Verkehrsunternehmen an einem kontrollen mindestens zu wichtigen Statio- Strang ziehen. Entsprechende Konzepte nen und Verkehrsknotenpunkten ließen sich in den nächsten Wochen des durchgesetzt werden kann Shut-Downs ausarbeiten. › Das optimale Ausnutzen der Fahrzeuge muss durch eine kontinuierliche und omni- präsente Kommunikation von Hinweisen zum Abstandhalten und gleichmäßigen Verteilen unterstützt werden. Hier ist auch zu prüfen inwieweit Sicherheits- bzw. Ser- vicepersonal eingesetzt werden kann, um
14 VERKEHRSWENDE: AUFGEHOBEN ODER AUFGESCHOBEN? Kommt die Maskenpflicht im ÖPNV? Eine Maskenpflicht nach koreanischen oder chinesischem Vorbild wäre wahrscheinlich eine der einschneidendsten Veränderungen im deutschen ÖPNV seit der Abschaffung der Straßenbahnschaffner und der Bahnsteig- kontrollen. Das Risiko ist aber zu groß, dass in zeitnahen statistischen Untersuchungen COVID19-Patienten häufiger ÖPNV-Nutzer als Autofahrer sind. Dieser Imageschaden ist unbedingt zu vermeiden. Da Risikogruppen (insbesondere Ältere) überproportional vom ÖPNV abhängig sind, muss der ÖPNV diese schützen. Auch wenn es aktuelle eine Diskussion über Sinnhaftigkeit flächendeckender Schließungen von Friseuren und anderen Serviceeinrichtungen gibt, wissen wir aus wissenschaftlichen Mitteilungen, mittlerweile sicher, dass Situatio- nen, wie sie auch im ÖPNV tagtäglich vorzufinden sind, im München-Clus- ter aus dem Januar zu einer Übertragung SARS-CoV-2-Virus geführt ha- ben. 1 Da Masken nur dann ihre volle Wirkung entfalten können, wenn alle Perso- nen sie tragen, wird der ÖPNV an einer Maskenpflicht wohl nicht vorbei- kommen. Dies macht den ÖPNV in Teilen unattraktiv ggü. PKW und Fahr- rad. Dieser Nachteil ist aber in Kauf zu nehmen, um nicht das Risiko einzugehen, dauerhaft als „Virenschleuder“ in Verruf zu geraten. Da von solch einer Maskenpflicht eine Signalwirkung ausgehen würde, wür- den Fluglinien, Einkaufszentrenbetreiber, Universitäten und andere öffentli- chen wie auch kommerzielle Einrichtungen wohl rasch nachziehen und es würde sich daher bald ein Gewöhnungseffekt einstellen. Mit einer Maskenpflicht würde der ÖPNV nicht nur sich selbst vor einem negativen Image schützen, sondern zudem einen aktiven Beitrag dazu leis- ten, die Akzeptanz von Community-Masken zu befördern und auch vor Ein- treten der Herdenimmunität soziales Leben in unseren Städten wieder zu ermöglichen, und weiteren wirtschaftlichen Schaden abzuwenden, ohne dass das Infektionsrisiko wesentlich steigt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gesichtsmaske das modische Accessoire des Jahres 2020 wird, und sie auch nach der Corona-Krise und Abschaffung der Maskenpflicht gegen Mitte oder Ende 2021 vermehrt insbesondere wäh- rend der Grippesaison getragen und gesellschaftlich akzeptiert sein wird. 1) https://www.ndr.de/nachrichten/info/24-Coronavirus-Update-Wir-muessen-weiter-gedul- dig-sein,podcastcoronavirus166.html; https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.03.05. 20030502v1.full.pdf+html
CORONA-SZENARIEN FÜR DEN ÖPNV 15 Abostrategie Zusammenfassung Neben dem Aspekt der Hygiene und der Posi- Der deutsche ÖPNV braucht jetzt eine kon- tionierung des ÖPNV als sicheres Verkehrs- zertierte Strategie, die den zusätzlichen Fi- mittel in Zeiten einer Pandemie ist natürlich nanzierungsbedarf aufzeigt, aber gleichzeitig vor allem die Bindung der Stammkunden von auch durch Hygienemaßnahmen und eine entscheidender Bedeutung. Der ÖPNV im fokussierte Stammkundenbindungsstrategie deutschsprachigen Raum ist aufgrund der alles unternimmt, um die Fahrgäste nach dem Dominanz von Abo- bzw. Jahreskarten ande- Shut-Down zurückzugewinnen und einen ren ÖPNV-Systemen mit höheren Anteilen an zweiten Shut-Down auf jeden Fall zu verhin- Pay-per-use-Kunden (z. B. in Asien oder im dern. angelsächsischen Raum) eindeutig im Vorteil. Die Erlöseinbrüche fallen hierzulande in der Selbst im besten Fall erwarten wir aber zwei ersten Phase daher bei weitem nicht so kri- verlorene Jahre für die dringend nötige Ver- tisch aus, wie in Ländern mit einer Dominanz kehrswende. Die daraus resultierenden ver- von Pay-per-use-Kunden. kehrspolitischen Implikationen sind katastro- phal. Jetzt ist daher dringend eine In unseren Szenarien zeigt es sich aber ein- vorausschauende und zupackende Verkehrs- deutig, dass der Abo-Bestand umso gefährde- politik gefragt, damit die anstehenden Kon- ter ist, je länger die Krise anhält bzw. je stär- junkturpakete nicht durch falsche Anreize und ker der ÖPNV in den Verdacht als fehlenden Ausgleich des derzeitigen massiven „Virusschleuder“ gerät. Eine dezidierte Rückschlags für die ÖPNV-Branche im Hygienestrategie ist daher ein wesentlicher schlimmsten Falle zu einer „Verkehrtwende“ Baustein der Abo-Strategie, ein weiterer ist in Deutschland führen. eine Kompensation der Nichtnutzung des ÖPNV für Stammkunden. Hierzu gibt es zwei Ansätze: 1. Das Aussetzen monatlicher Abo-Zahlungen während der Pandemie bzw. die direkte Gut- schrift im Falle von Jahreskarten nach Vorbild der SBB mit ihrem Generalabonnement 2. Die Anrechnung auf Folgemonate bzw. Neukäufe von Jahreskarten nach Vorbild der Deutschen Bahn mit ihrer BahnCard 100 Der zweite Ansatz ist nach unserer Ansicht insbesondere bei Jahreskarten der vielverspre- chendere Ansatz und lässt sich auch auf Abonnements übertragen. Der Fahrgast wird vollumfänglich entschädigt und erhält auch einen Anreiz, in der erlösseitig schwierigen Postpandemiezeit weiterhin den ÖPNV zu nutzen und nicht in andere Verkehrsmittel abzuwandern. Gleichzeitig ist der zweite An- satz auch kurzfristig liquiditätsschonender.
16 COVID-19 — SZENARIEN ÖPNV
COVID-19 — SZENARIEN ÖPNV 17 Datengrundlagen und Quellen › Mobilität in Deutschland (MiD) › Bundestagsdrucksache: http://dipbt.bun- destag.de/dip21/btd/18/081/1808180.pdf › Statistisches Bundesamt: Verkehr: Perso- nenverkehr mit Bussen und Bahnen (Fach- serie 8 Reihe 3.1) › Statistisches Bundesamt: Diverse Indizes zur Preis- und Kostenentwicklung Herausgeber: Bearbeitung: civity Management Consultants Friedemann Brockmeyer GmbH & Co. KG Jan Heistermann Matthias Schulz Anschrift: Gestaltung: civity Management Consultants Jasmin Häußermann GmbH & Co. KG Große Reichenstraße 27 20457 Hamburg Telefon: +49.40.181 22 36-50 info@civity.de www.civity.de Zitierhinweis: civity Management Consultants (Hrsg.): Verkehrswende: aufgehoben oder aufgeschoben? — Corona-Szenarien für den ÖPNV, Hamburg, 2020 © civity Management Consultants GmbH & Co. KG, Hamburg, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der civity Management Consultants GmbH & Co. KG, Hamburg. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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