Verst andnisorientierter Stochastikunterricht am Gymnasium: Anforderungen an die Lehrerbildung

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Verständnisorientierter Stochastikunterricht am
                      Gymnasium:
         Anforderungen an die Lehrerbildung
                TU Braunschweig, 9. Januar 2020

Norbert Henze, Institut für Stochastik, Email: Norbert.Henze@kit.edu

                                                            Norbert Henze, KIT   0 -   1
Stochastik am Gymnasium: Bestandsaufnahme

  1 Stochastik am Gymnasium: Bestandsaufnahme

         Festzustellen ist (nicht nur in Baden–Württemberg):

                 starke Rezeptorientierung,
                 Mathematik wird auf dem Altar vermeintlichen Praxisbezugs anhand teils
                 haarsträubender Einkleidungen geopfert,
                 der gesunde (kritische) Menschenverstand wird ausgeschaltet,
                  Testeritis“,
                 ”
                 die Binomialverteilung muss kritiklos für alles herhalten,
                 kaum Begründungen,
                 oft wird kein begriffliches Verständnis vermittelt,
                 zum Teil schwammige Begriffe.

                                                                               Norbert Henze, KIT   1 -   1
Stochastik am Gymnasium: Bestandsaufnahme

           1.1 Beispiel (Aufgabe aus [LSK])
         Die Stadtverwaltung behauptet, dass maximal 40% der Einwohner das Freibad
         nutzen. (aus welchem Grund?)
         Die Redaktion der Lokalzeitung glaubt, dass es deutlich mehr sind. (warum?)
         Sie lässt dazu einen Test durchführen.
          Die Behauptung der Stadtverwaltung wird als Nullhypothese angenommen
         und auf der Basis einer Umfrage unter 120 Einwohnern auf einem
         Signifikanzniveau von 5% getestet.
            a) Bestimmen Sie den Ablehnungsbereich und die Entscheidungsregel des
               Tests.
           b) Geben Sie die Irrtumswahrscheinlichkeit an.

         Bestandteil der Lösung: Annahme einer Binomialverteilung (!) für die zufällige
         Anzahl der Nutzer des Freibades.

                                                                             Norbert Henze, KIT   1 -   2
Stochastik am Gymnasium: Bestandsaufnahme

           1.2 Beispiel (Standardabweichung, aus [LS10])

         Für eine beliebige Wahrscheinlichkeitsverteilung ist festgelegt:
                        p
                   σ = (x1 − µ)2 · P(X = x1 ) + . . . + (xn − µ)2 · P(X = xn )

         (Standardabweichung einer Zufallsvariablen X, dabei: µ = E(X)).

          1.3 Satz Eine Bin(n, p)-verteilte Zufallsvariable hat die Standardabweichung
          p
           np(1 − p).

         Man kann zeigen: Wenn bei einer Binomialverteilung die Parameter n und p (!)
         genügend groß sind, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Trefferanzahl
         um höchstens σ vom Erwartungswert µ abweicht, ca. 68%.

                        https://youtu.be/ub 7ttJvZj8?t=10

                                                                            Norbert Henze, KIT   1 -   3
Stochastik am Gymnasium: Bestandsaufnahme

          1.4 Beispiel (die allgemeine binomische Formel)
                                                                  
         Aufgabe aus [LS10]: a) Berechnen Sie 30 , 31 , 32 und      3
                                                                    3
                                                                      . Vergleichen Sie die
         Zahlen im Pascalschen Dreieck rechts.
         b) Multiplizieren Sie (a + b)3 aus. Vergleichen Sie die vorkommenden
         Koeffizienten mit den Ergebnissen aus Teilaufgabe a). Gehen Sie analog bei
         den Termin (a + b)2 und (a + b)4 vor.
         c) Geben Sie eine entsprechende Formel wie in Teilaufgabe b) für (a + b)5 und
         für (a + b)6 an.
                                              n
                                                     !
                                             X     n k n−k
         Aufgabe aus [BH]: Zeige: (a + b)n =           a b    .
                                                   k
                                               k=0
                                            k n−k
         Überlege, wie oft der Summand a b         bei der Multiplikation entsteht.

                        https://www.youtube.com/watch?v=Xq1gr8BTT6E

                                                                             Norbert Henze, KIT   1 -   4
Stochastik am Gymnasium: Bestandsaufnahme

           1.5 Beispiel (Zur Rekursionsformel für die Binomialkoeffizienten)
         Man beobachtet am Pascalschen Dreieck:
                                  !          !             !
                                n       n−1            n−1
                                    =           +           .
                                k       k−1             k

         Beweis: Mit der Formel zur Berechnung der Binomialkoeffizienten gilt
                      !
                 n−1                    (n − 1)!                   (n − 1)!
                           =                              =                    ,
                 k−1           (k − 1)!(n − 1 − (k − 1))!     (k − 1)!(n − k)!
                      !
                 n−1              (n − 1)!           (n − 1)!
                           =                   =                 .
                   k           k!(n − 1 − k)!     k!(n − k − 1)!

         Nun werden diese beiden Brüche addiert usw. (aus [LS10]).
                                           
         Man hat vorher gelernt: Es gibt nk Möglichkeiten, aus n Dingen k
         auszuwählen (ohne Berücksichtigung der Reihenfolge).
         Warum zeigt man nicht auch, dass man gar nicht hätte rechnen müssen?

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Anforderungen an die Lehrerbildung

  2 Anforderungen an die Lehrerbildung

                  Lebendige Stochastik mit vielen Aha-Momenten!
                  Begriffe ausgiebig beleuchten!
                  Redundanz (Wiederhol-Effekt)
                  Falls möglich, mehrere Lösungswege (Einsichten fördern)
                  Verknüpfung mit Erklärvideos
                  Lehrer-Beruf(ung)!

          Youtube-Kanal Stochastikclips“
                         ”
              zur Zeit 61 selbst erstellte Videos
                  Verlinkung mit einer komplett aufgezeichneten Vorlesung Einführung in
                                                                           ”
                  die Stochastik für Studierende des gymnasialen Lehramts Mathematik“

          Buch: Stochastik für Einsteiger, 12. Auflage. Springer Spektrum 2018
          (mit Links auf 220 Videos)

                                                                               Norbert Henze, KIT   2 -   1
Anforderungen an die Lehrerbildung

          Lehrveranstaltung: Einführung in die Stochastik für Studierende des
          gymnasialen Lehramts Mathematik

          Umfang: V4 + Ü2 + T2

          Nebenbedingungen:
                  Einzige Pflichtveranstaltung im Bereich Stochastik,
                  Keine Kenntnisse des Lebesgue-Integrals,
                  wird ab dem 4. Semester gehört.

           Revolutionäres“ Konzept: Vorlesung findet (fast) ohne Tafel statt.
          ”
          Video Mathematik ohne Tafel?!“
                ”
          https://www.youtube.com/watch?v=ACTLfIRwVmU&list=PLtexvciJ0k3Hv49-RRKBbWlVqamazYeCA

                                                                             Norbert Henze, KIT   2 -   2
Anforderungen an die Lehrerbildung

                  Technische Plattform: LaTeX-Folien
                  Student(inn)en hatten vorab Handout-Versionen
                  Folien (zum Teil mit Lücken) bauen sich langsam auf
                  Immenser Vorteil: Größeres Verständnis
                  Wichtiges didaktisches Element: Memos“
                                                    ”
                  Auf vielen Folien Links zu Erklärvideos
                  Vorlesung im SS 2015 wurde komplett aufgezeichnet
                  (insgesamt 27 Lektionen mit Bookmarks)

          https://www.youtube.com/watch?v=CXSyMvzl8cY&list=PLtexvciJ0k3FWWdVjJNlItYuXHhRn1Qpf

                                                                             Norbert Henze, KIT   2 -   3
Anforderungen an die Lehrerbildung

          Inhaltsverzeichnis
          1. Grundräume und Ereignisse
          2. Zufallsvariablen
          3. Diskrete Wahrscheinlichkeitsräume
          4. Kombinatorik
          5. Urnen- und Fächer-Modelle
          6. Der Erwartungswert
          7. Binomialverteilung und hypergeometrische Verteilung
          8. Modellierung mehrstufiger Experimente
          9. Bedingte Wahrscheinlichkeiten
          10. Stochastische Unabhängigkeit
          11. Zufallsvektoren, gemeinsame Verteilung
          12. Varianz, Kovarianz, Korrelation
          13. Die Multinomialverteilung
          14. Wartezeitverteilungen

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Anforderungen an die Lehrerbildung

          15. Die Poisson-Verteilung
          16. Bedingte Erwartungswerte und bedingte Verteilungen
          17. Erzeugende Funktionen
          18. Grenzwertsätze
          19. Pseudozufallszahlen und Simulation
          20. Deskriptive Statistik
          21. Induktive Statistik: Punktschätzung
          22. Induktive Statistik: Konfidenzbereiche
          23. Induktive Statistik: Statistische Tests
          24. Allgemeine Modelle
          25. Grundlegende stetige Verteilungen
          26. Kenngrößen von Verteilungen
          27. Mehrdimensionale stetige Verteilungen

          Kapitel 1–23 benötigen nur Analysis 1 und Lineare Algebra 1.
          Eine Beispielfolie:

                                                                          Norbert Henze, KIT   2 -   5
Anforderungen an die Lehrerbildung

            Memo: U ≤ V =⇒ E U ≤ E V,                  E 1A = P(A)

              2.1 Satz (Tschebyschow-Ungleichung)
              Für jedes (noch so große) ε > 0 gilt

                                                                  V(X)
                                             P(|X − EX| ≥ ε) ≤         .
                                                                   ε2

                                                 2                                  h(x)
                                           X − EX
          1{|X − EX| ≥ ε} ≤
                                              ε                                                 g(x)
          |          {z              }   |    {z  }        1
                    = g(X)                 = h(X)

                                             √                                                       x
               E g(X) ≤ E h(X)
                                                               EX −ε       EX        EX +ε

                                                    e ≥ ε) ≤ 1 .
                       e standardisiert, so gilt P(|X|
          Beachte: Ist X
                                                             ε2

                          https://www.youtube.com/watch?v=9ASY99N94ik

                                                                                Norbert Henze, KIT       2 -   6
Anforderungen an die Lehrerbildung

          Übungs- /Tutoriumsbetrieb:

                  Übungsaufgaben unterschiedlich gekennzeichnet
                  (Ü): zur Übung des behandelten Stoffes.
                  (E): zur Ergänzung des Stoffes (Lösungen vorher bekannt)

                  Jedes Übungsblatt weist QR-Code auf, der zu einer Umfrage führt.
                  Man konnte Wünsche äußern:
                          Was soll auf jeden Fall besprochen werden?
                          Welche Vorlesungsinhalte sollten wiederholt werden?
                          Allg. Wünsche/Kritik zum Vorlesungs- und Übungsbetrieb
                          AktivPausen!

                                                                                     Norbert Henze, KIT   2 -   7
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

  3 Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)
            3.1 Beispiel (Bingo!)

                                                15           36 46          63 84
                                                      24 37            53          77 80
                                            9         25          44 51            70

          In einer Lostrommel sind Kugeln mit den Zahlen 1, 2, 3, . . . , 89, 90.
          Wie viele Kugeln müssen für ein Bingo! gezogen werden?
          Sei X die dazu nötige zufällige Anzahl. Schätzwert für E(X)?
          Sei Y die Wartezeit, bis die 51 gezogen wird.
                                 1                     1                           1
          P(Y = 1) =            90
                                   ,     P(Y = 2) =   90
                                                         ,   . . . , P(Y = 90) =   90
                                                                                      .
                                     1         1                 1
                                     E(Y ) = 1 ·
                                        +2·       + . . . + 90 ·    = 45, 5.
                                    90        90                 90
          Geben Sie einen zweiten Schätzwert für E(X) ab!

                                                                                           Norbert Henze, KIT   3 -   1
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

                                             15           1
             P(X = 90)               =                =        ≈   0,1667,
                                             90           6
                                             75     15
             P(X = 89)               =            ·            ≈   0,1404,
                                             90     89
                                             75     74 15
             P(X = 88)               =            ·    ·       ≈   0,1181,
                                             90     89 88
                                             75     74 73 15
             P(X = 87)               =            ·    ·  ·    ≈   0,0991
                                             90     89 88 87
             P(X ≥ 87)                   ≈   0,5243

          Geben Sie einen dritten Schätzwert für E(X) ab! (E(X) = 85.3125)

                                                                             Norbert Henze, KIT   3 -   2
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

                  P(X = k)

         .15

         .10

         .05

                           10            20   30   40   50   60    70      80          90 k
                                                                                E(X)
          Verteilung von X ist die Verteilung der größten Gewinnzahl beim 15 aus
          90-Lotto!

                                                                          Norbert Henze, KIT   3 -   3
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

            3.2 Beispiel (Einsen vor erster Sechs)
          Aufgabe: Ein echter Würfel wird so lange geworfen, bis die erste Sechs auftritt.
          Wie wahrscheinlich ist es, vorher
             a) mindestens eine Eins zu werfen?
             b) genau zwei Einsen zu werfen?
                                                   P
            Memo: Formel von der totalen W’: P(B) = ∞k=1 P(Ak )P(B|Ak ).
                                   !
                            X∞
            Memo: Dabei: P      Ak = 1, P(Ak ) > 0, k ≥ 1.
                                              k=1

          Mein ursprünglicher Ansatz: Sei

                            Ak           :=
                               { erste Sechs im k-ten Wurf“},
                                ”
                      B := { mindestens eine Eins vor der ersten Sechs“},
                                ”
                      C := { genau zwei Einsen vor der ersten Sechs“}
                                ”
                             k−1
                             5       1
          Es gilt: P(Ak ) =            , k ≥ 1.
                             6       6

                                                                             Norbert Henze, KIT   3 -   4
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

          Weiter gilt P(B|A1 ) = 0 und für k ≥ 2
                                                                                  k−1
                                                                                  4
                                         P(B|Ak ) = 1 − P(B c |Ak ) = 1 −
                                                                                  5

          Analog: P(C|A1 ) = 0 = P(C|A2 ). Für k ≥ 3 gilt
                                                 !   
                                                        2    k−1−2
                                          k−1       1      4
                            P(C|Ak ) =
                                            2       5      5

          Rechnen (Formel von der totalen Wahrscheinlichkeit) liefert
                                                            1              1
                                                   P(B) =     ,   P(C) =     .
                                                            2              8
            Einsicht? Warum diese Wahrscheinlichkeiten?

          Die Zahlen 2 bis 5 sind irrelevant. Sie vergeuden nur Zeit!

                                               1      2      3    4   5          6

                                                                                          Norbert Henze, KIT   3 -   5
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

            3.3 Beispiel (Das Schnur-Orakel)

          n Schnüre (im Bild n = 4) werden in der Mitte festgehalten, so dass 2n Enden
          frei sind. Diese Enden werden rein zufällig verknotet.

          Welchen Erwartungswert (welche Verteilung) besitzt die Anzahl Rn der dabei
          entstehenden (geschlossenen) Ringe?

                                                                          Norbert Henze, KIT   3 -   6
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

                     Sei Aj         :=         {j-te Verknotung führt zu einem Ring},        j = 1, . . . , n
                                               Xn
                  =⇒ Rn              =             1{Aj }
                                               j=1

                                                          1            1          1
          Bei n = 4 Schnüren: P(A1 ) =                     , P(A2 ) = , P(A3 ) = , P(A4 ) = 1
                                                          7            5          3
                                            1                 1                        1
              Allg.: P(A1 ) =                    , P(A2 ) =        , . . . , P(An−1 ) = , P(An ) = 1.
                                          2n − 1            2n − 3                     3

                                         n
                                         X                                         X1 X 12n            n
                                                               1  1         1
                E(Rn )         =               P(Aj ) = 1 +      + +... +        =      −
                                         j=1
                                                               3  5       2n − 1   k=1
                                                                                       k j=1 2j
                                         log n
                               ≈               + 0.98175
                                           2

                             n                   4       10        100   1000    106           109
                           E(Rn )              1.68     2.18      3.28   4.44    7.89         11.34

                                                                                                 Norbert Henze, KIT   3 -   7
Konkrete Beispiele (für Aha!-Momente)

          Literatur:
          [BH]: Barth, F., Haller, R.: Stochastik. Leistungskurs. Verlag Ehrenwirth,
          München, 1992.
          [H09]: Henze, N.: Wie viele Vieren vor der ersten Sechs? Der Mathem.-Naturw.
          Unterr. 62, 2009, S. 464–465.
          [H13]: Henze, N.: Weitere Überraschungen im Zusammenhang mit dem
          Schnur-Orakel. Stochastik in der Schule 33(3) 2013, S. 18–23.
          [HH]: Henze, N., Humenberger, H.: Stochastische Überraschungen beim Spiel
          Bingo. Stochastik in der Schule 31(3), 2011, S.2–11.
          [LS10]: Lambacher Schweizer: Mathematik für Gymnasien Baden–Württemberg
          10. Ernst Klett-Verlag. Stuttgart. Leipzig, 2016.
          [LSK]: Lambacher Schweizer: Mathematik für Gymnasien Baden–Württemberg.
          Kursstufe. Ernst Klett-Verlag. Stuttgart. Leipzig, 2017.

                               http://www.math.kit.edu/stoch/~henze/

                                                                            Norbert Henze, KIT   3 -   8
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