Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
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G 8619 Bangladesch Zeitschrift 2/2020 Vertrieben und vergessen? Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch
Weitgereister Dichter und Brückenbauer Trauer um Alokaranja Dasgupta NETZ - Bangladesch Zeitschrift Nr. 2, 42. Jahrgang, 29.12.2020 Thema: Von Max Stille Rohingya auf der Flucht Gefördert aus Mitteln des Kirchli- Spielball Myanmars und der chen Entwicklungsdienstes durch Anrainergroßmächte Brot für die Welt - Evangelischer Ursachen für die Verfolgung und Entwicklungsdienst. Vertreibung der Rohingya Von Dirk Saam IMPRESSUM 24 Herausgeber: NETZ Partnerschaft für Entwicklung und Gerechtigkeit e.V. Politik und Gesellschaft Moritz-Hensoldt-Str. 20 / 35576 Wetzlar Nachrichten aus Bangladesch Telefon: 06441– 974630 Fax: 06441–9746329 Bangladesch im Corona-Jahr E-Mail: zeitschrift@bangladesch.org 4 ISSN: 1619-6570 26 „Es muss lokal gedacht werden, v.i.S.d.P.: Dirk Saam um die Probleme anzugehen“ Layout: Dani Lima Zur Lage geflüchteter Rohingya NETZ aktiv Druck: w3 print+medien im Südosten Bangladeschs Redaktion: Anna Cijevschi, Marie Meldungen aus der NETZ- Luise Fischer, Kai Fritze, Niko Richter, Im Interview: Meghna Guhatakurta Geschäftsstelle, Aktionen und Dirk Saam, Sven Wagner Nachrichten. (Leitung und Gesamtkoordination), 13 Linda Wallbott. 27 Die ewige Flucht Titelbild: UN Women Gallery/ Was die Verteibung aus Myanmar licensed under CC BY-NC-ND 2.0 bedeuten kann Freiwilligendienste bei NETZ Von Sven Wagner Namentlich gekennzeichnete Bei- träge geben nicht in jedem Fall die 18 Meinung von Herausgeber und Redaktion wieder. Geschlechter- gerechte Sprache: Die Autor*innen Kultur und interviewten Personen ent- scheiden, in welcher Form ihr Bei- Heimatklänge fernab von 28 trag veröffentlicht wird. zuhause Über die Musikkultur der NETZ-Mitgliederversammlung und Rohingya im Exil Bangladesch-Tagung 2020. Die Zeitschrift erscheint viertel- 22 30 jährlich. Jahresabonnement: 20 € / Einzelexemplar: 5 €. www.bangladesch.org
NETZ 2/2020 VERTRIEBEN UND VERGESSEN? Liebe Leser*innen, es bietet sich an, in das The- Viele derjenigen, denen die Flucht ma dieser Zeitschrift mit Zah- nach Bangladesch geglückt ist, len und Fakten einzuleiten: zum haben Familienmitglieder, ihre Beispiel, dass laut UNO-Flücht- Nachbarn und Freunde verloren lingshilfe Ende 2019 mit 79,5 Mil- oder wurden auf der Flucht von lionen Menschen mehr als ein ihren Familienmitgliedern ge- Prozent der Weltbevölkerung trennt. Inzwischen leben sie seit auf der Flucht waren. Das ent- Jahren unter teils prekären Be- spricht in etwa der Einwohner- dingungen im weltweit größ- zahl Deutschlands. Oft werden ten Camp für geflüchtete Men- solche Zahlen herangezogen, um schen – ohne Perspektive, weder zu verdeutlichen, dass Flucht und auf eine Rückkehr in die Heimat, Migration zu den größten globa- noch auf die Integration in das len Herausforderungen unserer Land, in das sie geflüchtet sind. Kai Fritze Zeit gehören. Die gegenwärtige Corona-Pande- Redaktionsmitglied mie sorgt gleichzeitig dafür, dass Dies birgt jedoch die Gefahr, zu diese humanitäre Katastrophe im vergessen, dass Zahlen nur ab- Südosten Bangladeschs aus dem strakte mathematische Objekte Blickfeld der Weltöffentlichkeit sind. Hinter jeder von ihnen ste- geraten ist. hen Menschen, die oft grausame und traumatisierende Schicksale Al-Hussein konstatierte auf ei- erleiden mussten. Wie im Fall der ner Sondersitzung des UN-Men- eine Million Rohingya, die seit schenrechtsrats in Genf 2017, dass August 2017 aus dem myanmari- die Rohingya „entmenschlicht“ schen Teilstaat Rakhine auf grau- würden. Diese Ausgabe der Ban- samste Art vertrieben wurden gladesch-Zeitschrift informiert und die seither in Bangladesch Sie umfassend über die Ursachen Schutz suchen. und Hintergründe des Rohingya- Konflikts. Wir hoffen dabei un- Von „Vertreibung“ zu sprechen serem eigenen Anspruch gerecht ist in dieser Sache eigentlich ein zu werden, bei allen berechtigten Euphemismus. Nicht umsonst Analysen von Konfliktursachen stellte der damalige Hohe Kom- und Diskussionen von Fluchtsta- missar der Vereinten Nationen tistiken nicht die Menschen hin- für Menschenrechte, Seid Raad ter den Zahlen zu vergessen. al-Hussein, 2017 die Frage, ob noch irgendjemand bestreiten Eine anregende Lektüre wünscht könne, dass die Attacken gegen Ihnen die Rohingya in Myanmar Ele- mente eines Genozids aufwiesen. Kai Fritze Je nach Quelle hat das myanma- rische Militär seit Mitte 2017 zwi- schen 10.000 und über 40.000 Rohingya umgebracht, unzähli- ge Frauen vergewaltigt und ganze Dörfer niedergebrannt. 3
NETZ 2/2020 Spielball Myanmars und der Anrainergroßmächte Ursachen für die Verfolgung und Vertreibung der Rohingya und Konfliktpotenziale Text: Dirk Saam Fotos: Noor Ahmed Gelal Über 720.000 Rohingya flohen seit August 2017 vor den gewaltsamen Aktionen der Militärs Myanmars und lokaler Mili- zen aus dem Teilstaat Rakhine im Südwesten Myanmars über die Grenze nach Bangladesch, wo binnen Wochen das größ- te Geflüchteten-Camp der Welt entstand. Fragt man nach den Gründen für die gewaltsame Vertreibung, erschöpfen sich Erklärungen häufig darin, auf einen ethnisch-religiösen Konflikt zwischen der mehrheitlich muslimischen Minderheit der Rohingya und Vertreter*innen der buddhistischen Mehrheitsgesellschaft in Myanmar zu verweisen. Dabei zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem Konflikt eine zweite abweichende Lesart, die wirtschaftliche und geopolitische Interessen Myanmars sowie regionaler und internationaler Akteur*innen als entscheidende Ursachen für die Vertreibung der Rohin- gya identifiziert. Um beiden Perspektiven gerecht zu werden, beginnt dieser Beitrag mit einer Darstellung der Verknüpfung der kulturellen Dimension des Konflikts mit dem historischen Kontext. Im zweiten Teil behandelt er die wirtschaftlichen und geopolitischen Dimensionen des Konfliktes. Koloniales Erbe als dischen Subkontinent: Bankiers sichts der viele Generationen, die Konfliktursache und Kaufleute, die führende Posi- seither hier lebten sowie der Tat- Die britische Kolonialherrschaft tionen in der birmesischen Wirt- sache, dass die Umsiedlung nicht im damaligen Birma (1824-1948) schaft übernahmen; Beamt*innen zwischen zwei Staaten sondern gilt als eine wichtige Einfluss- und Büroangestellte, die zahlrei- von einem Bezirk des britischen größe auf die heute sichtbaren che Posten in der Verwaltung be- Kolonialreiches in einen anderen Konfliktlinien in Rakhine, zum setzten; Landarbeiter*innen, die vollzogen wurde. Beispiel durch Eingriffe in die man für die Bestellung der Reis- Andererseits verdeutlicht diese Wirtschafts- und Gesellschafts- felder brauchte. Bezeichnung eine empfundene strukturen des Landes. *(siete 12) Im Distrikt Akyab zum Beispiel Überfremdung, die wiederum die Von 1824 bis 1826 führten die Bri- (dem heutigen Sittwe in Rakhi- Verbreitung xenophoben Gedan- ten einen Krieg gegen das da- ne) verdreifachte sich die mus- kenguts begünstigte, das in einen malige Königreich, der mit der limische Bevölkerung von 1871 rassistisch gefärbten, ökonomi- Annektierung der Region des bis 1911, während die Bevölke- schen Nationalismus mündete, heutigen Rakhine durch Britisch- rung von Rakhine nur um knapp der bis heute andauert. Beispiele Indien endete. In den folgenden ein Fünftel wuchs. Die Einwan- dafür sind die anti-indischen und Jahrzehnten unterwarfen die Bri- derung nach Birma erreich- anti-muslimischen Bewegungen ten das ganze Land und schlugen te 1927 einen Höchststand von der 1920er und 1930er Jahre. Diese es ihrem Kolonialgebiet auf dem 480.000, ein Anteil von knapp 4 Bewegungen brachten anti-mus- indischen Subkontinent zu. Ent- Prozent der Gesamtbevölkerung limische Milizen hervor, die 1942 scheidend für die Situation der von 13 Millionen. Ein Großteil im Zuge der britischen Niederla- Rohingya heute sind die wirt- der mehrheitlich muslimischen ge gegen das einmarschierende schaftlichen, sozialen und de- Rohingya stammt vermutlich Japan im heutigen Rakhine An- mografischen Umwälzungen, die von den Arbeitsmigrant*innen griffe auf Muslim*innen verüb- damit einhergingen. Mit den Ko- ab, die zu dieser Zeit in der Re- ten. Im Kampf gegen die japani- lonialherren kam das Christen- gion angesiedelt wurden. Gleich- schen Truppen bewaffneten die tum in das mehrheitlich buddhis- wohl werden sie von der Regie- Briten die Rohingya und zwangen tisch geprägte Birma; es kamen rung Myanmars heute noch als sie, an ihrer Seite zu kämpfen. Im aber auch nicht-buddhistische „Einwanderer*innen“ bezeichnet Verbund mit der britischen Kolo- „Gastarbeiter*innen“ aus dem in- – eine doppelte Paradoxie ange- nialmacht eroberten die Rohing- 4
VERTRIEBEN UND VERGESSEN? Schon seit Jahrzehnten fliehen Rohingya immer wieder vor Gewalt in ihrer Heimat Myanmar in das be- nachbarte Bangladesch. Die Route geht oft entlang der Grenzregion am Golf von Bengalen. 5
NETZ 2/2020 ya Rakhine zurück, versursachten kehrten, von der buddhistischen derungen der durch ausländi- dabei allerdings viel Leid unter Mehrheitsgesellschaft und dem sche Akteur*innen dominierten der buddhistischen Bevölkerung, Staat als illegale bengalische Wirtschaft, so dass beispielwei- so dass das Feindbild „Rohiny- Immigrant*innen betrachtet und se ab 1962 zwischen 125.000 und ga“ weiter gestärkt wurde. Nach mit Ablehnung und Ausgren- 300.000 Inder das Land verlassen dem Abzug der Briten fürchteten zung gestraft. mussten. Außerdem führte sie zu die Rohingya im postkolonialen Im weiteren Verlauf des 20. Jahr- repressiven Gesetzgebungen, die Birma Vergeltungsaktionen und hunderts diente diese durch den Staatsbürgerschaft und Ethnizi- kämpften für eine Angliederung Kolonialismus bedingte Migra- tät verknüpften und die Rohin- des nördlichen Rakhine an das tion zur Legitimation eines bir- gya ab den 1980er Jahren de fac- damalige Ostpakistan, das heuti- mesischen ökonomischen Na- to zu Staatenlosen machten und ge Bangladesch. Bis in die 1950er tionalismus. Einer angeblichen die „Bewegung 969“ etablierte Jahre bekämpfte die birmesische Überfremdung setzten birme- sich, die nach den Terroranschlä- Armee diesen Aufstand. sische Regierungen den Traum gen vom 11. September 2001, zum Als Erbe der kolonialen Fremd- von einem ethnisch gereinigten Boykott muslimischer Geschäfte herrschaft und des zweiten Welt- und religiös im Buddhismus ge- und Produkte aufrief. krieges wurden Muslim*innen, einten Birma entgegen. Die Po- Der Verlust der Souveränität und die in Birma geblieben waren litik der „Birmanisierung“ fand die gesteuerte Einwanderung oder zu späteren Zeitpunkten ihren Niederschlag unter an- mehrheitlich muslimischer Be- sukzessive nach Rakhine zurück- derem in strukturellen Verän- völkerungsgruppen hinterließen Quasi aus dem Nichts ist in Kutupalong ein riesiges Siedlungsgebiet der Rohingya entstanden. 6
VERTRIEBEN UND VERGESSEN? traumatische Spuren im kol- lektiven Bewusstsein der Mehr- Burma, Birma, Myanmar heitsgesellschaft. Diese Spuren können als Treiber für das Be- Mit dem Gesetz zur Anpas- hen. Oppositionelle, ethnische streben angesehen werden, bir- sung von Bezeichnungen vom Gruppen im Land sowie mehrere mesischen Nationalismus und 18. Juni 1989 hat das Militärre- westliche Länder hielten jedoch Buddhismus als dominante Ele- gime eine umfassende Umben- an „Burma“ bzw. äquivalenten mente eines postkolonialen ennung für den Landesnamen Bezeichnungen in anderen Spra- Staates zu begreifen und eth- wie auch für weitere Bezeichnun- chen fest und drückten damit nische und religiöse Minder- gen beschlossen. Daraufhin ent- ihre Nichtanerkennung des Mili- heiten zu stigmatisieren und zündete sich eine Kontroverse tärregimes aus. Die UN, die EU, zu verfolgen. Heute äußert sich um den Umgang mit dem neuen Deutschland und einige andere dies in Myanmar weiterhin in offiziellen Landesnamen. „Myan- Länder übernahmen den neuen einer weit verbreiteten Sicht- mar“ und die bis dahin gelten- Namen „Myanmar“. Seit Beginn weise, die Religion und Kultur den Landesnamen „Burma“ bzw. der Reformpolitik wird der neue der Mehrheitsbevölkerung sei im deutschen „Birma“ sind seit- Name offiziell von immer mehr durch Muslim*innen bedroht her mit einer bestimmten poli- Ländern verwendet. Burma wie und könne nur durch rigoro- tischen Haltung verknüpft. Da auch Myanmar sind Transkriptio- se Gegenmaßnahmen geschützt die gesetzliche Namensände- nen aus dem Birmanischen ins werden. Dass in Myanmar nur rung ohne öffentliche Konsulta- Englische. „Myanma“ ist die hoch- rund drei Prozent der Bevölke- tion erfolgte, wurde sie von vie- sprachliche Form, „Bama“ wird rung Muslim*innen sind, spielt len nicht angenommen. Offizi- von den Menschen als umgangs- dabei scheinbar keine Rolle. Das ell wurde die Namensänderung sprachlicher Ausdruck für ihr Narrativ der Bedrohung wird damit begründet, dass man sich Land benutzt. Die Briten orien- von der myanmarischen Regie- des von den Briten geprägten tierten sich am „Bama“ und nann- rung, dem Militär sowie Religi- Namens „Burma“ aus der Kolo- ten das Land „Burma“ (Union ons- und Bildungsinstitutionen nialzeit entledigen wollte. Nach of Burma). Das Wort „Birma“ im seit Jahrzehnten bedient. der Lesart des Militärs würde Deutschen wurde aus dem Eng- die neue Bezeichnung „Myan- lischen abgeleitet. Ebenso das Landnahme und Geopolitik mar“ auch alle Ethnien des Lan- Wort „Myanmar“. als Konfliktursachen des, nicht nur die Mehrheitsbe- Die Vertreibung der Rohingya völkerung der Bamar, einbezie- Quelle: Burma-Initiative in den vergangenen Jahrzehn- ten (große Fluchtbewegungen gab es u.a. bereits 1978 und 1991) nehmend zu Landrechtsverlet- völkerung oder Kompensation ausschließlich mit ethnisch-reli- zungen und der Vertreibung der und geht mit Gewalt einher. Auch giös bedingten Konflikten zu er- lokalen Bevölkerung, unter ande- in Myanmar verloren – vor allem klären, wäre allerdings zu kurz rem im strategisch wichtigen seit den 1990er Jahren – kleinbäu- gegriffen. Vielmehr muss ihre Küstenstaat Rakhine. erliche Betriebe einen Großteil Vertreibung – wie auch Myan- ihres Landbesitzes. Begünstigt mars Konflikte mit anderen Min- Schaffung rechtlicher Rahmen- wurde dies durch eine Gesetzes- derheiten im Nordosten des Lan- bedingungen für zunehmende novelle im Jahr 2012, das großflä- des – im Zusammenhang mit Landnahme chige Aneignung von Land durch Myanmars Bestreben nach wirt- Weltweit sind die vergangenen 20 private und staatliche Unterneh- schaftlichem Wachstum, auch Jahre gekennzeichnet durch ei- men ermöglicht. Laut der Nicht- durch Kooperationen mit regi- nen massiven Anstieg von Land- regierungsorganisation Forest onalen Handelspartner*innen aneignung zur kommerziel- Trends hat die Umverteilung von und steigenden ausländischen len Nutzung durch private und Land zugunsten des Baus von In- Direktinvestitionen, und der da- staatliche Unternehmen. Häufig frastruktur- und Großprojekten mit einhergehenden Ausbeutung verläuft diese Landnahme ohne zwischen 2010 und 2013 um 170 natürlicher Ressourcen gesehen Beteiligung oder Widerspruchs- Prozent zugenommen. Von Land- werden. Hierdurch kommt es zu- recht der betroffenen lokalen Be- nahme waren in den vergangenen 7
NETZ 2/2020 Jahren aber nicht nur Rohing- ya betroffen, sondern auch bud- dhistische kleinbäuerliche Be- triebe. An ihrer Stelle sind unter anderem Großprojekte zur Ge- winnung von Bauholz und für den Bergbau entstanden. Seit 2012 ermöglichen es zu- dem neue Gesetze ausländischen Investor*innen, Projekte in My- anmar mit 100 Prozent Eigenka- pital zu finanzieren und Land für bis zu 70 Jahre zu pachten. Gleich- zeitig wurden formale Vorgaben geschaffen, die Kleinbäuer*innen den Zugang zu Land erschwe- ren. Seit den Gesetzesänderun- gen haben ausländische Direk- tinvestitionen denn auch massiv zugenommen, vor allem im Roh- stoff- und Energiesektor. Allein in den Gebieten, in denen Rohingya leben, sind laut Forschungsins- titutionen seit 2012 1,2 Millionen Hektar umverteilt worden. 2012 begannen auch gezielte Aktivi- täten zur Vertreibung der Rohin- gya durch politische Parteien in Rakhine und extremistische bud- dhistische Bewegungen. Laut den Vereinten Nationen kamen dabei Auf der Flucht waren viele Rohingya mitten durch den Dschungel unterwegs, o rund 200 Menschen ums Leben, Die Karte zeigt den Verlauf der Pipelines von China über Myanmar bis in den G über 140.000 Rohingya flohen unter anderen nach Bangladesch. 2013 die Interessen und Ziele Chi- tionale, an ökonomischen Ge- nas zum Auf- und Ausbau inter- sichtspunkten orientierte Koope- Ressourcen-Akquise kontinentaler Handels- und Inf- rationskorridore, die schrittweise zur Durchsetzung wirtschafts- rastrukturnetze zwischen China entwickelt werden sollen. Zu den und geopolitischer Interessen und über 60 Ländern Afrikas, Handelsrouten gehört auch der Politischen Analyst*innen zufol- Asiens und Europas bündelt. China-Bangladesch-Indien-My- ge ist Myanmar in der komfortab- Umgangssprachlich wird das anmar-Korridor. len Position, mit China und Indien Vorhaben auch „Neue Seidenstra- Die BRI – und ihre strategischen zwei Kooperationspartner*innen ße“ genannt. Vorläufer – verschafft auch Rak- zu haben, die zur Gruppe der so Die BRI umfasst Handelsrouten hine neue geopolitische Rele- genannten „aufstrebenden Volks- über Land und südlich gelege- vanz. Zwischen 2010 und 2015 wirtschaften“ gehören. Myanmar ner Seewege. Das Gesamtprojekt baute China in Kooperation mit verspricht sich durch wachsen- betrifft nach Schätzungen mehr der staatlichen Energieagen- de Auslandsinvestitionen eine als 60 Prozent der Weltbevölke- tur Myanmars eine Öl- und eine Modernisierung der eigenen ma- rung, zirka 35 Prozent des globa- Gas-Pipeline, die den Hafen Ky- roden Infrastruktur. Für China len Bruttoinlandprodukts und 75 aukphyu in Rakhine mit Kun- ist Myanmar ein wichtiger Part- Prozent der bekannten Energiere- ming verbindet, der Hauptstadt ner bei der Umsetzung der Belt serven. Wesentliche Bestandteile der südwestchinesischen Provinz and Road-Initiative (BRI), die seit des Landwegs sind sechs interna- Yunnan. Durch die Pipelines be- 8
VERTRIEBEN UND VERGESSEN? ternehmen CITIC (China Inter- national Trust and Investment Corporation) ist zuständig für die Bauvorhaben in Rakhine und wird die Anlagen in den kom- menden 50 Jahren betreiben. Zu- dem unterschrieben Myanmar und China im Dezember 2017 Ver- einbarungen zur Einführung ei- nes gemeinsamen Wirtschafts- korridors (China Myanmar Economic Corridors, CMEC), wo- durch auch weitere Infrastruktur- projekte wie Straßen- und Schie- nenausbau begünstigt werden dürften. Bauarbeiten an der Bahn- trasse von Kunming in China zur Grenze Myanmars sowie eine im März 2018 in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie zum Bau ei- ner Eisenbahntrasse von Manda- lay in Myanmar an die Grenze zu China und einer Schnellstraße von der Hauptstadt Naypyidaw nach Kyaukphyu lassen diese Ver- mutung zu. Hinzu kommen geopolitische In- teressen Chinas. Im Zuge der Fo- kussierung auf den indo-pazifi- schen Raum kündigten die USA oft nur zu Fuß mit hilfsbedürftigen Familienmitgliedern. Mitte 2018 an, eine Reihe von In- Golf von Bengalen, die im Zuge der BRI entstanden ist.. vestitionsvorhaben in der Region umzusetzen. Diese umfassen die steht die Möglichkeit, jährlich anderen Ländern zu erlangen, Bereiche Digitalwirtschaft, Ener- unter anderem 22 Millionen Fass die im Konfliktfall versuchen gie und Infrastruktur. Chinas di- Öl aus den Golfstaaten und Afri- könnten, die Meerenge von Mal- verse Vorhaben (BRI, CMEC) ha- ka nach China zu leiten; das ent- akka zu sperren. ben sicherlich zum Ziel, die spricht rund sechs Prozent der Mit dem Bau der Pipelines ge- US-amerikanische Einfluss- Ölimporte Chinas. Bereits 2011 hen auch chinesische Investiti- sphäre in der Region einzudäm- unterzeichnete das saudi-arabi- onen beim Ausbau Kyaukphyus men. Bisher nicht zu verifizie- sche Staatsunternehmen Aracom zu einem Tiefseehafen sowie der ren sind Befürchtungen der USA eine Absichtserklärung mit Chi- Küstenregion Rakhines zu Son- und Indiens, dass der Tiefseeha- na, in der es sich bereit erklär- derwirtschaftszonen einher. So fen in Kyaukphyu auch dazu die- te, täglich 200.000 Fass Öl durch könnte China Waren aus Europa, nen könne, chinesische U-Boote die Pipeline zu leiten. Der Bau der dem Nahen Osten, Afrika und In- zu stationieren und den militäri- Pipelines kann als Versuch Chi- dien nach Kyaukphyu verschiffen schen Einfluss in der Region zu nas begriffen werden, sich von und über den Landweg nach Chi- verändern. solchen Öl- und Gasimporten un- na transportieren – ein kürzerer All diese Aspekte verdeutlichen abhängig zu machen, die durch und politisch weniger sensibler die Relevanz des von den Rohiny- die Meerenge von Malakka gelie- Weg, als der über die Meerenge ga bewohnten Rakhines für Chi- fert werden, und hierdurch einen von Malakka. Chinas staatseige- na und Myanmar. Laut dem Eu- strategischen Vorteil gegenüber nes Finanz- und Investmentun- ropean Rohingya Council (ERC), 9
NETZ 2/2020 einer in Dänemark gegründe- Bangladesch und in Myanmar Vorhaben ist die lokale Bevölke- ten Menschenrechtsorganisati- werden von Indien als Einkesse- rung in Rakhine und zuvorderst on, sind bereits 2012 in und um lung empfunden; dies hat wiede- die Rohingya betroffen. Bereits Kyaukphyu Rohingya vertrieben rum Auswirkungen auf Indiens im Jahr 2009 - als die Pläne des und über 800 Häuser niederge- Interessen in Rakhine. Und somit Projektes publik wurden - wies brannt wurden, um für die Son- auf die Rohingya. die NGO Arakan Rivers Network derwirtschaftszonen Platz zu Chinas Vorhaben setzen Indien in einer detaillierten Studie auf schaffen, die Jahre später errich- Grenzen, eine politische und wirt- die ökologischen und sozialen tet wurden. Laut Human Rights schaftliche Vormachtstellung in Verwerfungen des Vorhabens hin. Watch sind 2012 Rohingya und der Region zu etablieren. Daher Vermutlich liegt es allerdings muslimische Gemeinden auch begreift es Indien als relevant, ein nicht im Interesse Chinas oder in anderen Regionen Rakhines Gegengewicht gegenüber Chinas Indiens, dass infrastrukturel- überfallen und vertrieben wor- wachsendem Einfluss zu schaf- le Großinvestitionen in Myan- den, unter anderem in dem an fen. Die gegenwärtige und stark mar von der Weltöffentlichkeit Bangladesch grenzenden Kreis verspätete Umsetzung des Tran- mit Gewalt und Vertreibungen Maung Daw. Hier hatte die Regie- sit-Transportprojektes Kaladan, in Verbindung gebracht werden, rung Myanmars im Mai 2018 mit das den östlichen indischen See- die – im Falle der Rohingya – von der Landesregierung in Rakhine hafen von Kolkata mit dem Seeha- den Vereinten Nationen 2017 als und einem myanmarischen Wirt- fen Sittwe in Rakhine verbindet, „ethnische Säuberungen“ be- schaftsunternehmen eine Ab- wird als solch ein Gegengewicht zeichnet wurden. Es scheint viel- sichtserklärung unterschrieben, verstanden. Im Rahmen des Pro- mehr Chinas Anliegen zu sein, um die Einführung der Maung jektes wird zudem Sittwe durch Stabilität entlang der Handels- Daw Sonderwirtschaftszone vor- den Bau und Ausbau von Straßen routen der BRI zu gewährleisten, an zu treiben. Ziel dieser Zone ist und Wasserwegen mit dem nord- um somit die eigene Wirtschafts- eine verbesserte wirtschaftliche ostindischen Bundestaat Mizo- kraft und Position als Global Play- Kooperation mit Bangladesch. ram verbunden. Auch von diesen er zu stärken. So ist China seit Die Gegend um Maung Daw ge- 2017 schließlich als Mediator zwi- hört zu den Gebieten, aus denen schen Bangladesch und Myanmar seit August 2017 Rohingya in gro- aufgetreten, um Lösungen beim ßer Zahl nach Bangladesch flo- Umgang mit den geflüchteten hen. Rohinyga zu finden. Gleichwohl Chinas Aktivitäten im Rahmen stellt sich die Frage, ob China als der BRI beinhalten auch die Ein- unabhängige Vermittler*in auf- führung eines Wirtschaftskorri- treten kann, wenn zum einen ei- dors mit Pakistan. Dieser besteht gene wirtschaftliche und geopo- aus einer Anzahl von Projekten, litische Interessen in Rakhine auf die eine Entwicklung und Ver- dem Spiel stehen – die wiederum besserung der pakistanischen selbst als Konflikt- und Vertrei- Transport- und Energie-Infra- bungsursache verstanden werden struktur sowie eine intensivierte können – und China zum ande- wirtschaftliche Zusammenarbeit ren UN-Resolutionen gegen My- zwischen China und Pakistan anmar verwässert hat. Schließ- zum Ziel haben. Der Korridor ver- lich kann hinterfragt werden, bindet China mit der pakistani- ob entsprechende wirtschaftli- schen Hafenstadt Gwadar und chen Interessen der beteiligten verläuft durch Gebiete, die zwi- Akteur*innen die Umsetzung ei- schen Pakistan und Indien um- nes funktionierenden Rückfüh- stritten sind. Zudem hat China rungsabkommens behindern. erst vor kurzem ein 30 Milliarden Welche Strategie Bangladesch Dollar umfassendes Investitions- Auf der Flucht; und dabei oft als aufnehmendes Land verfolgt, paket für Bangladesch geschnürt. schutzlos vor Unwetter. ist hingegen unklar. Grundsätz- Chinas Vorhaben in Pakistan, lich ist Dhaka daran gelegen, die 10
VERTRIEBEN UND VERGESSEN? Rohinyga zurück zu führen. Der auf die vielfältigen wirtschaftli- sen, dass das Militär in der ehe- chinesische Präsident Xi Jinping chen Aktivitäten Chinas und de- maligen Militärdiktatur eine be- besuchte 2016 Bangladesch per- ren mögliche Auswirkungen auf ständig starke Position innehat sönlich, um das Land in die BRI politische Entscheidungsprozes- und für Menschenrechtsverlet- aufzunehmen, und die beiden se in Bangladesch aufmerksam zungen verantwortlich zeichnet. Länder unterzeichneten 21 Ab- gemacht. Wir haben gesehen, dass Ent- kommen im Wert von 21,5 Milli- eignung und Landnahme in My- arden US-Dollar, 15 Abkommen Nicht nur die Anrainerstaaten anmar seit Jahrzehnten gängi- und Absichtserklärungen und tragen Verantwortung ge Praxis sind. Diese Umstände 12 Vereinbarungen über Darle- Um eines zu verdeutlichen: Wir waren in der Vergangenheit kein hen und gegenseitige Zusam- haben gesehen, dass der soge- Hindernis für die Verfolgung der menarbeit. Das Investitionspaket nannte Rohingya-Konflikt ein wirtschafts- und geopolitischen für Infrastruktur-, Wasserver- Konfliktkontext in Myanmar ist, Interessen der Anrainerstaaten sorgungs- und Energieprojek- der seit Jahrzehnten angeheizt Myanmars. Allerdings sind ge- te, dessen Umfang bis zum Jahr und sorgsam bewahrt wird. Wir nannte Umstände mit den Verfas- 2021 vermutlich mehr als 30 Mil- haben gesehen, dass, obwohl sungen der Herkunftsländer der liarden Dollar umfassen wird, sich der Rohingya-Konflikt im- meisten ausländischen Investo- ist für Bangladesch sehr wichtig, mer als eine besondere Form des ren in Myanmar unvereinbar. Der wie durch die Notfall-Finanzie- innergesellschaftlichen Stigma- Vollständigkeit halber muss ent- rung beim Bau der Padma-Brü- tisierung herausstellte, inter- sprechend erwähnt werden, dass cke nach dem Ausscheiden der ne Konflikte mit anderen exklu- die Verwirklichung grundlegen- Weltbank deutlich wurde. Politi- dierten Bevölkerungsgruppen der Menschenrechte für kaum ein sche Analyst*innen haben bereits gang und gäbe waren. Wir wis- Unternehmen, das in Myanmar 11
NETZ 2/2020 investiert und mit Myanmar Han- sen und keine Arbeit annehmen. in den CHT lebenden indigenen del treibt, ob aus Asien oder dem Daher sind sie zur Schwarzarbeit Gruppen. Darunter sind sowohl euro-atlantischen Raum, in der oder Illegalität gezwungen, um Buddhist*innen als auch Hindus Vergangenheit von Belang war. ihren Lebensunterhalt zu finan- und Christ*innen. Dies zeigt sich Dasselbe gilt für die wechselnden zieren. Dies trägt dazu bei, dass in einem seit einigen Monaten Regierungen ihrer Herkunftslän- sich zunehmend rassistische Ste- zu verzeichnenden massiven An- der, die zwar Sanktionen gegen reotype gegenüber den Rohing- stieg an verbaler und physischer Myanmar verhängten, diese aber ya verbreiten und Eingang in den Gewalt gegen indigene Gruppen beabsichtigt zahnlos waren, um öffentlichen Diskurs finden. Stig- in den CHT. Aufgrund der seit eigene außenwirtschaftliche In- matisierung, Kriminalisierung Jahrzehnten ohnehin fortwäh- teressen nicht zu gefährden. Im und Angriffe sind die Folge. renden Exklusion und Diskrimi- Gegensatz zu China wird die Au- Studien zu Besiedlungs- und Be- nierung indigener Gruppen in ßenhandels- und Entwicklungs- schäftigungsmustern von Rohin- den an Rakhine angrenzenden politik vieler OECD-Länder als gya, die außerhalb der Camps CHT drohen all diese Entwick- moralischer Kompass (selbst-) leben, zeigen auf, dass neu an- lungen, den sozialen Zusammen- zertifiziert. Das Beispiel Myan- kommende Rohingya Unterkunft halt in der Region noch weiter mar zeigt exemplarisch, dass und Zugang zum lokalen Arbeits- zu gefährden. Für künftige Kon- ökonomische Interessen demo- markt durch Netzwerke erlangen, fliktanalysen ist es in diesem Zu- kratische Prinzipien unterwan- die bereits durch Migrationsbe- sammenhang besonders wichtig, dern können. wegungen von Myanmar nach Sichtweisen der indigenen Grup- Bangladesch seit den 1970er Jah- pen in den CHT und weiterer auf- Konfliktpotenzial zwischen ren bestehen. Dies betrifft unter nehmender Gemeinschaften und Rohingya und aufnehmenden anderem die Gegenden um Cox‘s deren Umgang mit den Rohingya Gesellschaften in Bangladesch Bazar und Chittagong sowie die zu berücksichtigen. Gegenwärtig fokussieren die Chittagong Hill Tracts (CHT). An- Maßnahmen zur Unterstützung dererseits profitieren lokale Eli- der Rohingya in Bangladesch die ten von den Rohingya, indem sie *Die Beziehungen des Teilstaates Rak- Versorgung in den Geflüchteten- deren Status als nicht-registrierte hine zu Migration und zur Präsenz von Camps. Mittel- und langfristig Geflüchtete für niedrigentlohn- Gruppen unterschiedlichen Glaubens so- sollte aber nicht nur die angemes- te und prekäre Arbeitsverhältnis- wie Spannungen zwischen diesen Grup- sene Versorgung der Rohingya si- se ausnutzen. Hieraus ergibt sich pen sind historisch tief verwoben. Im chergestellt sein, sondern sind weiteres Konfliktpotential, da die folgenden wird auf die Kolonialzeit re- auch die Integrationsmöglichkei- Rohingya zunehmend im Wettbe- kurriert, Migration und damit verbun- ten in Bangladesch und Drittstaa- werb mit der lokalen ärmeren Be- dene Konflikte fanden jedoch bereits in ten sowie die Gewährleistung von völkerung stehen, die ebenfalls Rakhines vorkolonialer Zeit statt. Garantien seitens Myanmar im auf prekäre Arbeitsplätze ange- Rahmen einer möglichen Rück- wiesen ist. Diese Konstellation kehr der geflüchteten Menschen führt zunehmend zu Auseinan- auszuloten. Auf der anderen Seite dersetzungen zwischen den auf- wächst ein Konfliktpotenzial, das nehmenden Gemeinschaften und zwischen den aufnehmenden Ge- den außerhalb der Camps leben- meinschaften in Bangladesch und den Rohingya. den geflüchteten Rohingya zu- Zudem schürt das weit ver- nehmend sichtbar wird: Dienst- breitete Narrativ, die Gescheh- leistungsangebote und Nah- nisse in Rakhine seien ein aus- rungsmittel sind in den Camps schließlich religiöser Konflikt trotz humanitärer Hilfsleistun- zwischen mehrheitlich musli- gen nur unzureichend vorhan- mischen Rohingya und der als den. Rohingya, die in den Ge- Täter*innen wahrgenommenen Der Autor ist Leiter flüchteten-Camps im Südosten buddhistischen Mehrheitsbevöl- Politischer Dialog bei NETZ Bangladesch leben, dürfen die- kerung in Myanmar, Vorurtei- se ohne Erlaubnis nicht verlas- le und Stereotype gegenüber den 12
VERTRIEBEN UND VERGESSEN? „Es muss lokal gedacht werden, um die Probleme anzugehen“ Über die Lage der geflüchteten Rohingya im Süden Bangladeschs Meghna Guhathakurta ist Geschäftsführerin der Nichtregierungsor- ganisation Research Initiatives, Bangladesh. Sie ist regelmäßig vor Ort in den Camps der geflüchteten Rohingya im Süden Bangladeschs, sie spricht mit Betroffenen und beobachtet die internationalen Entwick- lungen. Im Interview mit NETZ spricht sie über die Flucht der Rohin- gya nach Bangladesch sowie über die Ursachen des Konflikts in Myan- mar und die aktuelle Situation. Seit August 2017 sind mehr als Guhathakurta: Auch damals 740.000 Rohingya aus Myanmar mussten Menschen unter an- über die Grenze nach Bangladesch ge- derem vor ethnisch motivierter flohen. Es wird geschätzt, dass heu- Gewalt fliehen. Und nun wurde te mehr als eine Million Rohingya in gezielt die mehrheitlich musli- Bangladesch leben – innerhalb und mische Minderheit der Rohingya außerhalb von Geflüchtetencamps. angegriffen. Die Attacken richte- Was sind die Hauptgründe dafür? ten sich gegen muslimische Fa- milien und deren religiöse Iden- Meghna Guhathakurta: Schon tität. Moscheen wurden zerstört, seit 2016 kamen Menschen ver- Menschen von der Religionsaus- mehrt über die Grenze, doch seit übung abgehalten. Die Toten dem 25. August 2017 gab es ei- wurden verbrannt, anstatt sie wie nen massiven Anstieg. Zu jener im Islam üblich zu beerdigen. Zeit war ich Mitglied der nationa- len Menschenrechtskommission Wer hat diese Taten verübt? in Bangladesch und besuchte re- gelmäßig die Camps in und um Guhathakurta: Den Zeugenaussa- Cox’s Bazar im Süden Banglade- gen zufolge waren es Angehörige schs. Wir haben vor Ort Betroffe- des myanmarischen Militärs, mit ne befragt. Viele Geflüchtete ha- Uniformen und Abzeichen. Die Be- ben nach ihrer Ankunft berichtet, troffenen haben davon gesprochen, dass es in Myanmar massive An- dass die Täter mit dem Hubschrau- griffe gegen sie gegeben hat. Sie ber kamen und dann ihre Häuser Foto: Sven Wagner sprachen von Gräueltaten – Häu- aufgesucht haben – auch dies deutet ser wurden in Brand gesetzt, da- auf das Militär hin. Aber: Den Aus- bei kamen Menschen ums Leben, sagen zufolge hatten einige der Tä- Frauen wurden vergewaltigt. Die ter ihre Gesichter verhüllt und wa- Berichte lassen auf einen Genozid ren nicht eindeutig zu erkennen. Ein Junge, unterwegs im Lager schließen. Dies hat mich an den So ist nicht eindeutig zu klären, ob Kutupalong/Bangladesch. Unabhängigkeitskrieg in Bangla- nicht auch weitere Personen und lo- Schätzungen zufolge leben desch 1971 erinnert. kale Gruppen an den Angriffen be- inzwischen über eine Million teiligt waren und das Militär unter- geflüchteter Rohingya dort. Warum? stützt haben. 13
NETZ 2/2020 Archivfoto: Kai Fritze Forscht zur Lage der geflüchtete Rohingya: Meghna Guhatakurta, Geschäftsführerin der bangladeschischen Nicht- regierungsorganisation Research Initiatives, Bangladesh. Welche Rolle spielt das Militär in war wohl ein Auslöser für die Mi- Nationen zeigt, dass in der Regi- Myanmar? litäraktion. Beides stand jedoch on viel Militär in Bewegung ist in keinem Verhältnis zueinander: und Armeeangehörige enge Be- Guhatakurta: Auch wenn Myan- Wegen einer kleinen Gruppe von ziehungen zu Geschäftsleuten mar sich inzwischen als Demo- Rebellen wurden über 700.000 unterhalten. Ein weiterer Faktor kratie bezeichnet, hat das Militär Menschen vertrieben – das kann ist die Identitätspolitik. Rohing- nach wie vor enorme Macht. Es nicht nur eine Reaktion gewe- ya werden im mehrheitlich bud- gibt etwa reservierte Parlaments- sen sein. Die Tiefe dieser Militä- dhistischen Myanmar oftmals sitze für Militärangehörige. Vor roperation deutet vielmehr da- als „bengalische Minderheit“ be- der massiven Welle der Gewalt ab rauf hin, dass das Ganze länger zeichnet, die nicht zu Myanmar dem 25. August 2017 gab es An- geplant und nicht nur ein Akt der gehöre. Entsprechend würden griffe auf einen myanmarischen Vergeltung war. sie aus Sicht mancher nun dahin Militärposten durch Rohingya- zurückgeschickt, wo sie eigent- Kämpfer. Diese Rebellen haben Welche Gründe sehen Sie dafür? lich herkommen und hingehö- damit wahrscheinlich ein Zei- ren. Doch es gibt auch in Myan- chen der Gegenwehr setzen wol- Guhathakurta: Es gibt verschie- mar eine Rohingya-Identität. Die len, da sie in Myanmar nicht als dene Interpretationen und Sicht- Menschen leben dort seit drei, Staatsbürger anerkannt werden. weisen. Ein Faktor ist der ökono- vier Generationen und verstehen Der Teilstaat Rakhine, in dem sie mische: Rakhine gilt als ölreiche sich als Bürger Myanmars. leben, ist zudem stark von Armut Region, durch die eine Pipeline und Ausbeutung geprägt. Die gebaut werden soll. Es gibt also Inzwischen leben über eine Milli- staatliche Gesundheitsversor- viele, die ein Interesse an der Re- on geflüchtete Rohingya in Bangla- gung in der Region ist unzurei- gion haben, darunter Indien und desch. Wie arrangieren sich die Men- chend. Der Angriff der Rohingya China. Ein Bericht der Vereinten schen dort? 14
VERTRIEBEN UND VERGESSEN? Guhathakurta: Jene, die seit Welche Perspektiven haben sich für ten fühlen sich dabei außen vor. Ende August 2017 kamen, waren die Geflüchteten seitdem entwickelt? Das ist ein großes Problem: Die tagelang zu Fuß unterwegs, ha- lokalen Gemeinschaften werden ben Wälder und Flüsse durch- Guhathakurta: Es gibt verschie- nicht als Ersthelfer anerkannt quert und nicht gegessen. Zu- dene Arbeitsmöglichkeiten. In und ihre Unterstützung wird nächst konnten sie sich in bereits der südlichen Küstenstadt Teknaf nicht honoriert. Zudem konkur- bestehenden Geflüchtetencamps arbeiten viele Menschen in der Fi- rieren sie nun auf dem lokalen Ar- registrieren lassen. Eine Infra- scherei. Rohingya, also vor allem beitsmarkt mit den neu angekom- struktur war dort schon geschaf- Männer und Jungen, können sich menen Geflüchteten; das große fen durch Menschen, die bereits dort in der Saison verdingen und Angebot an Arbeitskräften übt im Zuge früherer Gewaltwellen Geld für sich und ihre Familien einen enormen Druck auf Löh- aus Myanmar gekommen wa- verdienen. Es gibt in der Region ne und Gehälter aus. Ein weite- ren. Viele der Geflüchteten ha- auch Arbeit auf Salzfarmen oder res Beispiel: Hilfsorganisationen ben Verwandte im Süden Bang- im Handwerk. Aus der Lokalbe- geben in den Camps Gaszylin- ladeschs und in der Grenzregion, völkerung erhalten die Geflüchte- der zum Kochen an Rohingya aus. die selbst seit Jahrzehnten ohne ten Unterstützung, um neue Fer- Auch aus Umweltschutzgründen, Aufenthaltsstatus dort leben und tigkeiten zu erlernen. Cox’s Bazar wie sie sagen, da dadurch weni- Gelegenheitsjobs haben. Diese selbst ist ein beliebter Urlaubs- ger Holz verbrannt werden müs- Verwandten und die lokalen Ge- ort. Dort entstehen viele neue Ho- se. Viele verkaufen die Zylinder meinschaften vor Ort waren die tels und andere Gebäude. Ent- auf lokalen Märkten. Doch die Lo- sogenannten Ersthelfer für die sprechend gibt es im Baugewerbe kalbevölkerung, die hier traditio- vielen Menschen, die in der Fol- einen Bedarf an Arbeitskräften. nell Feuerholz sammelt und die- ge der Gewalt aus Myanmar ka- Bauarbeiter aus Myanmar kom- ses verkauft, verliert dadurch ihre men. Sie haben die Geflüchte- men seit längerem dorthin, um Einkommensmöglichkeit. ten mit Essen versorgt und ihnen Geld zu verdienen. Bei den Frau- Unterkunft geboten, obwohl sie en sieht es ganz anders aus. Eine Was ist die Folge? selbst nicht viel hatten. Sie ha- Überlebensstrategie für alleinste- ben die ankommenden Menschen hende Frauen sind Eheschließun- Guhathakurta: Es entwickelt in Häusern, auf der Veranda, in gen: Rohingya-Frauen heiraten sich durchaus Fremdenfeindlich- Schulen oder Krankenhäusern in bengalische Familien aus Ban- keit. Das wird von den Hilfsorga- untergebracht und sie bekocht. gladesch ein, mitunter auch als nisationen, die Geflüchtete un- Viele der Geflüchteten waren Zweit- oder Drittfrau. So bekom- terstützen, kaum beachtet. Die über diese Unterstützung glück- men sie Papiere und einen offizi- Rolle der lokalen Gemeinschaften lich, auch wenn sie darüber hin- ellen Status. wird nicht genügend anerkannt. aus weitere Probleme hatten, wie Ihre Befürchtungen werden nicht ihre Gesundheitsversorgung und Gibt es auch Konflikte mit lokalen Ge- ernst genommen, auch nicht von ihre eingeschränkte Mobilität. meinschaften oder Ressentiments? den Behörden. Und den lokalen 2017 hat das Flüchtlingskommis- Gemeinschaften fehlt zugleich sariat der Vereinten Nationen die Guhathakurta: Es gibt Spannun- das Wissen um die Rechte von Ge- Initiative rund um die Geflüch- gen und Konflikte durch die An- flüchteten als Schutzsuchende. tetencamps ergriffen und die In- kunft so vieler neuer Geflüchteter. Mitunter haben aktuelle Entwick- frastruktur sukzessive gefestigt. Das sind einerseits Konflikte mit lungen sogar negative Folgen für Unterhalten werden die Camps den lokalen Gemeinschaften, aber die Lokalbevölkerung: Weil Ge- von der Regierung – Agenturen auch Konflikte mit Rohingya, die flüchtete versucht haben, ille- der Vereinten Nationen, etwa die bereits vor Jahren nach Bangla- gal an bangladeschische Pässe zu Internationale Organisation für desch kamen. Beide Gruppen sa- kommen, hat die Regierung die Arbeit sowie zahlreiche Nicht- gen: Die gegenwärtige interna- Geburtenregistrierung zeitwei- regierungsorganisationen sind tionale Aufmerksamkeit und lig gestoppt. So konnte niemand ebenfalls tätig und bieten Hil- Unterstützung komme allein den in der Region mehr seine Kin- fe, angefangen von Sanitätspro- Rohingya zugute, die seit August der registrieren lassen, was etwa grammen über Nothilfe bis zu Le- 2017 nach Bangladesch kamen. notwendig ist, um diese auf eine bensmittelkarten. Die aufnehmenden Gemeinschaf- Schule schicken zu können. Alles 15
NETZ 2/2020 in allem kann man die Beziehung getrennt Gespräche mit allen Ak- nach Gemeinsamkeiten sortiert. zwischen den lokalen Gemein- teursgruppen, um Konfliktur- So ist es möglich, Schlüsse zu zie- schaften und den Geflüchteten sachen zu analysieren. Die loka- hen und zu priorisieren, wo zu- als ambivalent bezeichnen: Sie len Gemeinschaften fühlen sich erst gehandelt werden muss. Die- haben größtenteils die gleiche schon wesentlich besser mit der ser partizipative Prozess stößt Religion, sprechen denselben Di- Situation, wenn sie überhaupt wichtige Diskussionen inner- alekt und haben somit wichti- gehört werden und darüber re- halb der Gruppen an. Den Men- ge Gemeinsamkeiten und Sym- den können. Es müssen Räume schen wird nichts aufgedrückt, pathie füreinander. Doch mit der geschaffen werden, die zeigen, sie können frei entscheiden. Ent- Zeit entstehen mehr und mehr dass alle von Problemen betrof- sprechend unserer Möglichkei- Ressentiments. Die lokalen Medi- fen sind: die Alteingesessenen ten versuchen wir dann, weitere en haben ihren Anteil daran und und die Geflüchteten der letzten Hilfe zu vermitteln, etwa durch die lokale Politik instrumentali- beiden Jahre. Alle Probleme müs- staatliche Stellen. siert diese für ihre Interessen. sen genauer erforscht und zu ge- gebener Zeit gemeinsam disku- Inwieweit sind die Menschen in den Welche Strategien gibt es, die Proble- tiert werden. Camps von Covid-19 betroffen? me zu überwinden? Welchen Beitrag leistet Ihre Organisation dazu? Wie kann das konkret passieren? Guharthakurta: Der letzte Stand Mitte November war, dass acht Guhathakurta: Es muss lokal Guhathakurta: Mediation ist Rohingya an Covid-19 gestorben gedacht werden, um die Proble- die Hauptaufgabe. Wir formieren sind und circa 250 Menschen po- me anzugehen. Und es braucht Gruppen innerhalb der Gemein- sitiv getestet wurden. Dies ent- Raum und Zeit, um die Probleme schaften, die sich regelmäßig spricht nicht einmal einem Pro- zu verstehen. Die verschiedenen treffen und diskutieren. Unsere zent der in den Camps lebenden Gruppen, lokale Gemeinschaften Mediator*innen helfen dabei. Die Menschen. Viele der Rohingya wie Rohingya, müssen die Kon- Treffen haben keine vorgefertigte wollen sich nicht freiwillig testen flikte erkennen, verstehen und Agenda, damit zunächst alle Pro- lassen, aus Angst, von ihren Fa- selbst dazu beitragen können, bleme offen auf den Tisch kom- milien getrennt zu werden, soll- sie zu lösen. Wir führen zunächst men. Anschließend werden diese ten sie sich mit dem Virus infi- 16
ziert haben. Außerdem berichten üben, kann das aber nicht, weil Was kann die Regierung Banglade- viele von respektlosem Verhalten sie zugleich um gute Beziehun- schs konkret machen? des medizinischen Personals. gen zum Nachbarland bemüht Die Corona-bedingten Ein- ist. Und es spielen weitere Staaten Guhathakurta: Die Regierung schränkungen der letzten Mona- eine Rolle. Die Vereinigung der sollte eine klare Strategie formu- te hatten aber auch noch andere Süd- und Südostasiatischen Län- lieren und eine langfristige Per- Folgen in den Camps. Viele Frau- der ASEAN ist in der Frage gespal- spektive schaffen, denn es ist en berichten von vermehrten Fäl- ten. Einige Staaten mit muslimi- offensichtlich, dass die Geflüch- len häuslicher Gewalt, weil ihre scher Bevölkerungsmehrheit wie teten auf absehbare Zeit nicht Männer viel mehr Zeit zu Hau- Malaysia sind für eine Unterstüt- nach Myanmar zurückkehren se verbringen müssen, ihre Ver- zung der Rohingya, andere nicht. werden. Die Entwicklung eines dienstmöglichkeiten sinken und Singapur und Japan investieren Fünfjahresplans wäre eine Opti- dadurch der Druck, ihre Familien ebenfalls in Myanmar. Wenn die- on. Die Regierung könnte zudem zu versorgen, steigt. se Länder in der Rohingya-Frage ihre diplomatischen Bemühun- Druck auf das Land ausüben wür- gen verstärken. Transnationale Welche Rolle kommt der Regierung den, könnte sich etwas bewegen. Partnerschaften zur Lösung des Bangladeschs in dem so genannten Aber im Abgleich mit anderen In- Konflikts sind wichtig für Ban- Rohingya-Konflikt aktuell zu? teressen stehen Menschenrechts- gladesch. Und es darf nicht ver- fragen sehr häufig nicht oben auf gessen werden, die lokalen Ge- Guhathakurta: Sie hält sich ins- der Agenda. Alle diese Verflech- meinschaften zu hören und deren besondere in Bezug auf Fragen tungen und Interessen müssten Interessen zu berücksichtigen. der Rückführung und der Rück- daher offengelegt werden, da- kehr von Geflüchteten zurück. mit die Vertreibung der Rohin- Frau Guhathakurta, vielen Dank für Das liegt auch daran, dass diese gya aus Myanmar nicht mehr das Gespräch. Themen stark durch andere Län- nur auf einen religiösen Konflikt der beeinflusst werden, etwa Chi- zwischen Buddhist*innen und na. Die Regierung steckt in einem Muslim*innen reduziert werden diplomatischen Dilemma: Sie kann. Das Interview führte Sven Wagner müsste Druck auf Myanmar aus- in Dhaka. Mit Stacheldraht gesichert und von Wachttürmen aus kontrol- liert: Die Lebensmittelvorräte in einem Abschnitt des Kutupalong- Lagers. Koordiniert werden die Essensausgaben unter anderem vom Ernährungsprogramm der Vereinten Nationen. Daneben sind Hunderte andere NGOs tätig und bieten den Bewohnern Unterstützung. Foto: Sven Wagner 17
NETZ 2/2020 Die ewige Flucht Was die Vertriebung aus Myanmar bedeuten kann Text und Fotos: Sven Wagner Im Südosten Bangladeschs befindet sich das größte Lager für geflüchtete Men- ben, kochen und schlafen ihr schen weltweit. Dort leben Rohingya, die zu Hunderttausenden gewaltsam aus Sohn, dessen Frau und der Enkel ihrer Heimat Myanmar vertrieben wurden. Sie haben Schreckliches erlebt – und hier zusammen mit ihr. Ihre Be- niemand weiß bis heute, wo sie zukünftig leben sollen. hausung, so schlicht sie wirkt, ist noch eine der besten Varianten Wenn Soleima Khatun abends den hinterherrennt, droht auch im Camp. Als die Menschen 2017 vor ihrer Hütte sitzt und die Au- ihr großes Unheil. hier ankamen, hatten viele über- gen schließt, kann sie noch im- Zweieinhalb Jahre ist das nun her. haupt keinen Schutz und harrten mer hören, wie die Gewehrku- Soleima Khatun hat ihr Land ver- wochenlang unter dünnen Plas- geln an ihr vorbeizischen. Sie loren, ihre Identität, ihre Frei- tikfolien im Morast aus, nur not- sieht die Rauchschwaden von heit. Inzwischen weiß sie: Der dürftig vor dem Monsunregen ge- den brennenden Strohdächern Angriff auf ihr Dorf war eine von schützt. und verkohlten Reisfeldern ih- mehreren Aktionen, mit der My- res Heimatdorfes aufsteigen. anmars Militär, paramilitäri- Dann beginnt sie in Gedanken er- sche Gruppen und mutmaßliche Schweres Trauma neut loszurennen: an den Bam- Helfer*innen aus der Lokalbevöl- bushäuschen der Nachbarn vor- kerung in Rakhine in kurzer Zeit „Wir sind sechs Tage lang im bei auf einen dicht bewachsenen massenhaft Menschen vertrie- Dschungel umhergeirrt“, sagt Pfad tief hinein in den Dschungel ben, gepeinigt und getötet haben. Kathun leise und hält dabei ihre – Hauptsache irgendwie raus aus Die Opfer: allesamt Angehörige Hand vor den Mund, als habe sie der kleinen Siedlung Donsong der muslimischen Minderheit der Scheu, das Erlebte auszuspre- im Westen Myanmars. So schnell Rohingya, die seit Generationen chen. Die 50-Jährige wirkt ausge- ihre Füße die 50-Jährige tragen. dort lebt. So wie Soleima Khatun zehrt und wesentlich älter, als sie und ihre Familie. ist. Die Flucht und das Leben im Ihre Flucht endete schließlich in Lager haben bei vielen Menschen Hunderttausende Kutupalong im Südosten Bang- zu schweren Traumata geführt. gewaltsam vertrieben ladeschs – dem derzeit womög- Es war der 25. August 2017, als das lich größten Lagerkomplex für Militär in den Dörfern zuschlug Wo es hingehen soll, ist in diesem geflüchtete Menschen weltweit. – offiziell eine Vergeltungsakti- Moment weder ihr noch den an- 860.000 Menschen leben Anga- on für die vorangegangenen An- deren Dorfbewohner*innen klar, ben der Vereinten Nationen zufol- griffe von Rohingya-Separatis- die panikartig die Flucht ergrei- ge hier. Inoffiziellen Schätzungen ten auf myanmarische Soldaten, fen – mit nichts als ihren Klei- von Nichtregierungsorganisati- bei denen ein Dutzend Menschen dern am Leib. Khatun weiß nicht onen zufolge sind es längst über ums Leben kamen. Internatio- einmal, was in jener Nacht ge- eine Million. nale Beobachter*innen sprechen schieht, wer die Bewaffneten sind Soleima Khatun sitzt auf dem hingegen von gezielter Vertrei- und warum plötzlich Helikopter Lehmboden ihrer Behausung bung bis hin zu Völkermord des über dieser abgelegenen Gegend im Herzen des Kutupalong-La- Militärs. Und ebenso berichten auftauchen. Das Einzige, was ihr gers. Die Unterkunft ist aus ei- Augenzeugen, die heute in Ku- in diesem Moment klar ist: Ihr nem Bambusgestell gefertigt, tupalong leben, von wahllosen Dorf wird angegriffen. Menschen die Wände bestehen aus Planen und brutalen Angriffen auf völ- werden erschossen. Und wenn sie und Plastiksäcken. Auf einer Flä- lig unbeteiligte Menschen. Sol- jetzt nicht den anderen Flüchten- che von drei mal fünf Metern le- eima Khatuns Nachbar*innen 18
VERTRIEBEN UND VERGESSEN? Soleima Kathun mit ihrem Enkel Abir. Beide und Abirs Eltern teilen sich eine kleine, karge Behausung im Kutupa- long-Camp. Und sie warten darauf, zu erfahren, wie es mit ihnen weitergeht - inzwischen seit drei Jahren. 19
NETZ 2/2020 im Camp erzählen ähnliche Ge- Das Wenige, was sie besaß, muss- der 55-Jährige als Mittler zwi- schichten: Rahima Khatun, 40, te Khatun zurücklassen: Klei- schen den Geflüchteten und al- musste mit ansehen, wie zwei dung, Nahrungsvorräte, aber len, die helfen: Vertreter*innen ihrer Brüder erschossen wur- auch ihren Ausweis. Ohne ihn von Nichtregierungsorganisatio- den. Die Angreifer hätten zu- gilt sie nun als staatenlos. Zurück nen, UN-Mitarbeiter*innen und dem wahllos Feuer gelegt und nach Myanmar könnte sie nicht Regierungsbeamt*innen. Vom Menschen in ihren Hütten ver- einmal theoretisch. Und so, wie Modina-Hügel aus, der höchsten brannt. Die 60-jährige Anowa- es die 50-Jährige beschreibt, geht Erhebung in Kutupalong, kann ra Begum berichtet von Folter es vielen in den Camps: Offizielle man an klaren Tagen die Ber- und Vergewaltigungen in ihrem Dokumente – auch Landbesitzur- ge erkennen, über die die Grenze Dorf. Und der Farmer Tanda Mia kunden – sind verloren. zu Myanmar verläuft. Hier steht schildert mit einer Mischung aus Hossein und überblickt das rie- Trauer und Wut, wie er sein gan- sige Lager, das auf 35 Quadratki- zes Land und Vieh zurücklassen Der Glaube als Ursache lometern in unwegsames Hügel- musste. „Auf der Flucht haben des Konflikts? land gebaut ist. Es gibt Straßen, wir Wasser aus Quellen im Wald Krankenlager, Kindergärten und getrunken. Wir haben kaum ge- Mohammed Hossein, ein hage- eine Feuerstation, Fußballfelder, schlafen“, erinnert sich Soleima rer Mann mit Kinnbart und der kleine Teiche und Märkte, auf de- Khatun. An Essen war nicht zu muslimischen Tupi-Kopfbede- nen Obst, Gemüse, Seife und Klei- denken. Viele haben unterwegs ckung ist ein Gemeindevorste- dung getauscht und gehandelt die Rinde von Bananenbäumen her der Rohingya, ein gebilde- werden. Die gesamte Infrastruk- aufgebrochen, um an das zumin- ter und angesehener Mann, der tur wurde von Hand geschaffen. dest etwas nahrhafte Mark im In- früher in Myanmar Kommunal- Anfangs vor allem durch die lo- neren zu kommen. Denn Früchte politiker war. Bis auch er vertrie- kale Bevölkerung, die als erste in trugen die Bäume derzeit nicht. ben wurde. Im Camp fungiert der Not half. Das Ganze kann je- Kinder in „Sektor 4“ des Rohingya-Camps in Kutupa- long. Viele Familien leben seit Jahren hier, ohne zu wissen, ob es irgendwann wieder einen Weg in ihre Heimat geben wird. 20
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