Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch

Die Seite wird erstellt Hannes Renner
 
WEITER LESEN
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
G 8619
                                  Bangladesch Zeitschrift
                                                   2/2020

Vertrieben und vergessen?
Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
Weitgereister Dichter und
                                                                                 Brückenbauer
                                                                                 Trauer um Alokaranja Dasgupta
NETZ - Bangladesch Zeitschrift
Nr. 2, 42. Jahrgang, 29.12.2020            Thema:                                Von Max Stille
                                           Rohingya auf der Flucht
Gefördert aus Mitteln des Kirchli-         Spielball Myanmars und der
chen Entwicklungsdienstes durch            Anrainergroßmächte
Brot für die Welt - Evangelischer          Ursachen für die Verfolgung und
Entwicklungsdienst.                        Vertreibung der Rohingya

                                           Von Dirk Saam
IMPRESSUM                                                                                                         24
Herausgeber: NETZ Partnerschaft
für Entwicklung und Gerechtigkeit
e.V.                                                                             Politik und Gesellschaft
Moritz-Hensoldt-Str. 20 /
35576 Wetzlar                                                                    Nachrichten aus Bangladesch
Telefon: 06441– 974630
Fax: 06441–9746329                                                               Bangladesch im Corona-Jahr
E-Mail: zeitschrift@bangladesch.org                                          4
ISSN: 1619-6570                                                                                                   26
                                           „Es muss lokal gedacht werden,
v.i.S.d.P.: Dirk Saam                      um die Probleme anzugehen“
Layout: Dani Lima                          Zur Lage geflüchteter Rohingya        NETZ aktiv
Druck: w3 print+medien                     im Südosten Bangladeschs
Redaktion: Anna Cijevschi, Marie                                                 Meldungen aus der NETZ-
Luise Fischer, Kai Fritze, Niko Richter,   Im Interview: Meghna Guhatakurta      ­Geschäftsstelle, Aktionen und
Dirk Saam, Sven ­Wagner                                                           Nachrichten.
(Leitung und Gesamtkoordination),                                       13
Linda Wallbott.                                                                                                   27
                                           Die ewige Flucht
Titelbild: UN Women Gallery/               Was die Verteibung aus Myanmar
licensed under CC BY-NC-ND 2.0             bedeuten kann                         Freiwilligendienste bei NETZ

                                           Von Sven Wagner
Namentlich gekennzeichnete Bei-
träge geben nicht in jedem Fall die                                     18
Meinung von Herausgeber und
Redaktion wieder. Geschlechter-
gerechte Sprache: Die Autor*innen          Kultur
und interviewten Personen ent-
scheiden, in welcher Form ihr Bei-         Heimatklänge fernab von                                                28
trag veröffentlicht wird.                  zuhause
                                           Über die Musikkultur der              NETZ-Mitgliederversammlung und
                                           Rohingya im Exil                      Bangladesch-Tagung 2020.
Die Zeitschrift erscheint viertel-                                      22                                        30
jährlich. Jahresabonnement: 20 € /
Einzelexemplar: 5 €.

                                           www.bangladesch.org
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
NETZ 2/2020                        VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

                                    Liebe Leser*innen,

                                    es bietet sich an, in das The-        Viele derjenigen, denen die Flucht
                                    ma dieser Zeitschrift mit Zah-        nach Bangladesch geglückt ist,
                                    len und Fakten einzuleiten: zum       haben Familienmitglieder, ihre
                                    Beispiel, dass laut UNO-Flücht-       Nachbarn und Freunde verloren
                                    lingshilfe Ende 2019 mit 79,5 Mil-    oder wurden auf der Flucht von
                                    lionen Menschen mehr als ein          ihren Familienmitgliedern ge-
                                    Prozent der Weltbevölkerung           trennt. Inzwischen leben sie seit
                                    auf der Flucht waren. Das ent-        Jahren unter teils prekären Be-
                                    spricht in etwa der Einwohner-        dingungen im weltweit größ-
                                    zahl Deutschlands. Oft werden         ten Camp für geflüchtete Men-
                                    solche Zahlen herangezogen, um        schen – ohne Perspektive, weder
                                    zu verdeutlichen, dass Flucht und     auf eine Rückkehr in die Heimat,
                                    Migration zu den größten globa-       noch auf die Integration in das
                                    len Herausforderungen unserer         Land, in das sie geflüchtet sind.
                    Kai Fritze      Zeit gehören.                         Die gegenwärtige Corona-Pande-
              Redaktionsmitglied                                          mie sorgt gleichzeitig dafür, dass
                                    Dies birgt jedoch die Gefahr, zu      diese humanitäre Katastrophe im
                                    vergessen, dass Zahlen nur ab-        Südosten Bangladeschs aus dem
                                    strakte mathematische Objekte         Blickfeld der Weltöffentlichkeit
                                    sind. Hinter jeder von ihnen ste-     geraten ist.
                                    hen Menschen, die oft grausame
                                    und traumatisierende Schicksale       Al-Hussein konstatierte auf ei-
                                    erleiden mussten. Wie im Fall der     ner Sondersitzung des UN-Men-
                                    eine Million Rohingya, die seit       schenrechtsrats in Genf 2017, dass
                                    August 2017 aus dem myanmari-         die Rohingya „entmenschlicht“
                                    schen Teilstaat Rakhine auf grau-     würden. Diese Ausgabe der Ban-
                                    samste Art vertrieben wurden          gladesch-Zeitschrift informiert
                                    und die seither in Bangladesch        Sie umfassend über die Ursachen
                                    Schutz suchen.                        und Hintergründe des Rohingya-
                                                                          Konflikts. Wir hoffen dabei un-
                                    Von „Vertreibung“ zu sprechen         serem eigenen Anspruch gerecht
                                    ist in dieser Sache eigentlich ein    zu werden, bei allen berechtigten
                                    Euphemismus. Nicht umsonst            Analysen von Konfliktursachen
                                    stellte der damalige Hohe Kom-        und Diskussionen von Fluchtsta-
                                    missar der Vereinten Nationen         tistiken nicht die Menschen hin-
                                    für Menschenrechte, Seid Raad         ter den Zahlen zu vergessen.
                                    al-Hussein, 2017 die Frage, ob
                                    noch irgendjemand bestreiten          Eine anregende Lektüre wünscht
                                    könne, dass die Attacken gegen        Ihnen
                                    die Rohingya in Myanmar Ele-
                                    mente eines Genozids aufwiesen.       Kai Fritze
                                    Je nach Quelle hat das myanma-
                                    rische Militär seit Mitte 2017 zwi-
                                    schen 10.000 und über 40.000
                                    Rohingya umgebracht, unzähli-
                                    ge Frauen vergewaltigt und ganze
                                    Dörfer niedergebrannt.

                                                    3
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
NETZ 2/2020

Spielball Myanmars
und der Anrainergroßmächte
Ursachen für die Verfolgung und Vertreibung
der Rohingya und Konfliktpotenziale
Text: Dirk Saam          Fotos: Noor Ahmed Gelal

Über 720.000 Rohingya flohen seit August 2017 vor den gewaltsamen Aktionen der Militärs Myanmars und lokaler Mili-
zen aus dem Teilstaat Rakhine im Südwesten Myanmars über die Grenze nach Bangladesch, wo binnen Wochen das größ-
te Geflüchteten-Camp der Welt entstand. Fragt man nach den Gründen für die gewaltsame Vertreibung, erschöpfen sich
Erklärungen häufig darin, auf einen ethnisch-religiösen Konflikt zwischen der mehrheitlich muslimischen Minderheit der
Rohingya und Vertreter*innen der buddhistischen Mehrheitsgesellschaft in Myanmar zu verweisen. Dabei zeigt sich in der
Auseinandersetzung mit dem Konflikt eine zweite abweichende Lesart, die wirtschaftliche und geopolitische Interessen
Myanmars sowie regionaler und internationaler Akteur*innen als entscheidende Ursachen für die Vertreibung der Rohin-
gya identifiziert. Um beiden Perspektiven gerecht zu werden, beginnt dieser Beitrag mit einer Darstellung der Verknüpfung
der kulturellen Dimension des Konflikts mit dem historischen Kontext. Im zweiten Teil behandelt er die wirtschaftlichen
und geopolitischen Dimensionen des Konfliktes.

Koloniales Erbe als                       dischen Subkontinent: Bankiers            sichts der viele Generationen, die
Konfliktursache                           und Kaufleute, die führende Posi-         seither hier lebten sowie der Tat-
Die britische Kolonialherrschaft          tionen in der birmesischen Wirt-          sache, dass die Umsiedlung nicht
im damaligen Birma (1824-1948)            schaft übernahmen; Beamt*innen            zwischen zwei Staaten sondern
gilt als eine wichtige Einfluss-          und Büroangestellte, die zahlrei-         von einem Bezirk des britischen
größe auf die heute sichtbaren            che Posten in der Verwaltung be-          Kolonialreiches in einen anderen
Konfliktlinien in Rakhine, zum            setzten; Landarbeiter*innen, die          vollzogen wurde.
Beispiel durch Eingriffe in die           man für die Bestellung der Reis-          Andererseits verdeutlicht diese
Wirtschafts- und Gesellschafts-           felder brauchte.                          Bezeichnung eine empfundene
strukturen des Landes. *(siete 12)        Im Distrikt Akyab zum Beispiel            Überfremdung, die wiederum die
Von 1824 bis 1826 führten die Bri-        (dem heutigen Sittwe in Rakhi-            Verbreitung xenophoben Gedan-
ten einen Krieg gegen das da-             ne) verdreifachte sich die mus-           kenguts begünstigte, das in einen
malige Königreich, der mit der            limische Bevölkerung von 1871             rassistisch gefärbten, ökonomi-
Annektierung der Region des               bis 1911, während die Bevölke-            schen Nationalismus mündete,
heutigen Rakhine durch Britisch-          rung von Rakhine nur um knapp             der bis heute andauert. Beispiele
Indien endete. In den folgenden           ein Fünftel wuchs. Die Einwan-            dafür sind die anti-indischen und
Jahrzehnten unterwarfen die Bri-          derung nach Birma erreich-                anti-muslimischen Bewegungen
ten das ganze Land und schlugen           te 1927 einen Höchststand von             der 1920er und 1930er Jahre. Diese
es ihrem Kolonialgebiet auf dem           480.000, ein Anteil von knapp 4           Bewegungen brachten anti-mus-
indischen Subkontinent zu. Ent-           Prozent der Gesamtbevölkerung             limische Milizen hervor, die 1942
scheidend für die Situation der           von 13 Millionen. Ein Großteil            im Zuge der britischen Niederla-
Rohingya heute sind die wirt-             der mehrheitlich muslimischen             ge gegen das einmarschierende
schaftlichen, sozialen und de-            Rohingya stammt vermutlich                Japan im heutigen Rakhine An-
mografischen Umwälzungen, die             von den Arbeitsmigrant*innen              griffe auf Muslim*innen verüb-
damit einhergingen. Mit den Ko-           ab, die zu dieser Zeit in der Re-         ten. Im Kampf gegen die japani-
lonialherren kam das Christen-            gion angesiedelt wurden. Gleich-          schen Truppen bewaffneten die
tum in das mehrheitlich buddhis-          wohl werden sie von der Regie-            Briten die Rohingya und zwangen
tisch geprägte Birma; es kamen            rung Myanmars heute noch als              sie, an ihrer Seite zu kämpfen. Im
aber auch nicht-buddhistische             „Einwanderer*innen“ bezeichnet            Verbund mit der britischen Kolo-
„Gastarbeiter*innen“ aus dem in-          – eine doppelte Paradoxie ange-           nialmacht eroberten die Rohing-

                                                           4
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

Schon seit Jahrzehnten fliehen Rohingya immer wieder vor Gewalt in ihrer Heimat Myanmar in das be-
nachbarte Bangladesch. Die Route geht oft entlang der Grenzregion am Golf von Bengalen.

                                              5
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
NETZ 2/2020

ya Rakhine zurück, versursachten        kehrten, von der buddhistischen          derungen der durch ausländi-
dabei allerdings viel Leid unter        Mehrheitsgesellschaft und dem            sche Akteur*innen dominierten
der buddhistischen Bevölkerung,         Staat als illegale bengalische           Wirtschaft, so dass beispielwei-
so dass das Feindbild „Rohiny-          Immigrant*innen betrachtet und           se ab 1962 zwischen 125.000 und
ga“ weiter gestärkt wurde. Nach         mit Ablehnung und Ausgren-               300.000 Inder das Land verlassen
dem Abzug der Briten fürchteten         zung gestraft.                           mussten. Außerdem führte sie zu
die Rohingya im postkolonialen          Im weiteren Verlauf des 20. Jahr-        repressiven Gesetzgebungen, die
Birma Vergeltungsaktionen und           hunderts diente diese durch den          Staatsbürgerschaft und Ethnizi-
kämpften für eine Angliederung          Kolonialismus bedingte Migra-            tät verknüpften und die Rohin-
des nördlichen Rakhine an das           tion zur Legitimation eines bir-         gya ab den 1980er Jahren de fac-
damalige Ostpakistan, das heuti-        mesischen ökonomischen Na-               to zu Staatenlosen machten und
ge Bangladesch. Bis in die 1950er       tionalismus. Einer angeblichen           die „Bewegung 969“ etablierte
Jahre bekämpfte die birmesische         Überfremdung setzten birme-              sich, die nach den Terroranschlä-
Armee diesen Aufstand.                  sische Regierungen den Traum             gen vom 11. September 2001, zum
Als Erbe der kolonialen Fremd-          von einem ethnisch gereinigten           Boykott muslimischer Geschäfte
herrschaft und des zweiten Welt-        und religiös im Buddhismus ge-           und Produkte aufrief.
krieges wurden Muslim*innen,            einten Birma entgegen. Die Po-           Der Verlust der Souveränität und
die in Birma geblieben waren            litik der „Birmanisierung“ fand          die gesteuerte Einwanderung
oder zu späteren Zeitpunkten            ihren Niederschlag unter an-             mehrheitlich muslimischer Be-
sukzessive nach Rakhine zurück-         derem in strukturellen Verän-            völkerungsgruppen hinterließen

    Quasi aus dem Nichts ist in Kutupalong ein riesiges Siedlungsgebiet der Rohingya entstanden.

                                                         6
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

traumatische Spuren im kol-
lektiven Bewusstsein der Mehr-
                                                         Burma, Birma, Myanmar
heitsgesellschaft. Diese Spuren
können als Treiber für das Be-         Mit dem Gesetz zur Anpas-           hen. Oppositionelle, ethnische
streben angesehen werden, bir-         sung von Bezeichnungen vom          Gruppen im Land sowie mehrere
mesischen Nationalismus und            18. Juni 1989 hat das Militärre-    westliche Länder hielten jedoch
Buddhismus als dominante Ele-          gime eine umfassende Umben-         an „Burma“ bzw. äquivalenten
mente eines postkolonialen             ennung für den Landesnamen          Bezeichnungen in anderen Spra-
Staates zu begreifen und eth-          wie auch für weitere Bezeichnun-    chen fest und drückten damit
nische und religiöse Minder-           gen beschlossen. Daraufhin ent-     ihre Nichtanerkennung des Mili-
heiten zu stigmatisieren und           zündete sich eine Kontroverse       tärregimes aus. Die UN, die EU,
zu verfolgen. Heute äußert sich        um den Umgang mit dem neuen         Deutschland und einige andere
dies in Myanmar weiterhin in           offiziellen Landesnamen. „Myan-     Länder übernahmen den neuen
einer weit verbreiteten Sicht-         mar“ und die bis dahin gelten-      Namen „Myanmar“. Seit Beginn
weise, die Religion und Kultur         den Landesnamen „Burma“ bzw.        der Reformpolitik wird der neue
der Mehrheitsbevölkerung sei           im deutschen „Birma“ sind seit-     Name offiziell von immer mehr
durch Muslim*innen bedroht             her mit einer bestimmten poli-      Ländern verwendet. Burma wie
und könne nur durch rigoro-            tischen Haltung verknüpft. Da       auch Myanmar sind Transkriptio-
se Gegenmaßnahmen geschützt            die gesetzliche Namensände-         nen aus dem Birmanischen ins
werden. Dass in Myanmar nur            rung ohne öffentliche Konsulta-     Englische. „Myanma“ ist die hoch-
rund drei Prozent der Bevölke-         tion erfolgte, wurde sie von vie-   sprachliche Form, „Bama“ wird
rung Muslim*innen sind, spielt         len nicht angenommen. Offizi-       von den Menschen als umgangs-
dabei scheinbar keine Rolle. Das       ell wurde die Namensänderung        sprachlicher Ausdruck für ihr
Narrativ der Bedrohung wird            damit begründet, dass man sich      Land benutzt. Die Briten orien-
von der myanmarischen Regie-           des von den Briten geprägten        tierten sich am „Bama“ und nann-
rung, dem Militär sowie Religi-        Namens „Burma“ aus der Kolo-        ten das Land „Burma“ (Union
ons- und Bildungsinstitutionen         nialzeit entledigen wollte. Nach    of Burma). Das Wort „Birma“ im
seit Jahrzehnten bedient.              der Lesart des Militärs würde       Deutschen wurde aus dem Eng-
                                       die neue Bezeichnung „Myan-         lischen abgeleitet. Ebenso das
Landnahme und Geopolitik               mar“ auch alle Ethnien des Lan-     Wort „Myanmar“.
als Konfliktursachen                   des, nicht nur die Mehrheitsbe-
Die Vertreibung der Rohingya           völkerung der Bamar, einbezie-                Quelle: Burma-Initiative
in den vergangenen Jahrzehn-
ten (große Fluchtbewegungen
gab es u.a. bereits 1978 und 1991)    nehmend zu Landrechtsverlet-          völkerung oder Kompensation
ausschließlich mit ethnisch-reli-     zungen und der Vertreibung der        und geht mit Gewalt einher. Auch
giös bedingten Konflikten zu er-      lokalen Bevölkerung, unter ande-      in Myanmar verloren – vor allem
klären, wäre allerdings zu kurz       rem im strategisch wichtigen          seit den 1990er Jahren – kleinbäu-
gegriffen. Vielmehr muss ihre         Küstenstaat Rakhine.                  erliche Betriebe einen Großteil
Vertreibung – wie auch Myan-                                                ihres Landbesitzes. Begünstigt
mars Konflikte mit anderen Min-       Schaffung rechtlicher Rahmen-         wurde dies durch eine Gesetzes-
derheiten im Nordosten des Lan-       bedingungen für zunehmende            novelle im Jahr 2012, das großflä-
des – im Zusammenhang mit             Landnahme                             chige Aneignung von Land durch
Myanmars Bestreben nach wirt-         Weltweit sind die vergangenen 20      private und staatliche Unterneh-
schaftlichem Wachstum, auch           Jahre gekennzeichnet durch ei-        men ermöglicht. Laut der Nicht-
durch Kooperationen mit regi-         nen massiven Anstieg von Land-        regierungsorganisation Forest
onalen      Handelspartner*innen      aneignung zur kommerziel-             Trends hat die Umverteilung von
und steigenden ausländischen          len Nutzung durch private und         Land zugunsten des Baus von In-
Direktinvestitionen, und der da-      staatliche Unternehmen. Häufig        frastruktur- und Großprojekten
mit einhergehenden Ausbeutung         verläuft diese Landnahme ohne         zwischen 2010 und 2013 um 170
natürlicher Ressourcen gesehen        Beteiligung oder Widerspruchs-        Prozent zugenommen. Von Land-
werden. Hierdurch kommt es zu-        recht der betroffenen lokalen Be-     nahme waren in den vergangenen

                                                     7
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
NETZ 2/2020

Jahren aber nicht nur Rohing-
ya betroffen, sondern auch bud-
dhistische kleinbäuerliche Be-
triebe. An ihrer Stelle sind unter
anderem Großprojekte zur Ge-
winnung von Bauholz und für
den Bergbau entstanden.
Seit 2012 ermöglichen es zu-
dem neue Gesetze ausländischen
Investor*innen, Projekte in My-
anmar mit 100 Prozent Eigenka-
pital zu finanzieren und Land für
bis zu 70 Jahre zu pachten. Gleich-
zeitig wurden formale Vorgaben
geschaffen, die Kleinbäuer*innen
den Zugang zu Land erschwe-
ren. Seit den Gesetzesänderun-
gen haben ausländische Direk-
tinvestitionen denn auch massiv
zugenommen, vor allem im Roh-
stoff- und Energiesektor. Allein in
den Gebieten, in denen Rohingya
leben, sind laut Forschungsins-
titutionen seit 2012 1,2 Millionen
Hektar umverteilt worden. 2012
begannen auch gezielte Aktivi-
täten zur Vertreibung der Rohin-
gya durch politische Parteien in
Rakhine und extremistische bud-
dhistische Bewegungen. Laut den
Vereinten Nationen kamen dabei                   Auf der Flucht waren viele Rohingya mitten durch den Dschungel unterwegs, o
rund 200 Menschen ums Leben,                     Die Karte zeigt den Verlauf der Pipelines von China über Myanmar bis in den G
über 140.000 Rohingya flohen
unter anderen nach Bangladesch.       2013 die Interessen und Ziele Chi-       tionale, an ökonomischen Ge-
                                      nas zum Auf- und Ausbau inter-          sichtspunkten orientierte Koope-
Ressourcen-Akquise                    kontinentaler Handels- und Inf-         rationskorridore, die schrittweise
zur Durchsetzung wirtschafts-         rastrukturnetze zwischen China          entwickelt werden sollen. Zu den
und geopolitischer Interessen         und über 60 Ländern Afrikas,            Handelsrouten gehört auch der
Politischen Analyst*innen zufol-      Asiens und Europas bündelt.             China-Bangladesch-Indien-My-
ge ist Myanmar in der komfortab-      Umgangssprachlich wird das              anmar-Korridor.
len Position, mit China und Indien    Vorhaben auch „Neue Seidenstra-         Die BRI – und ihre strategischen
zwei Kooperationspartner*innen        ße“ genannt.                            Vorläufer – verschafft auch Rak-
zu haben, die zur Gruppe der so       Die BRI umfasst Handelsrouten           hine neue geopolitische Rele-
genannten „aufstrebenden Volks-       über Land und südlich gelege-           vanz. Zwischen 2010 und 2015
wirtschaften“ gehören. Myanmar        ner Seewege. Das Gesamtprojekt          baute China in Kooperation mit
verspricht sich durch wachsen-        betrifft nach Schätzungen mehr          der staatlichen Energieagen-
de Auslandsinvestitionen eine         als 60 Prozent der Weltbevölke-         tur Myanmars eine Öl- und eine
Modernisierung der eigenen ma-        rung, zirka 35 Prozent des globa-       Gas-Pipeline, die den Hafen Ky-
roden Infrastruktur. Für China        len Bruttoinlandprodukts und 75         aukphyu in Rakhine mit Kun-
ist Myanmar ein wichtiger Part-       Prozent der bekannten Energiere-        ming verbindet, der Hauptstadt
ner bei der Umsetzung der Belt        serven. Wesentliche Bestandteile        der südwestchinesischen Provinz
and Road-Initiative (BRI), die seit   des Landwegs sind sechs interna-        Yunnan. Durch die Pipelines be-

                                                      8
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

                                                                                         ternehmen CITIC (China Inter-
                                                                                         national Trust and Investment
                                                                                         Corporation) ist zuständig für
                                                                                         die Bauvorhaben in Rakhine und
                                                                                         wird die Anlagen in den kom-
                                                                                         menden 50 Jahren betreiben. Zu-
                                                                                         dem unterschrieben Myanmar
                                                                                         und China im Dezember 2017 Ver-
                                                                                         einbarungen zur Einführung ei-
                                                                                         nes gemeinsamen Wirtschafts-
                                                                                         korridors    (China     Myanmar
                                                                                         Economic Corridors, CMEC), wo-
                                                                                         durch auch weitere Infrastruktur-
                                                                                         projekte wie Straßen- und Schie-
                                                                                         nenausbau begünstigt werden
                                                                                         dürften. Bauarbeiten an der Bahn-
                                                                                         trasse von Kunming in China zur
                                                                                         Grenze Myanmars sowie eine im
                                                                                         März 2018 in Auftrag gegebene
                                                                                         Machbarkeitsstudie zum Bau ei-
                                                                                         ner Eisenbahntrasse von Manda-
                                                                                         lay in Myanmar an die Grenze zu
                                                                                         China und einer Schnellstraße
                                                                                         von der Hauptstadt Naypyidaw
                                                                                         nach Kyaukphyu lassen diese Ver-
                                                                                         mutung zu.
                                                                                         Hinzu kommen geopolitische In-
                                                                                         teressen Chinas. Im Zuge der Fo-
                                                                                         kussierung auf den indo-pazifi-
                                                                                         schen Raum kündigten die USA
 oft nur zu Fuß mit hilfsbedürftigen Familienmitgliedern.                                Mitte 2018 an, eine Reihe von In-
Golf von Bengalen, die im Zuge der BRI entstanden ist..                                  vestitionsvorhaben in der Region
                                                                                         umzusetzen. Diese umfassen die
            steht die Möglichkeit, jährlich           anderen Ländern zu erlangen,       Bereiche Digitalwirtschaft, Ener-
            unter anderem 22 Millionen Fass           die im Konfliktfall versuchen      gie und Infrastruktur. Chinas di-
            Öl aus den Golfstaaten und Afri-          könnten, die Meerenge von Mal-     verse Vorhaben (BRI, CMEC) ha-
            ka nach China zu leiten; das ent-         akka zu sperren.                   ben sicherlich zum Ziel, die
            spricht rund sechs Prozent der            Mit dem Bau der Pipelines ge-      US-amerikanische        Einfluss-
            Ölimporte Chinas. Bereits 2011            hen auch chinesische Investiti-    sphäre in der Region einzudäm-
            unterzeichnete das saudi-arabi-           onen beim Ausbau Kyaukphyus        men. Bisher nicht zu verifizie-
            sche Staatsunternehmen Aracom             zu einem Tiefseehafen sowie der    ren sind Befürchtungen der USA
            eine Absichtserklärung mit Chi-           Küstenregion Rakhines zu Son-      und Indiens, dass der Tiefseeha-
            na, in der es sich bereit erklär-         derwirtschaftszonen einher. So     fen in Kyaukphyu auch dazu die-
            te, täglich 200.000 Fass Öl durch         könnte China Waren aus Europa,     nen könne, chinesische U-Boote
            die Pipeline zu leiten. Der Bau der       dem Nahen Osten, Afrika und In-    zu stationieren und den militäri-
            Pipelines kann als Versuch Chi-           dien nach Kyaukphyu verschiffen    schen Einfluss in der Region zu
            nas begriffen werden, sich von            und über den Landweg nach Chi-     verändern.
            solchen Öl- und Gasimporten un-           na transportieren – ein kürzerer   All diese Aspekte verdeutlichen
            abhängig zu machen, die durch             und politisch weniger sensibler    die Relevanz des von den Rohiny-
            die Meerenge von Malakka gelie-           Weg, als der über die Meerenge     ga bewohnten Rakhines für Chi-
            fert werden, und hierdurch einen          von Malakka. Chinas staatseige-    na und Myanmar. Laut dem Eu-
            strategischen Vorteil gegenüber           nes Finanz- und Investmentun-      ropean Rohingya Council (ERC),

                                                                     9
Vertrieben und vergessen? - Rohingya zwischen Myanmar und Bangladesch - Bangladesch Zeitschrift - NETZ Bangladesch
NETZ 2/2020

einer in Dänemark gegründe-           Bangladesch und in Myanmar             Vorhaben ist die lokale Bevölke-
ten Menschenrechtsorganisati-         werden von Indien als Einkesse-        rung in Rakhine und zuvorderst
on, sind bereits 2012 in und um       lung empfunden; dies hat wiede-        die Rohingya betroffen. Bereits
Kyaukphyu Rohingya vertrieben         rum Auswirkungen auf Indiens           im Jahr 2009 - als die Pläne des
und über 800 Häuser niederge-         Interessen in Rakhine. Und somit       Projektes publik wurden - wies
brannt wurden, um für die Son-        auf die Rohingya.                      die NGO Arakan Rivers Network
derwirtschaftszonen Platz zu          Chinas Vorhaben setzen Indien          in einer detaillierten Studie auf
schaffen, die Jahre später errich-    Grenzen, eine politische und wirt-     die ökologischen und sozialen
tet wurden. Laut Human Rights         schaftliche Vormachtstellung in        Verwerfungen des Vorhabens hin.
Watch sind 2012 Rohingya und          der Region zu etablieren. Daher        Vermutlich liegt es allerdings
muslimische Gemeinden auch            begreift es Indien als relevant, ein   nicht im Interesse Chinas oder
in anderen Regionen Rakhines          Gegengewicht gegenüber Chinas          Indiens, dass infrastrukturel-
überfallen und vertrieben wor-        wachsendem Einfluss zu schaf-          le Großinvestitionen in Myan-
den, unter anderem in dem an          fen. Die gegenwärtige und stark        mar von der Weltöffentlichkeit
Bangladesch grenzenden Kreis          verspätete Umsetzung des Tran-         mit Gewalt und Vertreibungen
Maung Daw. Hier hatte die Regie-      sit-Transportprojektes Kaladan,        in Verbindung gebracht werden,
rung Myanmars im Mai 2018 mit         das den östlichen indischen See-       die – im Falle der Rohingya – von
der Landesregierung in Rakhine        hafen von Kolkata mit dem Seeha-       den Vereinten Nationen 2017 als
und einem myanmarischen Wirt-         fen Sittwe in Rakhine verbindet,       „ethnische Säuberungen“ be-
schaftsunternehmen eine Ab-           wird als solch ein Gegengewicht        zeichnet wurden. Es scheint viel-
sichtserklärung unterschrieben,       verstanden. Im Rahmen des Pro-         mehr Chinas Anliegen zu sein,
um die Einführung der Maung           jektes wird zudem Sittwe durch         Stabilität entlang der Handels-
Daw Sonderwirtschaftszone vor-        den Bau und Ausbau von Straßen         routen der BRI zu gewährleisten,
an zu treiben. Ziel dieser Zone ist   und Wasserwegen mit dem nord-          um somit die eigene Wirtschafts-
eine verbesserte wirtschaftliche      ostindischen Bundestaat Mizo-          kraft und Position als Global Play-
Kooperation mit Bangladesch.          ram verbunden. Auch von diesen         er zu stärken. So ist China seit
Die Gegend um Maung Daw ge-                                                  2017 schließlich als Mediator zwi-
hört zu den Gebieten, aus denen                                              schen Bangladesch und Myanmar
seit August 2017 Rohingya in gro-                                            aufgetreten, um Lösungen beim
ßer Zahl nach Bangladesch flo-                                               Umgang mit den geflüchteten
hen.                                                                         Rohinyga zu finden. Gleichwohl
Chinas Aktivitäten im Rahmen                                                 stellt sich die Frage, ob China als
der BRI beinhalten auch die Ein-                                             unabhängige Vermittler*in auf-
führung eines Wirtschaftskorri-                                              treten kann, wenn zum einen ei-
dors mit Pakistan. Dieser besteht                                            gene wirtschaftliche und geopo-
aus einer Anzahl von Projekten,                                              litische Interessen in Rakhine auf
die eine Entwicklung und Ver-                                                dem Spiel stehen – die wiederum
besserung der pakistanischen                                                 selbst als Konflikt- und Vertrei-
Transport- und Energie-Infra-                                                bungsursache verstanden werden
struktur sowie eine intensivierte                                            können – und China zum ande-
wirtschaftliche Zusammenarbeit                                               ren UN-Resolutionen gegen My-
zwischen China und Pakistan                                                  anmar verwässert hat. Schließ-
zum Ziel haben. Der Korridor ver-                                            lich kann hinterfragt werden,
bindet China mit der pakistani-                                              ob entsprechende wirtschaftli-
schen Hafenstadt Gwadar und                                                  chen Interessen der beteiligten
verläuft durch Gebiete, die zwi-                                             Akteur*innen die Umsetzung ei-
schen Pakistan und Indien um-                                                nes funktionierenden Rückfüh-
stritten sind. Zudem hat China                                               rungsabkommens behindern.
erst vor kurzem ein 30 Milliarden                                            Welche Strategie Bangladesch
Dollar umfassendes Investitions-         Auf der Flucht; und dabei oft       als aufnehmendes Land verfolgt,
paket für Bangladesch geschnürt.         schutzlos vor Unwetter.             ist hingegen unklar. Grundsätz-
Chinas Vorhaben in Pakistan,                                                 lich ist Dhaka daran gelegen, die

                                                      10
VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

Rohinyga zurück zu führen. Der       auf die vielfältigen wirtschaftli-   sen, dass das Militär in der ehe-
chinesische Präsident Xi Jinping     chen Aktivitäten Chinas und de-      maligen Militärdiktatur eine be-
besuchte 2016 Bangladesch per-       ren mögliche Auswirkungen auf        ständig starke Position innehat
sönlich, um das Land in die BRI      politische Entscheidungsprozes-      und für Menschenrechtsverlet-
aufzunehmen, und die beiden          se in Bangladesch aufmerksam         zungen verantwortlich zeichnet.
Länder unterzeichneten 21 Ab-        gemacht.                             Wir haben gesehen, dass Ent-
kommen im Wert von 21,5 Milli-                                            eignung und Landnahme in My-
arden US-Dollar, 15 Abkommen         Nicht nur die Anrainerstaaten        anmar seit Jahrzehnten gängi-
und Absichtserklärungen und          tragen Verantwortung                 ge Praxis sind. Diese Umstände
12 Vereinbarungen über Darle-        Um eines zu verdeutlichen: Wir       waren in der Vergangenheit kein
hen und gegenseitige Zusam-          haben gesehen, dass der soge-        Hindernis für die Verfolgung der
menarbeit. Das Investitionspaket     nannte Rohingya-Konflikt ein         wirtschafts- und geopolitischen
für Infrastruktur-, Wasserver-       Konfliktkontext in Myanmar ist,      Interessen der Anrainerstaaten
sorgungs- und Energieprojek-         der seit Jahrzehnten angeheizt       Myanmars. Allerdings sind ge-
te, dessen Umfang bis zum Jahr       und sorgsam bewahrt wird. Wir        nannte Umstände mit den Verfas-
2021 vermutlich mehr als 30 Mil-     haben gesehen, dass, obwohl          sungen der Herkunftsländer der
liarden Dollar umfassen wird,        sich der Rohingya-Konflikt im-       meisten ausländischen Investo-
ist für Bangladesch sehr wichtig,    mer als eine besondere Form des      ren in Myanmar unvereinbar. Der
wie durch die Notfall-Finanzie-      innergesellschaftlichen Stigma-      Vollständigkeit halber muss ent-
rung beim Bau der Padma-Brü-         tisierung herausstellte, inter-      sprechend erwähnt werden, dass
cke nach dem Ausscheiden der         ne Konflikte mit anderen exklu-      die Verwirklichung grundlegen-
Weltbank deutlich wurde. Politi-     dierten    Bevölkerungsgruppen       der Menschenrechte für kaum ein
sche Analyst*innen haben bereits     gang und gäbe waren. Wir wis-        Unternehmen, das in Myanmar

                                                    11
NETZ 2/2020

investiert und mit Myanmar Han-      sen und keine Arbeit annehmen.        in den CHT lebenden indigenen
del treibt, ob aus Asien oder dem    Daher sind sie zur Schwarzarbeit      Gruppen. Darunter sind sowohl
euro-atlantischen Raum, in der       oder Illegalität gezwungen, um        Buddhist*innen als auch Hindus
Vergangenheit von Belang war.        ihren Lebensunterhalt zu finan-       und Christ*innen. Dies zeigt sich
Dasselbe gilt für die wechselnden    zieren. Dies trägt dazu bei, dass     in einem seit einigen Monaten
Regierungen ihrer Herkunftslän-      sich zunehmend rassistische Ste-      zu verzeichnenden massiven An-
der, die zwar Sanktionen gegen       reotype gegenüber den Rohing-         stieg an verbaler und physischer
Myanmar verhängten, diese aber       ya verbreiten und Eingang in den      Gewalt gegen indigene Gruppen
beabsichtigt zahnlos waren, um       öffentlichen Diskurs finden. Stig-    in den CHT. Aufgrund der seit
eigene außenwirtschaftliche In-      matisierung, Kriminalisierung         Jahrzehnten ohnehin fortwäh-
teressen nicht zu gefährden. Im      und Angriffe sind die Folge.          renden Exklusion und Diskrimi-
Gegensatz zu China wird die Au-      Studien zu Besiedlungs- und Be-       nierung indigener Gruppen in
ßenhandels- und Entwicklungs-        schäftigungsmustern von Rohin-        den an Rakhine angrenzenden
politik vieler OECD-Länder als       gya, die außerhalb der Camps          CHT drohen all diese Entwick-
moralischer Kompass (selbst-)        leben, zeigen auf, dass neu an-       lungen, den sozialen Zusammen-
zertifiziert. Das Beispiel Myan-     kommende Rohingya Unterkunft          halt in der Region noch weiter
mar zeigt exemplarisch, dass         und Zugang zum lokalen Arbeits-       zu gefährden. Für künftige Kon-
ökonomische Interessen demo-         markt durch Netzwerke erlangen,       fliktanalysen ist es in diesem Zu-
kratische Prinzipien unterwan-       die bereits durch Migrationsbe-       sammenhang besonders wichtig,
dern können.                         wegungen von Myanmar nach             Sichtweisen der indigenen Grup-
                                     Bangladesch seit den 1970er Jah-      pen in den CHT und weiterer auf-
Konfliktpotenzial        zwischen    ren bestehen. Dies betrifft unter     nehmender Gemeinschaften und
Rohingya und aufnehmenden            anderem die Gegenden um Cox‘s         deren Umgang mit den Rohingya
Gesellschaften in Bangladesch        Bazar und Chittagong sowie die        zu berücksichtigen.
Gegenwärtig fokussieren die          Chittagong Hill Tracts (CHT). An-
Maßnahmen zur Unterstützung          dererseits profitieren lokale Eli-
der Rohingya in Bangladesch die      ten von den Rohingya, indem sie       *Die Beziehungen des Teilstaates Rak-
Versorgung in den Geflüchteten-      deren Status als nicht-registrierte   hine zu Migration und zur Präsenz von
Camps. Mittel- und langfristig       Geflüchtete für niedrigentlohn-       Gruppen unterschiedlichen Glaubens so-
sollte aber nicht nur die angemes-   te und prekäre Arbeitsverhältnis-     wie Spannungen zwischen diesen Grup-
sene Versorgung der Rohingya si-     se ausnutzen. Hieraus ergibt sich     pen sind historisch tief verwoben. Im
chergestellt sein, sondern sind      weiteres Konfliktpotential, da die    folgenden wird auf die Kolonialzeit re-
auch die Integrationsmöglichkei-     Rohingya zunehmend im Wettbe-         kurriert, Migration und damit verbun-
ten in Bangladesch und Drittstaa-    werb mit der lokalen ärmeren Be-      dene Konflikte fanden jedoch bereits in
ten sowie die Gewährleistung von     völkerung stehen, die ebenfalls       Rakhines vorkolonialer Zeit statt.
Garantien seitens Myanmar im         auf prekäre Arbeitsplätze ange-
Rahmen einer möglichen Rück-         wiesen ist. Diese Konstellation
kehr der geflüchteten Menschen       führt zunehmend zu Auseinan-
auszuloten. Auf der anderen Seite    dersetzungen zwischen den auf-
wächst ein Konfliktpotenzial, das    nehmenden Gemeinschaften und
zwischen den aufnehmenden Ge-        den außerhalb der Camps leben-
meinschaften in Bangladesch und      den Rohingya.
den geflüchteten Rohingya zu-        Zudem schürt das weit ver-
nehmend sichtbar wird: Dienst-       breitete Narrativ, die Gescheh-
leistungsangebote und Nah-           nisse in Rakhine seien ein aus-
rungsmittel sind in den Camps        schließlich religiöser Konflikt
trotz humanitärer Hilfsleistun-      zwischen mehrheitlich musli-
gen nur unzureichend vorhan-         mischen Rohingya und der als
den. Rohingya, die in den Ge-        Täter*innen wahrgenommenen                         Der Autor ist Leiter
flüchteten-Camps im Südosten         buddhistischen Mehrheitsbevöl-                Politischer Dialog bei NETZ
Bangladesch leben, dürfen die-       kerung in Myanmar, Vorurtei-
se ohne Erlaubnis nicht verlas-      le und Stereotype gegenüber den

                                                     12
VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

„Es muss lokal gedacht werden,
um die Probleme anzugehen“
Über die Lage der geflüchteten Rohingya
im Süden Bangladeschs

Meghna Guhathakurta ist Geschäftsführerin der Nichtregierungsor-
ganisation Research Initiatives, Bangladesh. Sie ist regelmäßig vor Ort
in den Camps der geflüchteten Rohingya im Süden Bangladeschs, sie
spricht mit Betroffenen und beobachtet die internationalen Entwick-
lungen. Im Interview mit NETZ spricht sie über die Flucht der Rohin-
gya nach Bangladesch sowie über die Ursachen des Konflikts in Myan-
mar und die aktuelle Situation.

Seit August 2017 sind mehr als          Guhathakurta: Auch damals
740.000 Rohingya aus Myanmar            mussten Menschen unter an-
über die Grenze nach Bangladesch ge-    derem vor ethnisch motivierter
flohen. Es wird geschätzt, dass heu-    Gewalt fliehen. Und nun wurde
te mehr als eine Million Rohingya in    gezielt die mehrheitlich musli-
Bangladesch leben – innerhalb und       mische Minderheit der Rohingya
außerhalb von Geflüchtetencamps.        angegriffen. Die Attacken richte-
Was sind die Hauptgründe dafür?         ten sich gegen muslimische Fa-
                                        milien und deren religiöse Iden-
Meghna Guhathakurta: Schon              tität. Moscheen wurden zerstört,
seit 2016 kamen Menschen ver-           Menschen von der Religionsaus-
mehrt über die Grenze, doch seit        übung abgehalten. Die Toten
dem 25. August 2017 gab es ei-          wurden verbrannt, anstatt sie wie
nen massiven Anstieg. Zu jener          im Islam üblich zu beerdigen.
Zeit war ich Mitglied der nationa-
len Menschenrechtskommission            Wer hat diese Taten verübt?
in Bangladesch und besuchte re-
gelmäßig die Camps in und um            Guhathakurta: Den Zeugenaussa-
Cox’s Bazar im Süden Banglade-          gen zufolge waren es Angehörige
schs. Wir haben vor Ort Betroffe-       des myanmarischen Militärs, mit
ne befragt. Viele Geflüchtete ha-       Uniformen und Abzeichen. Die Be-
ben nach ihrer Ankunft berichtet,       troffenen haben davon gesprochen,
dass es in Myanmar massive An-          dass die Täter mit dem Hubschrau-
griffe gegen sie gegeben hat. Sie       ber kamen und dann ihre Häuser
                                                                                                               Foto: Sven Wagner

sprachen von Gräueltaten – Häu-         aufgesucht haben – auch dies deutet
ser wurden in Brand gesetzt, da-        auf das Militär hin. Aber: Den Aus-
bei kamen Menschen ums Leben,           sagen zufolge hatten einige der Tä-
Frauen wurden vergewaltigt. Die         ter ihre Gesichter verhüllt und wa-
Berichte lassen auf einen Genozid       ren nicht eindeutig zu erkennen.       Ein Junge, unterwegs im Lager
schließen. Dies hat mich an den         So ist nicht eindeutig zu klären, ob   Kutupalong/Bangladesch.
Unabhängigkeitskrieg in Bangla-         nicht auch weitere Personen und lo-    Schätzungen zufolge leben
desch 1971 erinnert.                    kale Gruppen an den Angriffen be-      inzwischen über eine Million
                                        teiligt waren und das Militär unter-   geflüchteter Rohingya dort.
Warum?                                  stützt haben.

                                                        13
NETZ 2/2020

                                                                                                                       Archivfoto: Kai Fritze
    Forscht zur Lage der geflüchtete Rohingya: Meghna Guhatakurta, Geschäftsführerin der bangladeschischen Nicht-
    regierungsorganisation Research Initiatives, Bangladesh.

Welche Rolle spielt das Militär in     war wohl ein Auslöser für die Mi-        Nationen zeigt, dass in der Regi-
Myanmar?                               litäraktion. Beides stand jedoch         on viel Militär in Bewegung ist
                                       in keinem Verhältnis zueinander:         und Armeeangehörige enge Be-
Guhatakurta: Auch wenn Myan-           Wegen einer kleinen Gruppe von           ziehungen zu Geschäftsleuten
mar sich inzwischen als Demo-          Rebellen wurden über 700.000             unterhalten. Ein weiterer Faktor
kratie bezeichnet, hat das Militär     Menschen vertrieben – das kann           ist die Identitätspolitik. Rohing-
nach wie vor enorme Macht. Es          nicht nur eine Reaktion gewe-            ya werden im mehrheitlich bud-
gibt etwa reservierte Parlaments-      sen sein. Die Tiefe dieser Militä-       dhistischen Myanmar oftmals
sitze für Militärangehörige. Vor       roperation deutet vielmehr da-           als „bengalische Minderheit“ be-
der massiven Welle der Gewalt ab       rauf hin, dass das Ganze länger          zeichnet, die nicht zu Myanmar
dem 25. August 2017 gab es An-         geplant und nicht nur ein Akt der        gehöre. Entsprechend würden
griffe auf einen myanmarischen         Vergeltung war.                          sie aus Sicht mancher nun dahin
Militärposten durch Rohingya-                                                   zurückgeschickt, wo sie eigent-
Kämpfer. Diese Rebellen haben          Welche Gründe sehen Sie dafür?           lich herkommen und hingehö-
damit wahrscheinlich ein Zei-                                                   ren. Doch es gibt auch in Myan-
chen der Gegenwehr setzen wol-         Guhathakurta: Es gibt verschie-          mar eine Rohingya-Identität. Die
len, da sie in Myanmar nicht als       dene Interpretationen und Sicht-         Menschen leben dort seit drei,
Staatsbürger anerkannt werden.         weisen. Ein Faktor ist der ökono-        vier Generationen und verstehen
Der Teilstaat Rakhine, in dem sie      mische: Rakhine gilt als ölreiche        sich als Bürger Myanmars.
leben, ist zudem stark von Armut       Region, durch die eine Pipeline
und Ausbeutung geprägt. Die            gebaut werden soll. Es gibt also         Inzwischen leben über eine Milli-
staatliche     Gesundheitsversor-      viele, die ein Interesse an der Re-      on geflüchtete Rohingya in Bangla-
gung in der Region ist unzurei-        gion haben, darunter Indien und          desch. Wie arrangieren sich die Men-
chend. Der Angriff der Rohingya        China. Ein Bericht der Vereinten         schen dort?

                                                       14
VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

Guhathakurta: Jene, die seit          Welche Perspektiven haben sich für       ten fühlen sich dabei außen vor.
Ende August 2017 kamen, waren         die Geflüchteten seitdem entwickelt?     Das ist ein großes Problem: Die
tagelang zu Fuß unterwegs, ha-                                                 lokalen Gemeinschaften werden
ben Wälder und Flüsse durch-          Guhathakurta: Es gibt verschie-          nicht als Ersthelfer anerkannt
quert und nicht gegessen. Zu-         dene Arbeitsmöglichkeiten. In            und ihre Unterstützung wird
nächst konnten sie sich in bereits    der südlichen Küstenstadt Teknaf         nicht honoriert. Zudem konkur-
bestehenden Geflüchtetencamps         arbeiten viele Menschen in der Fi-       rieren sie nun auf dem lokalen Ar-
registrieren lassen. Eine Infra-      scherei. Rohingya, also vor allem        beitsmarkt mit den neu angekom-
struktur war dort schon geschaf-      Männer und Jungen, können sich           menen Geflüchteten; das große
fen durch Menschen, die bereits       dort in der Saison verdingen und         Angebot an Arbeitskräften übt
im Zuge früherer Gewaltwellen         Geld für sich und ihre Familien          einen enormen Druck auf Löh-
aus Myanmar gekommen wa-              verdienen. Es gibt in der Region         ne und Gehälter aus. Ein weite-
ren. Viele der Geflüchteten ha-       auch Arbeit auf Salzfarmen oder          res Beispiel: Hilfsorganisationen
ben Verwandte im Süden Bang-          im Handwerk. Aus der Lokalbe-            geben in den Camps Gaszylin-
ladeschs und in der Grenzregion,      völkerung erhalten die Geflüchte-        der zum Kochen an Rohingya aus.
die selbst seit Jahrzehnten ohne      ten Unterstützung, um neue Fer-          Auch aus Umweltschutzgründen,
Aufenthaltsstatus dort leben und      tigkeiten zu erlernen. Cox’s Bazar       wie sie sagen, da dadurch weni-
Gelegenheitsjobs haben. Diese         selbst ist ein beliebter Urlaubs-        ger Holz verbrannt werden müs-
Verwandten und die lokalen Ge-        ort. Dort entstehen viele neue Ho-       se. Viele verkaufen die Zylinder
meinschaften vor Ort waren die        tels und andere Gebäude. Ent-            auf lokalen Märkten. Doch die Lo-
sogenannten Ersthelfer für die        sprechend gibt es im Baugewerbe          kalbevölkerung, die hier traditio-
vielen Menschen, die in der Fol-      einen Bedarf an Arbeitskräften.          nell Feuerholz sammelt und die-
ge der Gewalt aus Myanmar ka-         Bauarbeiter aus Myanmar kom-             ses verkauft, verliert dadurch ihre
men. Sie haben die Geflüchte-         men seit längerem dorthin, um            Einkommensmöglichkeit.
ten mit Essen versorgt und ihnen      Geld zu verdienen. Bei den Frau-
Unterkunft geboten, obwohl sie        en sieht es ganz anders aus. Eine        Was ist die Folge?
selbst nicht viel hatten. Sie ha-     Überlebensstrategie für alleinste-
ben die ankommenden Menschen          hende Frauen sind Eheschließun-          Guhathakurta: Es entwickelt
in Häusern, auf der Veranda, in       gen: Rohingya-Frauen heiraten            sich durchaus Fremdenfeindlich-
Schulen oder Krankenhäusern           in bengalische Familien aus Ban-         keit. Das wird von den Hilfsorga-
untergebracht und sie bekocht.        gladesch ein, mitunter auch als          nisationen, die Geflüchtete un-
Viele der Geflüchteten waren          Zweit- oder Drittfrau. So bekom-         terstützen, kaum beachtet. Die
über diese Unterstützung glück-       men sie Papiere und einen offizi-        Rolle der lokalen Gemeinschaften
lich, auch wenn sie darüber hin-      ellen Status.                            wird nicht genügend anerkannt.
aus weitere Probleme hatten, wie                                               Ihre Befürchtungen werden nicht
ihre Gesundheitsversorgung und        Gibt es auch Konflikte mit lokalen Ge-   ernst genommen, auch nicht von
ihre eingeschränkte Mobilität.        meinschaften oder Ressentiments?         den Behörden. Und den lokalen
2017 hat das Flüchtlingskommis-                                                Gemeinschaften fehlt zugleich
sariat der Vereinten Nationen die     Guhathakurta: Es gibt Spannun-           das Wissen um die Rechte von Ge-
Initiative rund um die Geflüch-       gen und Konflikte durch die An-          flüchteten als Schutzsuchende.
tetencamps ergriffen und die In-      kunft so vieler neuer Geflüchteter.      Mitunter haben aktuelle Entwick-
frastruktur sukzessive gefestigt.     Das sind einerseits Konflikte mit        lungen sogar negative Folgen für
Unterhalten werden die Camps          den lokalen Gemeinschaften, aber         die Lokalbevölkerung: Weil Ge-
von der Regierung – Agenturen         auch Konflikte mit Rohingya, die         flüchtete versucht haben, ille-
der Vereinten Nationen, etwa die      bereits vor Jahren nach Bangla-          gal an bangladeschische Pässe zu
Internationale Organisation für       desch kamen. Beide Gruppen sa-           kommen, hat die Regierung die
Arbeit sowie zahlreiche Nicht-        gen: Die gegenwärtige interna-           Geburtenregistrierung zeitwei-
regierungsorganisationen sind         tionale Aufmerksamkeit und               lig gestoppt. So konnte niemand
ebenfalls tätig und bieten Hil-       Unterstützung komme allein den           in der Region mehr seine Kin-
fe, angefangen von Sanitätspro-       Rohingya zugute, die seit August         der registrieren lassen, was etwa
grammen über Nothilfe bis zu Le-      2017 nach Bangladesch kamen.             notwendig ist, um diese auf eine
bensmittelkarten.                     Die aufnehmenden Gemeinschaf-            Schule schicken zu können. Alles

                                                       15
NETZ 2/2020

in allem kann man die Beziehung          getrennt Gespräche mit allen Ak-    nach Gemeinsamkeiten sortiert.
zwischen den lokalen Gemein-             teursgruppen, um Konfliktur-        So ist es möglich, Schlüsse zu zie-
schaften und den Geflüchteten            sachen zu analysieren. Die loka-    hen und zu priorisieren, wo zu-
als ambivalent bezeichnen: Sie           len Gemeinschaften fühlen sich      erst gehandelt werden muss. Die-
haben größtenteils die gleiche           schon wesentlich besser mit der     ser partizipative Prozess stößt
Religion, sprechen denselben Di-         Situation, wenn sie überhaupt       wichtige Diskussionen inner-
alekt und haben somit wichti-            gehört werden und darüber re-       halb der Gruppen an. Den Men-
ge Gemeinsamkeiten und Sym-              den können. Es müssen Räume         schen wird nichts aufgedrückt,
pathie füreinander. Doch mit der         geschaffen werden, die zeigen,      sie können frei entscheiden. Ent-
Zeit entstehen mehr und mehr             dass alle von Problemen betrof-     sprechend unserer Möglichkei-
Ressentiments. Die lokalen Medi-         fen sind: die Alteingesessenen      ten versuchen wir dann, weitere
en haben ihren Anteil daran und          und die Geflüchteten der letzten    Hilfe zu vermitteln, etwa durch
die lokale Politik instrumentali-        beiden Jahre. Alle Probleme müs-    staatliche Stellen.
siert diese für ihre Interessen.         sen genauer erforscht und zu ge-
                                         gebener Zeit gemeinsam disku-       Inwieweit sind die Menschen in den
Welche Strategien gibt es, die Proble-   tiert werden.                       Camps von Covid-19 betroffen?
me zu überwinden? Welchen Beitrag
leistet Ihre Organisation dazu?          Wie kann das konkret passieren?     Guharthakurta: Der letzte Stand
                                                                             Mitte November war, dass acht
Guhathakurta: Es muss lokal              Guhathakurta: Mediation ist         Rohingya an Covid-19 gestorben
gedacht werden, um die Proble-           die Hauptaufgabe. Wir formieren     sind und circa 250 Menschen po-
me anzugehen. Und es braucht             Gruppen innerhalb der Gemein-       sitiv getestet wurden. Dies ent-
Raum und Zeit, um die Probleme           schaften, die sich regelmäßig       spricht nicht einmal einem Pro-
zu verstehen. Die verschiedenen          treffen und diskutieren. Unsere     zent der in den Camps lebenden
Gruppen, lokale Gemeinschaften           Mediator*innen helfen dabei. Die    Menschen. Viele der Rohingya
wie Rohingya, müssen die Kon-            Treffen haben keine vorgefertigte   wollen sich nicht freiwillig testen
flikte erkennen, verstehen und           Agenda, damit zunächst alle Pro-    lassen, aus Angst, von ihren Fa-
selbst dazu beitragen können,            bleme offen auf den Tisch kom-      milien getrennt zu werden, soll-
sie zu lösen. Wir führen zunächst        men. Anschließend werden diese      ten sie sich mit dem Virus infi-

                                                        16
ziert haben. Außerdem berichten     üben, kann das aber nicht, weil       Was kann die Regierung Banglade-
viele von respektlosem Verhalten    sie zugleich um gute Beziehun-        schs konkret machen?
des medizinischen Personals.        gen zum Nachbarland bemüht
Die     Corona-bedingten    Ein-    ist. Und es spielen weitere Staaten   Guhathakurta: Die Regierung
schränkungen der letzten Mona-      eine Rolle. Die Vereinigung der       sollte eine klare Strategie formu-
te hatten aber auch noch andere     Süd- und Südostasiatischen Län-       lieren und eine langfristige Per-
Folgen in den Camps. Viele Frau-    der ASEAN ist in der Frage gespal-    spektive schaffen, denn es ist
en berichten von vermehrten Fäl-    ten. Einige Staaten mit muslimi-      offensichtlich, dass die Geflüch-
len häuslicher Gewalt, weil ihre    scher Bevölkerungsmehrheit wie        teten auf absehbare Zeit nicht
Männer viel mehr Zeit zu Hau-       Malaysia sind für eine Unterstüt-     nach Myanmar zurückkehren
se verbringen müssen, ihre Ver-     zung der Rohingya, andere nicht.      werden. Die Entwicklung eines
dienstmöglichkeiten sinken und      Singapur und Japan investieren        Fünfjahresplans wäre eine Opti-
dadurch der Druck, ihre Familien    ebenfalls in Myanmar. Wenn die-       on. Die Regierung könnte zudem
zu versorgen, steigt.               se Länder in der Rohingya-Frage       ihre diplomatischen Bemühun-
                                    Druck auf das Land ausüben wür-       gen verstärken. Transnationale
Welche Rolle kommt der Regierung    den, könnte sich etwas bewegen.       Partnerschaften zur Lösung des
Bangladeschs in dem so genannten    Aber im Abgleich mit anderen In-      Konflikts sind wichtig für Ban-
Rohingya-Konflikt aktuell zu?       teressen stehen Menschenrechts-       gladesch. Und es darf nicht ver-
                                    fragen sehr häufig nicht oben auf     gessen werden, die lokalen Ge-
Guhathakurta: Sie hält sich ins-    der Agenda. Alle diese Verflech-      meinschaften zu hören und deren
besondere in Bezug auf Fragen       tungen und Interessen müssten         Interessen zu berücksichtigen.
der Rückführung und der Rück-       daher offengelegt werden, da-
kehr von Geflüchteten zurück.       mit die Vertreibung der Rohin-        Frau Guhathakurta, vielen Dank für
Das liegt auch daran, dass diese    gya aus Myanmar nicht mehr            das Gespräch.
Themen stark durch andere Län-      nur auf einen religiösen Konflikt
der beeinflusst werden, etwa Chi-   zwischen Buddhist*innen und
na. Die Regierung steckt in einem   Muslim*innen reduziert werden
diplomatischen Dilemma: Sie         kann.                                 Das Interview führte Sven Wagner
müsste Druck auf Myanmar aus-                                             in Dhaka.

                                                                              Mit Stacheldraht gesichert und
                                                                              von Wachttürmen aus kontrol-
                                                                              liert: Die Lebensmittelvorräte in
                                                                              einem Abschnitt des Kutupalong-
                                                                              Lagers. Koordiniert werden die
                                                                              Essensausgaben unter anderem
                                                                              vom Ernährungsprogramm der
                                                                              Vereinten Nationen. Daneben
                                                                              sind Hunderte andere NGOs
                                                                              tätig und bieten den Bewohnern
                                                                              Unterstützung.
                                                                           Foto: Sven Wagner

                                                    17
NETZ 2/2020

Die ewige Flucht
Was die Vertriebung aus Myanmar
bedeuten kann
Text und Fotos: Sven Wagner

Im Südosten Bangladeschs befindet sich das größte Lager für geflüchtete Men-   ben, kochen und schlafen ihr
schen weltweit. Dort leben Rohingya, die zu Hunderttausenden gewaltsam aus     Sohn, dessen Frau und der Enkel
ihrer Heimat Myanmar vertrieben wurden. Sie haben Schreckliches erlebt – und   hier zusammen mit ihr. Ihre Be-
niemand weiß bis heute, wo sie zukünftig leben sollen.                         hausung, so schlicht sie wirkt, ist
                                                                               noch eine der besten Varianten
Wenn Soleima Khatun abends              den hinterherrennt, droht auch         im Camp. Als die Menschen 2017
vor ihrer Hütte sitzt und die Au-       ihr großes Unheil.                     hier ankamen, hatten viele über-
gen schließt, kann sie noch im-         Zweieinhalb Jahre ist das nun her.     haupt keinen Schutz und harrten
mer hören, wie die Gewehrku-            Soleima Khatun hat ihr Land ver-       wochenlang unter dünnen Plas-
geln an ihr vorbeizischen. Sie          loren, ihre Identität, ihre Frei-      tikfolien im Morast aus, nur not-
sieht die Rauchschwaden von             heit. Inzwischen weiß sie: Der         dürftig vor dem Monsunregen ge-
den brennenden Strohdächern             Angriff auf ihr Dorf war eine von      schützt.
und verkohlten Reisfeldern ih-          mehreren Aktionen, mit der My-
res Heimatdorfes aufsteigen.            anmars Militär, paramilitäri-
Dann beginnt sie in Gedanken er-        sche Gruppen und mutmaßliche           Schweres Trauma
neut loszurennen: an den Bam-           Helfer*innen aus der Lokalbevöl-
bushäuschen der Nachbarn vor-           kerung in Rakhine in kurzer Zeit       „Wir sind sechs Tage lang im
bei auf einen dicht bewachsenen         massenhaft Menschen vertrie-           Dschungel umhergeirrt“, sagt
Pfad tief hinein in den Dschungel       ben, gepeinigt und getötet haben.      Kathun leise und hält dabei ihre
– Hauptsache irgendwie raus aus         Die Opfer: allesamt Angehörige         Hand vor den Mund, als habe sie
der kleinen Siedlung Donsong            der muslimischen Minderheit der        Scheu, das Erlebte auszuspre-
im Westen Myanmars. So schnell          Rohingya, die seit Generationen        chen. Die 50-Jährige wirkt ausge-
ihre Füße die 50-Jährige tragen.        dort lebt. So wie Soleima Khatun       zehrt und wesentlich älter, als sie
                                        und ihre Familie.                      ist. Die Flucht und das Leben im
                                        Ihre Flucht endete schließlich in      Lager haben bei vielen Menschen
Hunderttausende                         Kutupalong im Südosten Bang-           zu schweren Traumata geführt.
gewaltsam vertrieben                    ladeschs – dem derzeit womög-          Es war der 25. August 2017, als das
                                        lich größten Lagerkomplex für          Militär in den Dörfern zuschlug
Wo es hingehen soll, ist in diesem      geflüchtete Menschen weltweit.         – offiziell eine Vergeltungsakti-
Moment weder ihr noch den an-           860.000 Menschen leben Anga-           on für die vorangegangenen An-
deren Dorfbewohner*innen klar,          ben der Vereinten Nationen zufol-      griffe von Rohingya-Separatis-
die panikartig die Flucht ergrei-       ge hier. Inoffiziellen Schätzungen     ten auf myanmarische Soldaten,
fen – mit nichts als ihren Klei-        von Nichtregierungsorganisati-         bei denen ein Dutzend Menschen
dern am Leib. Khatun weiß nicht         onen zufolge sind es längst über       ums Leben kamen. Internatio-
einmal, was in jener Nacht ge-          eine Million.                          nale Beobachter*innen sprechen
schieht, wer die Bewaffneten sind       Soleima Khatun sitzt auf dem           hingegen von gezielter Vertrei-
und warum plötzlich Helikopter          Lehmboden ihrer Behausung              bung bis hin zu Völkermord des
über dieser abgelegenen Gegend          im Herzen des Kutupalong-La-           Militärs. Und ebenso berichten
auftauchen. Das Einzige, was ihr        gers. Die Unterkunft ist aus ei-       Augenzeugen, die heute in Ku-
in diesem Moment klar ist: Ihr          nem Bambusgestell gefertigt,           tupalong leben, von wahllosen
Dorf wird angegriffen. Menschen         die Wände bestehen aus Planen          und brutalen Angriffen auf völ-
werden erschossen. Und wenn sie         und Plastiksäcken. Auf einer Flä-      lig unbeteiligte Menschen. Sol-
jetzt nicht den anderen Flüchten-       che von drei mal fünf Metern le-       eima Khatuns Nachbar*innen

                                                        18
VERTRIEBEN UND VERGESSEN?

Soleima Kathun mit ihrem Enkel Abir. Beide und Abirs Eltern teilen sich eine kleine, karge Behausung im Kutupa-
long-Camp. Und sie warten darauf, zu erfahren, wie es mit ihnen weitergeht - inzwischen seit drei Jahren.

                                                    19
NETZ 2/2020

im Camp erzählen ähnliche Ge-          Das Wenige, was sie besaß, muss-      der 55-Jährige als Mittler zwi-
schichten: Rahima Khatun, 40,          te Khatun zurücklassen: Klei-         schen den Geflüchteten und al-
musste mit ansehen, wie zwei           dung, Nahrungsvorräte, aber           len, die helfen: Vertreter*innen
ihrer Brüder erschossen wur-           auch ihren Ausweis. Ohne ihn          von Nichtregierungsorganisatio-
den. Die Angreifer hätten zu-          gilt sie nun als staatenlos. Zurück   nen, UN-Mitarbeiter*innen und
dem wahllos Feuer gelegt und           nach Myanmar könnte sie nicht         Regierungsbeamt*innen.       Vom
Menschen in ihren Hütten ver-          einmal theoretisch. Und so, wie       Modina-Hügel aus, der höchsten
brannt. Die 60-jährige Anowa-          es die 50-Jährige beschreibt, geht    Erhebung in Kutupalong, kann
ra Begum berichtet von Folter          es vielen in den Camps: Offizielle    man an klaren Tagen die Ber-
und Vergewaltigungen in ihrem          Dokumente – auch Landbesitzur-        ge erkennen, über die die Grenze
Dorf. Und der Farmer Tanda Mia         kunden – sind verloren.               zu Myanmar verläuft. Hier steht
schildert mit einer Mischung aus                                             Hossein und überblickt das rie-
Trauer und Wut, wie er sein gan-                                             sige Lager, das auf 35 Quadratki-
zes Land und Vieh zurücklassen         Der Glaube als Ursache                lometern in unwegsames Hügel-
musste. „Auf der Flucht haben          des Konflikts?                        land gebaut ist. Es gibt Straßen,
wir Wasser aus Quellen im Wald                                               Krankenlager, Kindergärten und
getrunken. Wir haben kaum ge-          Mohammed Hossein, ein hage-           eine Feuerstation, Fußballfelder,
schlafen“, erinnert sich Soleima       rer Mann mit Kinnbart und der         kleine Teiche und Märkte, auf de-
Khatun. An Essen war nicht zu          muslimischen Tupi-Kopfbede-           nen Obst, Gemüse, Seife und Klei-
denken. Viele haben unterwegs          ckung ist ein Gemeindevorste-         dung getauscht und gehandelt
die Rinde von Bananenbäumen            her der Rohingya, ein gebilde-        werden. Die gesamte Infrastruk-
aufgebrochen, um an das zumin-         ter und angesehener Mann, der         tur wurde von Hand geschaffen.
dest etwas nahrhafte Mark im In-       früher in Myanmar Kommunal-           Anfangs vor allem durch die lo-
neren zu kommen. Denn Früchte          politiker war. Bis auch er vertrie-   kale Bevölkerung, die als erste in
trugen die Bäume derzeit nicht.        ben wurde. Im Camp fungiert           der Not half. Das Ganze kann je-

     Kinder in „Sektor 4“ des
     Rohingya-Camps in Kutupa-
     long. Viele Familien leben seit
     Jahren hier, ohne zu wissen,
     ob es irgendwann wieder
     einen Weg in ihre Heimat
     geben wird.

                                                       20
Sie können auch lesen