NICHT Corona - Kurt.digital

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NICHT Corona - Kurt.digital
JUNI 2021

Studierendenmagazin für Dortmund

      Nach
                       Corona
             darf es so

      NICHT
                              weitergehen
                   Wie mehr Naturschutz uns helfen könnte,
                     weitere Pandemien zu verhindern.
NICHT Corona - Kurt.digital
Eins vorab
                                                                                       Jonas Thiel verlässt sich nicht auf
                                                                                          sein Gefühl oder traditionelle
                                                                                     Bauernregeln. Der Landwirt bringt
                                                                                        moderne Technologie in seinen
                                                                                      Beruf. Mit Drohne und Computer
                                                                                      im Traktor bestellt er seine Felder.

                                                                                                                     6

TEXTMORSSAL ABER FOTODANIELA ARNDT

L   iebe Leser*innen,
    mehr als ein Jahr ist das neuartige Coronavirus schon unter uns und wir
nähern uns mit Hoffnung dem Ende der Pandemie. Meine eigene Erkrankung
ist mittlerweile ein halbes Jahr her. Ich geb’s zu: Anfangs war ich skeptisch
gegenüber dem Impfstoff. Leider gehörte ich aber nicht zu den Glücklichen,
die Covid ohne Symptome überstanden haben.

Ich habe zwar weder an Geschmacks- noch Geruchsverlust gelitten, lag aber
tagelang im Bett und konnte mich vor Knochen- und Gelenkschmerzen
kaum bewegen. Also lasse ich mich auf jeden Fall impfen.

Damit ist es aber nicht getan: Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir Pan-
demien in Zukunft verhindern können. Wir erinnern uns an die Bilder von
engen Gassen mit Menschenmassen und Tierkäfigen in Wuhan. Dort soll der
                                                                                20         Der Wanderzirkus Verona ist
                                                                                      gestrandet – irgendwo in Hagen.
                                                                                     Seit über 14 Monaten darf Familie
Auslöser des Virus geschlummert haben. Als sicher gilt, dass dort eines der           Tränkler nicht auftreten. Grund ist
ersten Superspreader-Events stattgefunden hat. In jedem Fall zeigen uns die             die Pandemie. Für den Zirkus ist
Wildtiermärkte, was grundlegend falsch läuft: Wir kommen den Tieren, nicht
                                                                                        das ein Desaster. Und trotzdem
nur auf solchen Märkten, viel zu nah. Wir dringen in ihre Lebensräume ein
und treten in Kontakt mit bislang unbekannten Krankheitserregern, die für
                                                                                                  muss es weitergehen.
die nächste Pandemie sorgen könnten.

                                                                                                                 26
Unser Autor Daniel Rebstock fordert in seinem Essay ab Seite 26 mehr Na-
turschutz, um uns vor zukünftigen Pandemien zu schützen. Außerdem er-
fahrt ihr in unserem neuen Heft, warum Menschen stottern (S. 25), wie wir
den Müll auf den Straßen bekämpfen (S. 16) und warum Zirkusse jetzt noch                Der Vogel sieht aber schön aus.
stärker bedroht sind als vor der Pandemie (S. 20).                                   Kann man den auch essen? Besser
                                                                                       nicht. Allzu oft greift der Mensch
Viel Spaß beim Lesen!                                                                   auch für Nahrung zu weit in die
                                                                                     Natur ein. Warum das Pandemien
                                                                                                  begünstigt – ein Essay.
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Inhalt
   4       MOMENTE
           Wenn Mama nichts eingetuppert hat

   6       WAS DER BAUER NICHT SCANNT
           Landwirt Jonas Thiel digitalisiert seinen Hof

 11        KURTS MITTEILUNG
           Unser Autor fordert: Die EM muss ausfallen!

12         SPORTSGEIST IM BLUT
           Wie Menstruieren im Leistungssport tabuisiert wird

16         ALLES FÜR DIE TONNE
           Heiko Jäger befreit Dortmund von Müll

20         APPLAUS BLEIBT AUS
           Wanderzirkus Verona steckt wegen Corona fest

25         SAG MAL, DOC …?
           Warum stottern Menschen?

26         NATURSCHUTZ IST GESUND
           Unser Lebensstil begünstigt Pandemien – es reicht

31         KURTS ARBEIT
           Test, Test, Test: Jobben im Corona-Testzentrum

32         FÜR DIE FAMILIE
           Über den Zwiespalt von Studium und familiärer Pflege

37         KURT DAHEIM
           Football's coming home

38         KURTS TRIP
           Eet smakelijk: Holland im Kühlschrank

39         IMPRESSUM
           Wer was wann wie gemacht hat und Rätsel

FOTOMAGNUS TERHORST & LARA WANTIA ILLUSTRATIONAURÉLIEN GUILLERY
COVERANNEKE NIEHUES
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⁄⁄ MOMENTE

Studenten
futtern

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Ihr kulinarisches Himmelreich öffnet die Mensa seit
    Beginn der Pandemie nur selten. Viele Studierende
    stehen selbst am Herd. Gegenüber Hähnchen
    Piccata Milanese und drei Beilagen nach Wahl
    muss das kein Nachteil sein. Impressionen aus einer
    Studentenküche.
    FOTOBASTIAN GERLING

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BAUER SUCHT DROHNE
Landwirt Jonas Thiel hat genug von einer traditionellen Arbeitsweise. Die Felder mit
Augenmaß zu düngen, gehört für den 28-Jährigen der Vergangenheit an. Auf seinem
Hof soll alles digitaler werden. Die Geschichte einer modernen Bauernrevolution.

TEXTLEON VUCEMILOVIC FOTOMAGNUS TERHORST

 E
        in leises Surren übertönt das      geplant. „Eigentlich wollte ich mal
        Rauschen der Autos. Ob-            Lehrer werden“, erzählt Jonas mit
        wohl das Feld direkt an einer      einem Augenzwinkern. Später hat
 Schnellstraße liegt, ist die Drohne       er sich dann für die Agrarwirtschaft
 deutlich zu hören. Das Geräusch           entschieden. Der Entschluss, in den
 wird langsam lauter. Schließlich          Hof einzusteigen, reifte im Laufe sei-
 hebt der x-förmige Flugroboter ab         nes Studiums. „Wir haben ihn auch
 und steigt mit rasanter Geschwin-         nie in diese Richtung gedrängt“, be-
 digkeit in die Höhe. An seiner Unter-     tont Vater Wolfgang. „Er hat das aus
 seite blinken Kameras und Lampen:         freien Stücken gemacht. Ich fand das
 Rot, Grün, Rot, Grün. Nach wenigen        natürlich gut.“
 Sekunden hat die Drohne ihre an-
 gepeilte Position in 50 Meter Höhe        FRÜH IN DIE
 erreicht. Sie verharrt einen kurzen       SELBSTSTÄNDIGKEIT
 Moment, dann steuert sie auf den
 Rand des Ackers zu. Von dort aus          Vergangenen Sommer hat Jonas
 fliegt sie das Feld entlang dessen        den Hof dann komplett von seinem
 äußerer Kante ab. „Ich bin jedes Mal      Vater übernommen. Im Alter von
 wieder ein bisschen fasziniert“, sagt     nur 28 Jahren leitet er jetzt den Be-
 Jonas Thiel und blickt der Drohne         trieb, der am Stadtrand Kamens von
 nachdenklich hinterher.                   Feldern umgeben liegt. Lediglich
                                           vier Prozent der Landwirt*innen in
 Jonas ist Landwirt. Das heißt nicht,      der Bundesrepublik sind unter 35
 dass auf seinem Hof der Traktor das       Jahre alt, wie das Marktforschungs-
 modernste Gerät ist. Im Gegenteil:        institut AgriDirect Deutschland
 Jonas will den Beruf digitalisieren.      ermittelt hat. Jonas‘ Vater ist nach
 Dazu setzt er moderne Technik wie         eigenen Angaben nur noch als mit-
 die Drohne ein, die in großen Teilen      arbeitendes Familienmitglied tä-
 der Branche noch keine Rolle spielt.      tig und verfolgt, wie sein Betrieb
 Das Digitalisierungsziel verfolgt         modernisiert wird. Dazu setzt sein
 er, seit er 2017 auf dem Hof seines       Sohn auf neueste Technologien, die
 Vaters in Kamen angefangen hat zu         er in seinem Studium kennengelernt
 arbeiten. Obwohl der Schritt in den       hat. Speziell angefertigte Karten er-
 väterlichen Betrieb nach seinem           setzen das Augenmaß, interaktive
 abgeschlossenen Studium der Ag-           Programme analysieren den Einsatz
 rarwirtschaft nahelag, war er nicht       jedes Rohstoffs.

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Technische Unterstützung:
    Jonas‘ Bekannter Philip Deblon
    fliegt die Drohne, die für den
    jungen Landwirt so wichtig ist.

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Hilft, die Arbeit auf dem Feld optimal
                                                                                         zu planen: Philip hat auf Basis der
                                                                                         Droh­­nenbilder eine Karte erstellt.

Inzwischen zieht die Drohne über dem        mäßiger zu Rate zieht. Er kann diese         Südwestfalen beendet hatte, hat er ein
Feld ihre Kreise. Jonas‘ Bekannter Phi-     Karte jetzt in sein digitales System         Jahr als wissenschaftlicher Mitarbeiter
lip Deblon steht heute mit auf dem Feld.    eingliedern. Dort ist auch sein Dün-         dort gear­beitet. Mit seiner ehemaligen
Die beiden haben zusammen studiert          gerstreuer integriert. Dieser wertet die     Wirkungsstätte kam die Idee zustande,
und Philip hat sich auf den Umgang          Karte aus und streut punktgenau die          Möglichkeiten zu erforschen, wie sich
mit Drohnen spezialisiert. Gemeinsam        richtige Düngermenge auf jeden Ab-           ein Hof digitalisieren lässt.
beugen Philip und Jonas sich über die       schnitt des Feldes, damit es am Ende
Fernbedienung. Sie ist fast so groß wie     gleichmäßig bewachsen ist. „Diese            IMMER MEHR HÖFE
die Drohne selbst. Über den zwei Steu-      Technik erleichtert mir schon einiges“,      WOLLEN DIGITALER WERDEN
erknüppeln ist eine Art Tablet ange-        sagt er. „Es wird genauer gearbeitet
bracht. „Hier können wir die Flugbahn       und es hängt weniger vom Menschen            39 Prozent der Landwirt*innen setzen
überwachen“, erklärt Philip. Der Feld-      ab.“ Früher musste er seinen Traktor         zwar auf Hightech-Maschinen. Spezielle
abschnitt, den das Gerät überfliegt, ist    und seine Pflanzenspritze steuern und        Techniken wie Drohnen oder Melkrobo-
klar erkennbar. Systematisch zieht es       gleichzeitig abschätzen, wo wie viel         ter kommen aber nur bei zehn Prozent
mehrere Bahnen über die kleinen Raps-       Dünger nötig ist. Jetzt kann er sich         zum Einsatz. Manchen ist die Technik
pflanzen. „Die Strecke habe ich vorher      aufs Fahren konzentrieren.                   schlichtweg zu teuer. Mehr als 4000
programmiert“, sagt Philip. „Ich muss                                                    Euro kann allein die Sensorik einer
jetzt nur dabeibleiben und schauen,         „Natürlich kann ich da auch manuell          Drohne kosten. Einer Studie des Deut-
dass alles glatt geht.“                     eingreifen, wenn es nötig ist“, sagt Jo-     schen Bauernverbands zufolge planen
                                            nas. „Wenn zum Beispiel ein Schatten         jedoch 30 Prozent aller Höfe, in diesen
NICHTS DEM                                  auf dem Feld ist, kann das die Karte         Bereich einzusteigen.
ZUFALL ÜBERLASSEN                           verzerren.“ Er beugt sich wieder über
                                            sein Tablet und markiert einen Rand-         In Kooperation mit der Fachhochschule
Die Drohne nimmt in kurzen Abstän-          streifen. „Hier fällt immer der Schatten     probiert Jonas jetzt verschiedene Sys-
den Bilder auf. Jonas öffnet auf seinem     vom Wald drauf. Da ist naturgemäß we-        teme auf seinem Hof aus. Gemeinsam
Tablet eine Karte, die Philip auf Ba-       niger Vegetation.“ Er trägt für die Stelle   möchten sie herausfinden, welche davon
sis solcher Bilder erstellt hat. „Das ist   eine geringere Düngermenge in das Sys-       sich am besten eignen, um die Arbeit der
eine Vegetationskarte.“ Er deutet auf       tem ein. Sofort wird die entsprechende       Landwirt*innen zu digitalisieren. Dafür
die roten Stellen. Dort befinden sich       Stelle weiß. „Wenn da hinterher keine        verwendet Jonas mehrere Program-
vergleichsweise wenige Pflanzen. Die        Sonne draufscheint, bringt mich der          me, die seine Aktivitäten dokumentie-
grünen Stellen sind dichter bewach-         Dünger auch nicht weiter.“                   ren. Die Farm-Management-Systeme
sen. Routiniert wechselt er zwischen                                                     sind auch der Kern seiner Forschung.
den verschiedenen Ansichten hin und         Die Drohne ist nur eins von vielen digi-     „Die zeichnen alles auf. Wann ich wo
her. Eine zeigt an, wie viel Düngemittel    talen Hilfsmitteln, die Jonas Thiel ein-     wie lange und mit welchem Fahrzeug
das Programm für jeden Teil des Felds       setzt. Schon kurz nach der Übernahme         gearbeitet habe und wie viel Sprit und
errechnet hat. Die Stellen, die weniger     des Hofs ist ihm klar geworden, dass er      Dünger ich dabei verbraucht habe.“ Auf
dicht bewachsen sind, werden dunk-          etwas verändern möchte. „Ich habe im         diese Weise kann er Schwachstellen im
ler. „Da würde das Programm jetzt am        Studium die neueste Technologie ken-         System erkennen. „Zum Beispiel habe
meisten düngen.“ Das ist eine der mög-      nengelernt“, sagt er. „Die wollte ich hier   ich gemerkt, dass die Fahrt zu einem
lichen Anwendungen solcher Karten,          integrieren.“ Nachdem er 2016 sein           gepachteten Feld total viel Sprit kostet
die Jonas in letzter Zeit immer regel-      Masterstudium an der Fachhochschule          und auch lange dauert. Das war mir vor-

                                                                8
NICHT Corona - Kurt.digital
Der Innenraum von Jonas‘ Traktor
           sieht mit den vielen Bildschirmen
              beinahe aus wie ein Cockpit.

her gar nicht so klar.“ Nachdem er Kos-
ten und Nutzen gegeneinander abgewo-
gen hatte, entschied er sich dafür, das
Feld weiter zu bestellen. Das Projekt mit
der Fachhochschule Südwestfalen läuft
noch bis November. Die Kosten für die
Gerätschaften teilen sich Jonas und die
Fachhochschule, einen Teil übernimmt
auch das Land NRW.

Dass bisher erst wenige Höfe voll auf
Digitalisierung setzen, hängt laut Jo-
nas auch mit dem Aufwand zusammen.
Bevor die Programme tatsächlich Nut-
zen stiften, müssen Landwirt*innen
sämtliche Daten des Hofs einpflegen.
„Welche Fahrzeuge habe ich, wer fährt
damit, welchen Dünger setze ich ein,
was kostet mein Sprit, solche Angaben“,
sagt er. „Mit unseren 25 Maschinen
war das schon ein enormer Aufwand.
Außerdem müssen die Daten ständig
gepflegt werden. Wir hoffen, dass sich
das am Ende auszahlt.“

Neben seiner Forschung setzt Jonas
noch andere digitale Kunstgriffe ein. So
rüstet er jedes Fahrzeug mit Lenkau-
tomatik nach. „Die fahren dann quasi
alleine“, sagt er. Inzwischen hat es ange-
fangen, leicht zu regnen und Jonas ist in
seinen geräumigen Fahrzeugschuppen
gegangen. Er zeichnet eine Spur in den
Staub auf einer Oberfläche seines Mäh-
dreschers. Es ist eine Art eckige Spirale,
die er von außen nach innen zeichnet.
Sie ist nahezu quadratisch. Eine solche
Zeichnung erstellt Jonas vor jeder Fahrt
auf seinem Tablet: Sie zeigt die Route,
die er mit dem Mähdrescher nimmt. „Ich
selbst muss nur am Ende der Fahrt wie-

                                               9
Es hat aufgehört zu regnen. Jonas klet-
                                                                                        tert in die Fahrerkabine eines Traktors.
                                                                                        Mit insgesamt sechs Bildschirmen
                                                                                        sieht sie eher wie ein Cockpit aus. „Das
                                                                                        ist schon etwas voll hier oben“, sagt
                                                                                        er grinsend. Als er den Motor startet,
                                                                                        gibt dieser ein lautes Dröhnen ab und
                                                                                        schwarzer Rauch steigt aus dem Aus-
                                                                                        puff. Langsam setzt sich das Fahrzeug
                                                                                        in Bewegung.

                                                                                        Erst als Jonas den Traktor rückwärts
                                                                                        aus dem Schuppen gesteuert hat, wird
                                                                                        ein Teil sichtbar, das vorne am Fahrzeug
                                                                                        angebracht ist. Zwei hohe, nach außen
                                                                                        gebogene Stangen ragen empor. Daran
                                                                                        befinden sich nach unten gerichtete
                                                                                        Lampen und Öffnungen. „Das ist unse-
                                                                                        re neueste Errungenschaft“, sagt Jonas.
                                                                                        „Eine Sensortechnik, die in Echtzeit
                                                                                        die Pflanzendichte auf unseren Feldern
                                                                                        aufzeichnet.“ Die Technologie hat also
                                                                                        dasselbe Ziel wie die Drohne. „Auch das
Wolfgang Thiel (links) steht der neuen Technik skeptischer gegenüber als                gehört zur Forschung“, sagt Jonas. „He-
sein Sohn Jonas. Trotzdem lässt er ihm freie Hand.
                                                                                        rauszufinden, welches System sich am
                                                                                        besten eignet.“

der wach werden, damit ich nicht in den      eine Karte mit der Strecke an, die er      Jonas Thiel hat sich viel vorgenommen
Graben fahre“, erklärt Jonas und lacht.      heute Morgen zurückgelegt hat, als er      mit der kompletten Digitalisierung
                                             sein Korn zur Mühle gefahren hat. „Das     seines Hofes, die auch viel Austausch
Während er in der neuen Technik vor          geht übrigens auch in Echtzeit“, erklärt   mit der Hochschule und anderen
allem eine Chance sieht, steht sein Va-      er. „Wenn mein Vater auf mich wartet,      Landwirt*innen mit sich bringt. Doch
ter dem Ganzen skeptischer gegenüber.        kann er sich einloggen und sieht, wo       er fühlt sich der Aufgabe gewachsen.
„Ich glaube, dass da vieles überbewertet     ich bin. Da kann keiner unbemerkt eine     „Klar, wenn an einem vermeintlich ru-
wird“, erklärt Thiel Senior ruhig. „Als      Pause an der Pommesbude machen.“           higen Tag 20 Mal das Telefon klingelt,
Landwirt sehe ich mit dem Auge, ob da        Der größte Vorteil dieser Technik liege    denke ich mir schon, lasst mich doch
etwas wächst oder nicht. Da brauche ich      in der besseren Abstimmung. „Wir kön-      alle in Ruhe.“ Aber er könne sich nach
so eine Technik nicht.“ Trotzdem lässt       nen viel flexibler agieren. Man weiß ge-   wie vor auf seine Familie verlassen, sagt
er seinem Sohn freie Hand und rela-          nau, was der andere macht. Das ist per-    er. „Mein Vater hilft ja noch mit, mei-
tiviert seine Aussage: „Es gibt immer        fekt, keiner muss mehr anrufen.“           ne Freunde kommen mir mit Terminen
neue Dinge. Man kann nicht nur in dem                                                   entgegen, wenn ich mal eine stressige
Alteingefahrenen bleiben.“ Er findet es      REFORM IST EIN                             Zeit habe. Mein Bruder hilft auch noch,
sogar richtig, dass sein Sohn neue Tech-     MARATHON – KEIN SPRINT                     wenn er kann.“
nologien ausprobiert. „Dafür sind die
jungen Leute eher da als ich. Und solan-     Trotz seiner Begeisterung sieht Jonas      Jonas macht einen zufriedenen Ein-
ge es Vorteile bringt, habe ich erst recht   Risiken in der Digitalisierung seines      druck. „Wir können uns generell nicht
nichts dagegen.“                             Hofs. Neben dem enormen Aufwand            beschweren“, sagt er schließlich nach-
                                             zu Beginn, als er die Daten eingepflegt    denklich. „Der Frühling war nur zu kalt.“
Jonas war damals über die Offenheit          hat, ist ihm besonders die Sicherheit      Er beugt sich wieder über sein Tablet.
seines Vaters verwundert, als er die Mo-     seiner Daten wichtig. „Als wir uns das     Auch dazu, wie sehr seine Pflanzen un-
dernisierung des Hofs angehen wollte.        erste Mal damit beschäftigt haben,         ter dem kalten Wetter gelitten haben,
„Der hat überraschend schnell ja ge-         war schon die Frage: Was gebe ich da       kann er eine passende Karte zeigen. Er
sagt.“ Heute finden beide an vielen Pro-     jetzt alles ein?“, sagt er nach einigem    wischt hin und her. Plötzlich hebt er sein
grammen gemeinsam Gefallen. Jonas            Nachdenken. „Aber dann denkst du           Tablet hoch und schüttelt es energisch.
öffnet noch einmal das Programm, das         daran, dass du ja auch Online-Banking      „Ich hoffe sehr, dass vieles analog bleibt“,
die Fahrspur jedes Fahrzeugs anzeigt.        machst. Wir hoffen einfach, dass alles     sagt er in genervtem Tonfall. Sein Tablet
Nach kurzem Suchen zeigt das Tablet          sicher ist.“                               hat sich aufgehängt.

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⁄ ⁄ KURTSMITTEILUNG

Runter vom Platz!
In jedem Heft schreiben wir eine Mail – dieses Mal an UEFA-Chef Aleksander Čeferin. Sein
Verband organisiert die Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr. Viele Spieler halten sich
nicht an die Corona-Regeln. Unser Autor fordert deshalb: Die EM muss ausfallen.
TEXTDANIEL BROCKE

                                         Neue Nachricht: Sagen Sie die EM ab!

             Daniel Brocke                                       Aleksander Čeferin

             Sagen Sie die EM ab!

   Sehr geehrter Herr Čeferin,

   wer auf Bewährung ist, muss sich benehmen. Wer das nicht schafft, wird bestraft. So gilt es vor Gericht, scheinbar aber nicht
   im Profifußball. In den vergangenen Monaten haben viele Fußballprofis gezeigt, dass sie sich nicht an ihre Bewährungsauf-
   lagen halten wollen: Regelmäßig haben sie gegen Corona-Regeln verstoßen. Es ist Zeit zu handeln, Herr Čeferin: Sagen
   Sie die Europameisterschaft ab!

   Gegen Ende des ersten Lockdowns hier in Deutschland hat der Vorsitzende der Deutschen Fußball Liga, Christian Seifert,
   gesagt: „Jedem muss klar sein, dass wir auf Bewährung spielen. Ich erwarte von jedem Einzelnen, dass er der Verant-
   wortung gerecht wird.“ Wie verantwortungslos sich viele Spieler jedoch verhalten, hat zum Beispiel Breel Embolo aus der
   Schweizer Nationalmannschaft gezeigt. Im Januar soll er mit 22 anderen Personen auf einer illegalen Party in Essen ge-
   wesen sein. BVB-Spieler Jadon Sancho feierte mit seinen Nationalmannschaftskollegen Tammy Abraham und Ben Chilwell
   im Oktober eine Party. Im Sommer soll er bei der EM für England antreten. Im Gegensatz zu Embolo, den die Party 8400
   Euro Strafe kostete, musste Sancho nichts zahlen. Damit nicht genug: Ozan Kabak aus der türkischen Nationalmannschaft
   spuckte im September im Spiel seiner Mannschaft, dem FC Schalke 04, auf Werder Bremens Ludwig Augustinsson. Das hat
   Kabak 15.000 Euro Bußgeld gekostet, außerdem wurde er für fünf Spiele gesperrt – zu wenig für jemanden, der Millionen
   Euro verdient und sich so danebenbenimmt.

   Das sind nur drei von vielen Beispielen. Immer wieder zeigen Spieler, dass sie sich nicht bewähren wollen. Es braucht
   härtere Konsequenzen. Fußballer sind schließlich Vorbilder! Vor allem junge Menschen könnten sich ein Beispiel an ihrem
   Verhalten nehmen, besonders, wenn es nicht angemessen sanktioniert wird. Eine Studie der EBS Universität für Wirtschaft
   und Recht bestätigt das: Im Auftrag des DFB befragten die Forscher*innen 3000 Teilnehmende. Für 68 Prozent der Befrag-
   ten sind Fußballspieler Vorbilder für die Gesellschaft und für 40 Prozent sogar persönliche Vorbilder.

   Die Menschheit durchlebt eine Pandemie. Fast jede*r kämpft mit Einschränkungen im Privatleben und bei der Arbeit – und
   jede*r muss sich an die Regeln halten. Und ausgerechnet diejenigen, die es nicht tun, sollen wir im Sommer bejubeln? Das
   klingt wie ein schlechter Witz! Herr Čeferin, jetzt können Sie ein Zeichen setzen und zeigen, dass die UEFA ein Verband ist,
   dem solidarisches Verhalten wichtig ist. Die Spieler haben gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen. Bestrafen Sie sie –
   und zwar so, dass es wehtut. Nehmen Sie ihnen ihre Bühne!

   Mit freundlichen Grüßen
   Daniel Brocke

                                                                11
ROTE KARTE
Die Menstruation ist etwas völlig Normales. Doch im Leistungs­
sport ist das Thema immer noch tabu. Dabei können Sportlerin­
nen die Menstruation zu ihrem Vorteil nutzen – indem sie sie in den
­Trainingsplan einbauen.
TEXTSOPHIE DISSEMOND FOTOMICHAEL SCHWITTEY & DETLEV SEYB ILLUSTRATIONNANNA ZIMMERMANN

A         ufgeregt ist Leonie Neuhaus,
          als sie am Abend in Trakai, Li-
          tauen, in ihr Hotelzimmer zu-
rückkehrt. Nicht nur, weil morgen das
Finale ansteht, sondern vor allem, weil
                                            gung war.“ Gerade bei Leichtgewichts-
                                            sportlerinnen falle die Periode mal aus.
                                            Trotzdem sei es irritierend gewesen.
                                            „Als Sportler hast du keine Zeit, nervös
                                            zu sein. Du musst maximale Leistung
                                                                                       Ariane Baumann fühlt sich ein bisschen
                                                                                       müder als sonst. Sie hat ihre Periode.
                                                                                       „Hat noch jemand einen Tampon für
                                                                                       mich?“, fragt sie in der Umkleidekabi-
                                                                                       ne des Blau-Weiß Köln, während sie
ihre Menstruation immer noch nicht          abliefern und auch bei Schmerzen das       und ihre Hockeykolleginnen sich für
eingesetzt hat. Es ist das Jahr 2014,       Beste daraus machen.“                      das Spiel fertig machen. Es herrscht ein
Leonie ist damals 18 Jahre alt, Leis-                                                  reges Hin und Her, so schildert Ariane
tungsruderin im Leichtgewicht und           MENSTRUATION                               ihre Erinnerung. Die Spielerinnen kont-
seit einigen Tagen überfällig. „Ich hatte   ALS TABUTHEMA                              rollieren, ob sie die richtigen Trikots tra-
keine Angst, schwanger zu sein, aber                                                   gen und ihre Glücksbringer dabeihaben.
meine Periode zeigt mir einfach, dass       Die Menstruation ist nichts Außerge-       „Es kann eben auch vorkommen, dass
es mir gesundheitlich gut geht“, sagt       wöhnliches. Die meisten Frauen haben       nochmal kurz gefragt wird, ob jemand
Leonie heute dazu. Beim Wettkampf           etwa einmal im Monat ihre Periode.         einen Tampon hat. Die große Angst ei-
am nächsten Tag sei sie sehr nervös         Doch das Normalste der Welt ist in         nes jeden Mädchens ist es, die eigenen
gewesen. „Ich hatte das die ganze Zeit      der Gesellschaft immer noch ein Ta-        vergessen zu haben“, erzählt Ariane.
im Hinterkopf und Probleme, mich voll       buthema – so auch im Leistungssport.
und ganz auf das Rennen zu konzent-         Sportlerinnen behalten ihre Periode für    Bisher sei es noch nicht vorgekommen,
rieren.“ Nachdem der Wettkampf vor-         sich. Viele Trainer*innen wissen nicht,    dass niemand einen Tampon parat hat-
bei ist, bekommt Leonie ihre Menstru-       wie sie mit der Menstruation umgehen       te. Oft hätten die Spielerinnen sogar die
ation. „Nur ganz leicht“, sagt sie, aber    sollen. Dabei könnten sie das Training     Auswahl, welche Größe sie haben möch-
immerhin – sie ist wieder da. „Im End-      ziemlich einfach an den Zyklus anpas-      ten. Danach ist das Thema tabu. Die
effekt wusste ich, dass es nur die Aufre-   sen und so optimieren.                     Menstruation bleibt in der Umkleide.

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» Ich würde mich dabei
                                                                     unwohl fühlen, mit
                                                                       meinem Trainer über
                                                                        Menstruation zu
                                                                          sprechen. «
                                                                                Ariane Baumann spielt Hockey
                                                                                in einem Kölner Verein.

Die Sportlerinnen verschweigen sie vor      dem Thema haben. Er selbst sei als Trai-   darüber gesprochen haben oder nicht.
dem Trainer. Sie besprechen sich und        ner im Kampfsport von Beginn an offen      „Die Aufgabe des Trainers ist es auch,
wärmen sich auf. Dann geht es los. Wäh-     mit der Periode umgegangen. Die Kör-       in die Zukunft zu planen und mitzu-
rend Ariane auf dem Spielfeld in ihrem      perlichkeit sei im Leistungssport sehr     denken“, sagt Leonie. So hätte er zum
Element ist, vergisst sie ihre Müdigkeit.   präsent. Deshalb habe er mit seinen        Beispiel berücksichtigen müssen, dass
Vor lauter Adrenalin blendet sie das Zie-   Teams oft über Themen wie Zyklusan-        sie während ihrer Menstruation durch
hen im Unterleib völlig aus.                passungen, Beeinflussung durch die Pil-    Wassereinlagerungen meist ein Kilo-
                                            le und Rückwirkungen auf das Training      gramm schwerer war als sonst. In der
FORTBILDUNG FÜR                             gesprochen. „Ich habe das Thema im-        Leichtgewichtsklasse ist das ein wichti-
TRAINING MIT FRAUEN                         mer mitverfolgt und zum Beispiel diver-    ger Aspekt. Ihr Trainer habe ein wach-
                                            se Fortbildungsveranstaltungen speziell    sames Auge gehabt und bei Problemen
Für Dennis Drieschner ist die Menstru-      fürs Training mit Mädchen und Frauen       Empathie gezeigt. „Einmal hatte ich
ation kein Tabuthema. Er ist Studien-       besucht“, sagt Drieschner.                 während meiner Periode ziemlich star-
gangsleiter im Diplom-Trainer-Studium                                                  ke Gliederschmerzen, vor allem im hin-
an der Trainerakademie des Deutschen        Auch Ruderin Leonie hatte mal so ei-       teren Rücken, wie bei Nierenbeschwer-
Olympischen Sportbundes. Dabei be-          nen Trainer. „Mein Trainer hat immer       den“, erzählt Leonie.
reitet er angehende Trainer*innen auf       lieber mit Frauen gearbeitet. Er meinte,
ihre Arbeit vor. Außerdem ist er Aus-       die könne er besser verstehen“, erzählt    OHNE VERTRAUEN
bildungsleiter und hat jahrelange Er-       sie und lacht. „Er hat mir immer das       GEHT ES NICHT
fahrung als Trainer auf verschiedenen       Gefühl gegeben, ich könne offen mit
Ebenen. Aus eigener Erfahrung weiß          ihm über alles sprechen.“ So wusste er     Vor lauter Schmerzen habe sie das Trai-
er, dass viele Trainer*innen, vor allem     beispielweise immer, wann sie ihre Pe-     ning abbrechen müssen. Geärgert habe
die männlichen, Berührungsängste mit        riode hatte – unabhängig davon, ob sie     sie das schon. Schließlich habe sie die

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Leonie (links) und ihre Mitstreiterinnen bei der U23-WM im Rudern in Bulgarien 2017

Minuten nachholen müssen. Doch ihr          Die Menstruation hat wissenschaftlich       den Menstruationszyklus beeinflusst
Trainer habe volles Verständnis für ihre    gesehen keinen negativen Einfluss auf       werden“, sagt Diel. Zwar sei die Fett-
Situation gehabt. „So ein Verhältnis be-    die rein physiologische Leistungsfähig-     verbrennungsfähigkeit am höchsten,
ruht immer auf Vertrauen“, erklärt Le-      keit, sagt Professor Patrick Rene Diel      wenn auch der Östrogenspiegel am
onie. „Bei der richtigen Vertrauensbasis    von der Deutschen Sporthochschule           höchsten ist. Dies habe aber keine Aus-
kann man gut über das Thema sprechen.“      Köln. Ganz anders sei das allerdings        wirkungen auf die Leistungsfähigkeit.
                                            aus psychologischer Sicht. „Die Mens-       Allerdings müssen Sportlerinnen in
TRAINING AN                                 truation kann schon die Leistung be-        der zweiten Zyklusphase vorsichtiger
ZYKLUS ANPASSEN                             einflussen, aber eher über die Psyche.      sein. Dann ist der Spiegel der Gestage-
                                            Zum Beispiel: Wie fühle ich mich durch      ne, der Schwangerschaftshormone, am
Das ist keine Selbstverständlichkeit.       die Periode oder wie manage ich sie?“       höchsten. Diese können Einfluss auf
In der Trainer*innenausbildung ist          Wissenschaftler*innen zeigen auch,          die mechanischen Eigenschaften von
das Thema Menstruation nicht vorge-         dass Sportlerinnen ihr Training ver-        Bändern und Sehnen nehmen.
geben. Wenn, dann kommt es nur im           bessern können, indem sie es an ihren
Zusammenhang mit anderen Themen             Menstruationszyklus anpassen.               SPORTLERINNEN NEHMEN
auf, in der Grundausbildung beispiels-                                                  RÜCKSICHT AUFEINANDER
weise im Themenblock Physiologie. Die       Der Effekt, dass der Körper Muskeln
Dozent*innen gehen aber nicht expli-        aufbaut, ist in der zweiten Zykluspha-      Bei Olympiateilnehmerinnen wurde
zit darauf ein. „Trotzdem habe ich nie      se höher. „Wenn die Sportlerin dann         dieser Zusammenhang bereits wissen-
erlebt, dass es nicht offen besprochen      Krafttraining macht, wird der Mus-          schaftlich überprüft, sagt Diel. Gerade
werden kann – auch wenn es eben nicht       kelaufbau mehr unterstützt“, sagt Diel.     bei Sportarten wie Hürdenlauf oder
in den Ausbildungsplänen verankert          Anders ist das beim Ausdauertraining.       Weitsprung wird die Achillessehne ex-
ist“, sagt Studiengangsleiter Drieschner.   „Tatsächlich gibt es keine Indizien, dass   trem belastet. Diel schlägt daher vor,
Dies hänge allerdings stark von den         die Trainierbarkeit der Ausdauer und        den Trainingsplan daran anzupassen.
Lehrkräften und Teilnehmer*innen ab.        die Ausdauerleistungsfähigkeit durch        „Man könnte in der zweiten Zyklus-

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phase zum Beispiel eher isometrisch        ne verstehen, wenn Männer die Periode         gewonnen. „Weltrekorde wurden bereits
trainieren.“ Dabei bleibt die Muskelan-    als „eklig“ betrachten würden.                in allen Zyklusphasen aufgestellt. Viele
spannung während eines längeren                                                          sogar erst nach der ersten Schwanger-
Zeitraumes gleich. Dieses Training         Dennis Drieschner findet die Menstrua-        schaft. Es gibt viele Athletinnen, die ihre
nutzt etwa die Krankengymnastik.           tion nicht eklig. Er hält sie für ein wich-   maximale Leistungsfähigkeit erst nach
Vermieden werden sollten exzentri-         tiges Thema in der Kommunikation zwi-         einer Schwangerschaft erreicht haben“,
sche Bewegungen.                           schen Sportlerinnen und Trainer*innen.        sagt Professor Diel. Ein klarer Verlust der
                                           „Als Trainer macht man sich natürlich         Leistungsfähigkeit ereignet sich bei den
„Die Rücksichtnahme ist schon ziem-        Gedanken über die Wirksamkeit von             meisten Frauen jedoch mit dem Eintritt
lich vereinsabhängig“, sagt Ariane. Ih-    Trainingsmaßnahmen. Da spielen auch           in die Wechseljahre, was mit dem drama-
ren Weg zum Hockey fand sie damals in      hormonelle Vorgänge und Auswirkun-            tischen Absinken der Östrogene in dieser
einem Essener Hockeyclub. „Da waren        gen auf die Leistungsfähigkeit eine           Lebensphase erklärt wird.
die Toiletten immer ziemlich weit vom      große Rolle.“ Gerade bei einem engen
Spielfeld weg. Ich fand das unfair, weil   Trainingsverhältnis sei ihm ein offener       Trotzdem sind die psychologischen
mir so bei jedem Toilettengang wertvol-    Umgang wichtig. „Das kommt aber na-           Faktoren nicht zu unterschätzen. „Ich
le Zeit genommen wurde“, beschreibt        türlich sehr auf die Sportlerin an.“          fühle mich einfach kurz vor der Periode
sie die Situation in ihrem alten Verein.                                                 schneller angestrengt und bin träger“,
„In Köln ist das anders. Da wird mehr      OFT ÜBERWIEGEN                                erzählt Leonie. Sie sei dann viel emo-
Rücksicht genommen.“                       PSYCHISCHE AUSWIRKUNGEN                       tionsgeladener. „Mein Boot hieß Zicke
                                                                                         oder Giftzwerg und da musste ich mir
Ihre Sportkolleginnen seien stets hilfs-   Auch eine Schwangerschaft und die Ge-         schon öfter mal anhören: Bei Leonie
bereit, wenn es um den Austausch von       burt eines Kindes haben unterschied-          ist der Name wieder Programm.“ Kurz
Menstruationsartikeln, Tabletten oder      liche Auswirkungen auf die sportliche         nach dem Eintritt der Menstruation
Vitaminen geht. Nur vom Trainer, da        Leistungsfähigkeit von Frauen. Die briti-     fühle sie sich dann wieder viel aufge-
erwarte sie keine Rücksicht. „Ich würde    sche Langstreckenläuferin Paula Radclif-      weckter und erholter. „Am fittesten bin
mich dabei unwohl fühlen, mit ihm dar-     fe hat nicht mal ein Jahr nach der Geburt     ich allerdings ein bis zwei Wochen nach
über zu sprechen“, sagt Ariane. Sie kön-   ihrer Tochter den New York Marathon           dem Periodeneinsatz.“ 

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JÄGER IST SAMMLER
In und um Dortmund gibt es viel zu entdecken. Leider auch viel Abfall. Blogger Heiko Jäger
hat genug von den verdreckten Ecken. Mit seinem Fahrrad ist er unterwegs und sammelt
Müll. Über eine Aufgabe ohne Ende.
TEXTMARTINA JACOBI FOTOJOSHUA HOVEN

M          üll einsammeln ist wie den
           Eiffelturm zu streichen:
           Wenn man oben fertig ist,
kann man unten wieder anfangen“, sagt
Heiko Jäger. Er steht etwas abseits ei-
                                          Dortmund. Und er tut etwas dagegen:
                                          Er sammelt Müll. Seit anderthalb Jah-
                                          ren dokumentiert er seine Arbeit au-
                                          ßerdem auf seinem Instagram-Profil
                                          @feind_des_muells.
                                                                                  offen in die Fahrradtaschen und kann
                                                                                  Abfall so direkt dort reinwerfen. Heute
                                                                                  ist Jäger zwischen Dortmund-Kirchder-
                                                                                  ne und dem Phönix-See unterwegs. Er
                                                                                  folgt mal wieder seiner Mission, die eine
ner Straße an einem Weg in der Nähe                                               unlösbare Aufgabe zu sein scheint – ein
des Bahnhofs Dortmund-Kirchderne.         DIE AUSRÜSTUNG                          Mann gegen den Müll.
Vor ihm liegen im Gebüsch zwei ausge-     FÄHRT IM E-BIKE MIT
weidete Waschmaschinen. Lose Schläu-                                              Von den zwei Waschmaschinen aus
che hängen aus den weißen Kästen          Jäger ist eigentlich LKW-Fahrer. Ne-    fährt er weiter. Immer wieder deutet Jä-
und einzelne Teile liegen drumherum.      benher verbringt der 39-Jährige viel    ger auf Abfall am Wegesrand. „Es ist im-
Heiko Jäger ist frustriert. Frustriert    Zeit auf seinem Elektro-Fahrrad, be-    mer ganz interessant, wie alt die Sachen
von den wilden Müllkippen und dem         waffnet mit Müllzangen, -säcken und     sind“, sagt er. Ein paar Tage vorher habe
unerlaubt entsorgten Abfall in und um     Handschuhen. Die Müllsäcke packt er     er eine „Nimm 2“-Tüte von 2014 ent-

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deckt. „Letztens hat eine Müllsammle-       es, dass die gemeldeten Stellen vielfach    gleich selbst ab. Jäger ist Abfallpate
rin im Wald eine Coca-Cola Flasche aus      unaufgeräumt blieben. Oft steht in der      Nummer 165.
den 70ern gefunden“, erzählt er.            App als Status „in Bearbeitung“ oder
                                            „Ungelöst Abgeschlossen“. Ab und zu         Der nächste Stopp ist eine Straße, an
Jäger fährt immer wieder dieselben Stel-    steht im Status aber auch „Gelöst“. „Un-    der viele LKW parken. Neben Unmen-
len ab. „Ich versuche, auch neue Ecken zu   gelöst Abgeschlossen“ werde beispiels-      gen an Müll hängt auch eine Flasche
erkunden. Aber meistens sind es die glei-   weise angezeigt, wenn die Meldung           Motoröl ohne Deckel mit der Öffnung
chen, weil auch die gleichen wieder ver-    von Stellen außerhalb des Stadtgebiets      nach unten im Baum. „Da ist bestimmt
schmutzt werden“, sagt er. „Auch wenn       kommt, sagt EDG-Pressesprecherin Pe-        unten was rausgetropft“, sagt Jäger.
wir hier jetzt sauber machen, wird das      tra Hartmann. Manchmal handele es           Gefahrengut zu finden, sei keine Selten-
ein Jahr oder anderthalb Jahre später       sich auch um Eigentum von Obdachlo-         heit. Aber auch Gartenabfälle wie Un-
wieder genauso aussehen.“ Grund genug       sen, das nicht entfernt werden dürfe.       kraut oder geschnittene Pflanzenreste,
für ihn, immer weiterzumachen. Manch-                                                   Sperrmüll, ganze Möbel und Holzteile.
mal organisiert er Müllsammelaktionen.      VON EISTRUHEN UND                           „Das Außergewöhnlichste, was ich bis-
Größere Abfallmengen oder schwere Ob-       ZIGARETTENAUTOMATEN                         her hatte, war eine Langnese-Eistruhe
jekte wie die Waschmaschinen meldet                                                     auf dem Autobahn-Parkplatz“, sagt Jä-
er der Entsorgung Dortmund GmbH             Jäger ist Abfallpate der EDG. Freiwillige   ger. Tresore, eine Geldkassette, ein Zi-
(EDG) oder dem Umweltamt Dortmund.          Müllsammler*innen können sich dafür         garettenautomat und Überreste eines
                                            auf der Website des Abfallunterneh-         Kabeldiebstahls seien ebenfalls schon
Jäger benutzt die Dreckpetze-App der        mens registrieren – Müllsäcke, Hand-        unter den Fundstücken gewesen. „Nach
EDG. Damit kann jede*r vermüllte Stel-      schuhe und Greifzangen für Sammelak-        einer gewissen Zeit hat man den Rie-
len direkt melden. Die Meldungen sind       tionen stehen dann frei zur Verfügung.      cher dafür, wo was ist“, sagt Jäger.
öffentlich einzusehen. Vermerkt sind        Die EDG gewährleistet die Entsorgung
Ort und Datum; oft werden auch Fo-          des gesammelten Mülls über die Recy-        Die Fundstätten sind alle in der Nähe
tos hochgeladen. Jäger sagt, ihn störe      clinghöfe oder holt größere Mengen          größerer Straßen, neben LKW-Rast-

                                                               17
plätzen oder bei Trampelpfaden im Ge-       holt“, so Petra Hartmann. Die Leute       „Auf die Reaktionszeit haben wir kei-
büsch. An vielen dieser Stellen kämen       würden gleichgültiger mit dem öffent-     nen Einfluss.“
jeden Tag viele Menschen vorbei. „Die       lichen Raum umgehen. Zum Beispiel
sehen das ja auch. Aber es wird igno-       würden Möbel bei Umzügen einfach          DAS UMWELTAMT LEGT
riert. Und teilweise hab‘ ich das Gefühl,   an die Straße gestellt. „Der Trend zu     SICH AUF DIE LAUER
dass es mit Absicht ignoriert wird.“ Nach   einer spontanen, achtlosen Nutzung
Jägers Ansicht gibt es in der Stadt nicht   des öffentlichen Raumes an ständig        Beim Umweltamt Dortmund treffen
zu wenige Abfalleimer, sondern einfach      wechselnden Orten setzt sich fort“,       ebenfalls Meldungen von vermüllten
zu viel Müll. „Er muss halt nur dahin-      sagt Hartmann.                            Stellen ein, sagt Markus Halfmann,
geworfen werden, wo er hingehört! Und                                                 stellvertretender Geschäftsleiter. Das
man muss darüber nachdenken, Müll           Die EDG gehe den Meldungen in der         Umweltamt trete auch an private
zu vermeiden“, sagt Jäger.                  Regel nach, sagt Hartmann. „Wir müs-      Grund­ stücksbesitzer heran, falls eine
                                            sen aber grundsätzlich beachten, dass     entsprechende Beschwerde vorliege.
AUF PRIVATGELÄNDE                           wir nur dort unerlaubte Ablagerungen      „Wenn die Aufforderung an einen Pri-
IST DIE EDG MACHTLOS                        beseitigen können, wo wir auch zustän-    vaten geht, dann lassen wir uns Entsor-
                                            dig sind.“ Dazu gehörten zum Beispiel     gungsnachweise vorlegen“, so Halfmann.
Nach Angaben der EDG ist die Zahl           öffentlich gewidmete Straßen, Gehwe-      Und wenn die Eigentümer*innen den
der wilden Müllkippen in den vergan-        ge oder Plätze. „Wir dürfen auf Privat-   Müll nicht wegräumen, werde ein Ord-
genen Jahren erkennbar angestiegen.         gelände oder auf Geländen mit ande-       nungswidrigkeitsverfahren eingeleitet.
2019 seien es etwa 7800 Meldungen           ren Eigentümern, wie zum Beispiel der
gewesen. „2020 wurden über 11.800           Deutschen Bahn oder DSW21, nicht          Es gebe auch Ansätze, die Täter*innen zur
Meldungen von unerlaubten Abfallab-         tätig werden.“ Hier müsse nach einer      Verantwortung zu ziehen, erklärt Half-
lagerungen registriert und wir haben        Meldung zunächst einmal der Eigentü-      mann. „Wir haben jetzt den Ermittlungs-
von dort 1800 Tonnen Abfall abge-           mer ermittelt und informiert werden.      dienst Abfall am Start.“ Seit September

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ohne Erfolg. „Ich hätte mir zumindest
                                                                                     gewünscht, dass Herr Westphal irgend-
                                                                                     wie auf die Sachen, die ich geschrieben
                                                                                     habe, reagiert.“ Das sei genau das Kern-
                                                                                     problem: das Desinteresse der Leute.
                                                                                     „Wenn die Leute nicht zuhören, dann
                                                                                     bringt die beste Aufklärung nichts“, so
                                                                                     Jäger. Auf Instagram seien die Reaktio-
                                                                                     nen auf seine Posts positiv, aber: „Das
                                                                                     sind auch teilweise Müllsammler, die
                                                                                     das Gleiche machen, da befindet man
                                                                                     sich in ‘ner Blase.“

                                                                                     WO EIN WILLE IST,
                                                                                     IST AUCH EIN WEG

                                                                                     Zwei Wochen später steht Jäger wieder
                                                                                     in Kirchderne. Dieses Mal hat er eine
                                                                                     Aktion mit mehreren Sammler*innen
                                                                                     organisiert. Sie sind zu neunt. Die
                                                                                     zwei Waschmaschinen sind immer
                                                                                     noch da. Auf einem Waldweg liegt eine
                                                                                     zerbrochene Flasche. Dort, wo auch
                                                                                     Spaziergänger*innen mit ihren Hunden
                                                                                     entlang gehen. Kleine Scherben sind
                                                                                     überall im Gras verteilt.

                                                                                     Sammeln wollen sie in einem kleinen
                                                                                     Waldstück an der Straße. Der Bereich
                                                                                     ist vielleicht so groß wie ein Fußballfeld.
                                                                                     Zuerst sieht es gar nicht nach viel Beu-
                                                                                     te aus. Aber am Ende hat die Gruppe in
2020 seien vier Müll-Detektiv*innen und    koste etwa 200 Euro. Bei gefährlichem     anderthalb Stunden 21 Müllsäcke gefüllt
vier städtische Bedienstete im Einsatz.    Abfall könnten es schon ein paar Tau-     und eine LKW-Felge, einen Sessel, eine
Die Mitarbeiter*innen suchen im Abfall     send Euro sein. „Wir haben einen Buß-     Dunstabzugshaube, Gummistiefel, einen
nach Hinweisen wie zum Beispiel An-        geldrahmen, den das Land den Behör-       Soft-Air-Pistolenlauf, einen Rucksack,
schriften auf Rechnungen. „Eine zweite     den gegeben hat, der reicht bis 100.000   ein Straßenschild sowie verschiedene
Möglichkeit ist das Observieren, sprich:   Euro“, erklärt Halfmann.                  Metallteile aus dem Unterholz befördert.
sich an besonders markanten Punkten
getarnt hinzustellen und zu warten, ob     Jäger reichen die Strafen nicht. Für      Jäger wünscht sich einen umsichtigeren
da Müll insbesondere mit Fahrzeugen        einen nachhaltigen Umgang mit Ab-         Umgang mit dem eigenen Umfeld und
angeliefert wird. Dann haben wir ein Au-   fall müsse es eine gute Kommunika-        der Natur. „Wenn zum Beispiel die gro-
tokennzeichen.“                            tion mit den Bürger*innen geben. Als      ßen Fast-Food-Ketten eine Plakatkam-
                                           Beispiel nennt er eine wiederholt ver-    pagne machen würden, dass der Müll
JE NACH VERGEHEN                           müllte Parkbank, die er immer wieder      in die Tonne gehört, das wäre doch eine
KANN ES TEUER WERDEN                       gemeldet habe. „Warum schickt man         Idee.“ Die Gründe sind für ihn klar: „Um
                                           da nicht zu den Zeiten, wo man weiß,      Flora und Fauna zu schützen und um das
Je nach Abfallmenge und eventuell da-      dass da Jugendliche sind, den Präsenz-    Grundwasser sauber zu halten, damit da
von ausgehenden Gefahren seien die         dienst oder das Ordnungsamt? Nicht,       nicht so viel Mikroplastik reinkommt.“
Strafen unterschiedlich, so Halfmann.      um sie zu bestrafen, sondern um mit       Und um Tiere davor zu bewahren, den
„Wiederholungstäter kriegen ‘ne hö-        ihnen zu reden, um zu sehen, was man      Müll mit Futter zu verwechseln und sich
here Strafe und ein höheres Bußgeld        machen kann.“                             zu verletzen. „Den Willen behält man,
aufgebrummt.“ Bei einer Zigarettenkip-                                               indem man weiß, dass man was Gutes
pe bekäme man ein Verwarngeld, „das        Mehrere offene Briefe hat Jäger an die    für die Umwelt getan hat“, sagt Jäger
kann bis 55 Euro gehen“. Unerlaubt         Stadtverwaltung und Bürgermeister         und legt die Müllzange weg. Bis zur
eine Ladung Grünschnitt zu entsorgen,      Thomas Westphal geschrieben. Bis jetzt    nächsten Sammelaktion.

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20
STEHEN
GEBLIEBEN
Viele Zirkusfamilien kämpfen in der Pandemie ums Überleben. In
den Unternehmen stecken Leidenschaft, Herzblut und jahrzehnte-
lange Traditionen. Ein Besuch bei Familie Tränkler, die seit andert-
halb Jahren nicht mehr auftreten kann.
TEXTCHRISTOPHER BACZYK FOTOLARA WANTIA

V       or ein paar Wochen hat Merlin
        der Zirkusfamilie Tränkler einen
        Schrecken eingejagt. Das Pony
ist ausgebüxt. Vielleicht war es neugie-
rig und hat seine Chance gewittert, die
                                            der Regen aufgeweicht hat. Der Clown
                                            darauf hält rechts und links je ein Pferd
                                            in den Händen. Das Lachen des Clowns
                                            ist nicht zu sehen. Die Familie hat es
                                            überklebt mit einem Zettel: „Zirkus in
Umgebung zu erkunden. Vielleicht hat        Not – bitte helfen Sie uns!“
es das Fernweh gepackt. Vielleicht hat
es den tristen Alltag ohne Auftritte und    PANDEMIE GEFÄHRDET
ohne Reisen einfach nicht mehr ausge-       EXISTENZ DER ZIRKUSSE
halten. Der Ausflug war jedoch nur von
kurzer Dauer: Die Polizei fand Merlin       Als wir die Familie im April treffen, ist
zwei Straßen weiter und brachte ihn zu-     der Zirkus Verona bereits 17 Monate
rück ins Gehege. Heute steht das Pony       nicht mehr aufgetreten. Im November
wieder auf derselben Wiese, auf der es      2019 begann die Winterpause, dann
schon seit so vielen Wochen unterge-        kam die Pandemie. Normalerweise reist
bracht ist.                                 Tatjana Tränkler mit ihrem Ehemann,
                                            ihren Kindern und Schwiegerkindern
Am Zaun dieser ehemaligen Pferde-           durchs ganze Land. Alle 14 Tage geht
koppel steht Tatjana Tränkler. Die Di-      es an einen neuen Ort. An vier Tagen in
rektorin des Familienzirkus Verona          der Woche tritt die Familie auf. Die rest-
beobachtet ihre Tiere. Es ist ein grünes,   lichen Tage nutzt sie für den Auf- und
weitläufiges Gelände, auf dem die Fami-     Abbau, um Werbung zu machen und
lie in Hagen festsitzt. Der Frühling ist    zur Erholung. Das ist Tatjana Tränklers
da – die Bäume beginnen zu blühen,          Leben seit 52 Jahren. Sie ist im Wohn-
die Vögel zwitschern. Die alte Koppel,      wagen geboren, immer unterwegs – „ein
ungefähr so groß wie ein halbes Fuß-        echtes Zirkuskind“, wie sie sagt. Doch
ballfeld, ist groß genug für die Kamele,    jetzt steht ihr Zirkus schon ewig still.
Lamas, Ponys und Ziegen der Familie.        „Es ist kein schönes Gefühl, so lange an
Im hinteren Teil des Hofs stehen die        einem Ort zu sein“, sagt sie.
Reithalle mit Ställen für die Nacht und
eine Manege zum Trainieren. Vor dem         Die Corona-Pandemie hat die Zir-
Gebäude grenzt Wohnwagen an Wohn-           kusbranche hart getroffen. Das Rei-
wagen. Am Eingang des alten Reiter-         sen ist eingeschränkt. Auftritte sind
hofs steht ein Plakat mit Werbung, das      nicht erlaubt. Zirkusschausteller*innen

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sind mit ihren Familien, Tieren und
Fahrzeugen gestrandet und auf unbe-
stimmte Zeit arbeitslos. In Deutsch-
land gibt es nach Schätzungen des
deutschen Zirkusverbandes knapp 250
Zirkusunternehmen. „Die sind natür-
lich alle betroffen“, sagt Vorstandsvor-
sitzender Ralf Huppertz. Er hebt ihre
gesellschaftliche Bedeutung hervor:
„Seit über 250 Jahren gibt es in Euro-
pa Zirkusse. Sie bringen Abwechslung
und Unterhaltung nicht nur in die
Städte, sondern auch in ländliche und
strukturschwache Regionen.“

Der Verband kümmert sich aktuell
um rund 60 Zirkusunternehmen in
Deutschland – Tendenz steigend. Er ver-
mittelt Gespräche zwischen Stadtver-
waltungen und den liegengebliebenen
Unternehmen. Außerdem arbeitet er
mit den Schaustellerverbänden und Mi-
nisterien zusammen. „Ohne diese Arbeit
wären schon viele Schausteller und Zir-
kusunternehmen pleite“, sagt Huppertz.

EINE ACHTERBAHN
DER GEFÜHLE

Familie Tränkler hat eine bewegte Zeit
erlebt. Im März 2020 wollte sie nach
dreimonatiger Winterpause in Essen
auftreten. Dann kam die Nachricht,
dass Auftritte verboten sind. „Am An-
fang haben wir gedacht: Das dauert viel-
leicht ein bis zwei Wochen und dann ist
die Sache vorbei“, erinnert sich die Zir-   Platzmiete und die Werbung gedeckt“,       Schneemassen und den Eisregen ein.
kusdirektorin. Doch aus zwei Wochen         sagt Tränkler.                             Die Feuerwehr und die Familie konnten
wurde mehr als ein Jahr.                                                               das Zelt gemeinsam bergen und die Tie-
                                            Mittlerweile steht auch Taylo Tränkler,    re retten. „Unseren Tieren ist zum Glück
Im Sommer 2020 zog die Familie nach         Tatjana Tränklers Sohn, am Rand der        nichts passiert“, sagt Tatjana Tränkler.
Hagen weiter. Als die Infektionszahlen      Wiese. Aus einer weißen Brottüte schüt-    „Aber das war ein Moment, da haben
zurückgingen, waren für eine kurze          tet er den Kamelen etwas Müsli auf den     wir uns gefragt: Wie geht es jetzt wei-
Zeit Aufführungen unter strengen Hy-        Boden. Tränkler ist 18 Jahre alt und       ter? Die Tiere brauchen ja ein Dach über
gienevorschriften erlaubt. Der Deut-        Juniorchef des Zirkus. Er soll das Un-     dem Kopf“, erzählt sie. Die Stadt Hagen
sche Zirkusverband berichtet, dass die      ternehmen irgendwann übernehmen.           stellte dem Zirkus schließlich den alten
Nachfrage nach Tickets in dieser Zeit       Bis dahin unterstützt er seine Mutter so   Reiterhof an der Humpertstraße zur
stark gestiegen sei. „Gerade in schwieri-   gut er kann, kümmert sich um die Tie-      Verfügung. Dort steht die Familie jetzt
gen Zeiten herrscht eine gewisse Sehn-      re und hilft, die Shows vorzubereiten.     seit einigen Wochen.
sucht nach Abwechslung und Freude“,         Auch Taylo Tränkler ist ein Zirkuskind.
sagt Huppertz. Doch der Zirkus Vero-        „Wir sind es gewohnt, immer zu reisen.     KEINE EINNAHMEN
na trat nicht auf. Es hätte sich einfach    Man kann sich gar nichts anderes vor-      UND HOHE KOSTEN
nicht gelohnt. „Wir hätten in unser         stellen, weil man so geboren ist.“
kleines Zelt vielleicht zehn Personen                                                  „Wir sind sehr froh, dass uns die Stadt
hereinlassen dürfen. Damit hätten wir       Im Winter traf die Familie ein weiterer    Hagen geholfen hat, aber das ist ja leider
noch nicht einmal die Kosten für die        Rückschlag. Das Tierzelt riss durch die    keine langfristige Lösung“, sagt Tatjana

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Tränkler. Die Familie brauche ein neues    die Zeit, als ihre Familie noch auftre-      Taylo Tränkler, der Juniorchef des Zir-
Tierzelt. Das koste mindestens 10.000      ten konnte. An das volle Zirkuszelt. An      kus, kramt aus einem blauen Wagen
Euro. Doch wie soll die Familie das be-    den Applaus nach der Show, der für die       mit dem Aufdruck „Verona“ drei Ten-
zahlen, wenn sie seit Monaten keine        Artist*innen das Wichtigste sei. An die      nisbälle hervor und fängt an zu jong-
Einnahmen hat? „Die Kosten laufen          glücklichen Kinder. „Wenn die Clowns         lieren. Geschickt wirft er die Bälle von
trotzdem weiter“, klagt Tränkler. Strom,   reinkommen und ich in die strahlen-          der einen Hand in die andere. Während
Wasser, Versicherungen, Verpflegung        den Augen der Kinder sehe, erfreut das       sie einen halben Meter durch die Luft
für die Tiere und die Familie würden sie   mein Herz.“                                  fliegen, macht er einen entspannten
im Monat etwa 500 Euro kosten. Auf                                                      Eindruck, als wäre es das Einfachste
die Corona-Hilfen des Staats warte die     MENSCHEN UND TIERE                           auf der Welt. Neben seiner Rolle als
Familie vergebens. Bereits im Frühjahr     MÜSSEN IM TRAINING BLEIBEN                   Juniorchef tritt Tränkler als Jongleur
des vergangenen Jahres habe Tatjana                                                     auf. Dafür trainiert er täglich. „Ich
Tränkler diese für ihr Unternehmen be-     Obwohl die Familie keine Shows geben         kann jetzt nicht anderthalb Jahre gar
antragt. Doch bis heute habe sie davon     darf, hat sie viel zu tun. „Die Arbeit ist   nichts tun. Sonst verlerne ich meine
noch keinen Cent gesehen. „Wir kleinen     noch fast dieselbe“, sagt Tränkler. Die      ganze Nummer“, sagt er. Von klein auf
Familienzirkusse haben es halt schwer“,    Familie muss ihre 13 Tiere putzen, ver-      hat der Artist im Zirkus mitgeholfen.
sagt Tränkler und zuckt resigniert mit     pflegen und trainieren, Heu holen, den       Seinen Realschulabschluss hat er ne-
den Schultern.                             Mist entsorgen und selbst trainieren.        benbei an der Schule für Zirkuskinder
                                           „Aber das Wichtigste fehlt uns“, sagt        in NRW gemacht.
So wie ihnen geht es vielen Zirkusfa-      Tränkler. Der Auftritt – die Belohnung
milien. Sie warten immer noch auf das      für die harte Arbeit am Tag, die Wer-        Betrieben wird diese Privatschule von
Corona-Hilfsgeld. Verbandsvorsitzen-       bung und all die Vorbereitungen.             der Evangelischen Kirche im Rheinland.
der Huppertz nennt dafür strukturel-
le Gründe: „Ich schätze, dass circa die
Hälfte der heutigen Familienunterneh-
men immer noch keine eigenen Grund-
stücke oder Winterquartiere besitzen.“
Den Zirkussen fehlt also häufig ein
Hauptwohnsitz. Das führt zu organi-
satorischen Schwierigkeiten. Denn es
ist unklar, welches Finanzamt für die
Familien zuständig ist. „Sie haben oft
keinen Steuerberater und durch ihr
ständiges Reisen oft keine gute Schul-
bildung. Dadurch ist es schwierig, die
entsprechenden Belege für Anträge
vorzuweisen“, sagt Huppertz weiter.
Deshalb seien die Zirkusse auf die Soli-
darität ihrer Mitmenschen angewiesen.
Geld-, Futter- und Sachspenden halten
die Familien irgendwie am Leben. Auch
Familie Tränkler hält sich durch kleine
Spenden über Wasser. „Der eine bringt
mal ein paar Möhren vorbei, der ande-
re mal etwas Heu. Wir freuen uns über
jede Spende“, sagt Tatjana Tränkler.

Eine kleine Gruppe Kinder aus dem
benachbarten Kindergarten betritt das
Gelände des alten Reiterhofs und will
sich die Tiere von Nahem anschauen.
„Bei den Kamelen bitte aufpassen. Bei
dem großen Mund ist die Hand schnell
dazwischen“, sagt Tränkler. Sie freut
sich immer, wenn Gäste an die Tierwie-
se kommen. Dann erinnert sie sich an

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30 Lehrer*innen betreuen mehr als         ihre Zukunft so unsicher wie noch nie.   Familie muss mit der Unsicherheit und
200 Zirkuskinder aus etwa 80 Unter-       Bei vielen droht die Zirkuskarriere zu   Ungewissheit leben.
nehmen von der Grundschule bis zum        enden, bevor sie überhaupt richtig an-
Realschulabschluss. Der Unterricht        fangen konnte.                           Während Tränkler spricht, fahren die
findet in „rollenden Klassenzimmern“                                               nächsten Besucher*innen auf das alte
statt. Zwei- bis dreimal die Woche rei-   WENIG HOFFNUNG,                          Reitgelände. Ein Mann und seine klei-
sen die Lehrer*innen den Zirkuskindern    DOCH ES MUSS WEITERGEHEN                 ne Tochter haben trockenes Brot für die
mit einem umgebauten Wohnmobil                                                     Tiere dabei. Tatjana Tränkler begrüßt
hinterher. Dazu gibt es Online-Unter-     Taylo Tränkler versucht trotz allem,     die Gäste und bedankt sich für die Fut-
richt und eigenverantwortliches Arbei-    zuversichtlich zu bleiben. „Wenn man     terspende. Die Wiese, auf der die Tiere
ten. So werden die Kinder trotz ihrer     die ganze Zeit glaubt, das wird nichts   grasen, liegt etwas tiefer als die Einfahrt
Reisen schulisch ausgebildet. Mit ver-    mehr, dann hilft das auch nicht“, sagt   des Reiterhofs. Um dorthin zu kommen,
schärften Hygienekonzepten wie dem        er. „Wir können einfach nur abwarten     müssen Besucher*innen einen kleinen,
Tragen von Masken oder dem Lernen         und irgendwie durchhalten“, ergänzt      steilen Erdhang absteigen. „Schaffst du
im Freien kann der Unterricht während     seine Mutter. Denn planen kann die       das alleine?“, will Tatjana Tränkler das
der Corona-Pandemie weiterlaufen.         Familie aktuell gar nicht. „Wir wissen   kleine Mädchen fragen. Doch da ist das
                                          nicht, wo wir als nächstes hinziehen     Kind schon mit seinem Fahrrad an ihr
Viele Zirkuskinder haben einen ähn-       werden. Wenn man bei den Städten         vorbeigerauscht und unten angekom-
lichen Werdegang wie Taylo Tränkler.      nachfragt, wie es im Herbst aussieht,    men. „Damit könnte sie ja glatt bei euch
Sie wachsen im Zirkus auf, besuchen       sagen sie uns, dass sie nicht wissen,    mithelfen“, sagt der Vater und lacht.
die Zirkusschule und sollen irgendwann    wie es weitergeht. Niemand weiß, ob      Tränkler lächelt, aber es ist ein müdes
das Familiengeschäft von ihren Eltern     wir im Herbst wieder auftreten kön-      Lächeln: „Dafür müssen wir erstmal wie-
übernehmen. Doch die Pandemie macht       nen“, sagt die Zirkusdirektorin. Die     der auftreten dürfen.“

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