NICHT Corona - Kurt.digital
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JUNI 2021 Studierendenmagazin für Dortmund Nach Corona darf es so NICHT weitergehen Wie mehr Naturschutz uns helfen könnte, weitere Pandemien zu verhindern.
Eins vorab Jonas Thiel verlässt sich nicht auf sein Gefühl oder traditionelle Bauernregeln. Der Landwirt bringt moderne Technologie in seinen Beruf. Mit Drohne und Computer im Traktor bestellt er seine Felder. 6 TEXTMORSSAL ABER FOTODANIELA ARNDT L iebe Leser*innen, mehr als ein Jahr ist das neuartige Coronavirus schon unter uns und wir nähern uns mit Hoffnung dem Ende der Pandemie. Meine eigene Erkrankung ist mittlerweile ein halbes Jahr her. Ich geb’s zu: Anfangs war ich skeptisch gegenüber dem Impfstoff. Leider gehörte ich aber nicht zu den Glücklichen, die Covid ohne Symptome überstanden haben. Ich habe zwar weder an Geschmacks- noch Geruchsverlust gelitten, lag aber tagelang im Bett und konnte mich vor Knochen- und Gelenkschmerzen kaum bewegen. Also lasse ich mich auf jeden Fall impfen. Damit ist es aber nicht getan: Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir Pan- demien in Zukunft verhindern können. Wir erinnern uns an die Bilder von engen Gassen mit Menschenmassen und Tierkäfigen in Wuhan. Dort soll der 20 Der Wanderzirkus Verona ist gestrandet – irgendwo in Hagen. Seit über 14 Monaten darf Familie Auslöser des Virus geschlummert haben. Als sicher gilt, dass dort eines der Tränkler nicht auftreten. Grund ist ersten Superspreader-Events stattgefunden hat. In jedem Fall zeigen uns die die Pandemie. Für den Zirkus ist Wildtiermärkte, was grundlegend falsch läuft: Wir kommen den Tieren, nicht das ein Desaster. Und trotzdem nur auf solchen Märkten, viel zu nah. Wir dringen in ihre Lebensräume ein und treten in Kontakt mit bislang unbekannten Krankheitserregern, die für muss es weitergehen. die nächste Pandemie sorgen könnten. 26 Unser Autor Daniel Rebstock fordert in seinem Essay ab Seite 26 mehr Na- turschutz, um uns vor zukünftigen Pandemien zu schützen. Außerdem er- fahrt ihr in unserem neuen Heft, warum Menschen stottern (S. 25), wie wir den Müll auf den Straßen bekämpfen (S. 16) und warum Zirkusse jetzt noch Der Vogel sieht aber schön aus. stärker bedroht sind als vor der Pandemie (S. 20). Kann man den auch essen? Besser nicht. Allzu oft greift der Mensch Viel Spaß beim Lesen! auch für Nahrung zu weit in die Natur ein. Warum das Pandemien begünstigt – ein Essay.
Inhalt 4 MOMENTE Wenn Mama nichts eingetuppert hat 6 WAS DER BAUER NICHT SCANNT Landwirt Jonas Thiel digitalisiert seinen Hof 11 KURTS MITTEILUNG Unser Autor fordert: Die EM muss ausfallen! 12 SPORTSGEIST IM BLUT Wie Menstruieren im Leistungssport tabuisiert wird 16 ALLES FÜR DIE TONNE Heiko Jäger befreit Dortmund von Müll 20 APPLAUS BLEIBT AUS Wanderzirkus Verona steckt wegen Corona fest 25 SAG MAL, DOC …? Warum stottern Menschen? 26 NATURSCHUTZ IST GESUND Unser Lebensstil begünstigt Pandemien – es reicht 31 KURTS ARBEIT Test, Test, Test: Jobben im Corona-Testzentrum 32 FÜR DIE FAMILIE Über den Zwiespalt von Studium und familiärer Pflege 37 KURT DAHEIM Football's coming home 38 KURTS TRIP Eet smakelijk: Holland im Kühlschrank 39 IMPRESSUM Wer was wann wie gemacht hat und Rätsel FOTOMAGNUS TERHORST & LARA WANTIA ILLUSTRATIONAURÉLIEN GUILLERY COVERANNEKE NIEHUES
Ihr kulinarisches Himmelreich öffnet die Mensa seit Beginn der Pandemie nur selten. Viele Studierende stehen selbst am Herd. Gegenüber Hähnchen Piccata Milanese und drei Beilagen nach Wahl muss das kein Nachteil sein. Impressionen aus einer Studentenküche. FOTOBASTIAN GERLING 5
BAUER SUCHT DROHNE Landwirt Jonas Thiel hat genug von einer traditionellen Arbeitsweise. Die Felder mit Augenmaß zu düngen, gehört für den 28-Jährigen der Vergangenheit an. Auf seinem Hof soll alles digitaler werden. Die Geschichte einer modernen Bauernrevolution. TEXTLEON VUCEMILOVIC FOTOMAGNUS TERHORST E in leises Surren übertönt das geplant. „Eigentlich wollte ich mal Rauschen der Autos. Ob- Lehrer werden“, erzählt Jonas mit wohl das Feld direkt an einer einem Augenzwinkern. Später hat Schnellstraße liegt, ist die Drohne er sich dann für die Agrarwirtschaft deutlich zu hören. Das Geräusch entschieden. Der Entschluss, in den wird langsam lauter. Schließlich Hof einzusteigen, reifte im Laufe sei- hebt der x-förmige Flugroboter ab nes Studiums. „Wir haben ihn auch und steigt mit rasanter Geschwin- nie in diese Richtung gedrängt“, be- digkeit in die Höhe. An seiner Unter- tont Vater Wolfgang. „Er hat das aus seite blinken Kameras und Lampen: freien Stücken gemacht. Ich fand das Rot, Grün, Rot, Grün. Nach wenigen natürlich gut.“ Sekunden hat die Drohne ihre an- gepeilte Position in 50 Meter Höhe FRÜH IN DIE erreicht. Sie verharrt einen kurzen SELBSTSTÄNDIGKEIT Moment, dann steuert sie auf den Rand des Ackers zu. Von dort aus Vergangenen Sommer hat Jonas fliegt sie das Feld entlang dessen den Hof dann komplett von seinem äußerer Kante ab. „Ich bin jedes Mal Vater übernommen. Im Alter von wieder ein bisschen fasziniert“, sagt nur 28 Jahren leitet er jetzt den Be- Jonas Thiel und blickt der Drohne trieb, der am Stadtrand Kamens von nachdenklich hinterher. Feldern umgeben liegt. Lediglich vier Prozent der Landwirt*innen in Jonas ist Landwirt. Das heißt nicht, der Bundesrepublik sind unter 35 dass auf seinem Hof der Traktor das Jahre alt, wie das Marktforschungs- modernste Gerät ist. Im Gegenteil: institut AgriDirect Deutschland Jonas will den Beruf digitalisieren. ermittelt hat. Jonas‘ Vater ist nach Dazu setzt er moderne Technik wie eigenen Angaben nur noch als mit- die Drohne ein, die in großen Teilen arbeitendes Familienmitglied tä- der Branche noch keine Rolle spielt. tig und verfolgt, wie sein Betrieb Das Digitalisierungsziel verfolgt modernisiert wird. Dazu setzt sein er, seit er 2017 auf dem Hof seines Sohn auf neueste Technologien, die Vaters in Kamen angefangen hat zu er in seinem Studium kennengelernt arbeiten. Obwohl der Schritt in den hat. Speziell angefertigte Karten er- väterlichen Betrieb nach seinem setzen das Augenmaß, interaktive abgeschlossenen Studium der Ag- Programme analysieren den Einsatz rarwirtschaft nahelag, war er nicht jedes Rohstoffs. 6
Technische Unterstützung: Jonas‘ Bekannter Philip Deblon fliegt die Drohne, die für den jungen Landwirt so wichtig ist. 7
Hilft, die Arbeit auf dem Feld optimal zu planen: Philip hat auf Basis der Drohnenbilder eine Karte erstellt. Inzwischen zieht die Drohne über dem mäßiger zu Rate zieht. Er kann diese Südwestfalen beendet hatte, hat er ein Feld ihre Kreise. Jonas‘ Bekannter Phi- Karte jetzt in sein digitales System Jahr als wissenschaftlicher Mitarbeiter lip Deblon steht heute mit auf dem Feld. eingliedern. Dort ist auch sein Dün- dort gearbeitet. Mit seiner ehemaligen Die beiden haben zusammen studiert gerstreuer integriert. Dieser wertet die Wirkungsstätte kam die Idee zustande, und Philip hat sich auf den Umgang Karte aus und streut punktgenau die Möglichkeiten zu erforschen, wie sich mit Drohnen spezialisiert. Gemeinsam richtige Düngermenge auf jeden Ab- ein Hof digitalisieren lässt. beugen Philip und Jonas sich über die schnitt des Feldes, damit es am Ende Fernbedienung. Sie ist fast so groß wie gleichmäßig bewachsen ist. „Diese IMMER MEHR HÖFE die Drohne selbst. Über den zwei Steu- Technik erleichtert mir schon einiges“, WOLLEN DIGITALER WERDEN erknüppeln ist eine Art Tablet ange- sagt er. „Es wird genauer gearbeitet bracht. „Hier können wir die Flugbahn und es hängt weniger vom Menschen 39 Prozent der Landwirt*innen setzen überwachen“, erklärt Philip. Der Feld- ab.“ Früher musste er seinen Traktor zwar auf Hightech-Maschinen. Spezielle abschnitt, den das Gerät überfliegt, ist und seine Pflanzenspritze steuern und Techniken wie Drohnen oder Melkrobo- klar erkennbar. Systematisch zieht es gleichzeitig abschätzen, wo wie viel ter kommen aber nur bei zehn Prozent mehrere Bahnen über die kleinen Raps- Dünger nötig ist. Jetzt kann er sich zum Einsatz. Manchen ist die Technik pflanzen. „Die Strecke habe ich vorher aufs Fahren konzentrieren. schlichtweg zu teuer. Mehr als 4000 programmiert“, sagt Philip. „Ich muss Euro kann allein die Sensorik einer jetzt nur dabeibleiben und schauen, „Natürlich kann ich da auch manuell Drohne kosten. Einer Studie des Deut- dass alles glatt geht.“ eingreifen, wenn es nötig ist“, sagt Jo- schen Bauernverbands zufolge planen nas. „Wenn zum Beispiel ein Schatten jedoch 30 Prozent aller Höfe, in diesen NICHTS DEM auf dem Feld ist, kann das die Karte Bereich einzusteigen. ZUFALL ÜBERLASSEN verzerren.“ Er beugt sich wieder über sein Tablet und markiert einen Rand- In Kooperation mit der Fachhochschule Die Drohne nimmt in kurzen Abstän- streifen. „Hier fällt immer der Schatten probiert Jonas jetzt verschiedene Sys- den Bilder auf. Jonas öffnet auf seinem vom Wald drauf. Da ist naturgemäß we- teme auf seinem Hof aus. Gemeinsam Tablet eine Karte, die Philip auf Ba- niger Vegetation.“ Er trägt für die Stelle möchten sie herausfinden, welche davon sis solcher Bilder erstellt hat. „Das ist eine geringere Düngermenge in das Sys- sich am besten eignen, um die Arbeit der eine Vegetationskarte.“ Er deutet auf tem ein. Sofort wird die entsprechende Landwirt*innen zu digitalisieren. Dafür die roten Stellen. Dort befinden sich Stelle weiß. „Wenn da hinterher keine verwendet Jonas mehrere Program- vergleichsweise wenige Pflanzen. Die Sonne draufscheint, bringt mich der me, die seine Aktivitäten dokumentie- grünen Stellen sind dichter bewach- Dünger auch nicht weiter.“ ren. Die Farm-Management-Systeme sen. Routiniert wechselt er zwischen sind auch der Kern seiner Forschung. den verschiedenen Ansichten hin und Die Drohne ist nur eins von vielen digi- „Die zeichnen alles auf. Wann ich wo her. Eine zeigt an, wie viel Düngemittel talen Hilfsmitteln, die Jonas Thiel ein- wie lange und mit welchem Fahrzeug das Programm für jeden Teil des Felds setzt. Schon kurz nach der Übernahme gearbeitet habe und wie viel Sprit und errechnet hat. Die Stellen, die weniger des Hofs ist ihm klar geworden, dass er Dünger ich dabei verbraucht habe.“ Auf dicht bewachsen sind, werden dunk- etwas verändern möchte. „Ich habe im diese Weise kann er Schwachstellen im ler. „Da würde das Programm jetzt am Studium die neueste Technologie ken- System erkennen. „Zum Beispiel habe meisten düngen.“ Das ist eine der mög- nengelernt“, sagt er. „Die wollte ich hier ich gemerkt, dass die Fahrt zu einem lichen Anwendungen solcher Karten, integrieren.“ Nachdem er 2016 sein gepachteten Feld total viel Sprit kostet die Jonas in letzter Zeit immer regel- Masterstudium an der Fachhochschule und auch lange dauert. Das war mir vor- 8
Der Innenraum von Jonas‘ Traktor sieht mit den vielen Bildschirmen beinahe aus wie ein Cockpit. her gar nicht so klar.“ Nachdem er Kos- ten und Nutzen gegeneinander abgewo- gen hatte, entschied er sich dafür, das Feld weiter zu bestellen. Das Projekt mit der Fachhochschule Südwestfalen läuft noch bis November. Die Kosten für die Gerätschaften teilen sich Jonas und die Fachhochschule, einen Teil übernimmt auch das Land NRW. Dass bisher erst wenige Höfe voll auf Digitalisierung setzen, hängt laut Jo- nas auch mit dem Aufwand zusammen. Bevor die Programme tatsächlich Nut- zen stiften, müssen Landwirt*innen sämtliche Daten des Hofs einpflegen. „Welche Fahrzeuge habe ich, wer fährt damit, welchen Dünger setze ich ein, was kostet mein Sprit, solche Angaben“, sagt er. „Mit unseren 25 Maschinen war das schon ein enormer Aufwand. Außerdem müssen die Daten ständig gepflegt werden. Wir hoffen, dass sich das am Ende auszahlt.“ Neben seiner Forschung setzt Jonas noch andere digitale Kunstgriffe ein. So rüstet er jedes Fahrzeug mit Lenkau- tomatik nach. „Die fahren dann quasi alleine“, sagt er. Inzwischen hat es ange- fangen, leicht zu regnen und Jonas ist in seinen geräumigen Fahrzeugschuppen gegangen. Er zeichnet eine Spur in den Staub auf einer Oberfläche seines Mäh- dreschers. Es ist eine Art eckige Spirale, die er von außen nach innen zeichnet. Sie ist nahezu quadratisch. Eine solche Zeichnung erstellt Jonas vor jeder Fahrt auf seinem Tablet: Sie zeigt die Route, die er mit dem Mähdrescher nimmt. „Ich selbst muss nur am Ende der Fahrt wie- 9
Es hat aufgehört zu regnen. Jonas klet- tert in die Fahrerkabine eines Traktors. Mit insgesamt sechs Bildschirmen sieht sie eher wie ein Cockpit aus. „Das ist schon etwas voll hier oben“, sagt er grinsend. Als er den Motor startet, gibt dieser ein lautes Dröhnen ab und schwarzer Rauch steigt aus dem Aus- puff. Langsam setzt sich das Fahrzeug in Bewegung. Erst als Jonas den Traktor rückwärts aus dem Schuppen gesteuert hat, wird ein Teil sichtbar, das vorne am Fahrzeug angebracht ist. Zwei hohe, nach außen gebogene Stangen ragen empor. Daran befinden sich nach unten gerichtete Lampen und Öffnungen. „Das ist unse- re neueste Errungenschaft“, sagt Jonas. „Eine Sensortechnik, die in Echtzeit die Pflanzendichte auf unseren Feldern aufzeichnet.“ Die Technologie hat also dasselbe Ziel wie die Drohne. „Auch das Wolfgang Thiel (links) steht der neuen Technik skeptischer gegenüber als gehört zur Forschung“, sagt Jonas. „He- sein Sohn Jonas. Trotzdem lässt er ihm freie Hand. rauszufinden, welches System sich am besten eignet.“ der wach werden, damit ich nicht in den eine Karte mit der Strecke an, die er Jonas Thiel hat sich viel vorgenommen Graben fahre“, erklärt Jonas und lacht. heute Morgen zurückgelegt hat, als er mit der kompletten Digitalisierung sein Korn zur Mühle gefahren hat. „Das seines Hofes, die auch viel Austausch Während er in der neuen Technik vor geht übrigens auch in Echtzeit“, erklärt mit der Hochschule und anderen allem eine Chance sieht, steht sein Va- er. „Wenn mein Vater auf mich wartet, Landwirt*innen mit sich bringt. Doch ter dem Ganzen skeptischer gegenüber. kann er sich einloggen und sieht, wo er fühlt sich der Aufgabe gewachsen. „Ich glaube, dass da vieles überbewertet ich bin. Da kann keiner unbemerkt eine „Klar, wenn an einem vermeintlich ru- wird“, erklärt Thiel Senior ruhig. „Als Pause an der Pommesbude machen.“ higen Tag 20 Mal das Telefon klingelt, Landwirt sehe ich mit dem Auge, ob da Der größte Vorteil dieser Technik liege denke ich mir schon, lasst mich doch etwas wächst oder nicht. Da brauche ich in der besseren Abstimmung. „Wir kön- alle in Ruhe.“ Aber er könne sich nach so eine Technik nicht.“ Trotzdem lässt nen viel flexibler agieren. Man weiß ge- wie vor auf seine Familie verlassen, sagt er seinem Sohn freie Hand und rela- nau, was der andere macht. Das ist per- er. „Mein Vater hilft ja noch mit, mei- tiviert seine Aussage: „Es gibt immer fekt, keiner muss mehr anrufen.“ ne Freunde kommen mir mit Terminen neue Dinge. Man kann nicht nur in dem entgegen, wenn ich mal eine stressige Alteingefahrenen bleiben.“ Er findet es REFORM IST EIN Zeit habe. Mein Bruder hilft auch noch, sogar richtig, dass sein Sohn neue Tech- MARATHON – KEIN SPRINT wenn er kann.“ nologien ausprobiert. „Dafür sind die jungen Leute eher da als ich. Und solan- Trotz seiner Begeisterung sieht Jonas Jonas macht einen zufriedenen Ein- ge es Vorteile bringt, habe ich erst recht Risiken in der Digitalisierung seines druck. „Wir können uns generell nicht nichts dagegen.“ Hofs. Neben dem enormen Aufwand beschweren“, sagt er schließlich nach- zu Beginn, als er die Daten eingepflegt denklich. „Der Frühling war nur zu kalt.“ Jonas war damals über die Offenheit hat, ist ihm besonders die Sicherheit Er beugt sich wieder über sein Tablet. seines Vaters verwundert, als er die Mo- seiner Daten wichtig. „Als wir uns das Auch dazu, wie sehr seine Pflanzen un- dernisierung des Hofs angehen wollte. erste Mal damit beschäftigt haben, ter dem kalten Wetter gelitten haben, „Der hat überraschend schnell ja ge- war schon die Frage: Was gebe ich da kann er eine passende Karte zeigen. Er sagt.“ Heute finden beide an vielen Pro- jetzt alles ein?“, sagt er nach einigem wischt hin und her. Plötzlich hebt er sein grammen gemeinsam Gefallen. Jonas Nachdenken. „Aber dann denkst du Tablet hoch und schüttelt es energisch. öffnet noch einmal das Programm, das daran, dass du ja auch Online-Banking „Ich hoffe sehr, dass vieles analog bleibt“, die Fahrspur jedes Fahrzeugs anzeigt. machst. Wir hoffen einfach, dass alles sagt er in genervtem Tonfall. Sein Tablet Nach kurzem Suchen zeigt das Tablet sicher ist.“ hat sich aufgehängt. 10
⁄ ⁄ KURTSMITTEILUNG Runter vom Platz! In jedem Heft schreiben wir eine Mail – dieses Mal an UEFA-Chef Aleksander Čeferin. Sein Verband organisiert die Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr. Viele Spieler halten sich nicht an die Corona-Regeln. Unser Autor fordert deshalb: Die EM muss ausfallen. TEXTDANIEL BROCKE Neue Nachricht: Sagen Sie die EM ab! Daniel Brocke Aleksander Čeferin Sagen Sie die EM ab! Sehr geehrter Herr Čeferin, wer auf Bewährung ist, muss sich benehmen. Wer das nicht schafft, wird bestraft. So gilt es vor Gericht, scheinbar aber nicht im Profifußball. In den vergangenen Monaten haben viele Fußballprofis gezeigt, dass sie sich nicht an ihre Bewährungsauf- lagen halten wollen: Regelmäßig haben sie gegen Corona-Regeln verstoßen. Es ist Zeit zu handeln, Herr Čeferin: Sagen Sie die Europameisterschaft ab! Gegen Ende des ersten Lockdowns hier in Deutschland hat der Vorsitzende der Deutschen Fußball Liga, Christian Seifert, gesagt: „Jedem muss klar sein, dass wir auf Bewährung spielen. Ich erwarte von jedem Einzelnen, dass er der Verant- wortung gerecht wird.“ Wie verantwortungslos sich viele Spieler jedoch verhalten, hat zum Beispiel Breel Embolo aus der Schweizer Nationalmannschaft gezeigt. Im Januar soll er mit 22 anderen Personen auf einer illegalen Party in Essen ge- wesen sein. BVB-Spieler Jadon Sancho feierte mit seinen Nationalmannschaftskollegen Tammy Abraham und Ben Chilwell im Oktober eine Party. Im Sommer soll er bei der EM für England antreten. Im Gegensatz zu Embolo, den die Party 8400 Euro Strafe kostete, musste Sancho nichts zahlen. Damit nicht genug: Ozan Kabak aus der türkischen Nationalmannschaft spuckte im September im Spiel seiner Mannschaft, dem FC Schalke 04, auf Werder Bremens Ludwig Augustinsson. Das hat Kabak 15.000 Euro Bußgeld gekostet, außerdem wurde er für fünf Spiele gesperrt – zu wenig für jemanden, der Millionen Euro verdient und sich so danebenbenimmt. Das sind nur drei von vielen Beispielen. Immer wieder zeigen Spieler, dass sie sich nicht bewähren wollen. Es braucht härtere Konsequenzen. Fußballer sind schließlich Vorbilder! Vor allem junge Menschen könnten sich ein Beispiel an ihrem Verhalten nehmen, besonders, wenn es nicht angemessen sanktioniert wird. Eine Studie der EBS Universität für Wirtschaft und Recht bestätigt das: Im Auftrag des DFB befragten die Forscher*innen 3000 Teilnehmende. Für 68 Prozent der Befrag- ten sind Fußballspieler Vorbilder für die Gesellschaft und für 40 Prozent sogar persönliche Vorbilder. Die Menschheit durchlebt eine Pandemie. Fast jede*r kämpft mit Einschränkungen im Privatleben und bei der Arbeit – und jede*r muss sich an die Regeln halten. Und ausgerechnet diejenigen, die es nicht tun, sollen wir im Sommer bejubeln? Das klingt wie ein schlechter Witz! Herr Čeferin, jetzt können Sie ein Zeichen setzen und zeigen, dass die UEFA ein Verband ist, dem solidarisches Verhalten wichtig ist. Die Spieler haben gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen. Bestrafen Sie sie – und zwar so, dass es wehtut. Nehmen Sie ihnen ihre Bühne! Mit freundlichen Grüßen Daniel Brocke 11
ROTE KARTE Die Menstruation ist etwas völlig Normales. Doch im Leistungs sport ist das Thema immer noch tabu. Dabei können Sportlerin nen die Menstruation zu ihrem Vorteil nutzen – indem sie sie in den Trainingsplan einbauen. TEXTSOPHIE DISSEMOND FOTOMICHAEL SCHWITTEY & DETLEV SEYB ILLUSTRATIONNANNA ZIMMERMANN A ufgeregt ist Leonie Neuhaus, als sie am Abend in Trakai, Li- tauen, in ihr Hotelzimmer zu- rückkehrt. Nicht nur, weil morgen das Finale ansteht, sondern vor allem, weil gung war.“ Gerade bei Leichtgewichts- sportlerinnen falle die Periode mal aus. Trotzdem sei es irritierend gewesen. „Als Sportler hast du keine Zeit, nervös zu sein. Du musst maximale Leistung Ariane Baumann fühlt sich ein bisschen müder als sonst. Sie hat ihre Periode. „Hat noch jemand einen Tampon für mich?“, fragt sie in der Umkleidekabi- ne des Blau-Weiß Köln, während sie ihre Menstruation immer noch nicht abliefern und auch bei Schmerzen das und ihre Hockeykolleginnen sich für eingesetzt hat. Es ist das Jahr 2014, Beste daraus machen.“ das Spiel fertig machen. Es herrscht ein Leonie ist damals 18 Jahre alt, Leis- reges Hin und Her, so schildert Ariane tungsruderin im Leichtgewicht und MENSTRUATION ihre Erinnerung. Die Spielerinnen kont- seit einigen Tagen überfällig. „Ich hatte ALS TABUTHEMA rollieren, ob sie die richtigen Trikots tra- keine Angst, schwanger zu sein, aber gen und ihre Glücksbringer dabeihaben. meine Periode zeigt mir einfach, dass Die Menstruation ist nichts Außerge- „Es kann eben auch vorkommen, dass es mir gesundheitlich gut geht“, sagt wöhnliches. Die meisten Frauen haben nochmal kurz gefragt wird, ob jemand Leonie heute dazu. Beim Wettkampf etwa einmal im Monat ihre Periode. einen Tampon hat. Die große Angst ei- am nächsten Tag sei sie sehr nervös Doch das Normalste der Welt ist in nes jeden Mädchens ist es, die eigenen gewesen. „Ich hatte das die ganze Zeit der Gesellschaft immer noch ein Ta- vergessen zu haben“, erzählt Ariane. im Hinterkopf und Probleme, mich voll buthema – so auch im Leistungssport. und ganz auf das Rennen zu konzent- Sportlerinnen behalten ihre Periode für Bisher sei es noch nicht vorgekommen, rieren.“ Nachdem der Wettkampf vor- sich. Viele Trainer*innen wissen nicht, dass niemand einen Tampon parat hat- bei ist, bekommt Leonie ihre Menstru- wie sie mit der Menstruation umgehen te. Oft hätten die Spielerinnen sogar die ation. „Nur ganz leicht“, sagt sie, aber sollen. Dabei könnten sie das Training Auswahl, welche Größe sie haben möch- immerhin – sie ist wieder da. „Im End- ziemlich einfach an den Zyklus anpas- ten. Danach ist das Thema tabu. Die effekt wusste ich, dass es nur die Aufre- sen und so optimieren. Menstruation bleibt in der Umkleide. 12
» Ich würde mich dabei unwohl fühlen, mit meinem Trainer über Menstruation zu sprechen. « Ariane Baumann spielt Hockey in einem Kölner Verein. Die Sportlerinnen verschweigen sie vor dem Thema haben. Er selbst sei als Trai- darüber gesprochen haben oder nicht. dem Trainer. Sie besprechen sich und ner im Kampfsport von Beginn an offen „Die Aufgabe des Trainers ist es auch, wärmen sich auf. Dann geht es los. Wäh- mit der Periode umgegangen. Die Kör- in die Zukunft zu planen und mitzu- rend Ariane auf dem Spielfeld in ihrem perlichkeit sei im Leistungssport sehr denken“, sagt Leonie. So hätte er zum Element ist, vergisst sie ihre Müdigkeit. präsent. Deshalb habe er mit seinen Beispiel berücksichtigen müssen, dass Vor lauter Adrenalin blendet sie das Zie- Teams oft über Themen wie Zyklusan- sie während ihrer Menstruation durch hen im Unterleib völlig aus. passungen, Beeinflussung durch die Pil- Wassereinlagerungen meist ein Kilo- le und Rückwirkungen auf das Training gramm schwerer war als sonst. In der FORTBILDUNG FÜR gesprochen. „Ich habe das Thema im- Leichtgewichtsklasse ist das ein wichti- TRAINING MIT FRAUEN mer mitverfolgt und zum Beispiel diver- ger Aspekt. Ihr Trainer habe ein wach- se Fortbildungsveranstaltungen speziell sames Auge gehabt und bei Problemen Für Dennis Drieschner ist die Menstru- fürs Training mit Mädchen und Frauen Empathie gezeigt. „Einmal hatte ich ation kein Tabuthema. Er ist Studien- besucht“, sagt Drieschner. während meiner Periode ziemlich star- gangsleiter im Diplom-Trainer-Studium ke Gliederschmerzen, vor allem im hin- an der Trainerakademie des Deutschen Auch Ruderin Leonie hatte mal so ei- teren Rücken, wie bei Nierenbeschwer- Olympischen Sportbundes. Dabei be- nen Trainer. „Mein Trainer hat immer den“, erzählt Leonie. reitet er angehende Trainer*innen auf lieber mit Frauen gearbeitet. Er meinte, ihre Arbeit vor. Außerdem ist er Aus- die könne er besser verstehen“, erzählt OHNE VERTRAUEN bildungsleiter und hat jahrelange Er- sie und lacht. „Er hat mir immer das GEHT ES NICHT fahrung als Trainer auf verschiedenen Gefühl gegeben, ich könne offen mit Ebenen. Aus eigener Erfahrung weiß ihm über alles sprechen.“ So wusste er Vor lauter Schmerzen habe sie das Trai- er, dass viele Trainer*innen, vor allem beispielweise immer, wann sie ihre Pe- ning abbrechen müssen. Geärgert habe die männlichen, Berührungsängste mit riode hatte – unabhängig davon, ob sie sie das schon. Schließlich habe sie die 13
Leonie (links) und ihre Mitstreiterinnen bei der U23-WM im Rudern in Bulgarien 2017 Minuten nachholen müssen. Doch ihr Die Menstruation hat wissenschaftlich den Menstruationszyklus beeinflusst Trainer habe volles Verständnis für ihre gesehen keinen negativen Einfluss auf werden“, sagt Diel. Zwar sei die Fett- Situation gehabt. „So ein Verhältnis be- die rein physiologische Leistungsfähig- verbrennungsfähigkeit am höchsten, ruht immer auf Vertrauen“, erklärt Le- keit, sagt Professor Patrick Rene Diel wenn auch der Östrogenspiegel am onie. „Bei der richtigen Vertrauensbasis von der Deutschen Sporthochschule höchsten ist. Dies habe aber keine Aus- kann man gut über das Thema sprechen.“ Köln. Ganz anders sei das allerdings wirkungen auf die Leistungsfähigkeit. aus psychologischer Sicht. „Die Mens- Allerdings müssen Sportlerinnen in TRAINING AN truation kann schon die Leistung be- der zweiten Zyklusphase vorsichtiger ZYKLUS ANPASSEN einflussen, aber eher über die Psyche. sein. Dann ist der Spiegel der Gestage- Zum Beispiel: Wie fühle ich mich durch ne, der Schwangerschaftshormone, am Das ist keine Selbstverständlichkeit. die Periode oder wie manage ich sie?“ höchsten. Diese können Einfluss auf In der Trainer*innenausbildung ist Wissenschaftler*innen zeigen auch, die mechanischen Eigenschaften von das Thema Menstruation nicht vorge- dass Sportlerinnen ihr Training ver- Bändern und Sehnen nehmen. geben. Wenn, dann kommt es nur im bessern können, indem sie es an ihren Zusammenhang mit anderen Themen Menstruationszyklus anpassen. SPORTLERINNEN NEHMEN auf, in der Grundausbildung beispiels- RÜCKSICHT AUFEINANDER weise im Themenblock Physiologie. Die Der Effekt, dass der Körper Muskeln Dozent*innen gehen aber nicht expli- aufbaut, ist in der zweiten Zykluspha- Bei Olympiateilnehmerinnen wurde zit darauf ein. „Trotzdem habe ich nie se höher. „Wenn die Sportlerin dann dieser Zusammenhang bereits wissen- erlebt, dass es nicht offen besprochen Krafttraining macht, wird der Mus- schaftlich überprüft, sagt Diel. Gerade werden kann – auch wenn es eben nicht kelaufbau mehr unterstützt“, sagt Diel. bei Sportarten wie Hürdenlauf oder in den Ausbildungsplänen verankert Anders ist das beim Ausdauertraining. Weitsprung wird die Achillessehne ex- ist“, sagt Studiengangsleiter Drieschner. „Tatsächlich gibt es keine Indizien, dass trem belastet. Diel schlägt daher vor, Dies hänge allerdings stark von den die Trainierbarkeit der Ausdauer und den Trainingsplan daran anzupassen. Lehrkräften und Teilnehmer*innen ab. die Ausdauerleistungsfähigkeit durch „Man könnte in der zweiten Zyklus- 14
phase zum Beispiel eher isometrisch ne verstehen, wenn Männer die Periode gewonnen. „Weltrekorde wurden bereits trainieren.“ Dabei bleibt die Muskelan- als „eklig“ betrachten würden. in allen Zyklusphasen aufgestellt. Viele spannung während eines längeren sogar erst nach der ersten Schwanger- Zeitraumes gleich. Dieses Training Dennis Drieschner findet die Menstrua- schaft. Es gibt viele Athletinnen, die ihre nutzt etwa die Krankengymnastik. tion nicht eklig. Er hält sie für ein wich- maximale Leistungsfähigkeit erst nach Vermieden werden sollten exzentri- tiges Thema in der Kommunikation zwi- einer Schwangerschaft erreicht haben“, sche Bewegungen. schen Sportlerinnen und Trainer*innen. sagt Professor Diel. Ein klarer Verlust der „Als Trainer macht man sich natürlich Leistungsfähigkeit ereignet sich bei den „Die Rücksichtnahme ist schon ziem- Gedanken über die Wirksamkeit von meisten Frauen jedoch mit dem Eintritt lich vereinsabhängig“, sagt Ariane. Ih- Trainingsmaßnahmen. Da spielen auch in die Wechseljahre, was mit dem drama- ren Weg zum Hockey fand sie damals in hormonelle Vorgänge und Auswirkun- tischen Absinken der Östrogene in dieser einem Essener Hockeyclub. „Da waren gen auf die Leistungsfähigkeit eine Lebensphase erklärt wird. die Toiletten immer ziemlich weit vom große Rolle.“ Gerade bei einem engen Spielfeld weg. Ich fand das unfair, weil Trainingsverhältnis sei ihm ein offener Trotzdem sind die psychologischen mir so bei jedem Toilettengang wertvol- Umgang wichtig. „Das kommt aber na- Faktoren nicht zu unterschätzen. „Ich le Zeit genommen wurde“, beschreibt türlich sehr auf die Sportlerin an.“ fühle mich einfach kurz vor der Periode sie die Situation in ihrem alten Verein. schneller angestrengt und bin träger“, „In Köln ist das anders. Da wird mehr OFT ÜBERWIEGEN erzählt Leonie. Sie sei dann viel emo- Rücksicht genommen.“ PSYCHISCHE AUSWIRKUNGEN tionsgeladener. „Mein Boot hieß Zicke oder Giftzwerg und da musste ich mir Ihre Sportkolleginnen seien stets hilfs- Auch eine Schwangerschaft und die Ge- schon öfter mal anhören: Bei Leonie bereit, wenn es um den Austausch von burt eines Kindes haben unterschied- ist der Name wieder Programm.“ Kurz Menstruationsartikeln, Tabletten oder liche Auswirkungen auf die sportliche nach dem Eintritt der Menstruation Vitaminen geht. Nur vom Trainer, da Leistungsfähigkeit von Frauen. Die briti- fühle sie sich dann wieder viel aufge- erwarte sie keine Rücksicht. „Ich würde sche Langstreckenläuferin Paula Radclif- weckter und erholter. „Am fittesten bin mich dabei unwohl fühlen, mit ihm dar- fe hat nicht mal ein Jahr nach der Geburt ich allerdings ein bis zwei Wochen nach über zu sprechen“, sagt Ariane. Sie kön- ihrer Tochter den New York Marathon dem Periodeneinsatz.“ 15
JÄGER IST SAMMLER In und um Dortmund gibt es viel zu entdecken. Leider auch viel Abfall. Blogger Heiko Jäger hat genug von den verdreckten Ecken. Mit seinem Fahrrad ist er unterwegs und sammelt Müll. Über eine Aufgabe ohne Ende. TEXTMARTINA JACOBI FOTOJOSHUA HOVEN M üll einsammeln ist wie den Eiffelturm zu streichen: Wenn man oben fertig ist, kann man unten wieder anfangen“, sagt Heiko Jäger. Er steht etwas abseits ei- Dortmund. Und er tut etwas dagegen: Er sammelt Müll. Seit anderthalb Jah- ren dokumentiert er seine Arbeit au- ßerdem auf seinem Instagram-Profil @feind_des_muells. offen in die Fahrradtaschen und kann Abfall so direkt dort reinwerfen. Heute ist Jäger zwischen Dortmund-Kirchder- ne und dem Phönix-See unterwegs. Er folgt mal wieder seiner Mission, die eine ner Straße an einem Weg in der Nähe unlösbare Aufgabe zu sein scheint – ein des Bahnhofs Dortmund-Kirchderne. DIE AUSRÜSTUNG Mann gegen den Müll. Vor ihm liegen im Gebüsch zwei ausge- FÄHRT IM E-BIKE MIT weidete Waschmaschinen. Lose Schläu- Von den zwei Waschmaschinen aus che hängen aus den weißen Kästen Jäger ist eigentlich LKW-Fahrer. Ne- fährt er weiter. Immer wieder deutet Jä- und einzelne Teile liegen drumherum. benher verbringt der 39-Jährige viel ger auf Abfall am Wegesrand. „Es ist im- Heiko Jäger ist frustriert. Frustriert Zeit auf seinem Elektro-Fahrrad, be- mer ganz interessant, wie alt die Sachen von den wilden Müllkippen und dem waffnet mit Müllzangen, -säcken und sind“, sagt er. Ein paar Tage vorher habe unerlaubt entsorgten Abfall in und um Handschuhen. Die Müllsäcke packt er er eine „Nimm 2“-Tüte von 2014 ent- 16
deckt. „Letztens hat eine Müllsammle- es, dass die gemeldeten Stellen vielfach gleich selbst ab. Jäger ist Abfallpate rin im Wald eine Coca-Cola Flasche aus unaufgeräumt blieben. Oft steht in der Nummer 165. den 70ern gefunden“, erzählt er. App als Status „in Bearbeitung“ oder „Ungelöst Abgeschlossen“. Ab und zu Der nächste Stopp ist eine Straße, an Jäger fährt immer wieder dieselben Stel- steht im Status aber auch „Gelöst“. „Un- der viele LKW parken. Neben Unmen- len ab. „Ich versuche, auch neue Ecken zu gelöst Abgeschlossen“ werde beispiels- gen an Müll hängt auch eine Flasche erkunden. Aber meistens sind es die glei- weise angezeigt, wenn die Meldung Motoröl ohne Deckel mit der Öffnung chen, weil auch die gleichen wieder ver- von Stellen außerhalb des Stadtgebiets nach unten im Baum. „Da ist bestimmt schmutzt werden“, sagt er. „Auch wenn kommt, sagt EDG-Pressesprecherin Pe- unten was rausgetropft“, sagt Jäger. wir hier jetzt sauber machen, wird das tra Hartmann. Manchmal handele es Gefahrengut zu finden, sei keine Selten- ein Jahr oder anderthalb Jahre später sich auch um Eigentum von Obdachlo- heit. Aber auch Gartenabfälle wie Un- wieder genauso aussehen.“ Grund genug sen, das nicht entfernt werden dürfe. kraut oder geschnittene Pflanzenreste, für ihn, immer weiterzumachen. Manch- Sperrmüll, ganze Möbel und Holzteile. mal organisiert er Müllsammelaktionen. VON EISTRUHEN UND „Das Außergewöhnlichste, was ich bis- Größere Abfallmengen oder schwere Ob- ZIGARETTENAUTOMATEN her hatte, war eine Langnese-Eistruhe jekte wie die Waschmaschinen meldet auf dem Autobahn-Parkplatz“, sagt Jä- er der Entsorgung Dortmund GmbH Jäger ist Abfallpate der EDG. Freiwillige ger. Tresore, eine Geldkassette, ein Zi- (EDG) oder dem Umweltamt Dortmund. Müllsammler*innen können sich dafür garettenautomat und Überreste eines auf der Website des Abfallunterneh- Kabeldiebstahls seien ebenfalls schon Jäger benutzt die Dreckpetze-App der mens registrieren – Müllsäcke, Hand- unter den Fundstücken gewesen. „Nach EDG. Damit kann jede*r vermüllte Stel- schuhe und Greifzangen für Sammelak- einer gewissen Zeit hat man den Rie- len direkt melden. Die Meldungen sind tionen stehen dann frei zur Verfügung. cher dafür, wo was ist“, sagt Jäger. öffentlich einzusehen. Vermerkt sind Die EDG gewährleistet die Entsorgung Ort und Datum; oft werden auch Fo- des gesammelten Mülls über die Recy- Die Fundstätten sind alle in der Nähe tos hochgeladen. Jäger sagt, ihn störe clinghöfe oder holt größere Mengen größerer Straßen, neben LKW-Rast- 17
plätzen oder bei Trampelpfaden im Ge- holt“, so Petra Hartmann. Die Leute „Auf die Reaktionszeit haben wir kei- büsch. An vielen dieser Stellen kämen würden gleichgültiger mit dem öffent- nen Einfluss.“ jeden Tag viele Menschen vorbei. „Die lichen Raum umgehen. Zum Beispiel sehen das ja auch. Aber es wird igno- würden Möbel bei Umzügen einfach DAS UMWELTAMT LEGT riert. Und teilweise hab‘ ich das Gefühl, an die Straße gestellt. „Der Trend zu SICH AUF DIE LAUER dass es mit Absicht ignoriert wird.“ Nach einer spontanen, achtlosen Nutzung Jägers Ansicht gibt es in der Stadt nicht des öffentlichen Raumes an ständig Beim Umweltamt Dortmund treffen zu wenige Abfalleimer, sondern einfach wechselnden Orten setzt sich fort“, ebenfalls Meldungen von vermüllten zu viel Müll. „Er muss halt nur dahin- sagt Hartmann. Stellen ein, sagt Markus Halfmann, geworfen werden, wo er hingehört! Und stellvertretender Geschäftsleiter. Das man muss darüber nachdenken, Müll Die EDG gehe den Meldungen in der Umweltamt trete auch an private zu vermeiden“, sagt Jäger. Regel nach, sagt Hartmann. „Wir müs- Grund stücksbesitzer heran, falls eine sen aber grundsätzlich beachten, dass entsprechende Beschwerde vorliege. AUF PRIVATGELÄNDE wir nur dort unerlaubte Ablagerungen „Wenn die Aufforderung an einen Pri- IST DIE EDG MACHTLOS beseitigen können, wo wir auch zustän- vaten geht, dann lassen wir uns Entsor- dig sind.“ Dazu gehörten zum Beispiel gungsnachweise vorlegen“, so Halfmann. Nach Angaben der EDG ist die Zahl öffentlich gewidmete Straßen, Gehwe- Und wenn die Eigentümer*innen den der wilden Müllkippen in den vergan- ge oder Plätze. „Wir dürfen auf Privat- Müll nicht wegräumen, werde ein Ord- genen Jahren erkennbar angestiegen. gelände oder auf Geländen mit ande- nungswidrigkeitsverfahren eingeleitet. 2019 seien es etwa 7800 Meldungen ren Eigentümern, wie zum Beispiel der gewesen. „2020 wurden über 11.800 Deutschen Bahn oder DSW21, nicht Es gebe auch Ansätze, die Täter*innen zur Meldungen von unerlaubten Abfallab- tätig werden.“ Hier müsse nach einer Verantwortung zu ziehen, erklärt Half- lagerungen registriert und wir haben Meldung zunächst einmal der Eigentü- mann. „Wir haben jetzt den Ermittlungs- von dort 1800 Tonnen Abfall abge- mer ermittelt und informiert werden. dienst Abfall am Start.“ Seit September 18
ohne Erfolg. „Ich hätte mir zumindest gewünscht, dass Herr Westphal irgend- wie auf die Sachen, die ich geschrieben habe, reagiert.“ Das sei genau das Kern- problem: das Desinteresse der Leute. „Wenn die Leute nicht zuhören, dann bringt die beste Aufklärung nichts“, so Jäger. Auf Instagram seien die Reaktio- nen auf seine Posts positiv, aber: „Das sind auch teilweise Müllsammler, die das Gleiche machen, da befindet man sich in ‘ner Blase.“ WO EIN WILLE IST, IST AUCH EIN WEG Zwei Wochen später steht Jäger wieder in Kirchderne. Dieses Mal hat er eine Aktion mit mehreren Sammler*innen organisiert. Sie sind zu neunt. Die zwei Waschmaschinen sind immer noch da. Auf einem Waldweg liegt eine zerbrochene Flasche. Dort, wo auch Spaziergänger*innen mit ihren Hunden entlang gehen. Kleine Scherben sind überall im Gras verteilt. Sammeln wollen sie in einem kleinen Waldstück an der Straße. Der Bereich ist vielleicht so groß wie ein Fußballfeld. Zuerst sieht es gar nicht nach viel Beu- te aus. Aber am Ende hat die Gruppe in 2020 seien vier Müll-Detektiv*innen und koste etwa 200 Euro. Bei gefährlichem anderthalb Stunden 21 Müllsäcke gefüllt vier städtische Bedienstete im Einsatz. Abfall könnten es schon ein paar Tau- und eine LKW-Felge, einen Sessel, eine Die Mitarbeiter*innen suchen im Abfall send Euro sein. „Wir haben einen Buß- Dunstabzugshaube, Gummistiefel, einen nach Hinweisen wie zum Beispiel An- geldrahmen, den das Land den Behör- Soft-Air-Pistolenlauf, einen Rucksack, schriften auf Rechnungen. „Eine zweite den gegeben hat, der reicht bis 100.000 ein Straßenschild sowie verschiedene Möglichkeit ist das Observieren, sprich: Euro“, erklärt Halfmann. Metallteile aus dem Unterholz befördert. sich an besonders markanten Punkten getarnt hinzustellen und zu warten, ob Jäger reichen die Strafen nicht. Für Jäger wünscht sich einen umsichtigeren da Müll insbesondere mit Fahrzeugen einen nachhaltigen Umgang mit Ab- Umgang mit dem eigenen Umfeld und angeliefert wird. Dann haben wir ein Au- fall müsse es eine gute Kommunika- der Natur. „Wenn zum Beispiel die gro- tokennzeichen.“ tion mit den Bürger*innen geben. Als ßen Fast-Food-Ketten eine Plakatkam- Beispiel nennt er eine wiederholt ver- pagne machen würden, dass der Müll JE NACH VERGEHEN müllte Parkbank, die er immer wieder in die Tonne gehört, das wäre doch eine KANN ES TEUER WERDEN gemeldet habe. „Warum schickt man Idee.“ Die Gründe sind für ihn klar: „Um da nicht zu den Zeiten, wo man weiß, Flora und Fauna zu schützen und um das Je nach Abfallmenge und eventuell da- dass da Jugendliche sind, den Präsenz- Grundwasser sauber zu halten, damit da von ausgehenden Gefahren seien die dienst oder das Ordnungsamt? Nicht, nicht so viel Mikroplastik reinkommt.“ Strafen unterschiedlich, so Halfmann. um sie zu bestrafen, sondern um mit Und um Tiere davor zu bewahren, den „Wiederholungstäter kriegen ‘ne hö- ihnen zu reden, um zu sehen, was man Müll mit Futter zu verwechseln und sich here Strafe und ein höheres Bußgeld machen kann.“ zu verletzen. „Den Willen behält man, aufgebrummt.“ Bei einer Zigarettenkip- indem man weiß, dass man was Gutes pe bekäme man ein Verwarngeld, „das Mehrere offene Briefe hat Jäger an die für die Umwelt getan hat“, sagt Jäger kann bis 55 Euro gehen“. Unerlaubt Stadtverwaltung und Bürgermeister und legt die Müllzange weg. Bis zur eine Ladung Grünschnitt zu entsorgen, Thomas Westphal geschrieben. Bis jetzt nächsten Sammelaktion. 19
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STEHEN GEBLIEBEN Viele Zirkusfamilien kämpfen in der Pandemie ums Überleben. In den Unternehmen stecken Leidenschaft, Herzblut und jahrzehnte- lange Traditionen. Ein Besuch bei Familie Tränkler, die seit andert- halb Jahren nicht mehr auftreten kann. TEXTCHRISTOPHER BACZYK FOTOLARA WANTIA V or ein paar Wochen hat Merlin der Zirkusfamilie Tränkler einen Schrecken eingejagt. Das Pony ist ausgebüxt. Vielleicht war es neugie- rig und hat seine Chance gewittert, die der Regen aufgeweicht hat. Der Clown darauf hält rechts und links je ein Pferd in den Händen. Das Lachen des Clowns ist nicht zu sehen. Die Familie hat es überklebt mit einem Zettel: „Zirkus in Umgebung zu erkunden. Vielleicht hat Not – bitte helfen Sie uns!“ es das Fernweh gepackt. Vielleicht hat es den tristen Alltag ohne Auftritte und PANDEMIE GEFÄHRDET ohne Reisen einfach nicht mehr ausge- EXISTENZ DER ZIRKUSSE halten. Der Ausflug war jedoch nur von kurzer Dauer: Die Polizei fand Merlin Als wir die Familie im April treffen, ist zwei Straßen weiter und brachte ihn zu- der Zirkus Verona bereits 17 Monate rück ins Gehege. Heute steht das Pony nicht mehr aufgetreten. Im November wieder auf derselben Wiese, auf der es 2019 begann die Winterpause, dann schon seit so vielen Wochen unterge- kam die Pandemie. Normalerweise reist bracht ist. Tatjana Tränkler mit ihrem Ehemann, ihren Kindern und Schwiegerkindern Am Zaun dieser ehemaligen Pferde- durchs ganze Land. Alle 14 Tage geht koppel steht Tatjana Tränkler. Die Di- es an einen neuen Ort. An vier Tagen in rektorin des Familienzirkus Verona der Woche tritt die Familie auf. Die rest- beobachtet ihre Tiere. Es ist ein grünes, lichen Tage nutzt sie für den Auf- und weitläufiges Gelände, auf dem die Fami- Abbau, um Werbung zu machen und lie in Hagen festsitzt. Der Frühling ist zur Erholung. Das ist Tatjana Tränklers da – die Bäume beginnen zu blühen, Leben seit 52 Jahren. Sie ist im Wohn- die Vögel zwitschern. Die alte Koppel, wagen geboren, immer unterwegs – „ein ungefähr so groß wie ein halbes Fuß- echtes Zirkuskind“, wie sie sagt. Doch ballfeld, ist groß genug für die Kamele, jetzt steht ihr Zirkus schon ewig still. Lamas, Ponys und Ziegen der Familie. „Es ist kein schönes Gefühl, so lange an Im hinteren Teil des Hofs stehen die einem Ort zu sein“, sagt sie. Reithalle mit Ställen für die Nacht und eine Manege zum Trainieren. Vor dem Die Corona-Pandemie hat die Zir- Gebäude grenzt Wohnwagen an Wohn- kusbranche hart getroffen. Das Rei- wagen. Am Eingang des alten Reiter- sen ist eingeschränkt. Auftritte sind hofs steht ein Plakat mit Werbung, das nicht erlaubt. Zirkusschausteller*innen 21
sind mit ihren Familien, Tieren und Fahrzeugen gestrandet und auf unbe- stimmte Zeit arbeitslos. In Deutsch- land gibt es nach Schätzungen des deutschen Zirkusverbandes knapp 250 Zirkusunternehmen. „Die sind natür- lich alle betroffen“, sagt Vorstandsvor- sitzender Ralf Huppertz. Er hebt ihre gesellschaftliche Bedeutung hervor: „Seit über 250 Jahren gibt es in Euro- pa Zirkusse. Sie bringen Abwechslung und Unterhaltung nicht nur in die Städte, sondern auch in ländliche und strukturschwache Regionen.“ Der Verband kümmert sich aktuell um rund 60 Zirkusunternehmen in Deutschland – Tendenz steigend. Er ver- mittelt Gespräche zwischen Stadtver- waltungen und den liegengebliebenen Unternehmen. Außerdem arbeitet er mit den Schaustellerverbänden und Mi- nisterien zusammen. „Ohne diese Arbeit wären schon viele Schausteller und Zir- kusunternehmen pleite“, sagt Huppertz. EINE ACHTERBAHN DER GEFÜHLE Familie Tränkler hat eine bewegte Zeit erlebt. Im März 2020 wollte sie nach dreimonatiger Winterpause in Essen auftreten. Dann kam die Nachricht, dass Auftritte verboten sind. „Am An- fang haben wir gedacht: Das dauert viel- leicht ein bis zwei Wochen und dann ist die Sache vorbei“, erinnert sich die Zir- Platzmiete und die Werbung gedeckt“, Schneemassen und den Eisregen ein. kusdirektorin. Doch aus zwei Wochen sagt Tränkler. Die Feuerwehr und die Familie konnten wurde mehr als ein Jahr. das Zelt gemeinsam bergen und die Tie- Mittlerweile steht auch Taylo Tränkler, re retten. „Unseren Tieren ist zum Glück Im Sommer 2020 zog die Familie nach Tatjana Tränklers Sohn, am Rand der nichts passiert“, sagt Tatjana Tränkler. Hagen weiter. Als die Infektionszahlen Wiese. Aus einer weißen Brottüte schüt- „Aber das war ein Moment, da haben zurückgingen, waren für eine kurze tet er den Kamelen etwas Müsli auf den wir uns gefragt: Wie geht es jetzt wei- Zeit Aufführungen unter strengen Hy- Boden. Tränkler ist 18 Jahre alt und ter? Die Tiere brauchen ja ein Dach über gienevorschriften erlaubt. Der Deut- Juniorchef des Zirkus. Er soll das Un- dem Kopf“, erzählt sie. Die Stadt Hagen sche Zirkusverband berichtet, dass die ternehmen irgendwann übernehmen. stellte dem Zirkus schließlich den alten Nachfrage nach Tickets in dieser Zeit Bis dahin unterstützt er seine Mutter so Reiterhof an der Humpertstraße zur stark gestiegen sei. „Gerade in schwieri- gut er kann, kümmert sich um die Tie- Verfügung. Dort steht die Familie jetzt gen Zeiten herrscht eine gewisse Sehn- re und hilft, die Shows vorzubereiten. seit einigen Wochen. sucht nach Abwechslung und Freude“, Auch Taylo Tränkler ist ein Zirkuskind. sagt Huppertz. Doch der Zirkus Vero- „Wir sind es gewohnt, immer zu reisen. KEINE EINNAHMEN na trat nicht auf. Es hätte sich einfach Man kann sich gar nichts anderes vor- UND HOHE KOSTEN nicht gelohnt. „Wir hätten in unser stellen, weil man so geboren ist.“ kleines Zelt vielleicht zehn Personen „Wir sind sehr froh, dass uns die Stadt hereinlassen dürfen. Damit hätten wir Im Winter traf die Familie ein weiterer Hagen geholfen hat, aber das ist ja leider noch nicht einmal die Kosten für die Rückschlag. Das Tierzelt riss durch die keine langfristige Lösung“, sagt Tatjana 22
Tränkler. Die Familie brauche ein neues die Zeit, als ihre Familie noch auftre- Taylo Tränkler, der Juniorchef des Zir- Tierzelt. Das koste mindestens 10.000 ten konnte. An das volle Zirkuszelt. An kus, kramt aus einem blauen Wagen Euro. Doch wie soll die Familie das be- den Applaus nach der Show, der für die mit dem Aufdruck „Verona“ drei Ten- zahlen, wenn sie seit Monaten keine Artist*innen das Wichtigste sei. An die nisbälle hervor und fängt an zu jong- Einnahmen hat? „Die Kosten laufen glücklichen Kinder. „Wenn die Clowns lieren. Geschickt wirft er die Bälle von trotzdem weiter“, klagt Tränkler. Strom, reinkommen und ich in die strahlen- der einen Hand in die andere. Während Wasser, Versicherungen, Verpflegung den Augen der Kinder sehe, erfreut das sie einen halben Meter durch die Luft für die Tiere und die Familie würden sie mein Herz.“ fliegen, macht er einen entspannten im Monat etwa 500 Euro kosten. Auf Eindruck, als wäre es das Einfachste die Corona-Hilfen des Staats warte die MENSCHEN UND TIERE auf der Welt. Neben seiner Rolle als Familie vergebens. Bereits im Frühjahr MÜSSEN IM TRAINING BLEIBEN Juniorchef tritt Tränkler als Jongleur des vergangenen Jahres habe Tatjana auf. Dafür trainiert er täglich. „Ich Tränkler diese für ihr Unternehmen be- Obwohl die Familie keine Shows geben kann jetzt nicht anderthalb Jahre gar antragt. Doch bis heute habe sie davon darf, hat sie viel zu tun. „Die Arbeit ist nichts tun. Sonst verlerne ich meine noch keinen Cent gesehen. „Wir kleinen noch fast dieselbe“, sagt Tränkler. Die ganze Nummer“, sagt er. Von klein auf Familienzirkusse haben es halt schwer“, Familie muss ihre 13 Tiere putzen, ver- hat der Artist im Zirkus mitgeholfen. sagt Tränkler und zuckt resigniert mit pflegen und trainieren, Heu holen, den Seinen Realschulabschluss hat er ne- den Schultern. Mist entsorgen und selbst trainieren. benbei an der Schule für Zirkuskinder „Aber das Wichtigste fehlt uns“, sagt in NRW gemacht. So wie ihnen geht es vielen Zirkusfa- Tränkler. Der Auftritt – die Belohnung milien. Sie warten immer noch auf das für die harte Arbeit am Tag, die Wer- Betrieben wird diese Privatschule von Corona-Hilfsgeld. Verbandsvorsitzen- bung und all die Vorbereitungen. der Evangelischen Kirche im Rheinland. der Huppertz nennt dafür strukturel- le Gründe: „Ich schätze, dass circa die Hälfte der heutigen Familienunterneh- men immer noch keine eigenen Grund- stücke oder Winterquartiere besitzen.“ Den Zirkussen fehlt also häufig ein Hauptwohnsitz. Das führt zu organi- satorischen Schwierigkeiten. Denn es ist unklar, welches Finanzamt für die Familien zuständig ist. „Sie haben oft keinen Steuerberater und durch ihr ständiges Reisen oft keine gute Schul- bildung. Dadurch ist es schwierig, die entsprechenden Belege für Anträge vorzuweisen“, sagt Huppertz weiter. Deshalb seien die Zirkusse auf die Soli- darität ihrer Mitmenschen angewiesen. Geld-, Futter- und Sachspenden halten die Familien irgendwie am Leben. Auch Familie Tränkler hält sich durch kleine Spenden über Wasser. „Der eine bringt mal ein paar Möhren vorbei, der ande- re mal etwas Heu. Wir freuen uns über jede Spende“, sagt Tatjana Tränkler. Eine kleine Gruppe Kinder aus dem benachbarten Kindergarten betritt das Gelände des alten Reiterhofs und will sich die Tiere von Nahem anschauen. „Bei den Kamelen bitte aufpassen. Bei dem großen Mund ist die Hand schnell dazwischen“, sagt Tränkler. Sie freut sich immer, wenn Gäste an die Tierwie- se kommen. Dann erinnert sie sich an 23
30 Lehrer*innen betreuen mehr als ihre Zukunft so unsicher wie noch nie. Familie muss mit der Unsicherheit und 200 Zirkuskinder aus etwa 80 Unter- Bei vielen droht die Zirkuskarriere zu Ungewissheit leben. nehmen von der Grundschule bis zum enden, bevor sie überhaupt richtig an- Realschulabschluss. Der Unterricht fangen konnte. Während Tränkler spricht, fahren die findet in „rollenden Klassenzimmern“ nächsten Besucher*innen auf das alte statt. Zwei- bis dreimal die Woche rei- WENIG HOFFNUNG, Reitgelände. Ein Mann und seine klei- sen die Lehrer*innen den Zirkuskindern DOCH ES MUSS WEITERGEHEN ne Tochter haben trockenes Brot für die mit einem umgebauten Wohnmobil Tiere dabei. Tatjana Tränkler begrüßt hinterher. Dazu gibt es Online-Unter- Taylo Tränkler versucht trotz allem, die Gäste und bedankt sich für die Fut- richt und eigenverantwortliches Arbei- zuversichtlich zu bleiben. „Wenn man terspende. Die Wiese, auf der die Tiere ten. So werden die Kinder trotz ihrer die ganze Zeit glaubt, das wird nichts grasen, liegt etwas tiefer als die Einfahrt Reisen schulisch ausgebildet. Mit ver- mehr, dann hilft das auch nicht“, sagt des Reiterhofs. Um dorthin zu kommen, schärften Hygienekonzepten wie dem er. „Wir können einfach nur abwarten müssen Besucher*innen einen kleinen, Tragen von Masken oder dem Lernen und irgendwie durchhalten“, ergänzt steilen Erdhang absteigen. „Schaffst du im Freien kann der Unterricht während seine Mutter. Denn planen kann die das alleine?“, will Tatjana Tränkler das der Corona-Pandemie weiterlaufen. Familie aktuell gar nicht. „Wir wissen kleine Mädchen fragen. Doch da ist das nicht, wo wir als nächstes hinziehen Kind schon mit seinem Fahrrad an ihr Viele Zirkuskinder haben einen ähn- werden. Wenn man bei den Städten vorbeigerauscht und unten angekom- lichen Werdegang wie Taylo Tränkler. nachfragt, wie es im Herbst aussieht, men. „Damit könnte sie ja glatt bei euch Sie wachsen im Zirkus auf, besuchen sagen sie uns, dass sie nicht wissen, mithelfen“, sagt der Vater und lacht. die Zirkusschule und sollen irgendwann wie es weitergeht. Niemand weiß, ob Tränkler lächelt, aber es ist ein müdes das Familiengeschäft von ihren Eltern wir im Herbst wieder auftreten kön- Lächeln: „Dafür müssen wir erstmal wie- übernehmen. Doch die Pandemie macht nen“, sagt die Zirkusdirektorin. Die der auftreten dürfen.“ 24
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