Von Bäumen sprechen? Peer de Smit

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    Zeitgeschehen

Peer de Smit

Von Bäumen sprechen?
Anmerkungen zu finsteren Zeiten

Jetzt, da ein Krieg Europa erschüttert und des-   der zur Lösung gesellschaftlicher und sozialer
sen Ausweitung bis hin zum Einsatz von Atom-      Probleme nichts beiträgt, es sei denn – auf ei-
waffen droht, kann es nicht ausbleiben, dass      nigen Umwegen – als allenthalben genutzter
die täglichen Verrichtungen und Gedanken von      Raum der Erholung und Regeneration. Aber
sehr grundsätzlichen Fragen bedrängt werden.      von dieser gleichsam offiziell legitimierten Nut-
  Wenn mein Blick bei einem Gang nach drau-       zung soll hier nicht die Rede sein.
ßen auf die Birken und Kiefern geht und bei         »Noch der Baum, der blüht«, hatte Theodor
dem sich zwischen den Stämmen und dem             W. Adorno 1944 in seinen ›Minima Moralia‹
Heidelbeerkraut entrollenden Farn hängen-         notiert, »lügt in dem Augenblick, in welchem
bleibt, dann ein paar Schritte weiter bei den     man sein Blühen ohne den Schatten des Ent-
Brennnesseln verweilt, die sich am Waldrand       setzens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie
zusammenrotten, wenn ich mich später auf der      schön wird zur Ausrede für die Schmach des
Wiese von den ersten Faltern und Libellen mit-    Daseins, das anders ist, und es ist keine Schön-
nehmen lasse oder, ohne mich zu rühren, der       heit und kein Trost mehr außer in dem Blick,
Drossel nachschaue, die über die Gräser hüpft,    der aufs Grauen geht, ihm standhält und im
sooft also meine Aufmerksamkeit von Lebewe-       ungemilderten Bewusstsein der Negativität die
sen angezogen wird, die von der Welt und den      Möglichkeit des Besseren festhält«.1
Tagesereignissen naturgemäß und ohne dass           Bertolt Brecht hat sich als Lyriker in sehr
sie darüber informiert werden könnten, nichts     unterschiedlichen Genres betätigt. Die Spanne
wissen – wird sie von der Frage durchkreuzt,      reicht vom zarten Liebesgedicht über ein ›Geth-
ob ich mich solchen Bildern seelenruhig hin-      semaneh‹-Gedicht bis zu den sozialkritischen
geben kann, ohne nicht zugleich Vorgänge zu       und politischen Texten, die man mit Brecht
verdrängen, die Grund genug geben, sich Sor-      zunächst vor allem in Verbindung bringt. Zu
gen zu machen. Ob nicht Natur eine Zuflucht       letzteren zählt das Mitte der 30er Jahre ver-
bietet, die zur Ausflucht und zum Alibi wird,     fasste Gedicht ›An die Nachgeborenen‹, ein
inmitten von Ohnmacht und Ratlosigkeit, die       mahnender Appell, den Brecht aus dem dä-
sich angesichts der Weltereignisse ausbreiten.    nischen Exil und den sich verdüsternden Zeiten
  Diese Frage angesichts einer Not, die uns de    der europäischen Geschichte heraus formuliert
facto noch wenig betrifft, bezieht sich nicht     hat. Es ist ein Aufruf, der das Schreiben und
ausschließlich auf Natur, aber doch ausgespro-    Handeln in der Gegenwart vom Prüfstand einer
chen auf sie, insofern Natur immer wieder neu     Zukunft in den Blick nimmt, wo die Zeiten, hof-
in Verdacht eines apolitischen Raumes gerät,      fentlich, wieder heller geworden sind.

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Zeitgeschehen                                                                                    7

   An zentraler Stelle finden sich hier die be-         Bereits mit Anbruch der 80er Jahre hatten
rühmt gewordenen, die viel zitierten Zei-            sich rund 50 deutschsprachige Autorinnen und
len: »Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! /      Autoren – auf Brechts Verse bald direkt, bald
[...] / Was sind das für Zeiten, wo / Ein Ge-        indirekt Bezug nehmend – in das ›Gespräch
spräch über Bäume fast ein Verbrechen ist /          über Bäume‹ eingeschaltet, das sich in einer
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten          für Brecht schwerlich voraussehbaren Art und
einschließt!«2 Die mit Ausrufezeichen bekräf-        Weise entfaltet hat.6 Einen Anfang setzte der
tigte, unmissverständlich rhetorisch vorgetra-       »Nachgeborene« Paul Celan 1960 mit seinem
gene Frage richtet sich an das Schreiben in ei-      Gedicht ›Ein Blatt‹, indem er den Fokus von
ner Welt und unter Bedingungen, die Terror,          den verschwiegenen politischen Implikationen
Diktatur, politische Verbrechen und schließlich      des Naturgedichts auf das Schreiben und das in
millionenfachen Mord beherrschen.                    allem Sprechen Mitgesagte verschob. In Frage
   Brecht richtet seine Frage an die gesellschaft-   stand damit nicht mehr der Inhalt, sondern das
liche und politische Verantwortung der Schrei-       Medium von Sprache und Sprechen selbst:
benden. Er unterstellt, dass sich das unpoli-
tische Schreiben kriminalisieren kann, bzw.                   EIN BLATT, baumlos,
dass auch das unpolitische Schreiben politisch                für Bertolt Brecht:
ist3 – wobei das Wörtchen »fast« in der Rezep-
tion der Gedichtzeilen oft überlesen wird.4 Und               Was sind das für Zeiten,
zweifelsohne hat diese, mit dem Topos eines                   wo ein Gespräch
»Gesprächs über Bäume« verbundene Frage                       beinah ein Verbrechen ist,
nach den Zeitverhältnissen bis zu einem gewis-                weil es soviel Gesagtes
sen Grade den Charakter der Selbstrechtferti-                 mit einschließt?7
gung eines Autors, der zwar in finsteren Zeiten
schrieb, aber doch vergleichsweise unbehelligt       Als die Zeiten des Krieges in solche des Frie-
und aus der Distanz des Exils.                       dens übergangen waren und sich das Verhält-
                                                     nis von Literatur und Natur entspannt hatte,
                                                     blieb vor allem der jüngeren Generation das
Reaktionen der Nachgeborenen
                                                     Schreiben über Natur doch suspekt. Stellver-
Seit der Publikation dieses Gedichts haben sich      tretend für viele gab Günther Eich Anfang der
Aktualität und Aktualisierungen der zitierten        70er Jahre sein lyrisches Statement ab:
Zeilen immer wieder gewandelt, und die Ge-
danken und Echos, die sie im Laufe der vergan-                Vorsicht
genen neun Jahrzehnte ausgelöst haben, haben
mehrfach die Richtung gewechselt.5                            Die Kastanien blühn.
  Zunächst jedenfalls waren die Zeiten nach                   Ich nehme es zur Kenntnis,
Ende des Krieges dem lyrischen Schreiben über                 äußere mich aber nicht dazu.8
Natur durchaus günstig, und neben der soge-
nannten Kahlschlagliteratur, wo kein lyrischer       Dem »Schweigen über so viele Untaten«, das
Baum mehr stehen geblieben war, erzielten            dem Naturgedicht zwischen 1933 und 1945
Naturlyrikbände von Elisabeth Langgässer,            potenziell einwohnte, folgte das Schweigen
Wilhelm Lehmann oder Karl Krolow hohe Auf-           über die Natur überhaupt. Auch wenn das la-
lagen. Vom Brechtschen Verdacht angesichts           konische Gedicht Eichs in einer gewissen Kon-
einer geänderten Zeitlage befreit, erfüllte aber     sequenz zu Brecht gelesen werden kann, so
auch diese Lyrik vielfach eine Alibifunktion.        hat es gegenüber dem, nicht ohne Pathos vor-
Mit ihr ließ sich etwa einer Auseinanderset-         getragenem Mahnmal einen sehr viel persönli-
zung mit der eigenen politischen Vergangen-          cheren Charakter und wirkt gegenüber explizit
heit ganz gut aus dem Weg gehen.                     politischer Lyrik doch eher wie ein Rückzug.

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Natur wird zu einer Privatangelegenheit, jen-      wald / und seine einmalige vielfalt: birken-
seits literarischer Publikation.9                  wald, eichenwald, buchenwald, / VERDAMMT
   Anders, in Revision der eigenen früheren        aus den wiesen steigt nebel, wunderbar weißer
Einstellung, vor allem aber gegen eine Polari-     rauch, / VERDAMMT«14
sierung von Schweigen und Reden gewandt,
äußert sich in ironischer Eleganz Hans Magnus
                                                   Ohnmächtig gegenüber Kriegsgewalt und Not
Enzensberger in jenen Jahren: »Schlafen, Luft-
holen, Dichten: / das ist fast kein Verbrechen.    Wenn politische Spannungen überhandneh-
// Ganz zu schweigen / von dem berühmten           men und Konflikte sich zuspitzen, vollends
Gespräch über Bäume.«10                            aber wenn ein Krieg ganz Europa, ja, die halbe
   Nach der Politisierung der Literatur in den     Welt mit seinen Auswirkungen tangiert, ge­
60er und 70er Jahren erhält das »Gespräch          winnen die mahnenden Worte Bertolt Brechts
über Bäume« eine völlig neue Aktualität. An-       und die Ambivalenz des Schweigens schlag-
gesichts des Baumsterbens im engeren und der       artig neue Aktualität. Worüber und wie kann
fortschreitenden Naturzerstörung im weiteren       man schreiben in diesen Tagen, in denen wir
Sinne wird Natur, wird das Sprechen über Na-       mit Vorgängen konfrontiert sind, die auch als
tur plötzlich zu einem Politikum.11                bloße Informationen und Dokumentationen
   Mit Gründung der gleichnamigen Partei wird      schwer auszuhalten sind? Nie seit Ende des
»das Grüne« ein Teil der politischen Landschaft.   Zweiten Weltkrieges, so scheint es, haben sich
Umweltschutz und Antikernkraftbewegungen           die europäischen Gesellschaften von einem
avancieren – zumindest eine Zeit lang – zu po-     politischen Ereignis so sehr bedroht und her­
litisch relevanten Programmpunkten.                ausgefordert gefühlt wie von dem Angriff auf
   Die katastrophalen Folgen klimatischer Ver-     die Ukraine durch russisches Militär.
änderungen, die immer noch als »Klimawan-            Die Bilder und Nachrichten im Kopf und das
del« schöngeredet werden, befördern heutzu-        Denken von der Flut an Meinungen zu dem
tage über Parteigrenzen hinaus »grüne« Politik.    Kriegsgeschehen überschwemmt, zu seiner
Auch Literatur darf jetzt wieder »grün« sein und   Vorgeschichte, seiner Eskalation, seinen Hin-
der Natur einen gewissen Raum anbieten,12 ob-      tergründen, bis hin zu Spekulationen über
gleich der seit Jean-Jacques Rousseaus »Zu-        spirituelle Konstellationen, die es bedingen,
rück zur Natur!« immer wieder vorgetragene         mischt sich in die Begegnung mit der Natur
Vorwurf des Eskapismus und der Regression          das Gefühl mangelnder Teilnahme angesichts
weiterschwelt. Gedichtbände wie Jan Wagners        der Teilnahmslosigkeit der Natur. Dass die
›Regentonnenvariationen‹ (München 2014) mit        Vögel zwitschern, als sei nichts gewesen, das
dem Garten als lyrischem Bezugsfeld und die        Unbeteiligte der Natur – es ist auch im Blick
positive Aufnahme seitens der Literaturkritik      auf die Menschenvernichtungsmaschinen der
wären jedenfalls in den vorangegangenen Jahr-      Nationalsozialsozialisten und anderer Kriegs-
zehnten kaum vorstellbar gewesen.                  verbrecher immer wieder hervorgehoben wor-
   Daneben aber gibt es noch immer andere          den. Die Natur, so stand es kürzlich irgendwo
Stimmen, wie die des 1986 in Ostberlin gebo-       unter einem Foto zu lesen, das eine grandiose
renen Publizisten und Lyrikers Max Czollek,13      Landschaftsszenerie in Afghanistan zeigt, weiß
der Matthias Claudius’ berühmtes ›Abendlied‹       nichts vom Leid der Bevölkerung.
in seinem Gedicht ›von der wiederkehr‹ mit der       Fern der Fronten, fern von Qual und Marty-
nationalsozialistischen Vergangenheit über-        rium und fern von den bedrückenden Gewöh-
schreibt und den deutschen Wald freundlich         nungsroutinen, die sich für viele der unmittel-
zum Holocaust schweigen lässt: »wir summen:        bar Betroffenen einstellen, ist leicht reden und
der wald steht still und schweiget, und aus den    reflektieren. Und geredet wird viel und auch oft
wiesen steiget, der / weiße nebel wunderbar.       einfach drauflos, während die neuesten Mel-
der wald, der freundlich schweigende deutsche      dungen sich überschlagen.

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   Eine der letzten Ausgaben der ›Zeit‹15 stellt
auf der Titelseite, groß aufgemacht mit einer
Grafik, die Kanzler Scholz auf einem Panzer-
rohr balancieren lässt, die »deutsche Gewis-
sensfrage«, die Frage nach der Bereitschaft
Deutschlands, der Ukraine auch mit Waffen-
lieferungen beizustehen. Darunter finden sich
Leitartikel zur beunruhigenden Lage Europas.
Blättert man, noch nachdenklich von der Lek-
türe, um, stößt der Blick auf eine über zwei
volle Seiten sich ausbreitende, an Protzigkeit
kaum zu überbietende Werbung für ›Omega‹-
Uhren. Fassungslos liest man den Werbetext
über die Uhr, die »magisch aussieht und wun-
dervoll läuft, die nicht allzuweit von der Rea-
lität entfernt ist, vom winzigen Universum des
Präzisionszeitmessers und dem Vertrauen, das
er genießt«. Soviel zum Kontext von Bericht-
erstattung und politischer Diskussion, für die
offenbar auch der Preis der Schamlosigkeit, der
Ignoranz und des Hohns nicht zu hoch ist.
   Derweil bleibt die Frage nach einer Zuwen-
dung zur Natur in Zeiten, wo nicht nur poli-
tische Probleme, sondern ebenso existenzielle               Josef Breitenbach (1896–1984):
Fragen des eigenen sozialen, seelischen und                    Bertolt Brecht, Paris, 1937
geistigen Lebens energisch in den Vordergrund
rücken, eine Frage, die, zumindest in der Ziel-
richtung von Brecht, im öffentlichen Leben der     die Menschen dort aufzuheitern. Dieses Projekt
Nachkriegszeit, soweit ich mich erinnern kann,     gleicht einem performativen Gedicht, das der
kaum eine entscheidende Rolle gespielt hat.        Schönheit Raum gibt und gegenüber Kriegsge-
   Und ich denke an die Einwohnerinnen und         walt und Not ohnmächtig erscheint.
Einwohner von Kiew, die Mitte März auf dem           So teilnahmslos die Natur auch sein mag, so
Sophienplatz rund 1,5 Millionen Tulpen in          unbekümmert die Vögel auch mit jedem neu-
Form des Landeswappens niedergelegt haben,         en Tag singen – wie könnte es ihnen ernsthaft
während die Stadt umzingelt und beschossen         zum Vorwurf gemacht werden! Fraglich aber
wurde. Einer von ihnen, Oleksandr Malykhin,        bleibt über die Zeiten hinweg, ob eine Auf-
sagte gegenüber den Medien, die Bewohner           merksamkeit auf die Lebewesen der Natur, auf
hätten keine Angst, da sie aus ihrer Stadt Kraft   ihre Schönheit und auf ihre durch rationales
schöpften und den Frühlingsanfang ungeachtet       Denken nicht ersetzbare Weisheit zwangswei-
der russischen Invasion in ihrem Land feiern       se auf Verdrängung, Flucht und das Verschwei-
wollten. »Wir leben unser Leben weiterhin wie      gen von Untaten hinausläuft.
in friedlichen Zeiten«, sagte Malykhin, »Kinder      So wichtig und nachvollziehbar die Brecht­
und Enkelkinder müssen sich auf den Früh-          schen Warn- und Mahnworte und die eingangs
ling freuen, um frei zu atmen. Wir fühlen uns      zitierten Erwägungen Adornos auch bleiben: –
sicher und haben keine Angst.«16 Wenn das          wäre es nicht gleichermaßen fatal, die Anteil-
Projekt abgeschlossen sei, so eine der Tulpen      nahme an menschlichem Leid an den anderen
anordnenden Frauen, sollen die Blumen in die       Lebewesen der Natur vorbeizuführen?17 Mün-
Krankenhäuser der Stadt gebracht werden, um        den radikale Abwendung von der Natur und

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Tabuisierung der Naturzuwendung in akuter                gen zu treffen wird nicht weit führen. Derweil
menschlicher Not nicht am Ende in eine Ab-               bleiben die Tulpen in Kiew und die über die
wendung auch vom Menschen selbst und von                 Gräser hüpfende Drossel Bilder der Freude im
der Schöpfung, deren Teil er ist? Das »Gespräch          Blick auf die wie immer offene Zukunft.
über Bäume« ist möglich, ohne auszublenden,
was uns politisch und persönlich betrifft. Das           Peer de Smit, Prof. für Theater im Sozialen,
eine gegen das andere auszuspielen und damit             Schauspieler, Regisseur und Autor. Literatur-
eine Entscheidung für dieses oder jenes Schwei-          und thea­terwissenschaftliche Publikationen.

1 Theodor W. Adorno: ›Minima Moralia‹, Frankfurt         10 Hans Magnus Enzensberger: ›Zwei Fehler‹, in:
a.M. 1969, S. 21.                                        ›Die Gedichte‹, Frankfurt a.M. 1983, S. 306.
2 Bertolt Brecht: ›Gesammelte Werke Bd. 9‹, Frank-       11 Literarisch schlägt sich das z.B. in den 80er Jah-
furt a.M. 1967, S. 722.                                  ren – und in neuer Korrespondenz zu dem Brechts-
3 Vgl. den Aufsatz von Wolfgang Emmerich: ›Kein          chen Diktum – in dem Gedicht von Walter Helmut
Gespräch über Bäume. Naturlyrik unterm Faschis-          Fritz: ›Bäume‹ nieder, wo es heißt: »Inzwischen ist
mus‹, in Reinhold Grimm & Jost Hermand (Hrsg.):          es fast / zu einem Verbrechen geworden, / nicht
›Natur und Natürlichkeit. Stationen des Grünen in        über Bäume zu sprechen«. – Zitiert nach Alexan-
der deutschen Literatur‹, Königstein/Ts., S. 77-117.     der von Bormann (Hrsg.): ›Die Erde will freies Ge-
4 In seinem Gedicht ›Schlechte Zeiten für Lyrik‹         leit. Deutsche Naturlyrik aus sechs Jahrhunderten‹,
reflektiert Brecht dann sein eigenes Schreiben »in       Frankfurt a.M. 1984. Noch drastischer gestaltet sich
finsteren Zeiten« und die damit verbundenen Konse-       die Thematik im ›Naturgedicht 7‹ von Gregor La-
quenzen mit aller Deutlichkeit: »In mir streiten sich    schen: »Das Naturgedicht / ist der letzte Text über
/ Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum /        die / Naturgedichte lange vor uns, / hölzerne Suche
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.       / nach Bäumen in Gedichten / über was man / für
/ Aber nur das zweite / Drängt mich zum Schreib-         ein Verbrechen hielt, als / es / noch / Bäume /
tisch«. – Bertolt Brecht: op. cit., S. 743f.             gab«. – Gregor Laschen: ›Die andere Geschichte der
5 Zu bedenken ist dabei nicht zuletzt, dass die Be-      Wolken. Gedichte‹, München 1983.
zugnahmen selten den Kontext des gesamten Ge-            12 Neben der literarischen Produktion von Wer-
dichtes einbeziehen, sondern lediglich das Heraus-       ken, die auf das ›Gespräch über Bäume‹ und die
geschnittene im Auge haben, wie es bekanntlich von       Natur Bezug nehmen, gibt es selbstverständlich
jedwedem Zitieren erzeugt wird.                          auch literaturwissenschaftliche Diskurse, darunter
6 Darunter etwa Peter Huchel, Hans Magnus En-            Mario Andreottis 1995 erschienener Aufsatz: ›Wenn
zensberger, Erich Fried, Wolf Biermann, Erika Bur-       ein Gespräch über Bäume wieder möglich wird …
kart oder Jürgen Becker. Vgl. Hiltrud Gnüg: ›Ge-         Von der literarischen Moderne zur Postmoderne‹,
spräch über Bäume: Zur Brecht-Rezeption in der           in: ›Sprachspiegel: Schweizerische Zeitschrift für die
modernen Lyrik‹, in: ›Basis. Jahrbuch für deutsche       deutsche Muttersprache‹ Nr. 2/1995 und 3/1995.
Gegenwartsliteratur‹ Jahrbuch für deutsche Gegen-        13 Bekannt geworden vor allem durch seine Streit-
wartsliteratur‹ Bd. 7 (1977), S. 89-117, sowie dies.     schrift ›Desintegriert euch‹ (München 2018), die
(Hrsg.): ›Gespräch über Bäume. Moderne deutsche          einer Kritik der Funktionalisierung jüdischer und
Naturlyrik‹, Stuttgart 2013.                             migrantischer Positionen in Deutschland gilt.
7 Paul Celan: ›Gesammelte Werke Bd. 2‹, Frankfurt        14 Max Czollek: ›Jubeljahre‹, Berlin 2015, zitiert
a.M. 1983, S. 385.                                       nach Jon Cho-Polizzi, der den Text ins Englische
8 Günther Eich: ›Gedichte‹, Frankfurt a.M. 1973, S.      übersetzt hat: https://jewishcurrents.org/of-return
114.                                                     15 ›Die Zeit‹ Nr. 17 vom 21. April 2022.
9 Wenige Jahre nach Eichs Gedicht schien das ›Ge-        16 www.nach-welt.com/der-ukrainer-selenskyj-
spräch über Bäume‹ allerdings wieder möglich zu          fordert-mehr-friedensgesprache-und-warnt-davor-
sein, wie seinerzeit Hans Christoph Buch mit seinem      dass-der-krieg-generationen-von-russen-treffen-
1978 erschienenen Aufsatz ›Warum ein Gespräch            wird/ (Abruf am 19. März 2022)
über Bäume heute kein Verbrechen mehr ist‹ signali-      17 Darüber hinaus zeichnet sich der prognostizierte
sierte. Vgl. ders.: ›Das Hervortreten des Ichs aus den   Umstand, dass die neue Aufrüstung auf Kosten öko-
Wörtern‹, München 1978, S. 37-45.                        logischer Maßnahmen geht, bereits ab.

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