Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
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Von Beuys bis Liebermann – Ausgewählte Werke Auktion Nr. 324 3. Dezember 2020, 18 Uhr From Beuys to Liebermann – Selected Works Auction No. 324 3 December 2020, 6 p.m.
Experten Specialists Vorbesichtigung Preview Ausgewählte Werke Zürich 9. und 10. November 2020 10 bis 18 Uhr Grisebach Bahnhofstrasse 14 8001 Zürich Düsseldorf 12. und 13. November 2020 10 bis 18 Uhr Grisebach Dr. Markus Krause Micaela Kapitzky Bilker Straße 4–6 +49 30 885 915 29 +49 30 885 915 32 40213 Düsseldorf markus.krause@grisebach.com micaela.kapitzky@grisebach.com München 16. bis 18. November 2020 10 bis 18 Uhr Grisebach Türkenstraße 104 80799 München Sämtliche Werke Berlin 20. November bis 1. Dezember 2020 Grisebach Fasanenstraße 25, 27 und 73 10719 Berlin Diandra Donecker Sarah Miltenberger Montag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr +49 30 885 915 27 +49 30 885 915 47 Dienstag, 1. Dezember, 10 bis 15 Uhr diandra.donecker@grisebach.com sarah.miltenberger@grisebach.com sowie nach individueller Vereinbarung Monday to Sunday 10 a.m. to 6 p.m. Tuesday, 1 December, 10 a.m. to 3 p.m. and by appointment Antworten auf aktuelle Fragen zu unserer Vorbesichtigung und Auk- tion finden Sie unter grisebach.com Zustandsberichte Information regarding upcoming Georg Ottomeyer Condition reports previews and auctions can be found +49 30 885 915 64 condition-report@grisebach.com at grisebach.com georg.ottomeyer@grisebach.com Grisebach — Herbst 2020
1 Otto Möller Dieser „Don Quichote“ ist eine ehrgeizige Etüde in der Kunst der kubistischen Komposition: Mögen urbane Strukturen Schmiedefeld/Thüringen 1883 – 1964 Berlin oder Stillleben dem Kubismus schon vom Motiv her nahe- stehen, ist der Reiter zu Pferde eine fast unlösbare Heraus- Don Quichote I. 1921 forderung. Wer so etwas wagt, muss etwas vom Systematiker Öl auf Leinwand. 157 × 94 cm (61 ¾ × 37 in.). an sich haben. Unten rechts signiert: Otto Möller. Retuschen, Die künstlerischen Anfänge Otto Möllers liegen in der leichte Randmängel. [3548] Gerahmt. Auseinandersetzung mit dem Lehrer Lovis Corinth. Aber Provenienz schon um 1910 löst sich Möller vom Impressionsmus und Peter Hopf, Berlin / Privatsammlung, Europa erobert die Farbigkeit und Konturenhärte des Fauvismus. Früh wird die systematische Auseinandersetzung des Kunsterzie- EUR 60.000–80.000 hers mit den Errungenschaften der Pariser Moderne deutlich: USD 70,600–94,100 Möller wird ein „pictor doctus“, der genau weiß, in welchen Stationen sich die unmittelbar vorangegangene Kunstge- Ausstellung schichte der Avantgarde abgespielt hat. Nach 1918 arbeitete Ausstellung der Novembergruppe. Berlin, Kunsthand- er souverän mit den analytischen Mitteln des Kubismus. Das lung und Antiquariat Josef Altmann, 1921, (Faltblatt-) Œuvre des Malers ist klein. Denn Möller war seinem Beruf Nr. 14 („Don Quixote“) / Große Berliner Kunstausstellung nach kein freier Künstler, sondern Kunsterzieher: Hier ver- 1922. Abteilung Novembergruppe. Berlin, Landesaus- wirklichte er die reformerischen Programme der November- stellungsgebäude am Lehrter Bahnhof, 1922, Kat.- gruppe, der er angehörte. Am preußischen Zentralinstitut für Nr. 1347 (betitelt: Don Quichote II), Abb. 61 / 15 Europä- Erziehung und Unterricht erarbeitete er zusammen mit Ludwig ische Kunstausstellung. Tendenzen der zwanziger Jahre. Pallat, Philipp Franck und Bernhard Hasler die Grundzüge der Die Novembergruppe. Teil I: Die Maler. Berlin, Kunst- europaweit vorbildlichen künstlerischen Reformpädagogik. amt Wedding – Walther-Rathenau-Saal und Rathaus Viele Kunsterzieher hat er ausgebildet und sie, als sich nach Wedding, 1977, Kat.-Nr. 47 (betitelt: Don Quichote I), 1933 der Himmel über den Schulen verfinsterte, in ihrer Inte- Abb. S. 107 grität zu stärken versucht. Als Hochschullehrer wirkte Möller Literatur und Abbildung nach dem Zweiten Weltkrieg an der Hochschule der bildenden Helga Kliemann: Die Novembergruppe. Berlin, Gebr. Künste in Berlin. CS Mann Verlag, 1969, S. 144 und Abb. 18 / Rudolf Pfeffer- korn: Otto Möller. Berlin, Stapp Verlag, 1974, Abb. 31 / Auktion Nr. 138: Sammlung Hopf. Berlin, Villa Grisebach Auktionen, 1.12.2006, Kat.-Nr. 1624, m. Abb. • Der Ritter von der traurigen Gestalt als Symbolfigur einer unruhigen Zeit • Kubistisches Sinnbild in leuchtender Farbigkeit • Hauptwerk aus Otto Möllers wichtigster Schaffenszeit 13 12 Grisebach — Herbst 2020
Marlene Dumas / 2N Blake Byrne – Kunstliebhaber und Pionier des amerikani- Bert Boogaard schen Fernsehens – trug in den letzten Jahren seines Lebens eine beeindruckend internationale Sammlung zeitgenössi- scher Kunst zusammen. „Catsuit – after William Morris“ stellt Kapstadt 1953 - lebt in Amsterdam / das Pendant zu „Victoria“ (Los 7) der südafrikanischen Künst- Amsterdam 1952 – lebt in Amsterdam lerin Marlene Dumas in Zusammenarbeit mit dem Niederlän- der Bert Boogaard dar. In den beiden Werken verbinden sich „Catsuit – after William Morris“. 1999 zwei unabhängige künstlerische Welten: Einerseits Boogaards Acryl und Aquarell auf Papier. 125 × 70,2 cm ornamentale Farbformen in Acryl, die er mit aufwendigen (49 ¼ × 27 ⅝ in.). Unten links mit Bleistift signiert Schablonen konstruiert; andererseits die beinahe transpa- und bezeichnet: M Dumas – woman dress – Bert rent monochromen Akt-Figuren von Dumas in Aquarell. Die Boogaard. Unten rechts betitelt und datiert: Übermalungen Boogaards erweitern die zarten Figuren von Catsuit – after William Morris, 1999. [3519] Gerahmt. Dumas um eine angedeutete Stofflichkeit, beinahe als wür- Provenienz den sie sie ankleiden. Das Zusammenspiel der beiden Ele- The Blake Byrne Collection, Paris/Los Angeles mente erzeugt zwei dynamische weibliche Figuren. Bekannt für Ihre künstlerische Zusammenarbeit wur- EUR 100.000–150.000 den Dumas und Boogaard auch durch Ihr hochpolitisches und USD 118,000–176,000 aufsehenerregendes Kunstwerk für den Altar der 2017 nach langer Renovierung eingeweihten Annenkirche in Dresden. Ausstellung Mutig hinterfragen die Künstler in ihrem Altarbild fundamen- Bert Boogaard/Marlene Dumas. Amsterdam, Galerie tale Fragen des Glaubens einerseits und andererseits, welche Paul Andriesse, 2002 Rolle Bilder dabei spielen – auf eine zeitgenössische Art und Literatur und Abbildung Weise: Es zeigt unter anderem einen schwarzen Jesus, in der Marlene Dumas. Wet Dreams. Ravensburg, Städtische Haltung des Gekreuzigten, aber befreit vom Kreuz, beinahe Galerie, 2003, Abb. S. 100/101 / Ev.-luth. Annen- schwebend, wie der Auferstandene. Die Künstler deuten Matthäus-Kirchengemeinde (Hg.): Marlene Dumas. somit Symbole und Farben um, ohne die Religiösität per se in Ein Altarbild für die Annenkirche in Dresden. Köln, Frage zu stellen. Verlag der Buchhandlung König, 2017, S. 21 Damit spannt die Arbeit einen Bogen zur persönlichen Biografie von Dumas, die selbst in der Niederländisch-refor- mierten Kirche Südafrikas getauft wurde und unweigerlich mit der Rolle der Kirche in der Apartheit konfrontiert war. SJ Blick in die Dresdner Annenkirche auf das gemeinsame Altarbild von Marlene Dumas und Bert Boogaard 17 16 Grisebach — Herbst 2020
3Porzellanmanufaktur Die weite Welt im Kleinen, in vier zierlichen Porzellanfigu- Meissen, um 1750 ren. Exotik, wilde Tiere, die Vorstellungen über das Leben in fernen Ländern, aber auch ein hierarchisierender Blick und ein Machtanspruch verbergen sich in dieser Allegorie der vier Kontinente der Porzellanmanufaktur Meissen. So sind jeder Personifikation eines Kontinents Attribute und ein ein- Allegorien der vier Erdteile – nach dem Modell Johann heimisches Tier zugeordnet. Afrika ruht auf einem Löwen, Joachim Kaendlers (1706–1775) und Johann Friedrich trägt einen Elefantenskalp auf dem Haupt und hält Kornähren Eberleins (1696–1749). Um 1750 in ihrer Hand. Amerika reitet, gehüllt in einen Federmantel, Porzellan, farbige Aufglasurmalerei, staffiert. Höhe auf einem Krokodil, Asien in türkischer Tracht auf einem 18,5 cm (Afrika), 20,2 cm (Amerika), 18,6 cm (Asien), Kamel und die bekrönte Europa auf einem Pferd. Die Bild- 21,2 cm (Europa). (Height 7 ¼ in., 8 in., 7 ⅜ in., 6 ⅜ in., ikonografie der vier Kontinente reicht tief in die Antike zurück 8 ⅜ in.). Schwertermarke in Unterglasurblau (Afrika und bespielt die Neugier auf die Welt, ist aber immer auch und Amerika undeutlich gemarkt). [3587] Verortung eines selbst in dieser. Die etwas eigenwillige Ele- Provenienz fantenhaut erinnert beispielsweise an die Siege Alexanders Privatsammlung, Süddeutschland des Großen in Indien, und die Kornähren verweisen auf das fruchtbare Nilschwemmland, die Kornkammer Roms. Der EUR 70.000–100.000 Machtanspruch zeigt sich klar in der gekrönten, geharnisch- USD 82,400–118,000 ten und berittenen Europa, die aber auch mit den Attributen der Wissenschaften versehen ist. Vergleichsliteratur Aus dieser fantasievollen Ikonografie bediente sich Ulrich Pietsch: Die Arbeitsberichte des Meissener der wohl bekannteste Modelleur Meissens, Johann Joachim Porzellanmodelleurs Johann Joachim Kaendler Kaendler, in Mitarbeit mit Johann Friedrich Eberlein, als er 1706–1775. Leipzig, 2002, S.109 f. / Hermann Jedding: diese Gruppe entwarf und ausformte. Der Auftrag für den Meissener Porzellan des 18. Jahrhunderts in Hamburger Entwurf dieser releganten Figuren kam von keiner Geringe- Privatbesitz. Ausst.-Kat., Museum für Kunst und ren als der russischen Zarin Elisabeth Petrowna (1709–1762), Gewerbe, Hamburg 1982, Abb. 238–241 die 1745 unter anderem diese Gruppe in zwei Versionen bestellte. Die Zarin hatte kurz zuvor das umfangreiche Meis- • Seltene, komplett erhaltene Figurengruppe aus der sener Andreasservice erhalten, welches als diplomatisches Hochzeit der europäischen Porzellankunst Geschenk des sächsischen Hofes an Katharina die Große • Beispiel des beliebten Bildmotivs der vier Kontinente gedacht gewesen war, und fand großen Gefallen an dem • Exotismen und Bestien in „weißem Gold“ „weißen Gold“. So spiegelt sich in dieser grazilen Porzellangruppe nicht nur eine Vorstellung der Welt an sich, sondern auch die Einbindung solcher Porzellane in die Diplomatie als Hof- geschenke, was ihren Wert und ihre Wertschätzung unter- streicht. GO 19 18 Grisebach — Herbst 2020
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Expressionistischer Farbenrausch Christoph Stölzl als Ornament der Verzückung – Georg Tapperts bildnerischer Tanz auf dem Vulkan Sieben Varieté-Girls, kostümiert und geschminkt als japanische Geishas, tanzen über die kleine Bühne, die mit einem Papp-Felsen und bunten Lampions exoti- sche Stimmung evozieren soll. Rötliches Licht erwärmt die Szene, es spiegelt sich in den Gewändern, Gesichtern und in der Dekoration. Die Frauen sind anonymi- siert, sie sind nichts anderes als Rhythmus und schöner Schein. Expressionismus als Echo der nächtlichen Großstadt, als Farben- und Lichter-Rausch, als Orna- ment der Verzückung: Hier ist er auf unerhört dichte Weise in einem Meisterwerk versammelt. Geschaffen worden ist das Ölbild in den beiden Schicksalsjahren der deutschen Moderne, als zwischen dem Blauen Reiter in München und dem Herbstsalon des „Sturm“ 1912 in Berlin ein unablässiger Lichtbogen strömte. Zwi- schen 1911 und 1913 brachte sich die europäische Avantgarde auf den Begriff. Der Expressionismus machte den Sprung in die Allgemeingültigkeit eines Zeitstils. Und mitten darin war der gerade einmal dreißigjährige Georg Tappert, der wie im Rausch starkfarbige, impulsive und leidenschaftliche Bilder schuf. Die Welt der Varietés, der Revuen, der Bars und Zirkusse, der Tänzerinnen und Chansonetten erfüllte den Kopf Tapperts. Die Brücke-Gründer hatten noch 1910 von paradie- sisch-unschuldiger Nacktheit in der Natur geträumt. Jetzt entdeckte Tappert in seinen Geniejahren vor 1914 die „Schönheit des Hässlichen“ und ging vor allem in seinen Aktdarstellungen provozierende Wege. Offene Erotik, überwältigende Weiblichkeit, Feier der Sexualität in solcher Deutlichkeit finden sich in der deut- schen Avantgarde nirgendwo so deutlich wie beim jungen Tappert. 1880 in Berlin geboren, im gleichen Jahr wie Ernst Ludwig Kirchner und Franz Marc, war Tappert ähnlich wie Max Pechstein kein Bürgerskind, sondern begann seinen Weg in die Kunst mit einer Schneiderlehre. Bis 1913, als er ein staatliches Lehramt bekam, lebte er in bitterer Armut. 1906 tauchte er als Kunst- lehrer in Worpswede auf. 1910 in der Berliner Sezession ausjuriert, gründete er zusammen mit Pechstein die Neue Sezession. Tapperts Gabe der Freundschaft stellte die Verbindung zu Kandinsky und dem Blauen Reiter her. 1912 war er in der legendären Kölner Sonderbundausstellung vertreten. Seine Bilder hingen im glei- chen Raum wie jene von Franz Marc und der Brücke. Er arbeitete als Illustrator an Franz Pfempferts „Aktion“ mit und gehörte zu den Initiatoren der „Ersten Jury- freien Ausstellung“ nach dem Modell der „Independents“ in Paris. 1912 war Tappert an der zweiten Ausstellung des Blauen Reiter in München beteiligt. 1918/19 gehörte er zu den Künstlern, die sich mit Leib und Seele der Revolution und der Demokratie verschrieben. Georg Tapperts großformatige, vielfigurige Bilder von 1910–1914 würden wie Ernst Ludwig Kirchners Berliner Stra- ßenszenen zu den Inkunabeln des reifen Expressionismus gehören, wenn sie denn alle erhalten wären. 23 22 Grisebach — Herbst 2020
4 Georg Tappert 1880 – Berlin – 1957 „Geisha-Revue“. 1911/13 Öl auf Leinwand. 115,5 × 105,5 cm (45 ½ × 41 ½ in.). Unten rechts signiert: Tappert. Werkverzeichnis: Wietek 134. Rückseitig das Gemälde „Zwei Akte vor Bäumen“. Um 1914 (Wietek 151). Ränder angestückt, kleine Retuschen. [3548] Gerahmt. Provenienz Galerie Nierendorf, Berlin / Privatsammlung, Schweiz / Privatsammlung, Europa EUR 350.000–450.000 USD 412,000–529,000 Ausstellung Georg Tappert. Berlin, Galerie Nierendorf, 1963, Kat.- Nr. 22, Abb. der Rückseite S. 8 („Zwei Akte in Land- schaft [Betty]“) / Georg Tappert. Gemälde 1906–1933. Wiederentdeckung eines Expressionisten (= 70. B·A·T- Ausstellung). Hamburg, B·A·T-Haus, 1977, Kat.-Nr. 17, m. Abb. der Rückseite („Zwei Akte in Landschaft“) / Georg Tappert. Ein Berliner Expressionist 1880–1957. Berlin, Berlinische Galerie, 1980/81, Abb. der Rück- seite S. 19 („Zwei Akte vor Bäumen“) / Georg Tappert. Deutscher Expressionist. Schleswig, Stiftung Schleswig- Holsteinische Landesmuseen, Schloß Gottorf, und Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 2005, Kat.-Nr. 25 („Geisha-Revue“) und Kat.-Nr. 37 („Zwei Akte vor Bäumen“), Abb. S. 79 u. S. 80 / Berlin–Tokyo. Tokyo–Berlin. Die Kunst zweier Städte. Berlin, Neue Nationalgalerie, und Tokyo, Mori Art Museum, 2006, S. 342 (datiert „um 1911“), Abb. S. 100 (Die „Geisha- Revue“ war auch auf dem Ausstellungs-Banner repro- duziert, das an der Neuen Nationalgalerie hing.) • Rhythmisierte Bewegung als Ausdruck groß- städtischer Dynamik • Eindrucksvolles Zeugnis des Exotismus in der Kunst vor 1914 • Inkunabel des deutschen Expressionismus Rückseite 25 24 Grisebach — Herbst 2020
5 Joseph Beuys Die Multiples von Joseph Beuys umfassen eine Vielzahl von Objekten, Materialien und Formaten. Für Beuys sollten sie Krefeld 1921 – 1986 Düsseldorf „Vehikel“ seiner Ideen und Vorstellungen sein. Er verstand sie als eine demokratische Teilhabe an seiner Kunst. „Filzanzug“. 1970 Das Multiple „Filzanzug“ (1970) ist eine weltweit be- Genähter Filzanzug. Ca. 170 × 60 cm (66 ⅞ × 23 ⅝ in.). kannte Ikone des Werks von Joseph Beuys und steht für die- In der linken Innenseite der Jacke ein Aufnäher mit ses Anliegen in herausragender Weise. Filz ist neben Fett ein weißem Stempel und der mit Filzstift eingetragenen zentrales Material im Werk. Es speichert Wärme, nach Beuys Exemplar-Nummer. Werkverzeichnis: Schellmann 26. die grundlegende Voraussetzung für kreative Prozesse. Filz ist Einer von 100 nummerierten Anzügen aus einer aber zugleich Isolator nach außen. So definiert der Künstler Gesamtauflage von 110 Exemplaren. Galerie René den „Filzanzug“ u.a. auch als „ein Zeichen für die Isolation Block, Berlin 1970. [3578] des Menschen in unserer Zeit“ (Joseph Beuys zit. nach: Carl Provenienz Haenlein (Hg.): Joseph Beuys. Eine innere Mongolei. Hannover Privatsammlung, Bayern (bei Edition Schellmann, 1990, S. 206). München, erworben) Indem der Mensch durch seine Kleidung Wärme spei- chert, kann er sich erhalten. Er vermag diese Wärme aber EUR 50.000–70.000 auch abzugeben an andere. In dieser Doppelfunktion steht USD 58,800–82,400 der „Filzanzug“ für die kreativen Möglichkeiten des Men- schen. Es liegt in dessen Hand, sich zu entscheiden, wel- chen Weg er geht. Beuys selbst hat den Anzug nur einmal getragen – in der Aktion „Action the dead mouse/Isolation Unit“ (1970) mit Terry Fox in Düsseldorf. In der Definition als Multiple ist er jedoch nicht von anderen zu benutzen. Mit der vom Künstler vorgegebenen Präsentation als Wand- objekt ließe sich der „Filzanzug“ daher als multiplizierte Verkörperung des Künstlers selbst lesen, als schwebe er gleichsam im Raum, dem Betrachter zugewandt – als Mah- nung und Zuversicht zugleich. KDP Der Filzanzug repräsentiert beides. Er ist also einmal ein Haus, eine Höhle, die den Menschen abisoliert gegenüber allem anderen. Zum anderen ist er ein Zeichen für die Isolation des Menschen in unserer Zeit. Joseph Beuys 27 26 Grisebach — Herbst 2020
6 Rudolf Schlichter 1927 lernt Rudolf Schlichter in Berlin die Schweizer „Lebe- dame“ Elisabeth Koehler kennen, 1929 heiraten sie. Dem Calw 1890 – 1955 München damals in Bohème-Kreisen beliebten Hang zu Amerikanis- men folgend, nennt sie sich Speedy, und dieser Name passt Speedy als Madonna. 1934 nicht nur zur Rasanz, mit der sie Einfluss auf Schlichters Öl auf Leinwand. 78,2 × 56 cm (30 ¾ × 22 in.). Leben und Wirken erlangt, sondern überhaupt auf ihre Unten rechts signiert und datiert: R. Schlichter 1934. gemeinsame unruhige und wechselhafte Existenz in den Retuschen. [3631] Gerahmt. Berliner Jahren. Speedy trägt mit wechselnden Herren- Provenienz bekanntschaften gleichermaßen zu rasenden Eifersuchts- Privatsammlung, Baden-Württemberg / Privatsamm- szenen Schlichters wie in nicht geringem Maße zum gemein- lung, Sachsen-Anhalt (beim Kunsthandel Werner samen Haushaltseinkommen bei. Sie arbeitet auch beim Fischer, Berlin, erworben) Film als Schauspielerin in Nebenrollen und verkörpert gerade- zu beispielhaft die besondere Melange aus Antibürgerlich- EUR 120.000–150.000 keit, prekären Verhältnissen und aufgedrehter Lebenslust, USD 141,000–176,000 die das künstlerische Milieu im Berlin der späten 1920er- Jahre am Vorabend von Weltwirtschaftskrise und National- Ein ähnliches Werk, „Speedy als Madonna vor Schwäbischer sozialismus prägt. Alb“ (94 × 65 cm), ebenfalls von 1934, befindet sich in der Rudolf Schlichter beginnt in dieser Zeit, sich wieder Kunststiftung der Sparkasse Pforzheim-Calw. dem Katholizismus zuzuwenden, zum Schrecken seiner kom- munistisch gesinnten Künstlerfreunde. • Reizvolles Spiel mit verschiedenen Identitäten Im Bildnis seiner Frau Speedy als Madonna bedient • Untergründige Spannung zwischen psychologischem sich der Maler zwar der christlichen Ikonografie, doch der Ausdruck und ikonografischem Typus Subtext dieser Darstellung ist keineswegs religiös, sondern • Porträts von Speedy, der Frau Rudolf Schlichters, beschwört eine unterschwellige Erotik, die sich dem ein- sind sehr selten auf dem Kunstmarkt dringlichen Blick verdankt, den Schlichter diesem Antlitz verleiht. Die gekreuzten, sehnig-kraftvollen Hände unter- streichen den Eindruck, dass wir es hier nicht mit einer Dul- derin zu tun haben, und gerade die Verhüllung des Körpers betont die Stärke, die aus dem Blick spricht, der den Maler und uns festnagelt. Natürlich ist dieses Bildnis gleicherma- ßen Projektion und Ausdruck tieferer Wahrheit. Schlichter malt sich in seine Obsessionen, die er in seiner Autobiogra- fie so beschrieben hat: „[…] gerade die Hüllen, in die der weibliche Körper eingezwängt war, erregten im höchsten Maße mein sinnliches Wohlgefallen, stachelten meine Begierden“ (zit. nach: Rudolf Schlichter: Das widerspenstige Fleisch. Berlin, Edition Hentrich, 1991, S. 168). Die tiefere Wahrheit sagt, dass Speedy Schlichter zu den selbstbewussten Frauen dieser Zeit gehörte und Teil der eigentümlichen Versuchsanordnungen ihres Mannes sein konnte, ohne sich darin zu verlieren. Ein wenig erinnert diese Gemeinschaft an die von Karl und Hilde Hubbuch, die sich in überdrehten Posen fotografierten und dabei auch mit dem Verschieben von Geschlechtergrenzen spielten. Auch von George und Eva Grosz kennen wir die Lust an kol- portagehafter Inszenierung. MS Speedy Schlichter, 1929. Foto aus: Revue des Monats, 4. Jg., Dez. 1929, Nr. 2, S. 189 29 28 Grisebach — Herbst 2020
Marlene Dumas / 7N Bert Boogaard Kapstadt 1953 - lebt in Amsterdam / Amsterdam 1952 – lebt in Amsterdam „Victoria“. 1998 Acryl und Aquarell auf Bütten. 124,8 × 70,2 cm (49 ⅛ × 27 ⅝ in.). Unten links mit Bleistift signiert und bezeichnet: M Dumas – woman dress – Bert Boogaard. Unten rechts betitelt und datiert: Victoria, 1998. [3519] Gerahmt. Provenienz The Blake Byrne Collection, Paris/Los Angeles EUR 100.000–150.000 USD 118,000–176,000 Ausstellung Bert Boogaard/Marlene Dumas. Amsterdam, Galerie Paul Andriesse, 2002 Literatur und Abbildung Marlene Dumas. Wet Dreams. Ravensburg, Städtische Galerie, 2003, Abb. S. 100/101 / Ev.-luth. Annen- Matthäus-Kirchengemeinde (Hg.): Marlene Dumas. Ein Altarbild für die Annenkirche in Dresden. Köln, Verlag der Buchhandlung König, 2017, S. 21 Die angedeutete „Kleidung“ ist poetisch, sinnlich …, sie widersteht mit diskreter und distanzierter Zärtlichkeit der erotischen und verführerischen Ausstrahlung der in Dumas’ Werk zurückhaltend, aber bekennend artikulierten Weiblichkeit. Boogaards Eingriff führt den Abstraktions- prozess der Wasserfarben in das persönliche, menschliche Ausdrucksbild zurück. Es entsteht eine Art „Reigen“. Als Ganzes gesehen gleicht die kleine Serie der Übermalungen einer traumhaften Performance. Tilman Osterwold 31 30 Grisebach — Herbst 2020
8N Ernst Barlach Die für Ernst Barlachs bildhauerisches Schaffen entscheiden- de Wandlung vollzog sich nach der Russlandreise des Künst- Wedel 1870 – 1938 Rostock lers 1906. Die einfachen, ja primitiven Lebensbedingungen der bäuerlichen Bevölkerung, ihre symbiotische Existenz im „Der singende Mann“. 1928 Einklang mit der Natur ließen ihn zu sparsamer Gestaltung Bronze mit goldbrauner Patina. 49 × 52 × 39 cm finden. Seine Figuren sind nun von gesammelter Körperhal- (19 ¼ × 20 ½ × 15 ⅜ in.). An der Fußstütze unterhalb tung und geschlossenen Konturen bestimmt. Wenige Einzel- des rechten Fußes signiert: E. Barlach. Dort auch der heiten, ein gereckter Kopf, eine ausgestreckte Hand oder Gießerstempel: H.NOACK BERLIN. Werkverzeichnis: eine Neigung der Achse tragen den Ausdruck, auf beschrei- Laur 432. Einer von 38 posthumen Bronzegüssen bende oder gar ausschmückende Details verzichtet Barlach. (Gesamtauflage: 54 Exemplare und 3 Zinkgüsse). Den bewegten, expressiveren Skulpturen nach 1914 [3455] folgen im Œuvre wieder in sich verharrende, stille Arbeiten, Provenienz deren eindrucksvollste wohl das Güstrower Ehrenmal, ein Privatsammlung, Schweiz schwebender Engel mit den Zügen der Käthe Kollwitz, ist. Nicht weniger bekannt ist der „Singende Mann“, dessen EUR 70.000–100.000 ungewöhnliche Pose Barlach in mehreren Zeichnungen vor- USD 82,400–118,000 bereitet hat. Mit geschlossenen Augen trägt der Sitzende sein Lied vor, das linke Bein ruht angewinkelt auf dem Boden, Weitere Werke von Ernst Barlach in der Auktion Moderne während das rechte vor dem leicht zurückgebeugten Ober- Kunst am 4.12.2020, Lose 356–362 körper mit beiden Armen umfasst wird. Kleidung und Haar- tracht des Mannes sind zeitlos, ja mönchisch karg, seine • Eine der bedeutendsten Skulpturen Ernst Barlachs Züge, wenngleich von den zwei Jahrzehnte zurückliegenden • Zeitloses Sinnbild der Kontemplation Skizzen beeinflusst, ebenso idealtypisch. • Meisterhaft in der Vereinfachung der Form Oft ist der Sänger als Sinnbild der Kontemplation gese- hen worden, der Welt abhandengekommen und nur noch sei- nem Lied und der Konzentration darauf verpflichtet. Bertolt Brecht hat ihn anders verstanden. „Der singende Mann singt kühn, in freier Haltung, deutlich arbeitend an seinem Gesang. Er singt allein, hat aber anscheinend Zuhörer“ (zit. nach: Handbuch Museum Ludwig, Köln, 1979, S. 74). EO 33 32 Grisebach — Herbst 2020
9 Jeanne Mammen Jeanne Mammen war bereits vierzig Jahre alt, als sie dieses Aquarell malte. Zu dem Zeitpunkt lagen hinter ihr: eine 1890 – Berlin – 1976 glückliche Kindheit, Studien in Paris, Rom und Brüssel, die Erfahrung von Flucht und bitterer Armut nach Ausbruch des „Vor der Komödie am Kudamm, nachts“. Um 1930 Ersten Weltkrieges und mehrere Hundert Gemälde und Aquarell und Bleistift auf Papier. 35,5 × 48,5 cm Zeichnungen, mit denen sie mit Künstlern wie George Grosz, (14 × 19 ⅛ in.). Oben rechts signiert: J. Mammen. Rudolf Schlichter und Otto Dix zu einer bedeutenden Chro- Werkverzeichnis: Döpping/Klünner A 353. nistin der Berliner Zwanzigerjahre avanciert war. Vor ihr lag: [3674] Gerahmt. ihre erste (!) Ausstellung in einer Galerie, und zwar in der von Provenienz Wolfgang Gurlitt. Aber das bedeutet nicht, dass sie damals Ehemals Privatsammlung, Hamburg keinen Erfolg gehabt hätte. Zeitschriften wie der „Simplicissi- mus“ in München oder der „Ulk“ des Verlegers Rudolf Mosse EUR 50.000–70.000 druckten ihre Werke ab, und auch dieses Blatt, ausgeführt in USD 58,800–82,400 Aquarell und Bleistift, war unter dem ursprünglichen Titel „Malice“ für den „Simplicissimus“ bestimmt. Ausstellung Die Szene ist typisch für Mammen, die es wie keine Jeanne Mammen – Aquarelle Paris, Brüssel vor 1915, Zweite vermochte, Nachtschwärmern und Tagedieben im Berlin 20er Jahre. Hamburg, Galerie Brockstedt, 1971, Berlin der Weimarer Republik sowohl Sympathie als auch Iro- Kat.-Nr. 39 m. Abb. / Jeanne Mammen / Hans Thie- nie entgegenzubringen, zu gleichen Teilen übrigens. Theater- mann. Berlin, Staatliche Kunsthalle, 1979, Kat.-Nr. 31 / besucher warten im Regen vor der Komödie am Kurfürsten- Jeanne Mammen – Köpfe und Szenen 1920–1933. damm. „Malice“ – die Bosheit – ist zweifellos ein Porträt, Emden, Kunsthalle, Leverkusen, Städtische Museum, doch womöglich hat Mammen damit keine einzelne Person Schloss Morsbroich, Hannover, Wilhelm-Busch-Museum gemeint, sondern die ganze hochmögende Gesellschaft. u. a. 1991/92, Kat.-Nr. 66 Junge Frauen in Mänteln mit Pelzkragen rümpfen die Stups- Literatur und Abbildung nasen und zerreißen sich das Maul, assistiert und flankiert Simplicissimus. Heft 50, 34. Jg, März 1930, Abb. S. 609 von älteren Herren mit Monokel. Auf unvergleichliche Weise (bez. „Malice“) hat es Jeanne Mammen verstanden, die Vergänglichkeit eines scheinbar bedeutungslosen Moments im großstädti- • Bilder von Jeanne Mammen wurden in Zeitschriften schen Leben festzuhalten. UC wie „Simplicissimus“ und „Ulk“ abgedruckt • Am Kurfürstendamm vergnügte sich die Berliner Gesellschaft • Das Theater als Treffpunkt von Bürgertum und Halbwelt 35 34 Grisebach — Herbst 2020
10 Hans Grundig Eine junge Frau sitzt uns frontal gegenüber und schaut mit ernstem Blick haarscharf links an uns vorbei, so als sei sie 1901 – Dresden – 1958 ein wenig abwesend. Oder muss sie sich auf die nicht alltäg- liche Situation des Repräsentierens einstellen? Der Raum ist „Mädchen mit rosa Hut“. 1925 denkbar spartanisch eingerichtet: in der linken Ecke ein Öl auf Karton. 70,4 × 50 cm (27 ¾ × 19 ⅝ in.). Unten Bett, darüber eine Wanduhr, an der hinteren Wand rechts links signiert und datiert: Grundig 25. Werkverzeich- ein Bild, das der Behausung eine persönliche Note geben nis: Bernhardt G 12. Rückseitig: „Mann mit schwarzem soll. Die Frau hat sich fein gemacht, sie trägt wohl ihr bestes langen Haar“. 1925 (?). Öl. [3548] Gerahmt. Kleid und einen modischen Topfhut. Ihre stille Würde, die Provenienz der Maler in seinem einfühlsamen Bildnis präsentiert, hat Lea Grundig, Dresden / Ladengalerie, Berlin (um 1972 ihren Ursprung auch in der Vertrautheit der Dargestellten von Lea Grundig erworben) / Privatsammlung, Europa mit dem Künstler. Es handelt sich nicht um irgendein Modell, sondern um Gerda Laube, die damalige Lebensgefährtin EUR 100.000–150.000 Hans Grundigs. Drei Mal hat er sie im Jahr 1925 gemalt: in USD 118,000–176,000 einem weiteren Halbfigurenporträt (Bernhardt G 9) und als sinnliche Verführerin in dem Gemälde „Liebespaar“ (Bern- Ausstellung hardt G 13), das 1925 in der Sommerausstellung des Dresdner Hans Grundig. Ausstellung zum 70. Geburtstag. Berlin, Kunstvereins für einen Skandal sorgte. Ladengalerie, 1971, Kat.-Nr. 4 / Wem gehört die Welt. Gerda Laubes Bildnis zeigt bereits den spezifischen Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik. symbolischen Realismus Grundigs, der nie den scharfen und Berlin, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Staat- polemischen Ton der sogenannten Veristen anstimmen sollte. liche Kunsthalle, 1977, S. 343, Kat.-Nr. 139, m. Abb. / Das Interieur, in dem die Porträtierte uns präsentiert wird, Kunst des 20. Jahrhunderts aus Berliner Privatbesitz. ist kein Raum, der eine realistische Wohnsituation abbildet, Berlin, Akademie der Künste, veranstaltet von der sondern die wie beiläufig angedeutete Kärglichkeit in Bezie- Interessengemeinschaft Berliner Kunsthändler, 1978, hung setzt zur Feierlichkeit der Erscheinung der Dargestellten. S. 244, Abb. S. 27 / Memento mori. Hans Grundig Eine stimmige Perspektive fehlt dieser Stube, und Gleiches 1901–1958. Ausstellung zum 80. Geburtstag. Gemälde, gilt für die Größenverhältnisse der abgebildeten Gegenstände. Zeichnungen, Radierungen, Fotos, Bücher. Berlin, Das Bett winzig, die Uhr unerreichbar und das Bild eine Remi- Ladengalerie, 1981 (Faltblatt) / Berlin – Im Schatten niszenz an das Kulturbedürfnis der Bewohnerin. Wie beim der zwanziger Jahre. Malerei und Grafik. Pfäffikon, „Schüler mit roter Mütze“ (Grisebach Auktion 319, Los 12), Seedamm-Kulturzentrum, 1992, Kat.-Nr. 74 (datiert: ebenfalls 1925 entstanden, ist eine zentralperspektivische 1929) / Getroffen. Otto Dix und die Kunst des Por- Plausibilität für Grundigs Bildfindung nicht von Belang. Der träts. Stuttgart, Kunstmuseum Stuttgart, 2008, Abb. Maler zeigt einen Menschen, den er im landläufigen Sinn S. 301 / Magic Realism. Art in Weimar Germany 1919– wenig vorteilhaft darstellt. Die leicht geröteten Augen, der 33. London, Tate Modern, 2018/19, S. 108, Abb. S. 56 asymmetrische Mund und die robuste Nase bilden einen Charakterkopf, der herkömmliche Repräsentationsformen Abbildung der Rückseite unter grisebach.com unterläuft. Aber er steht für ein Menschenbild, das dem Ein- zelnen eine unverwechselbare Persönlichkeit zuspricht, die • Ikone der Dresdner Neuen Sachlichkeit weder von seiner Herkunft noch seiner Stellung abhängig ist. • Eindringliches Porträt der Freundin des Künstlers MS • Eines der sehr seltenen frühen Gemälde von Hans Grundig auf dem Kunstmarkt 37 36 Grisebach — Herbst 2020
11 Max Beckmann „Der Berlin-Besucher Beckmann porträtiert sich vor einer Litfaßsäule auf dem Umschlag: Zwei Monate weilte der Künst- Leipzig 1884 – 1950 New York ler in Berlin, zeichnete die Bilder zunächst in sein Reisetage- buch, in seiner Heimat Frankfurt am Main ließ er sie auf Stein „Berliner Reise“. 1922 umdrucken. Ein Porträt Berlins als „corrumpiertes und tem- Orig.-Halbleinenmappe mit 10 Lithografien, jeweils peramentloses Nest“ – so Beckmann – entstand Anfang der auf Velin, und eine Lithografie auf dem Mappen- 1920er-Jahre: Die reiche Gesellschaft übt sich im Karten- deckel. Mappe: 70 × 56 cm (27 ½ × 22 in.). Jedes Blatt spiel, amüsiert sich im Theater oder gibt sich gepflegt der signiert. Werkverzeichnis: Hofmaier 212-222. Jeweils Langeweile hin, während draußen auf der Straße die Armen einer von 100 Abzügen. I.B. Neumann, Berlin 1922. betteln müssen. Beckmann entwirft als kritischer Beobach- Die Mappe mit Gebrauchsspuren, die Blätter teilweise ter ein Panorama der Stadt mit desillusionierten Menschen in mit kleinen Randmängeln. [3626] klaustrophobischen, dichten Bildern“ (zit. nach einer Presse- mitteilung der Kulturstiftung der Länder zu einer Neuerwer- EUR 50.000–70.000 bung für die Berlinische Galerie, Oktober 2013). USD 58,800–82,400 Die Mappe enthält die Lithografien: · „Im Hotel“ · „Die Enttäuschten I“ · „Nacht“ · „Nackttanz“ · „Schlittschuhläufer“ · „Die Enttäuschten II“ · „Der Bettler“ · „Das Theaterfoyer“ · „Kaschemme“ · „Der Schornsteinfeger“ 39 38 Grisebach — Herbst 2020
Lichtdurchflutete Idylle für Flaneure – Gloria Köpnick ein impressionistisches Sonntagsvergnügen im preußischen Berlin Es ist ein sommerlicher Tag. Die Bäume tragen üppiges Blattwerk, durch das die Sonne hindurchscheint und changierende Lichtflecken auf die Straße wirft. Die Berliner haben sich aufgemacht zu einer sonntäglichen Landpartie an den Wann- see und flanieren nun durch die Große Seestraße in der 1863 gegründeten, süd- westlich zwischen Berlin und Potsdam gelegenen großbürgerlichen Kolonie Alsen. Rechts und links drängen sich auf den Bürgersteigen die Spaziergänger, unter ihnen auch größere und kleinere Kinder, wie das mit einer roten Kopfbedeckung behütete Mädchen am linken Bildrand. Eine elegant gekleidete Dame mit gelber Jacke, passendem Hut und weißem Rock im Bildvordergrund wird von zwei Jun- gen begleitet, die den Betrachter in der Manier der Rückenfigur in das Bildge- schehen einladen. Offenbar blieb der Maler nicht unbemerkt, wie der sich im Weggehen umsehende Junge vermuten lässt. Aus der Gegenrichtung nähert sich ein offener Zweispänner – das hektisch-technoide Zeitalter des Automobils scheint in der Idylle dieses Sommertags noch nicht angekommen zu sein. Bereits 1909 hatte Max Liebermann den Kaufvertrag über das Seegrund- stück Große Seestraße 24 (ab 1933: Am Großen Wannsee 42; heute: Colomier- straße 3) unterzeichnet und für eine stattliche Summe von 145.000 Reichsmark eines der letzten unbebauten Grundstücke erworben. Bei der Planung des Gar- tens hatte der Künstler in Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger Kunst- halle, einen kongenialen Partner gefunden und von ihm ein farbenprächtiges Refugium gestalten lassen. Villa und Garten wurden Liebermann, der über viele Jahre Sommerfrische und Erholung an der holländischen Küste gefunden hatte, ab etwa 1915 zum jährlichen Sommersitz. Ab Mai lebte die Familie Liebermann dann in ihrem „Schloss am See“, wie Liebermann seine Villa getauft hatte. Erst wenn die Tage im September, Oktober kürzer und kälter wurden, siedelte die Familie zurück ins Stadtpalais am Pariser Platz. Vermehrt widmete sich der Künstler seinem Seegrundstück ab 1918 als Bildsujet, wobei er immer neue Perspektiven und Details des abwechslungsreich gestalteten Gartens schilderte, die sich über die Jahre hin zu umfangreichen Motivgruppen entwickelten. Die Wochenenden mit den flanierenden Spaziergängern boten somit eine angenehme Abwechslung zur Motivsuche in der floralen Pracht des Gartens – und das ohne in die Hektik der Großstadt zurückkehren zu müssen. Ähnliche Arbeiten finden sich zu Beginn der 1920er-Jahre vermehrt im Werk. Unser impressionistisches Meisterwerk wurde im Rahmen einer großen Liebermann-Ausstellung in der Züricher Galerie von Toni Aktuaryus präsentiert. An den Schweizer Kunsthistoriker Gotthard Jedlicka, der als Berater der Galerie tätig war und Liebermann in seinem Garten besucht hatte, schrieb der Maler im August 1932: „Sie wissen vielleicht, daß Herr Aktuaryus eine Ausstellung meiner letzten Bilder (richtiger meiner neuesten) veranstaltet u ich bin begierig was Sie u die Züricher dazu sagen werden“ (Max Liebermann an Gotthard Jedlicka, Post- karte v. 31. August 1932, zit. nach: Ernst Braun (Hg.): Max Liebermann. Briefe, Bd. 8: 1927-1935, Baden-Baden, Deutscher Wissenschafts-Verlag, 2019, Brief Nr. 618). Jedlickas Begeisterung für Liebermanns Werk zeigt sich nicht zuletzt in den von ihm veröffentlichten „Begegnungen mit Künstlern der Gegenwart“, wo er lebhaft von dem Besuch beim Meister des deutschen Impressionismus berichtete. 41 40 Grisebach — Herbst 2020
12 Max Liebermann 1847 – Berlin – 1935 „Die Große Seestrasse in Wannsee mit Spaziergängern“. 1920 (?) Öl auf Leinwand. 60 × 72,5 cm (23 ⅝ × 28 ½ in.). Unten links signiert: M Liebermann. Auf dem Keilrahmen und auf dem Spannrand der Leinwand ein Schweizer Zollstempel. Werkverzeichnis: Eberle 1920/15. [3398] Gerahmt. Provenienz Bruno Cassirer, Berlin (um 1933) (?) / Privatsammlung, Schweiz (1933) / Galerie Benador, Bern (1934) / M. Metzger, Bern (1934) / Privatsammlung, Rheinland (1996) / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen / Privatsammlung, Süddeutschland EUR 400.000–600.000 USD 471,000–706,000 Ausstellung Max Liebermann. Zürich, Galerie Aktuaryus, 1933, Kat.-Nr. 13 („Tiergartenallee, 1913“) (?) Literatur und Abbildung Galerie und Sammler. Zürich, Galerie Aktuaryus, 1933, H. 9/10, Abb. S. 158 /Ausst.-Kat.: Max Liebermann in Wannsee. Glanz und Untergang einer Lebenswelt. Berlin, Galerie Mutter Fourage, 1997, Abb. S. 29 (nicht ausgestellt) / Katalog 140: Max Liebermann. Düssel- dorf, Galerie Ludorff, 2012, S. 78, Abb. S. 79 / Margreet Nouwen: Sonntag am Wannsee. Die späten Garten- lokale. In: Ausst.-Kat.: Biergärten und Caféterrassen. Von ländlicher Wirtschaft zur bürgerlichen Sommer- frische. Berlin, Liebermann-Villa am Wannsee, 2016, S. 77-85, hier S. 79, m. Abb. (nicht ausgestellt) 43 Wir danken Margreet Nouwen, Berlin, für Hinweise zur Literatur. • Meisterwerk des Impressionismus • Zeigt die Idylle eines Sommertages am Berliner Wannsee • Die Darstellungen der Großen Seestraße in Wannsee gehören zu den besonders begehrten Werken des Künstlers 42 Grisebach — Herbst 2020
13 Ludwig Meidner Die italienischen Futuristen gaben Ludwig Meidner einen ent- scheidenden Impuls, der die Bildsprache des Malers und Bernstadt 1884 – 1966 Darmstadt Grafikers fortan prägen sollte. In zwei Ausstellungen in Her- warth Waldens Galerie „Der Sturm“, 1912 und 1914, wurden Zerstörung einer Stadt. 1914/15 die Ideen der Futuristen in Deutschland bekannt. Die gleich- Rohrfeder und Tusche über Bleistift auf zeitige Darstellung zeitlich versetzter Geschehnisse, jähe Papier. 36,3 × 47 cm (14 ¼ × 18 ½ in.). Perspektivwechsel und eine Vielzahl an Bildmotiven sollten Unten signiert und datiert: Ludwig Meidner der Geschwindigkeit und dem Leben in der Großstadt Rech- Dezember 1914 Januar 1915. [3066] Gerahmt. nung tragen. Meidners Thema war die Stadt. Er lebte mehrere Provenienz Jahre in größter Not in Berlin. Dies sollte seine Sicht dauer- Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (vom haft prägen: Die Großstadt war für ihn kaum Verheißung, Künstler erworben, seitdem in Familienbesitz) sondern vielmehr ein Ort des Unbehagens und der Verzweif- lung. Seine „apokalyptischen Landschaften“ zeugen davon. In EUR 35.000–45.000 der Rückschau wirken sie zugleich wie eine Vorhersehung der USD 41,200–52,900 Zerstörungen im Ersten Weltkrieg. Schon zu Beginn des Krieges führen Frontnachrichten, Ausstellung Briefe von Freunden und seine künstlerische Fantasie zur Ludwig Meidner. Recklinghausen, Kunsthalle; Realisierung der Mappe „Der Krieg“. Meidner selbst wird erst Berlin, Haus am Waldsee; Darmstadt, Kunst- 1916 zum Militärdienst eingezogen. Unser Blatt ist ein Werk halle, 1963/64, Kat.-Nr. 101 (Kampfszene) / seiner Vorstellungskraft. Mit der am unteren Rand festgehal- Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. tenen Datierung „Dezember 1914 Januar 1915“ gibt Meidner Darmstadt, Mathildenhöhe, 1991, S. 511, Abb. der Arbeit einen pseudodokumentarischen Charakter. Vor S. 145 einem düsteren Himmel beweisen offene Dachstühle das Ausmaß der Zerstörungen. Im Vordergrund zeigt uns Meidner • Entstanden in der Folge von Meidners das Grauen des Krieges: Menschen, von Explosionen zerris- berühmten apokalyptischen Landschaften sen, Schutz suchend, Zeichen gebend, Gesichter voller Angst. • Eindringliches Antikriegsbild In der rechten oberen Bildhälfte macht er das Stakkato der • Zum ersten Mal auf dem Kunstmarkt Maschinengewehre sichtbar. Bild für Bild nebeneinander- gesetzt, werden Gesichter zu Fratzen. Mit drastischen Mit- teln konfrontiert der Künstler uns mit der Grausamkeit eines Krieges. Eindringlicher kann Kunst kaum sein. OH Grisebach — Herbst 2020 45
14 Albert Birkle Entweder sie beachten ihn nicht oder sie spotten, feixen, lachen ihn aus. Es ist kein fröhliches Bild, das der Maler Albert Berlin 1900 – 1986 Salzburg Birkle hier von dem Geschehen auf der Friedrichstraße in sei- ner Heimatstadt Berlin entwirft. Die Passanten und der, der Kreuztragung (Friedrichstraße). 1924 das Kreuz auf sich genommen hat, sie wollen einfach nicht so Öl auf Leinwand. 97 × 217 cm (38 ¼ × 85 ⅜ in.). recht zusammenpassen. Unten rechts vom Künstler 1982 signiert und datiert: Birkle, der sich in späteren Jahren zeitweilig fast aus- A Birkle 1924. Kleine Retuschen. [3548] Gerahmt. schließlich christlichen Motiven verschrieb und, unter ande- Provenienz rem in Salzburg, Graz, Konstanz und Washington D.C., in Kir- Peter Hopf, Berlin / Privatsammlung, Europa chen farblich stark expressive Glasfenster gestaltete, bietet uns in diesem Meisterwerk der gesellschaftskritischen Neuen EUR 100.000–150.000 Sachlichkeit die Zwanzigerjahre dar, wie auch George Grosz USD 118,000–176,000 oder Otto Dix sie sahen. Nicht als die wilden Roaring Twen- ties, sondern als Schau- und Tummelplatz für männliche und Ausstellung weibliche Typen hart an der Grenze zur Karikatur. Die Stadt in den zwanziger Jahren. Berlin, Galerie Dabei erweist sich Birkle Grosz näher als Dix, von dem Bodo Niemann, 1984, Abb. / Der Potsdamer Platz. man manchmal den Eindruck gewinnen kann, er habe die Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens. Rolle des unbestechlichen Beobachters dem Leiden am Zu- Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Neue National- stand der Menschheit vorgezogen. Der vom Kreuz Gebeugte galerie, 2001 (außer Katalog) / Aftermath. Art in the trägt unverkennbar die Züge eines Selbstbildnisses. Malerisch Wake of World War One. London, Tate Britain, 2018, in seiner psychologischen Präzision von außerordentlicher Kat.-Nr. 64, Abb. S. 87 Qualität und Schärfe, zählt dieses in einem auffallenden Quer- Literatur und Abbildung format gehaltene Gemälde zweifellos zu den Hauptwerken im Sylvia Kraker: Albert Birkle 1900–1986. Innsbruck, Schaffen von Albert Birkle. UC Universität, Diss. phil., 1992, Kat.-Nr. 647 / Auktion Nr. 138: Sammlung Hopf. Berlin, Villa Grisebach Auktionen, 1.12.2006, Kat. Nr. 1636, m. Abb. Wir danken Viktor Pontzen, Salzburg, für freundliche Hinweise. 47 • Gemälde von außerordentlicher Qualität und psychologischer Präzision • Exemplarische Arbeit der gesellschaftskritischen Neuen Sachlichkeit der Zwanzigerjahre Die Passanten und der, der das Kreuz auf sich genommen hat – sie wollen einfach nicht zusammenpassen. 46 Grisebach — Herbst 2020
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15 Arnulf Rainer Unser Gemälde von Arnulf Rainer stammt aus der wohl wich- tigsten Schaffensphase des 1929 in Baden bei Wien gebore- Baden bei Wien 1929 – lebt in Enzenskirchen und auf Teneriffa nen Künstlers. Zunächst vom Surrealismus beeinflusst, fand der Maler im Lauf der Fünfzigerjahre zu seinem unverwech- selbaren Stil: Inspiriert vom internationalen Informel jener Ohne Titel (Rotes Bild). 1959 Zeit, entwickelte er seine berühmten „Übermalungen“. Unser Mischtechnik auf Leinwand. 72,5 × 56,5 cm Bild von 1959 steht exemplarisch für diesen Übergang, bei (28 ½ × 22 ¼ in.). Unten rechts signiert und datiert: dem Rainer sukzessive alles Gegenständliche aus seinen Rainer 59. [3601] Im Künstlerrahmen. Werken löschte, um an dessen Stelle den absolut gesetzten, Provenienz dominanten gestischen Malduktus treten zu lassen. Privatsammlung, Berlin (Anfang der 1970er-Jahre Diese Dominanz der abstrakt-expressiven Geste gilt vom Künstler erworben) auch für das Kolorit der Gemälde aus diesen Jahren. Schwarz und – wie in diesem Fall – Rot sind seine bevorzugten Farb- EUR 130.000–160.000 töne. Die von diesen beiden Farben ausgehende Signalwir- USD 153,000–188,000 kung erlangt in Gemälden wie unserem metaphorische Kraft: Etwas noch nicht Dagewesenes entsteht, Grenzen werden Ausstellung überschritten, neue gedankliche Linien gezogen, hinter die Der unverbrauchte Blick. Kunst unserer Zeit in Berliner es kein Zurück mehr gibt. Sicht. Berlin, Martin-Gropius-Bau, 1987 (laut rücksei- Im Jahr 1961 verurteilte ein Gericht in Wolfsburg Rainer tigem Etikett) noch wegen Zerstörung eines Kunstwerkes zu einer Geld- strafe, weil er während der Eröffnung einer Ausstellung im • Vereint gestische Dynamik mit differenziertem Kolorit Rathaus in einer Guerilla-Aktion die preisgekrönte Grafik • Gemälde in Rot von Arnulf Rainer sind sehr selten auf der Künstlerin Helga Pape übermalt hatte. Seitdem hat Rainer dem Kunstmarkt dreimal an der Documenta in Kassel teilgenommen, wurde • Wichtiges frühes Gemälde von Museumsqualität zu den Biennalen von São Paolo und Venedig eingeladen und ist mit seinen Arbeiten in den prominentesten europäischen und amerikanischen Sammlungen vertreten, etwa in der Tate Gallery in London, im Museum of Modern Art in New York und in der Pinakothek der Moderne in München, wo ihm seit 2009 ein eigener Raum gewidmet ist. UC 51 50 Grisebach — Herbst 2020
16 Peter Beard Hätte es ihn nicht gegeben, müsste man ihn erfinden. Ein wunderschöner Mann, gesellschaftlich als Nachkomme New York 1938 – 2020 Montauk einer wohlhabenden Familie in die Welt geworfen, entschei- det er sich doch für einen anderen Weg. Sein Herz schlägt „The Mingled Destinies of Crocodiles and Men“. 1966 für Afrika, die Natur, die Tierwelt. Mit seinen Arbeiten pran- Späterer Silbergelatineabzug mit Collage, Tinte und gerte er bereits in den Sechzigerjahren das Massensterben Blut. Unikat. 61 × 50,3 cm (24 × 19 ¾ in.). Im unteren der Elefanten an. Und öffnete der Welt die Augen für die Bildrand von Peter Beard mit schwarzer Tinte sig- Brutalität, die dort auf dem Kontinent herrscht, wenn weites niert, datiert, betitelt und bezeichnet: „Lake Rudolf“. Land zur touristischen Tapete wird. Seine Fotografien sind Auf Rahmenrückwand Stempel: „© Peter H. Beard c/o Meisterwerke, erschütternd, umwerfend schön, scharf und The Time is Always Now Inc. …“, Etikett der Galerie brillant. Mit Tusche und Blut gibt er den Fotografien einen „The Time is Always Now“ sowie weiteres Etikett mit Rahmen und einen Sinn – er entreißt sie der Anmutung von gedruckten Werkangaben. Von unbekannter Hand mit simpler Schönheit, macht sie sinnlich und bedrohlich. Denn: schwarzem Kugelschreiber beschriftet. Mit einem Es ging Peter Beard nie nur um Effekte der Schönheit, son- Zertifikat der Galerie „The Time is Always Now“, New dern immer um eine radikale Aussage, die die Bedrohung York, vom 19. März 1997. [2009] Im Künstlerrahmen. manifestiert, die der Mensch (und der Klimawandel) für die Provenienz Natur bedeutet. Selten hat es jemanden gegeben, der die Privatsammlung, Rheinland Fußspuren der Menschheit auf diesem Erdball – so göttlich wie blutig sie sind – so eindrücklich nachgezeichnet hat in EUR 80.000–100.000 ihrer Ambivalenz. Wer außer ihm hätte das Leben des inter- USD 94,100–118,000 nationalen Jetsets von Bianca Jagger zu Andy Warhol mit dem Einsatz für die Welt, in der wir leben und von der wir • Ausnahmekünstler, Abenteurer, Naturfotograf abhängig sind, auf diese Art kombinieren können, wer diese und Dandy Zerrissenheit ins Bild bringen können? Halb Tarzan, halb • Sinnbild für die Zerstörung des afrikanischen Lord Byron. Immer ein Mensch. DD Kontinents • Charakteristische, unikate Kombination aus Fotografie, Malerei und Collage 53 52 Grisebach — Herbst 2020
17 Curt Ehrhardt Ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Die scheinbar bunt-fröhliche Assemblage des 1895 in Sachsen geborenen Ziesar 1895 – 1972 Schwarz/Hessen Künstlers Curt Ehrhardt entstand im Jahr 1920, zur Hochphase des Dadaismus, aber auch zur Zeit der Völkerschauen, die „Der Bantuneger“. 1920 bereits ab 1870 vermehrt in Europa stattfanden und schon Assemblage: Holz-Objektkasten, Karton, Ölfarbe, den Brücke-Künstlern vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Puppe, Fell, Schnüre, Nägel, Draht, Papier. Kasten: Inspiration gewesen waren. 31,5 × 24,3 × 12,4 cm (12 ⅜ × 9 ⅝ × 4 ⅞ in.). Rückseitig So zeigt auch Curt Ehrhardt, der sich 1918 der Novem- auf einem Aufkleber mit Tuschfeder betitelt, signiert bergruppe anschloss und sich seit je in seiner Kunst haupt- und datiert: Der Bantuneger C. Ehrhardt 1920 sächlich mit aktuell geistigen und gesellschaftlichen Aspekten Brandenburg a./H. Darüber ein Etikett der Ausstel- auseinandersetzte, unverblümt das Zeitgeschehen.Vorhang lung Berlin 1920 (s.u.). [3604] auf! Eine aus Afrika stammende Puppe steigt aus der bunten, Provenienz an Robert Delaunays Orphismus erinnernde Kulisse hervor. Ehemals Peter Hopf, Berlin Gekleidet lediglich in ein weißes Fellröckchen und mit dicken, roten Lippen werden die damals gültigen Stereotype bedient. EUR 25.000–35.000 Hinter Gittern kauert ein Tier, das ebenfalls neugierige Blicke USD 29,400–41,200 auf sich zieht. Sie kommen aus Afrika – dem damals noch un- bekannten, fremden und geheimnisvollen Kontinent. Ausstellung Zur Kasse geht es rechts unten! Curt Ehrhardts charak- Kunstausstellung Berlin. Berlin, Landesausstellungs- teristische Werke, die insbesondere in den 1920er-Jahren gebäude, 1920, Kat.-Nr. 1141 / Curt Ehrhardt 1895– Teil bedeutender Ausstellungen waren – etwa 1919 der Dresd- 1972. Arbeiten eines verschollenen Künstlers. Berlin, ner Sezession, 1920 der Kunstausstellung Berlin, wo auch Otto Nagel Galerie, 1991, Kat.-Nr. 7, m. Abb. unser Werk gezeigt wurde, und 1921 der Münchner Expressio- Literatur und Abbildung nisten-Ausstellung in Chicago –, zeichnen sich durch das Peter Arlt: Des Lebens dunkle Tänze. Der Maler Curt konsequente Einfügen von Schriftzügen aus (siehe auch das Ehrhardt 1895-1972. Lauenförde, Galerie Hesselbach, Gemälde „Lebnis“, Auktion Moderne Kunst, 4.12.2020, Los 385). und Weimar, Galerie Hebecker, 2002, Abb. S. 24 Ehrhardt, der 1926 die Novembergruppe wieder verließ, im Zweiten Weltkrieg verfemt und in der Nachkriegszeit aus dem • Entstanden in der Hochphase des Dadaismus Verband Bildender Künstler Deutschlands ausgeschlossen • Die Völkerschauen der Jahrhundertwende waren wurde, malte bis zu seinem Tod im Jahr 1972 unter Ausschluss schon den Brücke-Expressionisten eine wichtige der Öffentlichkeit und bekam nie die Aufmerksamkeit, die er Inspiration eigentlich verdient hätte. Der „Bantuneger“ von Curt Ehr- • Singuläres Werk im Schaffen des Künstlers hardt ist zweifelsohne ein eindrucksvolles und ausdruckstar- kes Werk – ein wahres Zeitzeugnis. SSB 55 54 Grisebach — Herbst 2020
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