Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach

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Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
Von Beuys bis Liebermann –
Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
François Morellet. Los 25
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
Emil Nolde. Detail. Los 37
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
Porzellanmanufaktur Meissen. Los 46
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
Otto Dix. Detail. Los 18

Hans Grundig. Detail. Los 10
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
Von Beuys bis Liebermann – Ausgewählte Werke
Auktion Nr. 324
3. Dezember 2020, 18 Uhr

From Beuys to Liebermann – Selected Works
Auction No. 324
3 December 2020, 6 p.m.
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
Experten              Specialists                                                                                   Vorbesichtigung                          Preview

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                                                                                                                        Zürich
                                                                                                                              9. und 10. November 2020
                                                                                                                              10 bis 18 Uhr
                                                                                                                              Grisebach
                                                                                                                              Bahnhofstrasse 14
                                                                                                                              8001 Zürich
                                                                                                                        Düsseldorf
                                                                                                                              12. und 13. November 2020
                                                                                                                              10 bis 18 Uhr
                                                                                                                              Grisebach
Dr. Markus Krause                               Micaela Kapitzky                                                              Bilker Straße 4–6
+49 30 885 915 29                               +49 30 885 915 32                                                             40213 Düsseldorf
markus.krause@grisebach.com                     micaela.kapitzky@grisebach.com                                          München
                                                                                                                              16. bis 18. November 2020
                                                                                                                              10 bis 18 Uhr
                                                                                                                              Grisebach
                                                                                                                              Türkenstraße 104
                                                                                                                              80799 München

                                                                                                                        Sämtliche Werke
                                                                                                                        Berlin
                                                                                                                                 20. November bis 1. Dezember 2020
                                                                                                                                 Grisebach
                                                                                                                                 Fasanenstraße 25, 27 und 73
                                                                                                                                 10719 Berlin
Diandra Donecker                                Sarah Miltenberger                                                               Montag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr
+49 30 885 915 27                               +49 30 885 915 47                                                                Dienstag, 1. Dezember, 10 bis 15 Uhr
diandra.donecker@grisebach.com                  sarah.miltenberger@grisebach.com                                                 sowie nach individueller Vereinbarung

                                                                                                                                 Monday to Sunday 10 a.m. to 6 p.m.
                                                                                                                                 Tuesday, 1 December, 10 a.m. to 3 p.m.
                                                                                                                                 and by appointment

                                                                                                                                 Antworten auf aktuelle Fragen zu
                                                                                                                                 unserer Vorbesichtigung und Auk-
                                                                                                                                 tion finden Sie unter grisebach.com

                                                                                   Zustandsberichte                              Information regarding upcoming
Georg Ottomeyer                                                                    Condition reports                             previews and auctions can be found
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georg.ottomeyer@grisebach.com

                                    Grisebach — Herbst 2020
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
1   Otto Möller                                                    Dieser „Don Quichote“ ist eine ehrgeizige Etüde in der Kunst
                                                                        der kubistischen Komposition: Mögen urbane Strukturen
     Schmiedefeld/Thüringen 1883 – 1964 Berlin
                                                                        oder Stillleben dem Kubismus schon vom Motiv her nahe-
                                                                        stehen, ist der Reiter zu Pferde eine fast unlösbare Heraus-
     Don Quichote I. 1921                                               forderung. Wer so etwas wagt, muss etwas vom Systematiker
          Öl auf Leinwand. 157 × 94 cm (61 ¾ × 37 in.).                 an sich haben.
          Unten rechts signiert: Otto Möller. Retuschen,                       Die künstlerischen Anfänge Otto Möllers liegen in der
          leichte Randmängel. [3548] Gerahmt.                           Auseinandersetzung mit dem Lehrer Lovis Corinth. Aber
     Provenienz                                                         schon um 1910 löst sich Möller vom Impressionsmus und
          Peter Hopf, Berlin / Privatsammlung, Europa                   erobert die Farbigkeit und Konturenhärte des Fauvismus. Früh
                                                                        wird die systematische Auseinandersetzung des Kunsterzie-
     EUR 60.000–80.000                                                  hers mit den Errungenschaften der Pariser Moderne deutlich:
     USD 70,600–94,100                                                  Möller wird ein „pictor doctus“, der genau weiß, in welchen
                                                                        Stationen sich die unmittelbar vorangegangene Kunstge-
     Ausstellung                                                        schichte der Avantgarde abgespielt hat. Nach 1918 arbeitete
           Ausstellung der Novembergruppe. Berlin, Kunsthand-           er souverän mit den analytischen Mitteln des Kubismus. Das
           lung und Antiquariat Josef Altmann, 1921, (Faltblatt-)       Œuvre des Malers ist klein. Denn Möller war seinem Beruf
           Nr. 14 („Don Quixote“) / Große Berliner Kunstausstellung     nach kein freier Künstler, sondern Kunsterzieher: Hier ver-
           1922. Abteilung Novembergruppe. Berlin, Landesaus-           wirklichte er die reformerischen Programme der November-
           stellungsgebäude am Lehrter Bahnhof, 1922, Kat.-             gruppe, der er angehörte. Am preußischen Zentralinstitut für
           Nr. 1347 (betitelt: Don Quichote II), Abb. 61 / 15 Europä-   Erziehung und Unterricht erarbeitete er zusammen mit Ludwig
           ische Kunstausstellung. Tendenzen der zwanziger Jahre.       Pallat, Philipp Franck und Bernhard Hasler die Grundzüge der
           Die Novembergruppe. Teil I: Die Maler. Berlin, Kunst-        europaweit vorbildlichen künstlerischen Reformpädagogik.
           amt Wedding – Walther-Rathenau-Saal und Rathaus              Viele Kunsterzieher hat er ausgebildet und sie, als sich nach
           Wedding, 1977, Kat.-Nr. 47 (betitelt: Don Quichote I),       1933 der Himmel über den Schulen verfinsterte, in ihrer Inte-
           Abb. S. 107                                                  grität zu stärken versucht. Als Hochschullehrer wirkte Möller
     Literatur und Abbildung                                            nach dem Zweiten Weltkrieg an der Hochschule der bildenden
           Helga Kliemann: Die Novembergruppe. Berlin, Gebr.            Künste in Berlin.                                          CS
           Mann Verlag, 1969, S. 144 und Abb. 18 / Rudolf Pfeffer-
           korn: Otto Möller. Berlin, Stapp Verlag, 1974, Abb. 31 /
           Auktion Nr. 138: Sammlung Hopf. Berlin, Villa Grisebach
           Auktionen, 1.12.2006, Kat.-Nr. 1624, m. Abb.

         • Der Ritter von der traurigen Gestalt als Symbolfigur
           einer unruhigen Zeit
         • Kubistisches Sinnbild in leuchtender Farbigkeit
         • Hauptwerk aus Otto Möllers wichtigster Schaffenszeit

                                                                                                                                        13
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Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
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     Grisebach — Herbst 2020
Von Beuys bis Liebermann-Ausgewählte Werke 3. Dezember 2020 - Grisebach
Marlene Dumas /
     2N                                                                       Blake Byrne – Kunstliebhaber und Pionier des amerikani-

     Bert Boogaard
                                                                              schen Fernsehens – trug in den letzten Jahren seines Lebens
                                                                              eine beeindruckend internationale Sammlung zeitgenössi-
                                                                              scher Kunst zusammen. „Catsuit – after William Morris“ stellt
     Kapstadt 1953 - lebt in Amsterdam /
                                                                              das Pendant zu „Victoria“ (Los 7) der südafrikanischen Künst-
     Amsterdam 1952 – lebt in Amsterdam
                                                                              lerin Marlene Dumas in Zusammenarbeit mit dem Niederlän-
                                                                              der Bert Boogaard dar. In den beiden Werken verbinden sich
     „Catsuit – after William Morris“. 1999                                   zwei unabhängige künstlerische Welten: Einerseits Boogaards
          Acryl und Aquarell auf Papier. 125 × 70,2 cm                        ornamentale Farbformen in Acryl, die er mit aufwendigen
          (49 ¼ × 27 ⅝ in.). Unten links mit Bleistift signiert               Schablonen konstruiert; andererseits die beinahe transpa-
          und bezeichnet: M Dumas – woman dress – Bert                        rent monochromen Akt-Figuren von Dumas in Aquarell. Die
          Boogaard. Unten rechts betitelt und datiert:                        Übermalungen Boogaards erweitern die zarten Figuren von
          Catsuit – after William Morris, 1999. [3519] Gerahmt.               Dumas um eine angedeutete Stofflichkeit, beinahe als wür-
     Provenienz                                                               den sie sie ankleiden. Das Zusammenspiel der beiden Ele-
          The Blake Byrne Collection, Paris/Los Angeles                       mente erzeugt zwei dynamische weibliche Figuren.
                                                                                     Bekannt für Ihre künstlerische Zusammenarbeit wur-
     EUR 100.000–150.000                                                      den Dumas und Boogaard auch durch Ihr hochpolitisches und
     USD 118,000–176,000                                                      aufsehenerregendes Kunstwerk für den Altar der 2017 nach
                                                                              langer Renovierung eingeweihten Annenkirche in Dresden.
     Ausstellung                                                              Mutig hinterfragen die Künstler in ihrem Altarbild fundamen-
           Bert Boogaard/Marlene Dumas. Amsterdam, Galerie                    tale Fragen des Glaubens einerseits und andererseits, welche
           Paul Andriesse, 2002                                               Rolle Bilder dabei spielen – auf eine zeitgenössische Art und
     Literatur und Abbildung                                                  Weise: Es zeigt unter anderem einen schwarzen Jesus, in der
           Marlene Dumas. Wet Dreams. Ravensburg, Städtische                  Haltung des Gekreuzigten, aber befreit vom Kreuz, beinahe
           Galerie, 2003, Abb. S. 100/101 / Ev.-luth. Annen-                  schwebend, wie der Auferstandene. Die Künstler deuten
           Matthäus-Kirchengemeinde (Hg.): Marlene Dumas.                     somit Symbole und Farben um, ohne die Religiösität per se in
           Ein Altarbild für die Annenkirche in Dresden. Köln,                Frage zu stellen.
           Verlag der Buchhandlung König, 2017, S. 21                                Damit spannt die Arbeit einen Bogen zur persönlichen
                                                                              Biografie von Dumas, die selbst in der Niederländisch-refor-
                                                                              mierten Kirche Südafrikas getauft wurde und unweigerlich mit
                                                                              der Rolle der Kirche in der Apartheit konfrontiert war.    SJ

     Blick in die Dresdner Annenkirche auf das gemeinsame Altarbild von
     Marlene Dumas und Bert Boogaard

                                                                                                                                              17
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                                                                  Grisebach — Herbst 2020
3Porzellanmanufaktur                                                Die weite Welt im Kleinen, in vier zierlichen Porzellanfigu-

                               Meissen, um 1750
                                                                                                   ren. Exotik, wilde Tiere, die Vorstellungen über das Leben in
                                                                                                   fernen Ländern, aber auch ein hierarchisierender Blick und
                                                                                                   ein Machtanspruch verbergen sich in dieser Allegorie der
                                                                                                   vier Kontinente der Porzellanmanufaktur Meissen. So sind
                                                                                                   jeder Personifikation eines Kontinents Attribute und ein ein-
                               Allegorien der vier Erdteile – nach dem Modell Johann               heimisches Tier zugeordnet. Afrika ruht auf einem Löwen,
                               Joachim Kaendlers (1706–1775) und Johann Friedrich                  trägt einen Elefantenskalp auf dem Haupt und hält Kornähren
                               Eberleins (1696–1749). Um 1750                                      in ihrer Hand. Amerika reitet, gehüllt in einen Federmantel,
                                     Porzellan, farbige Aufglasurmalerei, staffiert. Höhe          auf einem Krokodil, Asien in türkischer Tracht auf einem
                                     18,5 cm (Afrika), 20,2 cm (Amerika), 18,6 cm (Asien),         Kamel und die bekrönte Europa auf einem Pferd. Die Bild-
                                     21,2 cm (Europa). (Height 7 ¼ in., 8 in., 7 ⅜ in., 6 ⅜ in.,   ikonografie der vier Kontinente reicht tief in die Antike zurück
                                     8 ⅜ in.). Schwertermarke in Unterglasurblau (Afrika           und bespielt die Neugier auf die Welt, ist aber immer auch
                                     und Amerika undeutlich gemarkt). [3587]                       Verortung eines selbst in dieser. Die etwas eigenwillige Ele-
                               Provenienz                                                          fantenhaut erinnert beispielsweise an die Siege Alexanders
                                     Privatsammlung, Süddeutschland                                des Großen in Indien, und die Kornähren verweisen auf das
                                                                                                   fruchtbare Nilschwemmland, die Kornkammer Roms. Der
                               EUR 70.000–100.000                                                  Machtanspruch zeigt sich klar in der gekrönten, geharnisch-
                               USD 82,400–118,000                                                  ten und berittenen Europa, die aber auch mit den Attributen
                                                                                                   der Wissenschaften versehen ist.
                               Vergleichsliteratur                                                        Aus dieser fantasievollen Ikonografie bediente sich
                                     Ulrich Pietsch: Die Arbeitsberichte des Meissener             der wohl bekannteste Modelleur Meissens, Johann Joachim
                                     Porzellanmodelleurs Johann Joachim Kaendler                   Kaendler, in Mitarbeit mit Johann Friedrich Eberlein, als er
                                     1706–1775. Leipzig, 2002, S.109 f. / Hermann Jedding:         diese Gruppe entwarf und ausformte. Der Auftrag für den
                                     Meissener Porzellan des 18. Jahrhunderts in Hamburger         Entwurf dieser releganten Figuren kam von keiner Geringe-
                                     Privatbesitz. Ausst.-Kat., Museum für Kunst und               ren als der russischen Zarin Elisabeth Petrowna (1709–1762),
                                     Gewerbe, Hamburg 1982, Abb. 238–241                           die 1745 unter anderem diese Gruppe in zwei Versionen
                                                                                                   bestellte. Die Zarin hatte kurz zuvor das umfangreiche Meis-
                                    • Seltene, komplett erhaltene Figurengruppe aus der            sener Andreasservice erhalten, welches als diplomatisches
                                      Hochzeit der europäischen Porzellankunst                     Geschenk des sächsischen Hofes an Katharina die Große
                                    • Beispiel des beliebten Bildmotivs der vier Kontinente        gedacht gewesen war, und fand großen Gefallen an dem
                                    • Exotismen und Bestien in „weißem Gold“                       „weißen Gold“.
                                                                                                          So spiegelt sich in dieser grazilen Porzellangruppe
                                                                                                   nicht nur eine Vorstellung der Welt an sich, sondern auch
                                                                                                   die Einbindung solcher Porzellane in die Diplomatie als Hof-
                                                                                                   geschenke, was ihren Wert und ihre Wertschätzung unter-
                                                                                                   streicht.                                                    GO

                                                                                                                                                                      19
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     Grisebach — Herbst 2020
Expressionistischer Farbenrausch
                               Christoph Stölzl

                               als Ornament der Verzückung – Georg
                               Tapperts bildnerischer Tanz auf dem Vulkan

                                                  Sieben Varieté-Girls, kostümiert und geschminkt als japanische Geishas, tanzen
                                                  über die kleine Bühne, die mit einem Papp-Felsen und bunten Lampions exoti-
                                                  sche Stimmung evozieren soll. Rötliches Licht erwärmt die Szene, es spiegelt sich
                                                  in den Gewändern, Gesichtern und in der Dekoration. Die Frauen sind anonymi-
                                                  siert, sie sind nichts anderes als Rhythmus und schöner Schein. Expressionismus
                                                  als Echo der nächtlichen Großstadt, als Farben- und Lichter-Rausch, als Orna-
                                                  ment der Verzückung: Hier ist er auf unerhört dichte Weise in einem Meisterwerk
                                                  versammelt. Geschaffen worden ist das Ölbild in den beiden Schicksalsjahren der
                                                  deutschen Moderne, als zwischen dem Blauen Reiter in München und dem
                                                  Herbstsalon des „Sturm“ 1912 in Berlin ein unablässiger Lichtbogen strömte. Zwi-
                                                  schen 1911 und 1913 brachte sich die europäische Avantgarde auf den Begriff. Der
                                                  Expressionismus machte den Sprung in die Allgemeingültigkeit eines Zeitstils.
                                                  Und mitten darin war der gerade einmal dreißigjährige Georg Tappert, der wie im
                                                  Rausch starkfarbige, impulsive und leidenschaftliche Bilder schuf. Die Welt der
                                                  Varietés, der Revuen, der Bars und Zirkusse, der Tänzerinnen und Chansonetten
                                                  erfüllte den Kopf Tapperts. Die Brücke-Gründer hatten noch 1910 von paradie-
                                                  sisch-unschuldiger Nacktheit in der Natur geträumt. Jetzt entdeckte Tappert in
                                                  seinen Geniejahren vor 1914 die „Schönheit des Hässlichen“ und ging vor allem in
                                                  seinen Aktdarstellungen provozierende Wege. Offene Erotik, überwältigende
                                                  Weiblichkeit, Feier der Sexualität in solcher Deutlichkeit finden sich in der deut-
                                                  schen Avantgarde nirgendwo so deutlich wie beim jungen Tappert.
                                                         1880 in Berlin geboren, im gleichen Jahr wie Ernst Ludwig Kirchner und
                                                  Franz Marc, war Tappert ähnlich wie Max Pechstein kein Bürgerskind, sondern
                                                  begann seinen Weg in die Kunst mit einer Schneiderlehre. Bis 1913, als er ein
                                                  staatliches Lehramt bekam, lebte er in bitterer Armut. 1906 tauchte er als Kunst-
                                                  lehrer in Worpswede auf. 1910 in der Berliner Sezession ausjuriert, gründete er
                                                  zusammen mit Pechstein die Neue Sezession. Tapperts Gabe der Freundschaft
                                                  stellte die Verbindung zu Kandinsky und dem Blauen Reiter her. 1912 war er in der
                                                  legendären Kölner Sonderbundausstellung vertreten. Seine Bilder hingen im glei-
                                                  chen Raum wie jene von Franz Marc und der Brücke. Er arbeitete als Illustrator an
                                                  Franz Pfempferts „Aktion“ mit und gehörte zu den Initiatoren der „Ersten Jury-
                                                  freien Ausstellung“ nach dem Modell der „Independents“ in Paris.
                                                         1912 war Tappert an der zweiten Ausstellung des Blauen Reiter in München
                                                  beteiligt. 1918/19 gehörte er zu den Künstlern, die sich mit Leib und Seele der
                                                  Revolution und der Demokratie verschrieben. Georg Tapperts großformatige,
                                                  vielfigurige Bilder von 1910–1914 würden wie Ernst Ludwig Kirchners Berliner Stra-
                                                  ßenszenen zu den Inkunabeln des reifen Expressionismus gehören, wenn sie denn
                                                  alle erhalten wären.

                                                                                                                                        23
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     Grisebach — Herbst 2020
4   Georg Tappert
     1880 – Berlin – 1957

     „Geisha-Revue“. 1911/13
          Öl auf Leinwand. 115,5 × 105,5 cm (45 ½ × 41 ½ in.).
          Unten rechts signiert: Tappert. Werkverzeichnis:
          Wietek 134. Rückseitig das Gemälde „Zwei Akte vor
          Bäumen“. Um 1914 (Wietek 151). Ränder angestückt,
          kleine Retuschen. [3548] Gerahmt.
     Provenienz
          Galerie Nierendorf, Berlin / Privatsammlung, Schweiz /
          Privatsammlung, Europa

     EUR 350.000–450.000
     USD 412,000–529,000

     Ausstellung
           Georg Tappert. Berlin, Galerie Nierendorf, 1963, Kat.-
           Nr. 22, Abb. der Rückseite S. 8 („Zwei Akte in Land-
           schaft [Betty]“) / Georg Tappert. Gemälde 1906–1933.
           Wiederentdeckung eines Expressionisten (= 70. B·A·T-
           Ausstellung). Hamburg, B·A·T-Haus, 1977, Kat.-Nr. 17,
           m. Abb. der Rückseite („Zwei Akte in Landschaft“) /
           Georg Tappert. Ein Berliner Expressionist 1880–1957.
           Berlin, Berlinische Galerie, 1980/81, Abb. der Rück-
           seite S. 19 („Zwei Akte vor Bäumen“) / Georg Tappert.
           Deutscher Expressionist. Schleswig, Stiftung Schleswig-
           Holsteinische Landesmuseen, Schloß Gottorf, und
           Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 2005,
           Kat.-Nr. 25 („Geisha-Revue“) und Kat.-Nr. 37 („Zwei
           Akte vor Bäumen“), Abb. S. 79 u. S. 80 / Berlin–Tokyo.
           Tokyo–Berlin. Die Kunst zweier Städte. Berlin, Neue
           Nationalgalerie, und Tokyo, Mori Art Museum, 2006,
           S. 342 (datiert „um 1911“), Abb. S. 100 (Die „Geisha-
           Revue“ war auch auf dem Ausstellungs-Banner repro-
           duziert, das an der Neuen Nationalgalerie hing.)

         • Rhythmisierte Bewegung als Ausdruck groß-
           städtischer Dynamik
         • Eindrucksvolles Zeugnis des Exotismus in der
           Kunst vor 1914
         • Inkunabel des deutschen Expressionismus

                                                                     Rückseite

                                                                                 25
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5   Joseph Beuys                                               Die Multiples von Joseph Beuys umfassen eine Vielzahl von
                                                                    Objekten, Materialien und Formaten. Für Beuys sollten sie
     Krefeld 1921 – 1986 Düsseldorf
                                                                    „Vehikel“ seiner Ideen und Vorstellungen sein. Er verstand
                                                                    sie als eine demokratische Teilhabe an seiner Kunst.
     „Filzanzug“. 1970                                                     Das Multiple „Filzanzug“ (1970) ist eine weltweit be-
           Genähter Filzanzug. Ca. 170 × 60 cm (66 ⅞ × 23 ⅝ in.).   kannte Ikone des Werks von Joseph Beuys und steht für die-
           In der linken Innenseite der Jacke ein Aufnäher mit      ses Anliegen in herausragender Weise. Filz ist neben Fett ein
           weißem Stempel und der mit Filzstift eingetragenen       zentrales Material im Werk. Es speichert Wärme, nach Beuys
           Exemplar-Nummer. Werkverzeichnis: Schellmann 26.         die grundlegende Voraussetzung für kreative Prozesse. Filz ist
           Einer von 100 nummerierten Anzügen aus einer             aber zugleich Isolator nach außen. So definiert der Künstler
           Gesamtauflage von 110 Exemplaren. Galerie René           den „Filzanzug“ u.a. auch als „ein Zeichen für die Isolation
           Block, Berlin 1970. [3578]                               des Menschen in unserer Zeit“ (Joseph Beuys zit. nach: Carl
     Provenienz                                                     Haenlein (Hg.): Joseph Beuys. Eine innere Mongolei. Hannover
           Privatsammlung, Bayern (bei Edition Schellmann,          1990, S. 206).
           München, erworben)                                              Indem der Mensch durch seine Kleidung Wärme spei-
                                                                    chert, kann er sich erhalten. Er vermag diese Wärme aber
     EUR 50.000–70.000                                              auch abzugeben an andere. In dieser Doppelfunktion steht
     USD 58,800–82,400                                              der „Filzanzug“ für die kreativen Möglichkeiten des Men-
                                                                    schen. Es liegt in dessen Hand, sich zu entscheiden, wel-
                                                                    chen Weg er geht. Beuys selbst hat den Anzug nur einmal
                                                                    getragen – in der Aktion „Action the dead mouse/Isolation
                                                                    Unit“ (1970) mit Terry Fox in Düsseldorf. In der Definition als
                                                                    Multiple ist er jedoch nicht von anderen zu benutzen. Mit
                                                                    der vom Künstler vorgegebenen Präsentation als Wand-
                                                                    objekt ließe sich der „Filzanzug“ daher als multiplizierte
                                                                    Verkörperung des Künstlers selbst lesen, als schwebe er
                                                                    gleichsam im Raum, dem Betrachter zugewandt – als Mah-
                                                                    nung und Zuversicht zugleich.                             KDP

                              Der Filzanzug repräsentiert beides. Er ist also einmal
                              ein Haus, eine Höhle, die den Menschen abisoliert
                              gegenüber allem anderen. Zum anderen ist er ein Zeichen
                              für die Isolation des Menschen in unserer Zeit.
                                                                                                Joseph Beuys

                                                                                                                                      27
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6   Rudolf Schlichter                                                         1927 lernt Rudolf Schlichter in Berlin die Schweizer „Lebe-
                                                                                   dame“ Elisabeth Koehler kennen, 1929 heiraten sie. Dem
     Calw 1890 – 1955 München
                                                                                   damals in Bohème-Kreisen beliebten Hang zu Amerikanis-
                                                                                   men folgend, nennt sie sich Speedy, und dieser Name passt
     Speedy als Madonna. 1934                                                      nicht nur zur Rasanz, mit der sie Einfluss auf Schlichters
          Öl auf Leinwand. 78,2 × 56 cm (30 ¾ × 22 in.).                           Leben und Wirken erlangt, sondern überhaupt auf ihre
          Unten rechts signiert und datiert: R. Schlichter 1934.                   gemeinsame unruhige und wechselhafte Existenz in den
          Retuschen. [3631] Gerahmt.                                               Berliner Jahren. Speedy trägt mit wechselnden Herren-
     Provenienz                                                                    bekanntschaften gleichermaßen zu rasenden Eifersuchts-
          Privatsammlung, Baden-Württemberg / Privatsamm-                          szenen Schlichters wie in nicht geringem Maße zum gemein-
          lung, Sachsen-Anhalt (beim Kunsthandel Werner                            samen Haushaltseinkommen bei. Sie arbeitet auch beim
          Fischer, Berlin, erworben)                                               Film als Schauspielerin in Nebenrollen und verkörpert gerade-
                                                                                   zu beispielhaft die besondere Melange aus Antibürgerlich-
     EUR 120.000–150.000                                                           keit, prekären Verhältnissen und aufgedrehter Lebenslust,
     USD 141,000–176,000                                                           die das künstlerische Milieu im Berlin der späten 1920er-
                                                                                   Jahre am Vorabend von Weltwirtschaftskrise und National-
     Ein ähnliches Werk, „Speedy als Madonna vor Schwäbischer                      sozialismus prägt.
     Alb“ (94 × 65 cm), ebenfalls von 1934, befindet sich in der                          Rudolf Schlichter beginnt in dieser Zeit, sich wieder
     Kunststiftung der Sparkasse Pforzheim-Calw.                                   dem Katholizismus zuzuwenden, zum Schrecken seiner kom-
                                                                                   munistisch gesinnten Künstlerfreunde.
           • Reizvolles Spiel mit verschiedenen Identitäten                               Im Bildnis seiner Frau Speedy als Madonna bedient
           • Untergründige Spannung zwischen psychologischem                       sich der Maler zwar der christlichen Ikonografie, doch der
             Ausdruck und ikonografischem Typus                                    Subtext dieser Darstellung ist keineswegs religiös, sondern
           • Porträts von Speedy, der Frau Rudolf Schlichters,                     beschwört eine unterschwellige Erotik, die sich dem ein-
             sind sehr selten auf dem Kunstmarkt                                   dringlichen Blick verdankt, den Schlichter diesem Antlitz
                                                                                   verleiht. Die gekreuzten, sehnig-kraftvollen Hände unter-
                                                                                   streichen den Eindruck, dass wir es hier nicht mit einer Dul-
                                                                                   derin zu tun haben, und gerade die Verhüllung des Körpers
                                                                                   betont die Stärke, die aus dem Blick spricht, der den Maler
                                                                                   und uns festnagelt. Natürlich ist dieses Bildnis gleicherma-
                                                                                   ßen Projektion und Ausdruck tieferer Wahrheit. Schlichter
                                                                                   malt sich in seine Obsessionen, die er in seiner Autobiogra-
                                                                                   fie so beschrieben hat: „[…] gerade die Hüllen, in die der
                                                                                   weibliche Körper eingezwängt war, erregten im höchsten
                                                                                   Maße mein sinnliches Wohlgefallen, stachelten meine
                                                                                   Begierden“ (zit. nach: Rudolf Schlichter: Das widerspenstige
                                                                                   Fleisch. Berlin, Edition Hentrich, 1991, S. 168).
                                                                                          Die tiefere Wahrheit sagt, dass Speedy Schlichter zu
                                                                                   den selbstbewussten Frauen dieser Zeit gehörte und Teil
                                                                                   der eigentümlichen Versuchsanordnungen ihres Mannes
                                                                                   sein konnte, ohne sich darin zu verlieren. Ein wenig erinnert
                                                                                   diese Gemeinschaft an die von Karl und Hilde Hubbuch, die
                                                                                   sich in überdrehten Posen fotografierten und dabei auch
                                                                                   mit dem Verschieben von Geschlechtergrenzen spielten.
                                                                                   Auch von George und Eva Grosz kennen wir die Lust an kol-
                                                                                   portagehafter Inszenierung.                                MS

     Speedy Schlichter, 1929. Foto aus: Revue des Monats, 4. Jg., Dez. 1929,
     Nr. 2, S. 189

                                                                                                                                                   29
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Marlene Dumas /
     7N
     Bert Boogaard
     Kapstadt 1953 - lebt in Amsterdam /
     Amsterdam 1952 – lebt in Amsterdam

     „Victoria“. 1998
           Acryl und Aquarell auf Bütten. 124,8 × 70,2 cm
           (49 ⅛ × 27 ⅝ in.). Unten links mit Bleistift signiert und
           bezeichnet: M Dumas – woman dress – Bert Boogaard.
           Unten rechts betitelt und datiert: Victoria, 1998.
           [3519] Gerahmt.
     Provenienz
           The Blake Byrne Collection, Paris/Los Angeles

     EUR 100.000–150.000
     USD 118,000–176,000

     Ausstellung
           Bert Boogaard/Marlene Dumas. Amsterdam, Galerie
           Paul Andriesse, 2002
     Literatur und Abbildung
           Marlene Dumas. Wet Dreams. Ravensburg, Städtische
           Galerie, 2003, Abb. S. 100/101 / Ev.-luth. Annen-
           Matthäus-Kirchengemeinde (Hg.): Marlene Dumas.
           Ein Altarbild für die Annenkirche in Dresden. Köln,
           Verlag der Buchhandlung König, 2017, S. 21

                                  Die angedeutete „Kleidung“ ist poetisch, sinnlich …, sie
                                  widersteht mit diskreter und distanzierter Zärtlichkeit
                                  der erotischen und verführerischen Ausstrahlung der in
                                  Dumas’ Werk zurückhaltend, aber bekennend artikulierten
                                  Weiblichkeit. Boogaards Eingriff führt den Abstraktions-
                                  prozess der Wasserfarben in das persönliche, menschliche
                                  Ausdrucksbild zurück. Es entsteht eine Art „Reigen“. Als
                                  Ganzes gesehen gleicht die kleine Serie der Übermalungen
                                  einer traumhaften Performance.
                                                                                  Tilman Osterwold

                                                                                                     31
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8N   Ernst Barlach                                            Die für Ernst Barlachs bildhauerisches Schaffen entscheiden-
                                                                   de Wandlung vollzog sich nach der Russlandreise des Künst-
     Wedel 1870 – 1938 Rostock
                                                                   lers 1906. Die einfachen, ja primitiven Lebensbedingungen
                                                                   der bäuerlichen Bevölkerung, ihre symbiotische Existenz im
     „Der singende Mann“. 1928                                     Einklang mit der Natur ließen ihn zu sparsamer Gestaltung
           Bronze mit goldbrauner Patina. 49 × 52 × 39 cm          finden. Seine Figuren sind nun von gesammelter Körperhal-
           (19 ¼ × 20 ½ × 15 ⅜ in.). An der Fußstütze unterhalb    tung und geschlossenen Konturen bestimmt. Wenige Einzel-
           des rechten Fußes signiert: E. Barlach. Dort auch der   heiten, ein gereckter Kopf, eine ausgestreckte Hand oder
           Gießerstempel: H.NOACK BERLIN. Werkverzeichnis:         eine Neigung der Achse tragen den Ausdruck, auf beschrei-
           Laur 432. Einer von 38 posthumen Bronzegüssen           bende oder gar ausschmückende Details verzichtet Barlach.
           (Gesamtauflage: 54 Exemplare und 3 Zinkgüsse).                 Den bewegten, expressiveren Skulpturen nach 1914
           [3455]                                                  folgen im Œuvre wieder in sich verharrende, stille Arbeiten,
     Provenienz                                                    deren eindrucksvollste wohl das Güstrower Ehrenmal, ein
           Privatsammlung, Schweiz                                 schwebender Engel mit den Zügen der Käthe Kollwitz, ist.
                                                                   Nicht weniger bekannt ist der „Singende Mann“, dessen
     EUR 70.000–100.000                                            ungewöhnliche Pose Barlach in mehreren Zeichnungen vor-
     USD 82,400–118,000                                            bereitet hat. Mit geschlossenen Augen trägt der Sitzende
                                                                   sein Lied vor, das linke Bein ruht angewinkelt auf dem Boden,
     Weitere Werke von Ernst Barlach in der Auktion Moderne        während das rechte vor dem leicht zurückgebeugten Ober-
     Kunst am 4.12.2020, Lose 356–362                              körper mit beiden Armen umfasst wird. Kleidung und Haar-
                                                                   tracht des Mannes sind zeitlos, ja mönchisch karg, seine
          • Eine der bedeutendsten Skulpturen Ernst Barlachs       Züge, wenngleich von den zwei Jahrzehnte zurückliegenden
          • Zeitloses Sinnbild der Kontemplation                   Skizzen beeinflusst, ebenso idealtypisch.
          • Meisterhaft in der Vereinfachung der Form                     Oft ist der Sänger als Sinnbild der Kontemplation gese-
                                                                   hen worden, der Welt abhandengekommen und nur noch sei-
                                                                   nem Lied und der Konzentration darauf verpflichtet. Bertolt
                                                                   Brecht hat ihn anders verstanden. „Der singende Mann singt
                                                                   kühn, in freier Haltung, deutlich arbeitend an seinem Gesang.
                                                                   Er singt allein, hat aber anscheinend Zuhörer“ (zit. nach:
                                                                   Handbuch Museum Ludwig, Köln, 1979, S. 74).                 EO

                                                                                                                                    33
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9   Jeanne Mammen                                                Jeanne Mammen war bereits vierzig Jahre alt, als sie dieses
                                                                      Aquarell malte. Zu dem Zeitpunkt lagen hinter ihr: eine
     1890 – Berlin – 1976
                                                                      glückliche Kindheit, Studien in Paris, Rom und Brüssel, die
                                                                      Erfahrung von Flucht und bitterer Armut nach Ausbruch des
     „Vor der Komödie am Kudamm, nachts“. Um 1930                     Ersten Weltkrieges und mehrere Hundert Gemälde und
           Aquarell und Bleistift auf Papier. 35,5 × 48,5 cm          Zeichnungen, mit denen sie mit Künstlern wie George Grosz,
           (14 × 19 ⅛ in.). Oben rechts signiert: J. Mammen.          Rudolf Schlichter und Otto Dix zu einer bedeutenden Chro-
           Werkverzeichnis: Döpping/Klünner A 353.                    nistin der Berliner Zwanzigerjahre avanciert war. Vor ihr lag:
           [3674] Gerahmt.                                            ihre erste (!) Ausstellung in einer Galerie, und zwar in der von
     Provenienz                                                       Wolfgang Gurlitt. Aber das bedeutet nicht, dass sie damals
           Ehemals Privatsammlung, Hamburg                            keinen Erfolg gehabt hätte. Zeitschriften wie der „Simplicissi-
                                                                      mus“ in München oder der „Ulk“ des Verlegers Rudolf Mosse
     EUR 50.000–70.000                                                druckten ihre Werke ab, und auch dieses Blatt, ausgeführt in
     USD 58,800–82,400                                                Aquarell und Bleistift, war unter dem ursprünglichen Titel
                                                                      „Malice“ für den „Simplicissimus“ bestimmt.
     Ausstellung                                                             Die Szene ist typisch für Mammen, die es wie keine
           Jeanne Mammen – Aquarelle Paris, Brüssel vor 1915,         Zweite vermochte, Nachtschwärmern und Tagedieben im
           Berlin 20er Jahre. Hamburg, Galerie Brockstedt, 1971,      Berlin der Weimarer Republik sowohl Sympathie als auch Iro-
           Kat.-Nr. 39 m. Abb. / Jeanne Mammen / Hans Thie-           nie entgegenzubringen, zu gleichen Teilen übrigens. Theater-
           mann. Berlin, Staatliche Kunsthalle, 1979, Kat.-Nr. 31 /   besucher warten im Regen vor der Komödie am Kurfürsten-
           Jeanne Mammen – Köpfe und Szenen 1920–1933.                damm. „Malice“ – die Bosheit – ist zweifellos ein Porträt,
           Emden, Kunsthalle, Leverkusen, Städtische Museum,          doch womöglich hat Mammen damit keine einzelne Person
           Schloss Morsbroich, Hannover, Wilhelm-Busch-Museum         gemeint, sondern die ganze hochmögende Gesellschaft.
           u. a. 1991/92, Kat.-Nr. 66                                 Junge Frauen in Mänteln mit Pelzkragen rümpfen die Stups-
     Literatur und Abbildung                                          nasen und zerreißen sich das Maul, assistiert und flankiert
           Simplicissimus. Heft 50, 34. Jg, März 1930, Abb. S. 609    von älteren Herren mit Monokel. Auf unvergleichliche Weise
           (bez. „Malice“)                                            hat es Jeanne Mammen verstanden, die Vergänglichkeit
                                                                      eines scheinbar bedeutungslosen Moments im großstädti-
         • Bilder von Jeanne Mammen wurden in Zeitschriften           schen Leben festzuhalten.                                     UC
           wie „Simplicissimus“ und „Ulk“ abgedruckt
         • Am Kurfürstendamm vergnügte sich die Berliner
           Gesellschaft
         • Das Theater als Treffpunkt von Bürgertum und
           Halbwelt

                                                                                                                                         35
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10   Hans Grundig                                               Eine junge Frau sitzt uns frontal gegenüber und schaut mit
                                                                     ernstem Blick haarscharf links an uns vorbei, so als sei sie
     1901 – Dresden – 1958
                                                                     ein wenig abwesend. Oder muss sie sich auf die nicht alltäg-
                                                                     liche Situation des Repräsentierens einstellen? Der Raum ist
     „Mädchen mit rosa Hut“. 1925                                    denkbar spartanisch eingerichtet: in der linken Ecke ein
          Öl auf Karton. 70,4 × 50 cm (27 ¾ × 19 ⅝ in.). Unten       Bett, darüber eine Wanduhr, an der hinteren Wand rechts
          links signiert und datiert: Grundig 25. Werkverzeich-      ein Bild, das der Behausung eine persönliche Note geben
          nis: Bernhardt G 12. Rückseitig: „Mann mit schwarzem       soll. Die Frau hat sich fein gemacht, sie trägt wohl ihr bestes
          langen Haar“. 1925 (?). Öl. [3548] Gerahmt.                Kleid und einen modischen Topfhut. Ihre stille Würde, die
     Provenienz                                                      der Maler in seinem einfühlsamen Bildnis präsentiert, hat
          Lea Grundig, Dresden / Ladengalerie, Berlin (um 1972       ihren Ursprung auch in der Vertrautheit der Dargestellten
          von Lea Grundig erworben) / Privatsammlung, Europa         mit dem Künstler. Es handelt sich nicht um irgendein Modell,
                                                                     sondern um Gerda Laube, die damalige Lebensgefährtin
     EUR 100.000–150.000                                             Hans Grundigs. Drei Mal hat er sie im Jahr 1925 gemalt: in
     USD 118,000–176,000                                             einem weiteren Halbfigurenporträt (Bernhardt G 9) und als
                                                                     sinnliche Verführerin in dem Gemälde „Liebespaar“ (Bern-
     Ausstellung                                                     hardt G 13), das 1925 in der Sommerausstellung des Dresdner
           Hans Grundig. Ausstellung zum 70. Geburtstag. Berlin,     Kunstvereins für einen Skandal sorgte.
           Ladengalerie, 1971, Kat.-Nr. 4 / Wem gehört die Welt.             Gerda Laubes Bildnis zeigt bereits den spezifischen
           Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik.          symbolischen Realismus Grundigs, der nie den scharfen und
           Berlin, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Staat-      polemischen Ton der sogenannten Veristen anstimmen sollte.
           liche Kunsthalle, 1977, S. 343, Kat.-Nr. 139, m. Abb. /   Das Interieur, in dem die Porträtierte uns präsentiert wird,
           Kunst des 20. Jahrhunderts aus Berliner Privatbesitz.     ist kein Raum, der eine realistische Wohnsituation abbildet,
           Berlin, Akademie der Künste, veranstaltet von der         sondern die wie beiläufig angedeutete Kärglichkeit in Bezie-
           Interessengemeinschaft Berliner Kunsthändler, 1978,       hung setzt zur Feierlichkeit der Erscheinung der Dargestellten.
           S. 244, Abb. S. 27 / Memento mori. Hans Grundig           Eine stimmige Perspektive fehlt dieser Stube, und Gleiches
           1901–1958. Ausstellung zum 80. Geburtstag. Gemälde,       gilt für die Größenverhältnisse der abgebildeten Gegenstände.
           Zeichnungen, Radierungen, Fotos, Bücher. Berlin,          Das Bett winzig, die Uhr unerreichbar und das Bild eine Remi-
           Ladengalerie, 1981 (Faltblatt) / Berlin – Im Schatten     niszenz an das Kulturbedürfnis der Bewohnerin. Wie beim
           der zwanziger Jahre. Malerei und Grafik. Pfäffikon,       „Schüler mit roter Mütze“ (Grisebach Auktion 319, Los 12),
           Seedamm-Kulturzentrum, 1992, Kat.-Nr. 74 (datiert:        ebenfalls 1925 entstanden, ist eine zentralperspektivische
           1929) / Getroffen. Otto Dix und die Kunst des Por-        Plausibilität für Grundigs Bildfindung nicht von Belang. Der
           träts. Stuttgart, Kunstmuseum Stuttgart, 2008, Abb.       Maler zeigt einen Menschen, den er im landläufigen Sinn
           S. 301 / Magic Realism. Art in Weimar Germany 1919–       wenig vorteilhaft darstellt. Die leicht geröteten Augen, der
           33. London, Tate Modern, 2018/19, S. 108, Abb. S. 56      asymmetrische Mund und die robuste Nase bilden einen
                                                                     Charakterkopf, der herkömmliche Repräsentationsformen
     Abbildung der Rückseite unter grisebach.com                     unterläuft. Aber er steht für ein Menschenbild, das dem Ein-
                                                                     zelnen eine unverwechselbare Persönlichkeit zuspricht, die
          • Ikone der Dresdner Neuen Sachlichkeit                    weder von seiner Herkunft noch seiner Stellung abhängig ist.
          • Eindringliches Porträt der Freundin des Künstlers                                                                    MS
          • Eines der sehr seltenen frühen Gemälde von
            Hans Grundig auf dem Kunstmarkt

                                                                                                                                       37
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11   Max Beckmann                                              „Der Berlin-Besucher Beckmann porträtiert sich vor einer
                                                                    Litfaßsäule auf dem Umschlag: Zwei Monate weilte der Künst-
     Leipzig 1884 – 1950 New York
                                                                    ler in Berlin, zeichnete die Bilder zunächst in sein Reisetage-
                                                                    buch, in seiner Heimat Frankfurt am Main ließ er sie auf Stein
     „Berliner Reise“. 1922                                         umdrucken. Ein Porträt Berlins als „corrumpiertes und tem-
           Orig.-Halbleinenmappe mit 10 Lithografien, jeweils       peramentloses Nest“ – so Beckmann – entstand Anfang der
           auf Velin, und eine Lithografie auf dem Mappen-          1920er-Jahre: Die reiche Gesellschaft übt sich im Karten-
           deckel. Mappe: 70 × 56 cm (27 ½ × 22 in.). Jedes Blatt   spiel, amüsiert sich im Theater oder gibt sich gepflegt der
           signiert. Werkverzeichnis: Hofmaier 212-222. Jeweils     Langeweile hin, während draußen auf der Straße die Armen
           einer von 100 Abzügen. I.B. Neumann, Berlin 1922.        betteln müssen. Beckmann entwirft als kritischer Beobach-
           Die Mappe mit Gebrauchsspuren, die Blätter teilweise     ter ein Panorama der Stadt mit desillusionierten Menschen in
           mit kleinen Randmängeln. [3626]                          klaustrophobischen, dichten Bildern“ (zit. nach einer Presse-
                                                                    mitteilung der Kulturstiftung der Länder zu einer Neuerwer-
     EUR 50.000–70.000                                              bung für die Berlinische Galerie, Oktober 2013).
     USD 58,800–82,400

     Die Mappe enthält die Lithografien:

     · „Im Hotel“
     · „Die Enttäuschten I“
     · „Nacht“
     · „Nackttanz“
     · „Schlittschuhläufer“
     · „Die Enttäuschten II“
     · „Der Bettler“
     · „Das Theaterfoyer“
     · „Kaschemme“
     · „Der Schornsteinfeger“

                                                                                                                                      39
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Lichtdurchflutete Idylle für Flaneure –
                               Gloria Köpnick

                               ein impressionistisches Sonntagsvergnügen im
                               preußischen Berlin

                               Es ist ein sommerlicher Tag. Die Bäume tragen üppiges Blattwerk, durch das die
                               Sonne hindurchscheint und changierende Lichtflecken auf die Straße wirft. Die
                               Berliner haben sich aufgemacht zu einer sonntäglichen Landpartie an den Wann-
                               see und flanieren nun durch die Große Seestraße in der 1863 gegründeten, süd-
                               westlich zwischen Berlin und Potsdam gelegenen großbürgerlichen Kolonie Alsen.
                               Rechts und links drängen sich auf den Bürgersteigen die Spaziergänger, unter
                               ihnen auch größere und kleinere Kinder, wie das mit einer roten Kopfbedeckung
                               behütete Mädchen am linken Bildrand. Eine elegant gekleidete Dame mit gelber
                               Jacke, passendem Hut und weißem Rock im Bildvordergrund wird von zwei Jun-
                               gen begleitet, die den Betrachter in der Manier der Rückenfigur in das Bildge-
                               schehen einladen. Offenbar blieb der Maler nicht unbemerkt, wie der sich im
                               Weggehen umsehende Junge vermuten lässt. Aus der Gegenrichtung nähert sich
                               ein offener Zweispänner – das hektisch-technoide Zeitalter des Automobils
                               scheint in der Idylle dieses Sommertags noch nicht angekommen zu sein.
                                      Bereits 1909 hatte Max Liebermann den Kaufvertrag über das Seegrund-
                               stück Große Seestraße 24 (ab 1933: Am Großen Wannsee 42; heute: Colomier-
                               straße 3) unterzeichnet und für eine stattliche Summe von 145.000 Reichsmark
                               eines der letzten unbebauten Grundstücke erworben. Bei der Planung des Gar-
                               tens hatte der Künstler in Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger Kunst-
                               halle, einen kongenialen Partner gefunden und von ihm ein farbenprächtiges
                               Refugium gestalten lassen. Villa und Garten wurden Liebermann, der über viele
                               Jahre Sommerfrische und Erholung an der holländischen Küste gefunden hatte,
                               ab etwa 1915 zum jährlichen Sommersitz. Ab Mai lebte die Familie Liebermann
                               dann in ihrem „Schloss am See“, wie Liebermann seine Villa getauft hatte. Erst
                               wenn die Tage im September, Oktober kürzer und kälter wurden, siedelte die
                               Familie zurück ins Stadtpalais am Pariser Platz. Vermehrt widmete sich der Künstler
                               seinem Seegrundstück ab 1918 als Bildsujet, wobei er immer neue Perspektiven
                               und Details des abwechslungsreich gestalteten Gartens schilderte, die sich über
                               die Jahre hin zu umfangreichen Motivgruppen entwickelten. Die Wochenenden
                               mit den flanierenden Spaziergängern boten somit eine angenehme Abwechslung
                               zur Motivsuche in der floralen Pracht des Gartens – und das ohne in die Hektik
                               der Großstadt zurückkehren zu müssen. Ähnliche Arbeiten finden sich zu Beginn
                               der 1920er-Jahre vermehrt im Werk.
                                      Unser impressionistisches Meisterwerk wurde im Rahmen einer großen
                               Liebermann-Ausstellung in der Züricher Galerie von Toni Aktuaryus präsentiert.
                               An den Schweizer Kunsthistoriker Gotthard Jedlicka, der als Berater der Galerie
                               tätig war und Liebermann in seinem Garten besucht hatte, schrieb der Maler im
                               August 1932: „Sie wissen vielleicht, daß Herr Aktuaryus eine Ausstellung meiner
                               letzten Bilder (richtiger meiner neuesten) veranstaltet u ich bin begierig was Sie u
                               die Züricher dazu sagen werden“ (Max Liebermann an Gotthard Jedlicka, Post-
                               karte v. 31. August 1932, zit. nach: Ernst Braun (Hg.): Max Liebermann. Briefe, Bd.
                               8: 1927-1935, Baden-Baden, Deutscher Wissenschafts-Verlag, 2019, Brief Nr. 618).
                               Jedlickas Begeisterung für Liebermanns Werk zeigt sich nicht zuletzt in den von
                               ihm veröffentlichten „Begegnungen mit Künstlern der Gegenwart“, wo er lebhaft
                               von dem Besuch beim Meister des deutschen Impressionismus berichtete.

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     Grisebach — Herbst 2020
12   Max Liebermann
     1847 – Berlin – 1935

     „Die Große Seestrasse in Wannsee mit Spaziergängern“.
     1920 (?)
           Öl auf Leinwand. 60 × 72,5 cm (23 ⅝ × 28 ½ in.).
           Unten links signiert: M Liebermann. Auf dem
           Keilrahmen und auf dem Spannrand der Leinwand
           ein Schweizer Zollstempel. Werkverzeichnis:
           Eberle 1920/15. [3398] Gerahmt.
     Provenienz
           Bruno Cassirer, Berlin (um 1933) (?) / Privatsammlung,
           Schweiz (1933) / Galerie Benador, Bern (1934) /
           M. Metzger, Bern (1934) / Privatsammlung, Rheinland
           (1996) / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen /
           Privatsammlung, Süddeutschland

     EUR 400.000–600.000
     USD 471,000–706,000

     Ausstellung
           Max Liebermann. Zürich, Galerie Aktuaryus, 1933,
           Kat.-Nr. 13 („Tiergartenallee, 1913“) (?)
     Literatur und Abbildung
           Galerie und Sammler. Zürich, Galerie Aktuaryus, 1933,
           H. 9/10, Abb. S. 158 /Ausst.-Kat.: Max Liebermann in
           Wannsee. Glanz und Untergang einer Lebenswelt.
           Berlin, Galerie Mutter Fourage, 1997, Abb. S. 29 (nicht
           ausgestellt) / Katalog 140: Max Liebermann. Düssel-
           dorf, Galerie Ludorff, 2012, S. 78, Abb. S. 79 / Margreet
           Nouwen: Sonntag am Wannsee. Die späten Garten-
           lokale. In: Ausst.-Kat.: Biergärten und Caféterrassen.
           Von ländlicher Wirtschaft zur bürgerlichen Sommer-
           frische. Berlin, Liebermann-Villa am Wannsee, 2016,
           S. 77-85, hier S. 79, m. Abb. (nicht ausgestellt)
                                                                                  43
     Wir danken Margreet Nouwen, Berlin, für Hinweise zur Literatur.

          • Meisterwerk des Impressionismus
          • Zeigt die Idylle eines Sommertages am Berliner Wannsee
          • Die Darstellungen der Großen Seestraße in Wannsee
            gehören zu den besonders begehrten Werken des
            Künstlers

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                                                        Grisebach — Herbst 2020
13   Ludwig Meidner                                   Die italienischen Futuristen gaben Ludwig Meidner einen ent-
                                                      scheidenden Impuls, der die Bildsprache des Malers und
Bernstadt 1884 – 1966 Darmstadt
                                                      Grafikers fortan prägen sollte. In zwei Ausstellungen in Her-
                                                      warth Waldens Galerie „Der Sturm“, 1912 und 1914, wurden
Zerstörung einer Stadt. 1914/15                       die Ideen der Futuristen in Deutschland bekannt. Die gleich-
      Rohrfeder und Tusche über Bleistift auf         zeitige Darstellung zeitlich versetzter Geschehnisse, jähe
      Papier. 36,3 × 47 cm (14 ¼ × 18 ½ in.).         Perspektivwechsel und eine Vielzahl an Bildmotiven sollten
      Unten signiert und datiert: Ludwig Meidner      der Geschwindigkeit und dem Leben in der Großstadt Rech-
      Dezember 1914 Januar 1915. [3066] Gerahmt.      nung tragen. Meidners Thema war die Stadt. Er lebte mehrere
Provenienz                                            Jahre in größter Not in Berlin. Dies sollte seine Sicht dauer-
      Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (vom        haft prägen: Die Großstadt war für ihn kaum Verheißung,
      Künstler erworben, seitdem in Familienbesitz)   sondern vielmehr ein Ort des Unbehagens und der Verzweif-
                                                      lung. Seine „apokalyptischen Landschaften“ zeugen davon. In
EUR 35.000–45.000                                     der Rückschau wirken sie zugleich wie eine Vorhersehung der
USD 41,200–52,900                                     Zerstörungen im Ersten Weltkrieg.
                                                             Schon zu Beginn des Krieges führen Frontnachrichten,
Ausstellung                                           Briefe von Freunden und seine künstlerische Fantasie zur
      Ludwig Meidner. Recklinghausen, Kunsthalle;     Realisierung der Mappe „Der Krieg“. Meidner selbst wird erst
      Berlin, Haus am Waldsee; Darmstadt, Kunst-      1916 zum Militärdienst eingezogen. Unser Blatt ist ein Werk
      halle, 1963/64, Kat.-Nr. 101 (Kampfszene) /     seiner Vorstellungskraft. Mit der am unteren Rand festgehal-
      Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat.       tenen Datierung „Dezember 1914 Januar 1915“ gibt Meidner
      Darmstadt, Mathildenhöhe, 1991, S. 511, Abb.    der Arbeit einen pseudodokumentarischen Charakter. Vor
      S. 145                                          einem düsteren Himmel beweisen offene Dachstühle das
                                                      Ausmaß der Zerstörungen. Im Vordergrund zeigt uns Meidner
     • Entstanden in der Folge von Meidners           das Grauen des Krieges: Menschen, von Explosionen zerris-
       berühmten apokalyptischen Landschaften         sen, Schutz suchend, Zeichen gebend, Gesichter voller Angst.
     • Eindringliches Antikriegsbild                  In der rechten oberen Bildhälfte macht er das Stakkato der
     • Zum ersten Mal auf dem Kunstmarkt              Maschinengewehre sichtbar. Bild für Bild nebeneinander-
                                                      gesetzt, werden Gesichter zu Fratzen. Mit drastischen Mit-
                                                      teln konfrontiert der Künstler uns mit der Grausamkeit eines
                                                      Krieges. Eindringlicher kann Kunst kaum sein.              OH

                                        Grisebach — Herbst 2020                                                        45
14   Albert Birkle                                               Entweder sie beachten ihn nicht oder sie spotten, feixen,
                                                                      lachen ihn aus. Es ist kein fröhliches Bild, das der Maler Albert
     Berlin 1900 – 1986 Salzburg
                                                                      Birkle hier von dem Geschehen auf der Friedrichstraße in sei-
                                                                      ner Heimatstadt Berlin entwirft. Die Passanten und der, der
     Kreuztragung (Friedrichstraße). 1924                             das Kreuz auf sich genommen hat, sie wollen einfach nicht so
          Öl auf Leinwand. 97 × 217 cm (38 ¼ × 85 ⅜ in.).             recht zusammenpassen.
          Unten rechts vom Künstler 1982 signiert und datiert:               Birkle, der sich in späteren Jahren zeitweilig fast aus-
          A Birkle 1924. Kleine Retuschen. [3548] Gerahmt.            schließlich christlichen Motiven verschrieb und, unter ande-
     Provenienz                                                       rem in Salzburg, Graz, Konstanz und Washington D.C., in Kir-
          Peter Hopf, Berlin / Privatsammlung, Europa                 chen farblich stark expressive Glasfenster gestaltete, bietet
                                                                      uns in diesem Meisterwerk der gesellschaftskritischen Neuen
     EUR 100.000–150.000                                              Sachlichkeit die Zwanzigerjahre dar, wie auch George Grosz
     USD 118,000–176,000                                              oder Otto Dix sie sahen. Nicht als die wilden Roaring Twen-
                                                                      ties, sondern als Schau- und Tummelplatz für männliche und
     Ausstellung                                                      weibliche Typen hart an der Grenze zur Karikatur.
           Die Stadt in den zwanziger Jahren. Berlin, Galerie                Dabei erweist sich Birkle Grosz näher als Dix, von dem
           Bodo Niemann, 1984, Abb. / Der Potsdamer Platz.            man manchmal den Eindruck gewinnen kann, er habe die
           Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens.          Rolle des unbestechlichen Beobachters dem Leiden am Zu-
           Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Neue National-        stand der Menschheit vorgezogen. Der vom Kreuz Gebeugte
           galerie, 2001 (außer Katalog) / Aftermath. Art in the      trägt unverkennbar die Züge eines Selbstbildnisses. Malerisch
           Wake of World War One. London, Tate Britain, 2018,         in seiner psychologischen Präzision von außerordentlicher
           Kat.-Nr. 64, Abb. S. 87                                    Qualität und Schärfe, zählt dieses in einem auffallenden Quer-
     Literatur und Abbildung                                          format gehaltene Gemälde zweifellos zu den Hauptwerken im
           Sylvia Kraker: Albert Birkle 1900–1986. Innsbruck,         Schaffen von Albert Birkle.                                   UC
           Universität, Diss. phil., 1992, Kat.-Nr. 647 / Auktion
           Nr. 138: Sammlung Hopf. Berlin, Villa Grisebach
           Auktionen, 1.12.2006, Kat. Nr. 1636, m. Abb.

     Wir danken Viktor Pontzen, Salzburg, für freundliche Hinweise.

                                                                                                                                          47
          • Gemälde von außerordentlicher Qualität und
            psychologischer Präzision
          • Exemplarische Arbeit der gesellschaftskritischen
            Neuen Sachlichkeit der Zwanzigerjahre

                                            Die Passanten und der, der
                                            das Kreuz auf sich genommen
                                            hat – sie wollen einfach nicht
                                            zusammenpassen.

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                                                       Grisebach — Herbst 2020
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15   Arnulf Rainer                                              Unser Gemälde von Arnulf Rainer stammt aus der wohl wich-
                                                                     tigsten Schaffensphase des 1929 in Baden bei Wien gebore-
     Baden bei Wien 1929 – lebt in Enzenskirchen
     und auf Teneriffa                                               nen Künstlers. Zunächst vom Surrealismus beeinflusst, fand
                                                                     der Maler im Lauf der Fünfzigerjahre zu seinem unverwech-
                                                                     selbaren Stil: Inspiriert vom internationalen Informel jener
     Ohne Titel (Rotes Bild). 1959                                   Zeit, entwickelte er seine berühmten „Übermalungen“. Unser
          Mischtechnik auf Leinwand. 72,5 × 56,5 cm                  Bild von 1959 steht exemplarisch für diesen Übergang, bei
          (28 ½ × 22 ¼ in.). Unten rechts signiert und datiert:      dem Rainer sukzessive alles Gegenständliche aus seinen
          Rainer 59. [3601] Im Künstlerrahmen.                       Werken löschte, um an dessen Stelle den absolut gesetzten,
     Provenienz                                                      dominanten gestischen Malduktus treten zu lassen.
          Privatsammlung, Berlin (Anfang der 1970er-Jahre                   Diese Dominanz der abstrakt-expressiven Geste gilt
          vom Künstler erworben)                                     auch für das Kolorit der Gemälde aus diesen Jahren. Schwarz
                                                                     und – wie in diesem Fall – Rot sind seine bevorzugten Farb-
     EUR 130.000–160.000                                             töne. Die von diesen beiden Farben ausgehende Signalwir-
     USD 153,000–188,000                                             kung erlangt in Gemälden wie unserem metaphorische Kraft:
                                                                     Etwas noch nicht Dagewesenes entsteht, Grenzen werden
     Ausstellung                                                     überschritten, neue gedankliche Linien gezogen, hinter die
           Der unverbrauchte Blick. Kunst unserer Zeit in Berliner   es kein Zurück mehr gibt.
           Sicht. Berlin, Martin-Gropius-Bau, 1987 (laut rücksei-           Im Jahr 1961 verurteilte ein Gericht in Wolfsburg Rainer
           tigem Etikett)                                            noch wegen Zerstörung eines Kunstwerkes zu einer Geld-
                                                                     strafe, weil er während der Eröffnung einer Ausstellung im
          • Vereint gestische Dynamik mit differenziertem Kolorit    Rathaus in einer Guerilla-Aktion die preisgekrönte Grafik
          • Gemälde in Rot von Arnulf Rainer sind sehr selten auf    der Künstlerin Helga Pape übermalt hatte. Seitdem hat Rainer
            dem Kunstmarkt                                           dreimal an der Documenta in Kassel teilgenommen, wurde
          • Wichtiges frühes Gemälde von Museumsqualität             zu den Biennalen von São Paolo und Venedig eingeladen und
                                                                     ist mit seinen Arbeiten in den prominentesten europäischen
                                                                     und amerikanischen Sammlungen vertreten, etwa in der
                                                                     Tate Gallery in London, im Museum of Modern Art in New
                                                                     York und in der Pinakothek der Moderne in München, wo
                                                                     ihm seit 2009 ein eigener Raum gewidmet ist.                UC

                                                                                                                                       51
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                                                      Grisebach — Herbst 2020
16   Peter Beard                                                Hätte es ihn nicht gegeben, müsste man ihn erfinden. Ein
                                                                     wunderschöner Mann, gesellschaftlich als Nachkomme
     New York 1938 – 2020 Montauk
                                                                     einer wohlhabenden Familie in die Welt geworfen, entschei-
                                                                     det er sich doch für einen anderen Weg. Sein Herz schlägt
     „The Mingled Destinies of Crocodiles and Men“. 1966             für Afrika, die Natur, die Tierwelt. Mit seinen Arbeiten pran-
           Späterer Silbergelatineabzug mit Collage, Tinte und       gerte er bereits in den Sechzigerjahren das Massensterben
           Blut. Unikat. 61 × 50,3 cm (24 × 19 ¾ in.). Im unteren    der Elefanten an. Und öffnete der Welt die Augen für die
           Bildrand von Peter Beard mit schwarzer Tinte sig-         Brutalität, die dort auf dem Kontinent herrscht, wenn weites
           niert, datiert, betitelt und bezeichnet: „Lake Rudolf“.   Land zur touristischen Tapete wird. Seine Fotografien sind
           Auf Rahmenrückwand Stempel: „© Peter H. Beard c/o         Meisterwerke, erschütternd, umwerfend schön, scharf und
           The Time is Always Now Inc. …“, Etikett der Galerie       brillant. Mit Tusche und Blut gibt er den Fotografien einen
           „The Time is Always Now“ sowie weiteres Etikett mit       Rahmen und einen Sinn – er entreißt sie der Anmutung von
           gedruckten Werkangaben. Von unbekannter Hand mit          simpler Schönheit, macht sie sinnlich und bedrohlich. Denn:
           schwarzem Kugelschreiber beschriftet. Mit einem           Es ging Peter Beard nie nur um Effekte der Schönheit, son-
           Zertifikat der Galerie „The Time is Always Now“, New      dern immer um eine radikale Aussage, die die Bedrohung
           York, vom 19. März 1997. [2009] Im Künstlerrahmen.        manifestiert, die der Mensch (und der Klimawandel) für die
     Provenienz                                                      Natur bedeutet. Selten hat es jemanden gegeben, der die
           Privatsammlung, Rheinland                                 Fußspuren der Menschheit auf diesem Erdball – so göttlich
                                                                     wie blutig sie sind – so eindrücklich nachgezeichnet hat in
     EUR 80.000–100.000                                              ihrer Ambivalenz. Wer außer ihm hätte das Leben des inter-
     USD 94,100–118,000                                              nationalen Jetsets von Bianca Jagger zu Andy Warhol mit
                                                                     dem Einsatz für die Welt, in der wir leben und von der wir
          • Ausnahmekünstler, Abenteurer, Naturfotograf              abhängig sind, auf diese Art kombinieren können, wer diese
            und Dandy                                                Zerrissenheit ins Bild bringen können? Halb Tarzan, halb
          • Sinnbild für die Zerstörung des afrikanischen            Lord Byron. Immer ein Mensch.                              DD
            Kontinents
          • Charakteristische, unikate Kombination aus
            Fotografie, Malerei und Collage

                                                                                                                                      53
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                                                      Grisebach — Herbst 2020
17   Curt Ehrhardt                                               Ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Die scheinbar
                                                                      bunt-fröhliche Assemblage des 1895 in Sachsen geborenen
     Ziesar 1895 – 1972 Schwarz/Hessen
                                                                      Künstlers Curt Ehrhardt entstand im Jahr 1920, zur Hochphase
                                                                      des Dadaismus, aber auch zur Zeit der Völkerschauen, die
     „Der Bantuneger“. 1920                                           bereits ab 1870 vermehrt in Europa stattfanden und schon
           Assemblage: Holz-Objektkasten, Karton, Ölfarbe,            den Brücke-Künstlern vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige
           Puppe, Fell, Schnüre, Nägel, Draht, Papier. Kasten:        Inspiration gewesen waren.
           31,5 × 24,3 × 12,4 cm (12 ⅜ × 9 ⅝ × 4 ⅞ in.). Rückseitig          So zeigt auch Curt Ehrhardt, der sich 1918 der Novem-
           auf einem Aufkleber mit Tuschfeder betitelt, signiert      bergruppe anschloss und sich seit je in seiner Kunst haupt-
           und datiert: Der Bantuneger C. Ehrhardt 1920               sächlich mit aktuell geistigen und gesellschaftlichen Aspekten
           Brandenburg a./H. Darüber ein Etikett der Ausstel-         auseinandersetzte, unverblümt das Zeitgeschehen.Vorhang
           lung Berlin 1920 (s.u.). [3604]                            auf! Eine aus Afrika stammende Puppe steigt aus der bunten,
     Provenienz                                                       an Robert Delaunays Orphismus erinnernde Kulisse hervor.
           Ehemals Peter Hopf, Berlin                                 Gekleidet lediglich in ein weißes Fellröckchen und mit dicken,
                                                                      roten Lippen werden die damals gültigen Stereotype bedient.
     EUR 25.000–35.000                                                Hinter Gittern kauert ein Tier, das ebenfalls neugierige Blicke
     USD 29,400–41,200                                                auf sich zieht. Sie kommen aus Afrika – dem damals noch un-
                                                                      bekannten, fremden und geheimnisvollen Kontinent.
     Ausstellung                                                             Zur Kasse geht es rechts unten! Curt Ehrhardts charak-
           Kunstausstellung Berlin. Berlin, Landesausstellungs-       teristische Werke, die insbesondere in den 1920er-Jahren
           gebäude, 1920, Kat.-Nr. 1141 / Curt Ehrhardt 1895–         Teil bedeutender Ausstellungen waren – etwa 1919 der Dresd-
           1972. Arbeiten eines verschollenen Künstlers. Berlin,      ner Sezession, 1920 der Kunstausstellung Berlin, wo auch
           Otto Nagel Galerie, 1991, Kat.-Nr. 7, m. Abb.              unser Werk gezeigt wurde, und 1921 der Münchner Expressio-
     Literatur und Abbildung                                          nisten-Ausstellung in Chicago –, zeichnen sich durch das
           Peter Arlt: Des Lebens dunkle Tänze. Der Maler Curt        konsequente Einfügen von Schriftzügen aus (siehe auch das
           Ehrhardt 1895-1972. Lauenförde, Galerie Hesselbach,        Gemälde „Lebnis“, Auktion Moderne Kunst, 4.12.2020, Los 385).
           und Weimar, Galerie Hebecker, 2002, Abb. S. 24             Ehrhardt, der 1926 die Novembergruppe wieder verließ, im
                                                                      Zweiten Weltkrieg verfemt und in der Nachkriegszeit aus dem
          • Entstanden in der Hochphase des Dadaismus                 Verband Bildender Künstler Deutschlands ausgeschlossen
          • Die Völkerschauen der Jahrhundertwende waren              wurde, malte bis zu seinem Tod im Jahr 1972 unter Ausschluss
            schon den Brücke-Expressionisten eine wichtige            der Öffentlichkeit und bekam nie die Aufmerksamkeit, die er
            Inspiration                                               eigentlich verdient hätte. Der „Bantuneger“ von Curt Ehr-
          • Singuläres Werk im Schaffen des Künstlers                 hardt ist zweifelsohne ein eindrucksvolles und ausdruckstar-
                                                                      kes Werk – ein wahres Zeitzeugnis.                          SSB

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                                                        Grisebach — Herbst 2020
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