Vorschläge für eine effiziente, europäische Bekämpfung von Pandemien - Juristische Aspekte im Gesundheitsbereich

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ÖGfE Policy Brief 15’2020
Vorschläge für eine effiziente, europäische
Bekämpfung von Pandemien -
Juristische Aspekte im Gesundheitsbereich
Von Leopold-Michael Marzi
Wien, 17. Juni 2020
ISSN 2305-2635

Handlungsempfehlungen
   1. Nationale Gesundheitssysteme müssen in Krisenzeiten überregional unterstützt und
      die notwendigen Maßnahmen grenzüberschreitend abgestimmt werden.

   2. Es braucht EU-weit einheitliche Standards für die Bereitstellung und Lagerhaltung
      von Medikamenten, Medizinprodukten, Schutzkleidung etc. zur Bekämpfung einer
      Pandemie. Eine noch zu gründende EU-Behörde für Sicherheit im Gesundheitswesen
      sollte die Einhaltung dieser Standards effizient kontrollieren, in Angelegenheiten der
      Prävention tätig sein, die Weltlage ständig beobachten, analysieren und Strategien
      festlegen, die EU-EntscheidungsträgerInnen beraten und das Vorgehen der
      Mitgliedsstaaten im Ernstfall koordinieren.

   3. Um die Zuständigkeit der Europäischen Union betreffend Bekämpfung von Pandemien
      rechtlich einwandfrei zu begründen, muss der Vertrag über die Arbeitsweise der EU
      um einen Artikel 168a erweitert werden, damit im Krisenfall rasch überregionale
      Maßnahmen durch die zuständige EU-Behörde umgesetzt werden können.

Zusammenfassung
Seit der „Spanischen Grippe“, die weltweit in den Jah-             der ständig bereitgehalten werden soll, in Relation zur
ren 1918 bis 1920 wütete, blieb Europa von Pande-                  Bevölkerung sein muss. Ebenso bedarf es der Koor-
mien verschont. Folglich gibt es nun, hundert Jahre                dination grenzüberschreitender Kooperation im An-
später, niemanden, der sich an einen solchen Zustand               lassfall, um ein Ausbreiten einer Pandemie schon im
erinnern kann. Auch die europäischen Gesundheits-                  Keim zu ersticken.
systeme waren ziemlich unvorbereitet, als im Februar               Es reicht jedoch keinesfalls aus, bloß neue Standards
2020 plötzlich, von Italien ausgehend, Europa von ei-              und überregionale Pandemiepläne zu erstellen, die neu
nem neuartigen Virus bedroht wurde.                                zu schaffenden Standards müssen vor allem wirksam
Pandemien ignorieren naturgemäß Staatsgrenzen.                     vollzogen werden, und zwar auch dann, wenn noch
Da die Zuständigkeit für Gesundheitssysteme auch                   gar keine Pandemie ausgebrochen ist. Dazu braucht
in einem weitgehend harmonisierten Umfeld der Eu-                  es eine effizient arbeitende EU-Behörde, die sicher-
ropäischen Union weiterhin den Mitgliedsstaaten vor-               stellt, dass das Funktionieren der lokalen Gesund-
behalten ist, zeigte sich sehr rasch, dass der Man-                heitssysteme durch überregionale Aktivitäten erhalten
gel an einheitlichen Standards zur Bekämpfung einer                wird. Dafür ist eine Europäische Agentur für Sicherheit
Pandemie eine echte Lücke in der europäischen Zu-                  im Gesundheitswesen, die durch eine Ergänzung des
sammenarbeit darstellt. Es braucht für die Zukunft un-             Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Uni-
bedingt Standards, wie groß der Bestand an Schutz-                 on in einem eigenen Artikel 168a auch rechtlich abge-
masken, Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln etc.,                 sichert sein sollte, unbedingt erforderlich.

Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999                               1
ÖGfE Policy Brief 15’2020

                                        Vorschläge für eine effiziente, europäische
                                        Bekämpfung von Pandemien -
                                        Juristische Aspekte im Gesundheitsbereich
                                                               Einleitung                                Zeit massenhaft Todesopfer1, mitten in Europa, in
                                                                                                         großen, wohlhabenden Industriestaaten mit einem
                                           Hätte jemand zum Jahreswechsel 2019/2020                      hochentwickelten Gesundheitssystem, wenngleich
                                        bei einer Feier irgendwo in Europa gesagt, schon                 diese auch in unterschiedlichem Ausmaß von der
                                        in wenigen Wochen werde man – staatlich verord-                  Pandemie getroffen wurden. Das ist teilweise auf
                                        net – nicht mehr feiern dürfen, Masken tragen müs-               langjährige strikte Sparmaßnahmen zum Nach-
                                        sen, nicht mehr überall einkaufen können, vor allem              teil des Gesundheitssystems zurückzuführen oder
                                        aber in einem freien Europa in der Reisefreiheit be-             auch darauf, dass zu lange mit entsprechenden
                                        schränkt werden, man hätte diesen Menschen be-                   Maßnahmen zugewartet wurde und es daher über-
                                        lächelt und ihm vielleicht gesagt, er habe zuviel ge-            proportional viele Todesopfer im Vergleich zur Zahl
                                        trunken und solle am Neujahrsmorgen wieder mit                   der Infizierten gibt.
                                        der Realität in Einklang kommen.
                                                                                                             Irgendwann werden WissenschaftlerInnen end-
                                           Hätte man – in irgendeinem Mitgliedsstaat der Eu-             gültig herausgefunden haben, wie alles abgelaufen
                                        ropäischen Union – am selben Tag, zur selben Stun-               ist, wo der wirklich erste Fall von Infektion und Er-
                                        de, eine/n für Katastrophenschutz verantwortliche/n              krankung mit dem Coronavirus in Europa aufgetre-
                                        Politikerin/Politiker oder gar Regierungschefin/Re-              ten ist etc. Und irgendwann werden auch Gerichte
                                        gierungschef gefragt, ob in diesem Mitgliedsstaat                geklärt haben, ob schuldhaftes Verhalten vorgele-
                                        genügend Schutzmasken oder Desinfektionsmittel                   gen ist oder eben nicht. Das ist zweifellos mittel-
                                        gelagert wären oder dieser Mitgliedsstaat adäquat                und langfristig interessant und wichtig, der Fokus
                                        auf eine in wenigen Wochen bevorstehende, sich in                sollte aber kurzfristig klar darauf liegen, eine „2.
                                        Europa rasant ausbreitende Pandemie vorbereitet                  Welle“ oder eine weitere Pandemie in der Zukunft
                                        wäre, man hätte die Frage dieses Menschen – auch                 zu verhindern oder zumindest deren Auswirkungen
                                        wenn es ein Experte oder eine Expertin für Katast-               zu minimieren.
                                        rophenschutz gewesen wäre – wohl wenig ernst ge-
                                        nommen oder schlichtweg erklärt, natürlich sei alles                 Der immer wieder zu hörende pauschale Vor-
                                        vorbereitet, aber es drohe – wie schon sehr lange                wurf, „die EU“ habe versagt, ist nicht zutreffend, da
                                        – gar keine Pandemie.                                            die Kompetenz für die Gesundheitssysteme gene-
                                                                                                         rell bei den einzelnen Mitgliedsstaaten liegt. Artikel
                                       „Der Fokus sollte kurzfristig klar darauf lie-                    168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Euro-
                                     gen, eine ‚2. Welle‘ oder eine weitere Pande-                       päischen Union2 lässt höchstens in seinem Absatz
                                     mie in der Zukunft zu verhindern oder zumin-                        5 Ansätze für eine Pandemiebekämpfung erken-
                                     dest deren Auswirkungen zu minimieren.“                             nen: „Das Europäische Parlament und der Rat kön-
                                                                                                         nen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der
                                          Wenige Wochen später sieht Europa völlig anders                Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gemäß dem
                                        aus. Man kann nicht einfach in ein Flugzeug stei-
                                        gen und in einen anderen Mitgliedsstaat fliegen, ja
                                        nicht einmal der Sommerurlaub kann Monate vorher
                                                                                                         1) Corona Virus Rescource Center der John Hopkins Univer-
                                        ohne große Unsicherheiten gebucht werden. Ein Vi-                sity in Baltimore, USA: https://coronavirus.jhu.edu/ (26.05.2020)
                                        rus, aus China eingeschleppt, fordert binnen kurzer
                                                                                                         2) https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=B
                                                                                                         undesnormen&Gesetzesnummer=10008049&Artikel=168&Para
                                                                                                         graf=&Anlage=&Uebergangsrecht (26.05.2020)

2                               Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
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  ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach                         Es zählt fraglos zu den großen Leistungen der
  Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses                   westlichen Welt, in den letzten hundert Jahren einen
  und des Ausschusses der Regionen auch Förder-                     in der Weltgeschichte zuvor nie gekannten Hygiene-
  maßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der                     standard erreicht zu haben, der Seuchen als ausge-
  menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur                    rottet erschienen ließ. Dieser Standard ist aber nicht
  Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenz-                  automatisch auf hohem Niveau fixiert, sondern muss
  überschreitenden Krankheiten, Maßnahmen zur Be-                   stets durch nicht zu unterschätzende Anstrengungen
  obachtung, frühzeitigen Meldung und Bekämpfung                    neu errungen werden. Schon relativ geringe Kosten-
  schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund-                     reduktionen im Gesundheitswesen, ausgelöst durch
  heitsgefahren sowie Maßnahmen, die unmittelbar                    fremdbestimmten Sparzwang, stellen ein enormes
  den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor                     Risiko für die Gesundheitsversorgung in Ausnahme-
  Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch zum Ziel ha-                    situationen dar. Die Kosten im Bereich des Gesund-
  ben, erlassen.“3                                                  heitssystems sind in den letzten Jahrzehnten stärker
                                                                    gestiegen als das BIP, was sich auf die Politik und
   „Der immer wieder zu hörende pauschale                           das Budget niederschlägt, indem tendenziell mit we-
Vorwurf, ‚die EU‘ habe versagt, ist nicht zu-                       niger Geld mehr Leistung erwartet wird.5 Zudem gibt
treffend, da die Kompetenz für die Gesund-                          es völlig neue Bedrohungsszeniarien: Durch den in
heitssysteme generell bei den einzelnen Mit-                        den letzten Jahren rasant wachsenden Flugverkehr
gliedsstaaten liegt.“                                               wurde es nämlich auch möglich, Krankheitserreger
                                                                    binnen Stunden global zu verbreiten. Nicht zu unter-
     Die letzte Pandemie in Europa liegt genau hun-                 schätzen ist auch die Gefahr von Terroranschlägen
  dert Jahre zurück. In den Jahren 1918 bis 1920                    mit biologischen Waffen.
  starben nachweislich mehr Menschen an der „Spa-
  nischen Grippe“ als während des gerade zuvor zu                   Vorschläge für die Vorgehensweise im
  Ende gegangenen 1. Weltkriegs.4 Das war bis vor                      Fall einer zukünftigen Pandemie
  kurzem so gut wie niemandem bekannt und wur-
  de den SchülerInnen im Geschichtsunterricht auch                     Wie kann eine Wiederholung der aktuellen Ereig-
  nicht vermittelt. Und selbst Personen, die heute                  nisse in Zukunft verhindert werden und was ist dazu
  hundert Jahre alt sind, können keine Erinnerung an                notwendig? Was ist seitens der EU und ihrer Mit-
  diese Zeit weitergeben.                                           gliedsstaaten also zu tun?

   „Schon relativ geringe Kostenreduktio-                              Die größte Gefahr, die einer Gesellschaft bei ei-
nen im Gesundheitswesen, ausgelöst durch                            ner Pandemie droht, ist die massenhafte Erkran-
fremdbestimmten Sparzwang, stellen ein                              kung von Angehörigen der helfenden Berufe, also
enormes Risiko für die Gesundheitsversor-                           von Personen, die bei der Rettung, der Polizei, der
gung in Ausnahmesituationen dar.“                                   Feuerwehr oder im Gesundheitswesen arbeiten.
                                                                    Bei den Gesundheitsberufen geht es wohlgemerkt
                                                                    nicht nur um den Ausfall des ärztlichen Perso-
                                                                    nals. Aufgrund der langen Ausbildungsdauer in den
                                                                    meisten Gesundheitsberufen ist es nämlich nicht
  3) https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=B           möglich, diese Menschen bei einem massenhaften
  undesnormen&Gesetzesnummer=10008049&Artikel=168&Para
                                                                    Ausfall einfach durch andere zu ersetzen. Mit ande-
  graf=&Anlage=&Uebergangsrecht (26.05.2020)
                                                                    ren Worten: während bei einer Flutkatastrophe ärzt-
  4) Die Zahlenangaben sind sehr schwankend, seriös sind ca.
  20 Millionen (zitiert in Goldmann Lexikon, Band 9, Seite 3853),
  es könnten aufgrund der schlechten Meldesysteme auch bis zu
  50 Millionen weltweit gewesen sein.                               5)   https://www.fiskalrat.at/Publikationen/Sonstige.html

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                                         liches Personal auch für Hilfstätigkeiten herangezo-             sind bei der Verschrottung des Autos noch intakt.
                                         gen werden könnte, können Hilfsarbeiter nicht zum                Soll man deshalb Airbags nicht mehr in Autos ein-
                                         Behandeln von Patienten eingesetzt werden. Und                   bauen und das Geld sparen? Ein kluges Material-
                                         selbst ärztliches Personal ist, da die heutige Medizin           management könnte aber auch hier die Verwurfrate
                                         (nicht zuletzt aufgrund der fortgeschrittenen Spezia-            (etwa von Schutzmasken) deutlich reduzieren.
                                         lisierung) Teamwork darstellt, bisweilen ohne die Zu-
                                         arbeit der Assistenzberufe im Handlungsspielraum                       „Erstaunlicherweise gibt es wenig bis gar
                                         stark eingeschränkt oder sogar hilflos.                              kein strukturiertes Datenmaterial über Scha-
                                                                                                              denshäufigkeiten, -arten und -folgen, sodass
                                        „Aufgrund der langen Ausbildungsdauer in                              derzeit auch wenig Potenzial zur Verbesse-
                                      den meisten Gesundheitsberufen ist es nicht                             rung vorhanden ist.“
                                      möglich, diese Menschen bei einem massenhaf-
                                      ten Ausfall einfach durch andere zu ersetzen.“                         Es müsste folglich EU-weit geltende Standards
                                                                                                          geben, wieviel Material pro 100.000 Einwohner in ei-
                                             Die wichtigste Aufgabe6 im Rahmen der Pande-                 nem Staat bzw. einer Region gelagert werden sollte.
                                         miebekämpfung, die bisher aber nur unzureichend                  Es versteht sich von selbst, dass die Anschaffung,
                                         wahrgenommen wurde, besteht im umfassenden                       Lagerung und der rechtzeitige Austausch aufgrund
                                         proaktiven Schutz der Menschen in Gesundheits-                   der begrenzten Haltbarkeit der jeweiligen Güter kon-
                                         berufen vor Ansteckung, damit das Gesundheits-                   trolliert werden muss und etwaige Abweichungen
                                         system als Ganzes handlungsfähig bleibt. Dies ist                auch nicht ohne Folgen bleiben dürfen. Dafür be-
                                         mit relativ einfachen Mitteln zu erreichen: Es müs-              dürfte es einer (noch zu schaffenden) Behörde, ei-
                                         sen ausreichend Schutzmasken, Schutzkleidung,                    ner von der EU betriebenen Agentur für Sicherheit
                                         Desinfektionsmittel etc. lagernd sein und nicht erst             im Gesundheitswesen (European Agency for Health
                                         – wie man in den ersten Phasen der Corona-Krise                  Care Safety). Diese müsste mit den nötigen Kompe-
                                         sehen konnte, medienwirksam (und zu deutlich hö-                 tenzen und Durchgriffsrechten ausgetattet sein und
                                         heren Preisen7 und teils in unzureichender Qualität)             unabhängig von den nationalen Behörden tätig wer-
                                         aus Asien eingeflogen werden. Welche Mengen je-                  den können. Neben unangekündigten Kontrollen der
                                         weils konkret vorzuhalten sind, können ExpertInnen               Lagerbestände könnten auch noch weitere Kompe-
                                         leicht berechnen. Da es sich zwar um eher langlebi-              tenzen dazugenommen werden, etwa die Kontrolle
                                         ge, aber auch nicht ewig haltbare Produkte handelt,              von Gesundheitseinrichtungen in Hinblick auf Scha-
                                         kann es durchaus vorkommen, dass sie während                     densereignisse und deren Aufarbeitung. Erstaunli-
                                         ihrer Haltbarkeit gar nicht benötigt werden und da-              cherweise gibt es wenig bis gar kein strukturiertes
                                         her unbenützt entsorgt werden müssen. Was auf                    Datenmaterial über Schadenshäufigkeiten, -arten
                                         den ersten Blick wie der unveranwortliche Umgang                 und -folgen, sodass derzeit auch wenig Potenzial zur
                                         mit Steuergeld erscheint, ist auf den zweiten Blick              Verbesserung vorhanden ist. Ein Best-Practice-Bei-
                                         durchaus sinnvoll. Die meisten Airbags, die in Autos             spiel aus dem Allgemeinen Krankenhaus der Stadt
                                         eingebaut werden, kommen nicht zum Einsatz und                   Wien, wo dies – ohne dass es dafür eine rechtliche
                                                                                                          Verpflichtung gab – seit dem Jahr 2000 bis heute
                                                                                                          lückenlos praktiziert wird, könnte dabei europaweit
                                         6) Wünschenswert wäre zudem, dass mittelfristig mehr Per-        als Vorbild dienen.
                                         sonen im Gesundheitsbereich tätig sind, was wiederum nicht
                                         nur mehr Finanzmittel erfordern würde, denn diese sind nur ein
                                                                                                             Das derzeit schon bestehende European Cen-
                                         Element von vielen. Problematisch sind in diesem Zusammen-
                                         hang auch demographische Entwicklungen oder eine geringe         tre for for Desease Prevention and Control (ECDC)8
                                         Wertschätzung von Gesundheitsberufen.
                                         7) Die plötzliche Nachfrage hat das Angebot überstiegen, da-
                                         her sind die Preise rasant in die Höhe gegangen.                 8) https://www.ecdc.europa.eu/en

4                               Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 15’2020
  hat insofern nicht so effizient agieren können, da der          Schaffung einer solchen Behörde wohl gerade jetzt
  Einrichtung die Kompetenzen für dringend umzuset-               vorhanden sein.
  zende Anordnungen nicht übertragen wurden. Die
  neu zu schaffende European Agency for Health Care                  Wird bei der Schaffung eines Artikels 168a auch
  wäre vor allem mit Exekutivbefugnissen, die aller-              gleich eine weitreichende Beistandspflicht der übri-
  dings nur im Krisenfall wirksam sein würden, aus-               gen Mitgliedsstaaten für ein in Bedrängnis gekom-
  zustatten. Da genau seit 100 Jahren in Europa keine             menes Mitglied der EU festgelegt (im Fall der Coro-
  Pandemie mehr aufgetreten ist, hat die Fehlmeinung              na-Krise wäre dies eindeutig Italien gewesen), wäre
  vorgeherrscht, dass es eine solche in einem mo-                 zugleich auch eine Stärkung des Europagedankens
  dernen hoch enwickelten Gesundheitssystem nicht                 damit erreicht. Die Beistandspflicht könnte in einer
  mehr geben kann. Seit der Corona-Krise kann da-                 temporären Beistellung von Gesundheitspersonal,
  von keine Rede mehr sein und jetzt muss behördlich              aber auch von anderen Arbeitskräften bestehen,
  für die Zukunft entsprechend vorgesorgt werden.                 ebenso in der Übernahme von PatientInnen aus
  Als europäisches vorbildhaftes Beispiel für eine Eu-            anderen Staaten und Regionen, um den Zusam-
  ropean Agency for Health Care kann die European                 menbruch eines nationalen Gesundheitssystems zu
  Union Aviation Saftey Agency (EASA)9 genannt wer-               verhindern und die Bilder von medizinischer Schut-
  den, die wirklich effizient arbeitet. Es gibt Jahre, in         zausrüstung, die aus nationalen Überlegungen ei-
  denen keine einzige Person in Europa im kommerzi-               nem plötzlichen Exportstopp unterliegen, würden
  ellen Flugverkehr ums Leben kam.                                sich nicht wiederholen.

   „Die neu zu schaffende European Agency                                 „Angesichts der noch gar nicht endgültig
for Health Care wäre vor allem mit Exekutiv-                           abzuschätzenden Dramatik der Corona-Krise,
befugnissen, die allerdings nur im Krisenfall                          die wohl zu einer jahrelangen Rezession (ver-
wirksam sein würden, auszustatten.“                                    gleichbar mit der Weltwirtschaftskrise von
                                                                       1929) führen dürfte, wird ein politischer Wille
     Juristisch könnte gegen eine solche Agentur ein-                  zur Schaffung einer solchen Behörde wohl ge-
  gewendet werden, dass die Europäische Union eine                     rade jetzt vorhanden sein.“
  Behörde mit derart weitreichenden Kompetenzen
  im Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise                  Klarerweise wären für die Etablierung einer sol-
  der Europäischen Union gar nicht vorsehe bezie-                 chen neuen Behörde ausreichend Finanzmittel11
  hungsweise ihr die Kompetenz dafür fehle. Dabei                 bereitzustellen, ganz abgesehen von der Anschaf-
  wird aber übersehen, dass es nach der Logik der                 fung der notwendigen Materialien und sonstigen
  EU die Mitgliedsstaaten sind, die bestimmen, wie                Ressourcen (etwa Soft- und Hardware Ressour-
  weit sie nationalstaatliche Kompetenzen behal-                  cen, aktualisierte Katastrophenpläne, die auch zu
  ten oder abgeben, ein bisweilen komplizierter und               beüben wären, Informationsmaterial etc.), die in der
  auch schmerzhafter Vorgang. Angesichts der noch                 Corona-Krise eben gerade nicht vorhanden waren.
  gar nicht endgültig abzuschätzenden Dramatik der                Wer dafür nicht die nötigen Finanzmittel aufbringen
  Corona-Krise, die wohl zu einer jahrelangen Rezes-              möchte, wird sich aber wohl das Gegenargument
  sion (vergleichbar mit der Weltwirtschaftskrise von             anhören müssen, dass die jetzt bereits beschlosse-
  1929) führen dürfte10, wird ein politischer Wille zur           nen Hilfspakete, von denen man gar nicht weiß, ob

  9)   https://www.easa.europa.eu/                                11) Eine Schätzung ist schwierig, aber verglichen mit den EU-
                                                                  Hilfspaketen, die schon geschnürt wurden, wäre es weniger.
  10) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/      EU-weit geschätzt unter 5 Milliaren €, aber das ist eine gänzlich
  IP_20_799 (26.05.2020)                                          persönliche Einschätzung.

  Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999                               5
ÖGfE Policy Brief 15’2020

                                         sie ausreichen werden, ein Vielfaches kosten12. Ver-                                    Literatur
                                         glichen mit dem Nutzen, der vielleicht auch gar nicht
                                         exakt in Geld messbar sein wird, sind diese Kosten                  Czypionka, T., Schnabl, A., Lappöhn, S., Plank, K.,
                                         noch gerade vernachlässigbar. Oder auf den Punkt                      Reiss, M., Weyerstraß, K., Wimmer, L., Zenz, H.
                                         gebracht und an die Einleitung dieses Beitrags an-                    (2020), Abschätzung der wirtschaftlichen Fol-
                                         knüpfend: Welcher politisch Verantwortliche hätte                     gen des Ausbruchs des neuartigen Coronavirus
                                         nicht in der Silvesternacht alles Mögliche und Sinn-                  (SARS-CoV-2) – 5. Mai 2020, IHS Policy Brief Nr.
                                         volle getan, vor allem Geldmittel eingesetzt, um die                  1, 24 p. https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/5314/
                                         Auswirkungen der Pandemie einzuschränken, wenn
                                         er in die Zukunft hätte blicken können?                             Grossmann, B., Schuster, P. (2017), Langzeitpflege
                                                                                                               in Österreich: Determinanten der staatlichen Kos-
                                                                                                               tenentwicklung, Studie im Auftrag des Fiskalra-
                                                                                                               tes, Wien. https://www.fiskalrat.at/Publikationen/
                                                                                                               Sonstige.html

                                                                                                             EU hat die Krise unterschätzt, Interview mit Karo-
                                                                                                               line Edtstadler, Salzburger Nachrichten, 20. Mai
                                                                                                               2020, S. 9.

                                                                                                             Marzi, L.-M., Der juristische Notfallkoffer – neue
                                                                                                               Wege zur Begrenzung zur Schadensbekämp-
                                                                                                               fung im Krankenhaus, Zak 8/2009, S. 146-148.

                                                                                                             Marzi, L.-M., 10 Jahre „Juristischer Notfallkoffer“
                                                                                                               im Allgemeinen Krankenhaus Wien. Erfahrungen
                                                                                                               und Veränderungen in der Schadensabwicklung,
                                                                                                               Zak 17/2017, S. 327-330.

                                                                                                             Marzi, L.-M., Risk management and healthcare sa-
                                                                                                               fety: Ten years of experience at the Vienna Ge-
                                                                                                               neral Hospital, Journal of Patient Safety and Risk
                                                                                                               Management, 2018, Vol. 23(6): 265–268.

                                                                                                             Marzi, L.-M., The Legal Emergency Kit, Official Jour-
                                                                                                               nal of the European Association of Hospital Ma-
                                                                                                               nager, 2011, Vol. 23, Issue 1, 2011: 12-14.

                                         12) Ein Return on Investment von 50:1 ist durchaus realistisch.
                                         Erfahrungsgemäß sind Ersparnisse etwa 90 Mal höher als die
                                         Kosten. Das Problem ist nur, dass zunächst primär Kosten ent-
                                         stehen. Das verhält sich ähnlich wie beispielsweise im Fall eines
                                         Films, mit dem erst nach der Fertigstellung Einnahmen lukriert
                                         werden können. Damit bei PolitikerInnen und ManagerInnen auf
                                         Verständnis zu stoßen ist die wirklich große Herausforderung.

6                               Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 15’2020
Über den Autor
Dr. Leopold-Michael Marzi hat Rechtwissenschaften an der Universität Wien studiert.
Ab 1989 wurde er in den Dienst der Stadt Wien aufgenommen und von 1998 bis 2016 war
er Leiter der Stabsstelle Recht (vorher Rechtsbüro bzw. Rechtsabteilung des Allgemeinen
Krankenhauses Wien/AKH Wien). Seit 2017 ist er Leiter der Stabsstelle Vorfallsabwicklung
und Prävention in der Ärztlichen Direktion des AKH Wien.

Kontakt: marzi@moser-marzi.at

Über die ÖGfE
Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhän-
giger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische In-
tegration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und
deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die
Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von eu-
ropapolitischen Informationen.

ISSN 2305-2635                                                          Impressum

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck                   Österreichische Gesellschaft für Europapolitik
kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE                      Rotenhausgasse 6/8-9
oder jener Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.           A-1090 Wien, Österreich

Schlagwörter                                                            Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt
Pandemie, COVID-19, Coronavirus, Gesundheitsbereich,
Sicherheitsstandards, Juristische Aspekte, EU                           Verantwortlich: Dr. Susan Milford-Faber

Zitation                                                                Tel.: +43 1 533 4999
Marzi, L.-M. (2020). Vorschläge für eine effiziente, europä-            Fax: +43 1 533 4999 – 40
ische Bekämpfung von Pandemien - Juristische Aspekte                    E-Mail: policybriefs@oegfe.at
im Gesundheitsbereich. Wien. ÖGfE Policy Brief, 15’2020                 Web: http://oegfe.at/policybriefs

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