Vorschläge für eine effiziente, europäische Bekämpfung von Pandemien - Juristische Aspekte im Gesundheitsbereich
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ÖGfE Policy Brief 15’2020 Vorschläge für eine effiziente, europäische Bekämpfung von Pandemien - Juristische Aspekte im Gesundheitsbereich Von Leopold-Michael Marzi Wien, 17. Juni 2020 ISSN 2305-2635 Handlungsempfehlungen 1. Nationale Gesundheitssysteme müssen in Krisenzeiten überregional unterstützt und die notwendigen Maßnahmen grenzüberschreitend abgestimmt werden. 2. Es braucht EU-weit einheitliche Standards für die Bereitstellung und Lagerhaltung von Medikamenten, Medizinprodukten, Schutzkleidung etc. zur Bekämpfung einer Pandemie. Eine noch zu gründende EU-Behörde für Sicherheit im Gesundheitswesen sollte die Einhaltung dieser Standards effizient kontrollieren, in Angelegenheiten der Prävention tätig sein, die Weltlage ständig beobachten, analysieren und Strategien festlegen, die EU-EntscheidungsträgerInnen beraten und das Vorgehen der Mitgliedsstaaten im Ernstfall koordinieren. 3. Um die Zuständigkeit der Europäischen Union betreffend Bekämpfung von Pandemien rechtlich einwandfrei zu begründen, muss der Vertrag über die Arbeitsweise der EU um einen Artikel 168a erweitert werden, damit im Krisenfall rasch überregionale Maßnahmen durch die zuständige EU-Behörde umgesetzt werden können. Zusammenfassung Seit der „Spanischen Grippe“, die weltweit in den Jah- der ständig bereitgehalten werden soll, in Relation zur ren 1918 bis 1920 wütete, blieb Europa von Pande- Bevölkerung sein muss. Ebenso bedarf es der Koor- mien verschont. Folglich gibt es nun, hundert Jahre dination grenzüberschreitender Kooperation im An- später, niemanden, der sich an einen solchen Zustand lassfall, um ein Ausbreiten einer Pandemie schon im erinnern kann. Auch die europäischen Gesundheits- Keim zu ersticken. systeme waren ziemlich unvorbereitet, als im Februar Es reicht jedoch keinesfalls aus, bloß neue Standards 2020 plötzlich, von Italien ausgehend, Europa von ei- und überregionale Pandemiepläne zu erstellen, die neu nem neuartigen Virus bedroht wurde. zu schaffenden Standards müssen vor allem wirksam Pandemien ignorieren naturgemäß Staatsgrenzen. vollzogen werden, und zwar auch dann, wenn noch Da die Zuständigkeit für Gesundheitssysteme auch gar keine Pandemie ausgebrochen ist. Dazu braucht in einem weitgehend harmonisierten Umfeld der Eu- es eine effizient arbeitende EU-Behörde, die sicher- ropäischen Union weiterhin den Mitgliedsstaaten vor- stellt, dass das Funktionieren der lokalen Gesund- behalten ist, zeigte sich sehr rasch, dass der Man- heitssysteme durch überregionale Aktivitäten erhalten gel an einheitlichen Standards zur Bekämpfung einer wird. Dafür ist eine Europäische Agentur für Sicherheit Pandemie eine echte Lücke in der europäischen Zu- im Gesundheitswesen, die durch eine Ergänzung des sammenarbeit darstellt. Es braucht für die Zukunft un- Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Uni- bedingt Standards, wie groß der Bestand an Schutz- on in einem eigenen Artikel 168a auch rechtlich abge- masken, Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln etc., sichert sein sollte, unbedingt erforderlich. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 1
ÖGfE Policy Brief 15’2020 Vorschläge für eine effiziente, europäische Bekämpfung von Pandemien - Juristische Aspekte im Gesundheitsbereich Einleitung Zeit massenhaft Todesopfer1, mitten in Europa, in großen, wohlhabenden Industriestaaten mit einem Hätte jemand zum Jahreswechsel 2019/2020 hochentwickelten Gesundheitssystem, wenngleich bei einer Feier irgendwo in Europa gesagt, schon diese auch in unterschiedlichem Ausmaß von der in wenigen Wochen werde man – staatlich verord- Pandemie getroffen wurden. Das ist teilweise auf net – nicht mehr feiern dürfen, Masken tragen müs- langjährige strikte Sparmaßnahmen zum Nach- sen, nicht mehr überall einkaufen können, vor allem teil des Gesundheitssystems zurückzuführen oder aber in einem freien Europa in der Reisefreiheit be- auch darauf, dass zu lange mit entsprechenden schränkt werden, man hätte diesen Menschen be- Maßnahmen zugewartet wurde und es daher über- lächelt und ihm vielleicht gesagt, er habe zuviel ge- proportional viele Todesopfer im Vergleich zur Zahl trunken und solle am Neujahrsmorgen wieder mit der Infizierten gibt. der Realität in Einklang kommen. Irgendwann werden WissenschaftlerInnen end- Hätte man – in irgendeinem Mitgliedsstaat der Eu- gültig herausgefunden haben, wie alles abgelaufen ropäischen Union – am selben Tag, zur selben Stun- ist, wo der wirklich erste Fall von Infektion und Er- de, eine/n für Katastrophenschutz verantwortliche/n krankung mit dem Coronavirus in Europa aufgetre- Politikerin/Politiker oder gar Regierungschefin/Re- ten ist etc. Und irgendwann werden auch Gerichte gierungschef gefragt, ob in diesem Mitgliedsstaat geklärt haben, ob schuldhaftes Verhalten vorgele- genügend Schutzmasken oder Desinfektionsmittel gen ist oder eben nicht. Das ist zweifellos mittel- gelagert wären oder dieser Mitgliedsstaat adäquat und langfristig interessant und wichtig, der Fokus auf eine in wenigen Wochen bevorstehende, sich in sollte aber kurzfristig klar darauf liegen, eine „2. Europa rasant ausbreitende Pandemie vorbereitet Welle“ oder eine weitere Pandemie in der Zukunft wäre, man hätte die Frage dieses Menschen – auch zu verhindern oder zumindest deren Auswirkungen wenn es ein Experte oder eine Expertin für Katast- zu minimieren. rophenschutz gewesen wäre – wohl wenig ernst ge- nommen oder schlichtweg erklärt, natürlich sei alles Der immer wieder zu hörende pauschale Vor- vorbereitet, aber es drohe – wie schon sehr lange wurf, „die EU“ habe versagt, ist nicht zutreffend, da – gar keine Pandemie. die Kompetenz für die Gesundheitssysteme gene- rell bei den einzelnen Mitgliedsstaaten liegt. Artikel „Der Fokus sollte kurzfristig klar darauf lie- 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Euro- gen, eine ‚2. Welle‘ oder eine weitere Pande- päischen Union2 lässt höchstens in seinem Absatz mie in der Zukunft zu verhindern oder zumin- 5 Ansätze für eine Pandemiebekämpfung erken- dest deren Auswirkungen zu minimieren.“ nen: „Das Europäische Parlament und der Rat kön- nen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Wenige Wochen später sieht Europa völlig anders Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gemäß dem aus. Man kann nicht einfach in ein Flugzeug stei- gen und in einen anderen Mitgliedsstaat fliegen, ja nicht einmal der Sommerurlaub kann Monate vorher 1) Corona Virus Rescource Center der John Hopkins Univer- ohne große Unsicherheiten gebucht werden. Ein Vi- sity in Baltimore, USA: https://coronavirus.jhu.edu/ (26.05.2020) rus, aus China eingeschleppt, fordert binnen kurzer 2) https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=B undesnormen&Gesetzesnummer=10008049&Artikel=168&Para graf=&Anlage=&Uebergangsrecht (26.05.2020) 2 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 15’2020 ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Es zählt fraglos zu den großen Leistungen der Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses westlichen Welt, in den letzten hundert Jahren einen und des Ausschusses der Regionen auch Förder- in der Weltgeschichte zuvor nie gekannten Hygiene- maßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der standard erreicht zu haben, der Seuchen als ausge- menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur rottet erschienen ließ. Dieser Standard ist aber nicht Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenz- automatisch auf hohem Niveau fixiert, sondern muss überschreitenden Krankheiten, Maßnahmen zur Be- stets durch nicht zu unterschätzende Anstrengungen obachtung, frühzeitigen Meldung und Bekämpfung neu errungen werden. Schon relativ geringe Kosten- schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund- reduktionen im Gesundheitswesen, ausgelöst durch heitsgefahren sowie Maßnahmen, die unmittelbar fremdbestimmten Sparzwang, stellen ein enormes den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Risiko für die Gesundheitsversorgung in Ausnahme- Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch zum Ziel ha- situationen dar. Die Kosten im Bereich des Gesund- ben, erlassen.“3 heitssystems sind in den letzten Jahrzehnten stärker gestiegen als das BIP, was sich auf die Politik und „Der immer wieder zu hörende pauschale das Budget niederschlägt, indem tendenziell mit we- Vorwurf, ‚die EU‘ habe versagt, ist nicht zu- niger Geld mehr Leistung erwartet wird.5 Zudem gibt treffend, da die Kompetenz für die Gesund- es völlig neue Bedrohungsszeniarien: Durch den in heitssysteme generell bei den einzelnen Mit- den letzten Jahren rasant wachsenden Flugverkehr gliedsstaaten liegt.“ wurde es nämlich auch möglich, Krankheitserreger binnen Stunden global zu verbreiten. Nicht zu unter- Die letzte Pandemie in Europa liegt genau hun- schätzen ist auch die Gefahr von Terroranschlägen dert Jahre zurück. In den Jahren 1918 bis 1920 mit biologischen Waffen. starben nachweislich mehr Menschen an der „Spa- nischen Grippe“ als während des gerade zuvor zu Vorschläge für die Vorgehensweise im Ende gegangenen 1. Weltkriegs.4 Das war bis vor Fall einer zukünftigen Pandemie kurzem so gut wie niemandem bekannt und wur- de den SchülerInnen im Geschichtsunterricht auch Wie kann eine Wiederholung der aktuellen Ereig- nicht vermittelt. Und selbst Personen, die heute nisse in Zukunft verhindert werden und was ist dazu hundert Jahre alt sind, können keine Erinnerung an notwendig? Was ist seitens der EU und ihrer Mit- diese Zeit weitergeben. gliedsstaaten also zu tun? „Schon relativ geringe Kostenreduktio- Die größte Gefahr, die einer Gesellschaft bei ei- nen im Gesundheitswesen, ausgelöst durch ner Pandemie droht, ist die massenhafte Erkran- fremdbestimmten Sparzwang, stellen ein kung von Angehörigen der helfenden Berufe, also enormes Risiko für die Gesundheitsversor- von Personen, die bei der Rettung, der Polizei, der gung in Ausnahmesituationen dar.“ Feuerwehr oder im Gesundheitswesen arbeiten. Bei den Gesundheitsberufen geht es wohlgemerkt nicht nur um den Ausfall des ärztlichen Perso- nals. Aufgrund der langen Ausbildungsdauer in den meisten Gesundheitsberufen ist es nämlich nicht 3) https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=B möglich, diese Menschen bei einem massenhaften undesnormen&Gesetzesnummer=10008049&Artikel=168&Para Ausfall einfach durch andere zu ersetzen. Mit ande- graf=&Anlage=&Uebergangsrecht (26.05.2020) ren Worten: während bei einer Flutkatastrophe ärzt- 4) Die Zahlenangaben sind sehr schwankend, seriös sind ca. 20 Millionen (zitiert in Goldmann Lexikon, Band 9, Seite 3853), es könnten aufgrund der schlechten Meldesysteme auch bis zu 50 Millionen weltweit gewesen sein. 5) https://www.fiskalrat.at/Publikationen/Sonstige.html Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 3
ÖGfE Policy Brief 15’2020 liches Personal auch für Hilfstätigkeiten herangezo- sind bei der Verschrottung des Autos noch intakt. gen werden könnte, können Hilfsarbeiter nicht zum Soll man deshalb Airbags nicht mehr in Autos ein- Behandeln von Patienten eingesetzt werden. Und bauen und das Geld sparen? Ein kluges Material- selbst ärztliches Personal ist, da die heutige Medizin management könnte aber auch hier die Verwurfrate (nicht zuletzt aufgrund der fortgeschrittenen Spezia- (etwa von Schutzmasken) deutlich reduzieren. lisierung) Teamwork darstellt, bisweilen ohne die Zu- arbeit der Assistenzberufe im Handlungsspielraum „Erstaunlicherweise gibt es wenig bis gar stark eingeschränkt oder sogar hilflos. kein strukturiertes Datenmaterial über Scha- denshäufigkeiten, -arten und -folgen, sodass „Aufgrund der langen Ausbildungsdauer in derzeit auch wenig Potenzial zur Verbesse- den meisten Gesundheitsberufen ist es nicht rung vorhanden ist.“ möglich, diese Menschen bei einem massenhaf- ten Ausfall einfach durch andere zu ersetzen.“ Es müsste folglich EU-weit geltende Standards geben, wieviel Material pro 100.000 Einwohner in ei- Die wichtigste Aufgabe6 im Rahmen der Pande- nem Staat bzw. einer Region gelagert werden sollte. miebekämpfung, die bisher aber nur unzureichend Es versteht sich von selbst, dass die Anschaffung, wahrgenommen wurde, besteht im umfassenden Lagerung und der rechtzeitige Austausch aufgrund proaktiven Schutz der Menschen in Gesundheits- der begrenzten Haltbarkeit der jeweiligen Güter kon- berufen vor Ansteckung, damit das Gesundheits- trolliert werden muss und etwaige Abweichungen system als Ganzes handlungsfähig bleibt. Dies ist auch nicht ohne Folgen bleiben dürfen. Dafür be- mit relativ einfachen Mitteln zu erreichen: Es müs- dürfte es einer (noch zu schaffenden) Behörde, ei- sen ausreichend Schutzmasken, Schutzkleidung, ner von der EU betriebenen Agentur für Sicherheit Desinfektionsmittel etc. lagernd sein und nicht erst im Gesundheitswesen (European Agency for Health – wie man in den ersten Phasen der Corona-Krise Care Safety). Diese müsste mit den nötigen Kompe- sehen konnte, medienwirksam (und zu deutlich hö- tenzen und Durchgriffsrechten ausgetattet sein und heren Preisen7 und teils in unzureichender Qualität) unabhängig von den nationalen Behörden tätig wer- aus Asien eingeflogen werden. Welche Mengen je- den können. Neben unangekündigten Kontrollen der weils konkret vorzuhalten sind, können ExpertInnen Lagerbestände könnten auch noch weitere Kompe- leicht berechnen. Da es sich zwar um eher langlebi- tenzen dazugenommen werden, etwa die Kontrolle ge, aber auch nicht ewig haltbare Produkte handelt, von Gesundheitseinrichtungen in Hinblick auf Scha- kann es durchaus vorkommen, dass sie während densereignisse und deren Aufarbeitung. Erstaunli- ihrer Haltbarkeit gar nicht benötigt werden und da- cherweise gibt es wenig bis gar kein strukturiertes her unbenützt entsorgt werden müssen. Was auf Datenmaterial über Schadenshäufigkeiten, -arten den ersten Blick wie der unveranwortliche Umgang und -folgen, sodass derzeit auch wenig Potenzial zur mit Steuergeld erscheint, ist auf den zweiten Blick Verbesserung vorhanden ist. Ein Best-Practice-Bei- durchaus sinnvoll. Die meisten Airbags, die in Autos spiel aus dem Allgemeinen Krankenhaus der Stadt eingebaut werden, kommen nicht zum Einsatz und Wien, wo dies – ohne dass es dafür eine rechtliche Verpflichtung gab – seit dem Jahr 2000 bis heute lückenlos praktiziert wird, könnte dabei europaweit 6) Wünschenswert wäre zudem, dass mittelfristig mehr Per- als Vorbild dienen. sonen im Gesundheitsbereich tätig sind, was wiederum nicht nur mehr Finanzmittel erfordern würde, denn diese sind nur ein Das derzeit schon bestehende European Cen- Element von vielen. Problematisch sind in diesem Zusammen- hang auch demographische Entwicklungen oder eine geringe tre for for Desease Prevention and Control (ECDC)8 Wertschätzung von Gesundheitsberufen. 7) Die plötzliche Nachfrage hat das Angebot überstiegen, da- her sind die Preise rasant in die Höhe gegangen. 8) https://www.ecdc.europa.eu/en 4 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 15’2020 hat insofern nicht so effizient agieren können, da der Schaffung einer solchen Behörde wohl gerade jetzt Einrichtung die Kompetenzen für dringend umzuset- vorhanden sein. zende Anordnungen nicht übertragen wurden. Die neu zu schaffende European Agency for Health Care Wird bei der Schaffung eines Artikels 168a auch wäre vor allem mit Exekutivbefugnissen, die aller- gleich eine weitreichende Beistandspflicht der übri- dings nur im Krisenfall wirksam sein würden, aus- gen Mitgliedsstaaten für ein in Bedrängnis gekom- zustatten. Da genau seit 100 Jahren in Europa keine menes Mitglied der EU festgelegt (im Fall der Coro- Pandemie mehr aufgetreten ist, hat die Fehlmeinung na-Krise wäre dies eindeutig Italien gewesen), wäre vorgeherrscht, dass es eine solche in einem mo- zugleich auch eine Stärkung des Europagedankens dernen hoch enwickelten Gesundheitssystem nicht damit erreicht. Die Beistandspflicht könnte in einer mehr geben kann. Seit der Corona-Krise kann da- temporären Beistellung von Gesundheitspersonal, von keine Rede mehr sein und jetzt muss behördlich aber auch von anderen Arbeitskräften bestehen, für die Zukunft entsprechend vorgesorgt werden. ebenso in der Übernahme von PatientInnen aus Als europäisches vorbildhaftes Beispiel für eine Eu- anderen Staaten und Regionen, um den Zusam- ropean Agency for Health Care kann die European menbruch eines nationalen Gesundheitssystems zu Union Aviation Saftey Agency (EASA)9 genannt wer- verhindern und die Bilder von medizinischer Schut- den, die wirklich effizient arbeitet. Es gibt Jahre, in zausrüstung, die aus nationalen Überlegungen ei- denen keine einzige Person in Europa im kommerzi- nem plötzlichen Exportstopp unterliegen, würden ellen Flugverkehr ums Leben kam. sich nicht wiederholen. „Die neu zu schaffende European Agency „Angesichts der noch gar nicht endgültig for Health Care wäre vor allem mit Exekutiv- abzuschätzenden Dramatik der Corona-Krise, befugnissen, die allerdings nur im Krisenfall die wohl zu einer jahrelangen Rezession (ver- wirksam sein würden, auszustatten.“ gleichbar mit der Weltwirtschaftskrise von 1929) führen dürfte, wird ein politischer Wille Juristisch könnte gegen eine solche Agentur ein- zur Schaffung einer solchen Behörde wohl ge- gewendet werden, dass die Europäische Union eine rade jetzt vorhanden sein.“ Behörde mit derart weitreichenden Kompetenzen im Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise Klarerweise wären für die Etablierung einer sol- der Europäischen Union gar nicht vorsehe bezie- chen neuen Behörde ausreichend Finanzmittel11 hungsweise ihr die Kompetenz dafür fehle. Dabei bereitzustellen, ganz abgesehen von der Anschaf- wird aber übersehen, dass es nach der Logik der fung der notwendigen Materialien und sonstigen EU die Mitgliedsstaaten sind, die bestimmen, wie Ressourcen (etwa Soft- und Hardware Ressour- weit sie nationalstaatliche Kompetenzen behal- cen, aktualisierte Katastrophenpläne, die auch zu ten oder abgeben, ein bisweilen komplizierter und beüben wären, Informationsmaterial etc.), die in der auch schmerzhafter Vorgang. Angesichts der noch Corona-Krise eben gerade nicht vorhanden waren. gar nicht endgültig abzuschätzenden Dramatik der Wer dafür nicht die nötigen Finanzmittel aufbringen Corona-Krise, die wohl zu einer jahrelangen Rezes- möchte, wird sich aber wohl das Gegenargument sion (vergleichbar mit der Weltwirtschaftskrise von anhören müssen, dass die jetzt bereits beschlosse- 1929) führen dürfte10, wird ein politischer Wille zur nen Hilfspakete, von denen man gar nicht weiß, ob 9) https://www.easa.europa.eu/ 11) Eine Schätzung ist schwierig, aber verglichen mit den EU- Hilfspaketen, die schon geschnürt wurden, wäre es weniger. 10) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ EU-weit geschätzt unter 5 Milliaren €, aber das ist eine gänzlich IP_20_799 (26.05.2020) persönliche Einschätzung. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 5
ÖGfE Policy Brief 15’2020 sie ausreichen werden, ein Vielfaches kosten12. Ver- Literatur glichen mit dem Nutzen, der vielleicht auch gar nicht exakt in Geld messbar sein wird, sind diese Kosten Czypionka, T., Schnabl, A., Lappöhn, S., Plank, K., noch gerade vernachlässigbar. Oder auf den Punkt Reiss, M., Weyerstraß, K., Wimmer, L., Zenz, H. gebracht und an die Einleitung dieses Beitrags an- (2020), Abschätzung der wirtschaftlichen Fol- knüpfend: Welcher politisch Verantwortliche hätte gen des Ausbruchs des neuartigen Coronavirus nicht in der Silvesternacht alles Mögliche und Sinn- (SARS-CoV-2) – 5. Mai 2020, IHS Policy Brief Nr. volle getan, vor allem Geldmittel eingesetzt, um die 1, 24 p. https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/5314/ Auswirkungen der Pandemie einzuschränken, wenn er in die Zukunft hätte blicken können? Grossmann, B., Schuster, P. (2017), Langzeitpflege in Österreich: Determinanten der staatlichen Kos- tenentwicklung, Studie im Auftrag des Fiskalra- tes, Wien. https://www.fiskalrat.at/Publikationen/ Sonstige.html EU hat die Krise unterschätzt, Interview mit Karo- line Edtstadler, Salzburger Nachrichten, 20. Mai 2020, S. 9. Marzi, L.-M., Der juristische Notfallkoffer – neue Wege zur Begrenzung zur Schadensbekämp- fung im Krankenhaus, Zak 8/2009, S. 146-148. Marzi, L.-M., 10 Jahre „Juristischer Notfallkoffer“ im Allgemeinen Krankenhaus Wien. Erfahrungen und Veränderungen in der Schadensabwicklung, Zak 17/2017, S. 327-330. Marzi, L.-M., Risk management and healthcare sa- fety: Ten years of experience at the Vienna Ge- neral Hospital, Journal of Patient Safety and Risk Management, 2018, Vol. 23(6): 265–268. Marzi, L.-M., The Legal Emergency Kit, Official Jour- nal of the European Association of Hospital Ma- nager, 2011, Vol. 23, Issue 1, 2011: 12-14. 12) Ein Return on Investment von 50:1 ist durchaus realistisch. Erfahrungsgemäß sind Ersparnisse etwa 90 Mal höher als die Kosten. Das Problem ist nur, dass zunächst primär Kosten ent- stehen. Das verhält sich ähnlich wie beispielsweise im Fall eines Films, mit dem erst nach der Fertigstellung Einnahmen lukriert werden können. Damit bei PolitikerInnen und ManagerInnen auf Verständnis zu stoßen ist die wirklich große Herausforderung. 6 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 15’2020 Über den Autor Dr. Leopold-Michael Marzi hat Rechtwissenschaften an der Universität Wien studiert. Ab 1989 wurde er in den Dienst der Stadt Wien aufgenommen und von 1998 bis 2016 war er Leiter der Stabsstelle Recht (vorher Rechtsbüro bzw. Rechtsabteilung des Allgemeinen Krankenhauses Wien/AKH Wien). Seit 2017 ist er Leiter der Stabsstelle Vorfallsabwicklung und Prävention in der Ärztlichen Direktion des AKH Wien. Kontakt: marzi@moser-marzi.at Über die ÖGfE Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhän- giger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische In- tegration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von eu- ropapolitischen Informationen. ISSN 2305-2635 Impressum Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck Österreichische Gesellschaft für Europapolitik kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE Rotenhausgasse 6/8-9 oder jener Organisation, für die der Autor arbeitet, überein. A-1090 Wien, Österreich Schlagwörter Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt Pandemie, COVID-19, Coronavirus, Gesundheitsbereich, Sicherheitsstandards, Juristische Aspekte, EU Verantwortlich: Dr. Susan Milford-Faber Zitation Tel.: +43 1 533 4999 Marzi, L.-M. (2020). Vorschläge für eine effiziente, europä- Fax: +43 1 533 4999 – 40 ische Bekämpfung von Pandemien - Juristische Aspekte E-Mail: policybriefs@oegfe.at im Gesundheitsbereich. Wien. ÖGfE Policy Brief, 15’2020 Web: http://oegfe.at/policybriefs Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 7
Sie können auch lesen