Präventionslücken in NRW schließen - Beratungsarbeit gegen rechtsextremistische Radikalisierung strukturell und finanziell unterstützen - Bonn ...
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\ POLICY BRIEF 1 \ 2021 Präventionslücken in NRW schließen Beratungsarbeit gegen rechtsextremistische Radikalisierung strukturell und finanziell unterstützen Maurice Döring, Susanne Heinke, Alina Neitzert, Marc von Boemcken\ BICC Politikempfehlungen \ Mehr finanzielle und personelle Mittel \ Beratende Fallarbeit gegen Rechts- für Beratungsstellen als Antwort auf extremismus braucht eine phänomen- wachsende Radikalisierung von rechts spezifische Ausrichtung und lokale Die Zunahme rechtextremistisch motivierter Straftaten in Verankerung polizeilichen Kriminalstatistiken schlägt sich in den kon- Beratungsstellen sollten auf das Problemfeld Rechtsext- kreten, alltäglichen Erfahrungen der Beratungsstellen ge- remismus konzentriert, lokal verankert und vernetzt sein. gen Rechtsextremismus nieder. Beraterinnen und Berater Das Land sowie die Kreise und kreisfreien Städte in NRW können die hohe Nachfrage nach Unterstützung kaum haben zu prüfen, welche bestehenden Strukturen eine bewältigen. Das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) muss Grundlage für den Aufbau einer solchen fallbezogenen für die Beratungsarbeit im Problemfeld Rechtsextremis- Präventionsarbeit bieten können. Dabei können sie ggf. mus zusätzliche personelle und materielle Kapazitäten zur aus den Erfahrungen mit lokalen Beratungsstellen in der Verfügung stellen. Wichtig ist hierbei, Regelstrukturen den Arbeit gegen Islamismus lernen.. Vorrang zu geben, statt auf zeitlich befristete Projekte zu setzen. \ Zusätzliche Mittel für die direkte und fallbezogene Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus bereitstellen Menschen, die sich am Anfang eines Hinwendungspro- zesses zu rechtsextremen Ideologien und/oder Szene- strukturen befinden, stehen bisher nicht im Fokus der Präventionsarbeit in NRW. Gerade in dieser frühen Phase stehen die Chancen jedoch mutmaßlich gut, einer Radikalisierung erfolgreich entgegenwirken zu können. Das Land sollte zusätzliche finanzielle Mittel bereitstellen, um eine intensive und beratende Fall- arbeit mit radikalisierungsgefährdeten Personen zu ermöglichen. \ POLICY BRIEF 1 \ 2021
PRÄVENTIONSLÜCKEN IN NRW SCHLIESSEN \ M. DÖRING, S. HEINKE, A. NEITZERT, M. VON BOEMCKEN Präventionslücken in NRW schließen: Beratungs- arbeit gegen rechtsextremistische Radikalisierung strukturell und finanziell unterstützen Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Gruppen inzwischen offen und ganz selbstverständ- Herbert Reul, sieht im Rechtsextremismus „mittler- lich mit. Ihre Vertreterinnen und Vertreter halten bei weile eine der größten Gefahren für die Demokratie“.1 Protestveranstaltungen Reden (vgl. Virchow & Häusler, Polizeiliche Statistiken zu „politisch motivierter Kri- 2020). Darüber hinaus ist die Aufdeckung mehrerer minalität“ erfassen im Sechsjahreszeitraum von 2014 rassistischer Chatgruppen innerhalb der Polizei NRW bis 2019 insgesamt 23.622 rechtsextreme Delikte im und sogar des Landesverfassungsschutzes ein besorg- Bundesland, davon 1.375 Körperverletzungen.2 Das ist niserregendes Indiz für die Verbreitung rechtsextremen ein Anstieg von 27 Prozent bei allen Straftaten und Gedankenguts auch innerhalb der Sicherheitsbehörden. von 46 Prozent bei tätlichen Angriffen mit rechts- extremem Hintergrund gegenüber den sechs Jahren Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die davor (2008 bis 2013). Rechtsextreme Delikte stellen Mittel und Kapazitäten Nordrhein-Westfalens zur damit den Löwenanteil der erfassten politisch moti- Prävention rechtsextremer Ideologien und Bewegun- vierten Straftaten. gen ausreichend sind. Um der Hinwendung rechts- offener Personen zu rechtsextremen Einstellungen Nach Schätzungen des Landesverfassungsschutzes und Szenestrukturen auf mehreren Ebenen bzw. an lebten 2019 insgesamt 4.075 Menschen in Nordrhein- verschiedenen Punkten zu begegnen, braucht es eine Westfalen, die in der rechtsextremen Szene organi- möglichst umfassende Präventionsstrategie. Je diffe- siert sind (IM-NRW 2020, S. 28). Knapp die Hälfte renzierter sich Prävention in Bezug auf ihre methodi- davon gilt als gewaltorientiert. Diese Zahl gibt jedoch schen Ansätze, die Zeitpunkte und Dauer der Inter- nur bedingt Aufschluss über das tatsächliche rechts- vention sowie die Zielgruppenbestimmung gestaltet, extreme Personenpotenzial. So stellte die repräsenta- desto erfolgversprechender ist sie. Zudem braucht sie tive Leipziger Autoritarismus-Studie 2018 fest, dass eine angemessene Ausstattung mit Ressourcen. Nach sechs Prozent der befragten Personen in ganz diesen Kriterien nehmen wir im Folgenden eine Deutschland ein „geschlossen rechtsextremes Welt- kurze Bestandsaufnahme der Präventionslandschaft bild“ besitzen (Ostdeutschland: 8,5 Prozent; West- gegen Rechtsextremismus in NRW vor, benennen deutschland: 5,4 Prozent; vgl. Decker et al., 2018, S. 110). ihre Defizite und geben Politikempfehlungen. Übertragen auf NRW wäre demnach abseits organi- sierter Kader von mehreren Hunderttausend Men- schen mit rechtsextremen Einstellungen auszugehen. Rechtsextremismus ist kein Randphänomen, sondern Dieser Policy Brief entstand im Rahmen des Forschungs- reicht in die sogenannte „bürgerliche Mitte“ der projekts „Radikalisierungsprävention in Nordrhein-Westfalen: Gesellschaft hinein. Anschlussfähigkeit an andere Wie können die Kapazitäten von Intermediären gestärkt Milieus zeigt die extreme Rechte bei den bundes- und werden?“ Das Projekt wird vom Ministerium für Kultur und landesweiten Demonstrationen gegen staatliche Wissenschaft NRW gefördert und läuft von 2018 bis 2021. Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Der Schwerpunkt der Forschung liegt auf der Prävention Auch in Nordrhein-Westfalen laufen rechtsextreme islamistischer Radikalisierung. Allerdings führten wir im Rahmen des Projekts auch mehrere Interviews mit Vertrete- rinnen und Vertretern von Beratungsstellen in Nordrhein- Westfalen, die zum Problemfeld Rechtsextremismus arbeiten. 1 \ Zitat auf der Internetseite des Innenministeriums NRW Zuletzt unternahmen wir einen systematischen Vergleich der unter < https://www.im.nrw/rechtsextremismus-im-blick> landesweiten Präventionsarbeit gegen Islamismus und (24. November 2020). Rechtsextremismus, insbesondere im Aufgabenfeld der 2 \ Die Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität sind den Deradikalisierung und Ausstiegsbegleitung (vgl. Neitzert, öffentlich zugänglichen Jahresberichten des Verfassungs- 2021). schutzes NRW entnommen. 2\ \ POLICY BRIEF 1 \ 2021
PRÄVENTIONSLÜCKEN IN NRW SCHLIESSEN \ M. DÖRING, S. HEINKE, A. NEITZERT, M. VON BOEMCKEN Das „Integrierte Handlungskonzept Bundesmittel finanzieren weiterhin in jedem der gegen Rechtsextremismus und Rassis- fünf Regierungsbezirke Nordrhein-Westfalens eine mus“ in NRW „Mobile Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus“. In Nordrhein-Westfalen gibt es bereits eine Vielzahl Umgang mit Rechtsextremismus in von Projekten und Maßnahmen, die sich mit dem Pro- NRW: Umfeld- und Opferberatung, blemfeld rechtsextremer Ideologien in der Gesellschaft primäre und tertiäre Prävention auseinandersetzen. 3 2016 legte die Landesregierung ein „Integriertes Handlungskonzept gegen Rechtsextre- Innerhalb dieser Infrastruktur lassen sich drei kon- mismus und Rassismus“ vor, das den strategischen krete Tätigkeitsschwerpunkte im Umgang mit dem Rahmen für die präventive Arbeit im Bundesland ab- Problemfeld Rechtsextremismus in NRW identifi- steckt und den involvierten staatlichen und zivilgesell- zieren. Ein erstes Arbeitsfeld ist die Umfeld- und Opfer- schaftlichen Akteurinnen und Akteuren seitdem als beratung. Im Vordergrund stehen hier Angebote für wichtiger Bezugspunkt dient. Die landesweite Steue- Betroffene rechter bzw. rassistischer Gewalt und rung der verschiedenen Maßnahmen erfolgt durch die Diskriminierung. Die Landesregierung NRW fördert Landeskoordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus zwei entsprechende Beratungsstellen: die „Opferbe- in der Landeszentrale für politische Bildung, die als ratung Rheinland“ für die Regierungsbezirke Köln Schnittstelle zwischen Land und Bund fungiert. Die und Düsseldorf und die Einrichtung „BackUp“ in Ressortabstimmung leistet eine Interministerielle Dortmund für die übrigen Landesteile. Beide Stellen Arbeitsgruppe (IMAG), während das Landesnetzwerk bieten anonyme und kostenlose Hilfe für Betroffene gegen Rechtsextremismus für den Austausch zwischen an. Neben der Opferberatung gibt es eine Reihe von öffentlichen Stellen, zivilgesellschaftlichen Trägern Beratungsangeboten für Personen und zivilgesell- und Forschungseinrichtungen zuständig ist. schaftliche Gruppen, die sich in ihrem lokalen oder sozialen Umfeld gegen Rechtsextremismus und Ras- Die finanzielle Förderung von Präventionsprojekten sismus engagieren wollen. Einige Beratungsleistun- stammt teilweise von Landesministerien, teilweise gen richten sich zudem an Menschen, die extrem vom Bund, insbesondere aus dem Programm „Demo- rechtes und/oder rassistisches Verhalten in ihrer be- kratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, ruflichen oder privaten Umgebung beobachten und Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Dazu gehören dadurch verunsichert sind. Ein breites Portfolio von die „Partnerschaften für Demokratie“, über die 15 Ge- Hilfestellungen zum Umgang mit Rechtsextremis- meinden in Nordrhein-Westfalen 2020 Fördermittel mus zeichnet etwa die Mobilen Beratungsstellen so- erhalten. Sie werden vom Landesprogramm „NRWeltof- wie die Antidiskriminierungsbüros aus. Auch die lo- fen“ flankiert, das derzeit 25 Kreise und kreisfreie Städte kalen Fachkräfte, die im Rahmen von „NRWeltoffen“ bei der Umsetzung lokaler Maßnahmen gegen Rechts- gefördert werden, bieten teilweise Hilfen für unmit- extremismus und Rassismus unterstützt. Darüber telbar und mittelbar Betroffene sowie für zivilgesell- hinaus fördert das Ministerium für Kinder, Familie, schaftliche Initiativen an. Flüchtlinge und Integration (MKFFI) NRW 13 „Anti- diskriminierungsbüros“. Sowohl Landes- als auch 3 \ Eine Übersicht über die verschiedenen Handlungsinstru- mente, Förderprogramme und Projekte des Landes NRW zum Themenfeld Rechtsextremismus findet sich auf der Internetseite von "NRWeltoffen" unter http://www.nrweltoffen.de/ (24. November 2020). \ POLICY BRIEF 1 \ 2021 3\
PRÄVENTIONSLÜCKEN IN NRW SCHLIESSEN \ M. DÖRING, S. HEINKE, A. NEITZERT, M. VON BOEMCKEN Ein zweiter Arbeitsschwerpunkt ist die sogenannte Mehr finanzielle und personelle Mittel primäre und universelle Prävention. Diese richtet sich an für Beratungsstellen als Antwort auf eine eher breite und unspezifische Zielgruppe, die wachsende Radikalisierung von rechts noch keine Anzeichen einer beginnenden rechts- extremen Radikalisierung erkennen lässt. Dabei geht Die Vielfalt der Projekte gegen Rechtsextremismus es typischerweise um politische Bildungsarbeit, um und Rassismus sollte nicht über einige Kapazitäts- die Vermittlung demokratischer Werte, die Aufklärung defizite hinwegtäuschen. Das betrifft zunächst die über die Verbrechen des Nationalsozialismus, die finanzielle Ausstattung der Beratungsstellen. Auf- Sensibilisierung gegenüber menschenfeindlichem grund der verschärften Bedrohungslage übersteigt Verhalten und die Ermunterung zu zivilgesellschaft- der Bedarf, der an sie herangetragen wird, die vor- lichem Engagement. Die „Partnerschaften für Demo- handenen personellen und materiellen Ressourcen. kratie“ verfügen beispielsweise über eigene Budgets, Bei einer Anhörung im Landtag NRW zum Thema um entsprechende Veranstaltungen durchzuführen. „Ein Gesamtkonzept gegen Rassismus und Rechts- Ein ganz erheblicher Teil dieser primärpräventiven terrorismus jetzt“ am 1. Oktober 2020 berichteten Maßnahmen adressiert Jugendliche und junge Beratungsstellen, dass es „in den letzten Jahren Erwachsene. sowohl in der Zahl als auch in der Intensität der Beratungsprozesse einen massiven Anstieg an Fällen Drittens existieren Programme der sogenannten gegeben“ habe. Die Zunahme rechtextrem motivierter tertiären Prävention, die auf Personen in einem fortge- Straftaten in polizeilichen Kriminalstatistiken schrittenen Hinwendungs- und Radikalisierungs- schlägt sich in den konkreten und alltäglichen prozess zugeschnitten sind. Menschen, die den Erfahrungen der Beraterinnen und Berater nieder, Willen zur Abkehr von rechtsextremen Ideologien die zu dem Problemfeld arbeiten. Die Mitarbeitenden zeigen, erhalten einzelfallorientierte Unterstützung der Opferberatung Rheinland befänden sich laut beim Verlassen rechter Szenenstrukturen. In NRW Anhörung „stetig an der Belastungsgrenze“. Ganz gibt es zwei landesweite Maßnahmen der Tertiärprä- ähnlich geht es den Mobilen Beratungsstellen gegen vention bzw. Ausstiegsbegleitung: das mit Landes- Rechtsextremismus. Wie eine Vertreterin dieser Ein- und Bundesmitteln geförderte und von einem zivil- richtung berichtete, seien diese „strukturell unter- gesellschaftlichen Träger umgesetzte Projekt „NinA besetzt“. Es brauche „dringend mehr Fördermittel“ NRW“ sowie das Aussteigerprogramm „Spurwechsel“ und insbesondere „mehr Beraterinnen und Berater“. des Landesverfassungsschutzes. Daneben betreibt auch das zivilgesellschaftlich getragene Projekt Wichtig ist hierbei, Regelstrukturen den Vorrang zu U-Turn Ausstiegsbegleitung mit einem lokalen geben, statt auf zeitlich befristete Projekte zu setzen, Fokus auf die rechtsextreme Szene in Dortmund. um langfristige Wirkung zu erzielen und inhärente Das Ziel dieser Programme ist es, ausstiegswillige Unsicherheiten zu vermeiden. Die Landesregierung Personen beim Aufbau eines eigenständigen Lebens NRW hat dafür Sorge zu tragen, dass ausreichend zu begleiten, sie in die Gesellschaft zu integrieren Fördermittel für die Beratungsarbeit vorhanden sind. und vor Übergriffen ehemaliger „Kameraden“ und „Kameradinnen“ zu schützen. Auf diese Weise wird zugleich die rechtsextreme Szene geschwächt, Straf- taten verhindert sowie die Sicherheit und Stabilität der Gesellschaft verbessert. 4\ \ POLICY BRIEF 1 \ 2021
PRÄVENTIONSLÜCKEN IN NRW SCHLIESSEN \ M. DÖRING, S. HEINKE, A. NEITZERT, M. VON BOEMCKEN Zusätzliche Mittel für die direkte und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in fallbezogene Präventionsarbeit gegen NRW (IDA-NRW). Fortbildungen für Personen, die Rechtsextremismus bereitstellen beruflich oder ehrenamtlich mit radikalisierungsge- fährdeten oder kürzlich radikalisierten Menschen Opferberatung, Hilfestellungen für verunsicherte arbeiten, bietet „VIR – Veränderungsimpulse setzen Bürgerinnen und Bürger sowie die Unterstützung bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen zivilgesellschaftlicher Initiativen sind neben der Erwachsenen“ an. Doch auch in diesem vom Innen- Primär- und Tertiärprävention zwar elementare Bau- ministerium NRW gemeinsam mit zivilgesellschaftli- steine einer umfassenden Strategie gegen Rechts- chen Trägern geförderten Projekt erfolgt keine direkte extremismus. Für eine effektive Prävention rechts- und professionelle Kontaktaufnahme zu angehenden extremer Radikalisierung klafft in NRW jedoch eine Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten. . Lücke im Bereich der sogenannten Sekundärprävention. Diese richtet sich an Personen, die am Beginn eines Die einzigen echten Beispiele für direkte sekundäre Hinwendungsprozesses zu einer extremistischen Ideo- Prävention in Nordrhein-Westfalen sind bislang das logie stehen, jedoch noch nicht fest in den entspre- im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie le- chenden Szenestrukturen verankert sind. Um eine ben!“ geförderte Modellprojekt „Tandem NRW“, das weitere Hinwendung aufzuhalten, arbeitet die Sekun- allerdings 2019 endete, sowie das Dortmunder Projekt därprävention oft direkt mit den Betroffenen selbst. „U-Turn“. Dieses seit Anfang 2020 bestehende Projekt Gerade in dieser frühen Phase stehen die Chancen betreibt neben der Ausstiegsbegleitung schwerpunkt- mutmaßlich gut, der Radikalisierung erfolgreich ent- mäßig Einstiegsprävention. Die Arbeit ist sozialraum- gegenwirken zu können. Hier braucht es eine aktiv bezogen und zielt darauf ab, die Räume für die Aus- aufsuchende Sozialarbeit, die auf gefährdete Personen breitung der Szene zu begrenzen. Das Projekt ist vor zugeht und – häufig gemeinsam mit deren Familien Ort aktiv, reagiert auf Hinweise und geht im Rahmen und/oder sozialem Umfeld – fallspezifische Lösungs- aufsuchender Sozialarbeit proaktiv auf einstiegsge- wege für eine persönliche Umorientierung erarbeitet. fährdete Personen zu. Es handelt sich jedoch nur um Sekundärprävention unterscheidet sich folglich in ein Modellprojekt in einem urbanen Raum und mit Angebot, Zielsetzung und Ansatz sowohl von den ge- geringer Ressourcenausstattung, das nicht über Dort- genwärtig im Rahmen des integrierten Handlungs- mund hinauswirken kann. konzepts umgesetzten primärpräventiven Maßnah- men als auch von den Ausstiegsprogrammen der Im Bereich der direkten sekundären Prävention klafft tertiären Prävention. in Bezug auf den Rechtsextremismus also eine deut- liche Lücke. Die Landesregierung NRW sollte sie mit Bestehende Maßnahmen der sekundären Prävention einem landesweiten Programm schließen. gegen Rechtsextremismus in NRW beschränken sich meist auf indirekte Beratungsleistungen, also auf Hilfestellungen für Menschen, die sich im sozialen Umfeld radikalisierungsaffiner Personen oder Gruppen bewegen. Hierzu gehört z. B. das mit Bundes- und Landesmitteln betriebene „Netzwerk zur Beratung von Eltern und Bezugspersonen rechtsextrem orien- tierter Jugendlicher“ des Informations- und \ POLICY BRIEF 1 \ 2021 5\
PRÄVENTIONSLÜCKEN IN NRW SCHLIESSEN \ M. DÖRING, S. HEINKE, A. NEITZERT, M. VON BOEMCKEN Vorbild „Wegweiser“? Milieus und Altersgruppen. Darüber hinaus stellt die Koordinierung des „Wegweiser“-Programms durch Im Bereich der Islamismusprävention hat das Land den Verfassungsschutz NRW eine gewisse Hürde für NRW bereits 2014 mit dem Programm „Wegweiser“ erfolgreiche Präventionsarbeit dar. Zwar geben „Weg- eine flächendeckende Infrastruktur für sekundärprä- weiser“-Standorte nur dann personenbezogene Infor- ventive Interventionen geschaffen. Im Mittelpunkt mationen ihrer Fallarbeit an Behörden weiter, wenn steht hier die direkte Fallarbeit mit akut radikalisie- der begründete Verdacht einer akuten Gefährdung rungsgefährdeten, meist jugendlichen Personen, die der öffentlichen Sicherheit besteht. Die formale drohen in die extremistisch-salafistische Szene abzu- Anbindung an den Verfassungsschutz kann dennoch rutschen. Die 25 örtlichen Wegweiser-Standorte werden – bei allem Erfolg der dokumentierten Beratungen – teils von zivilgesellschaftlichen und teils von öffent- in manchen Fällen den für die Sekundärprävention lichen Trägern betrieben und sind in der Regel mit so wichtigen Vertrauensaufbau zu Klientinnen und mindestens zwei vollen Stellen besetzt. Sie erhielten Klienten erschweren (vgl. Döring, Röing, & von Boem- bisher mehr als 23.000 Anfragen, davon 14.000 mit cken, 2020, S. 15). Eine Erweiterung des Mandats von Bezug zu einem konkreten Fall. Beraterinnen und „Wegweiser“ auf den Rechtsextremismus wäre vor Berater von „Wegweiser“ betreuten etwa 1.000 junge diesem Hintergrund keine tragfähige Lösung. Menschen und bis zu 90 Prozent der Einzelfallbera- tungen haben nach Angaben des Innenministeriums Eine enge Zusammenarbeit von Beratungsangeboten NRW einen positiven Verlauf genommen.4 Das Pro- im Bereich Rechtsextremismus mit den „Wegweiser“- gramm profitiert hier von einer großzügigen finanzi- Stellen wäre dennoch wünschenswert. Zum einen ellen Ausstattung von mehreren Millionen Euro, der ginge es darum, von den bestehenden Erfahrungen Präsenz und Einbettung in die Kommunen und Kreise profitieren zu können. Zum anderen wäre eine Ab- sowie einem sozialarbeiterischen, oft aktiv aufsu- sprache bei jenen Fällen sinnvoll, die sich weder dem chenden Ansatz. rechtsextremen noch dem islamistischen Phänomen- bereich eindeutig zuordnen lassen. Gerade in der Die Frage liegt nahe, ob und welche Erfahrungen des Einstiegsphase sind Einstellungen zum Teil noch „Wegweiser“-Programms auch auf die Präventions- nicht gefestigt und es gibt Personen, die Versatzstücke arbeit gegen Rechtsextremismus übertragbar sind. verschiedener Ideologien vermischen. Das kann in Expertinnen und Experten der praktischen Präven- einigen Fällen dazu führen, dass radikalisierungs- tionsarbeit betonen in der Tat immer wieder die gefährdete Personen durchs Raster fallen, weil sich Unterschiedlichkeit der beiden Phänomenbereiche. niemand für sie zuständig fühlt. Prävention gegen Rechtsextremismus erfordere oft ganz andere Expertisen, Zugänge und Methoden als die Arbeit mit islamistisch motivierten Personen. So ist rechtsextremes Gedankengut zwar auch unter Jugendlichen verbreitet, aber anders als beim extre- mistischen Salafismus handelt es sich hierbei nicht vorwiegend um ein Jugendphänomen. Rechtsextreme Ideologien wirken in sehr diversen demographischen 4 \ Vgl. Westdeutsche Zeitung, "Salafisten haben Jugendliche im Visier: 'Wegweiser' gegen die Radikalisierung", 17. Juli 2020, (24. November 2020). 6\ \ POLICY BRIEF 1 \ 2021
PRÄVENTIONSLÜCKEN IN NRW SCHLIESSEN \ M. DÖRING, S. HEINKE, A. NEITZERT, M. VON BOEMCKEN Beratende Fallarbeit gegen Rechts- BIBLIOGRAPHIE UND WEITERFÜHRENDE LITERATUR extremismus braucht eine phänomen- Bartlett, J., & Birdwell, J. (2013). Cumulative Radicalization Between the Far- spezifische Ausrichtung und lokale Right and Islamist Groups in the UK: A Review of Evidence. London: Demos. https://www.demos.co.uk/files/Demos%20-%20Cumulative%20Radi- Verankerung calisation%20-%205%20Nov%202013.pdf (24. November 2020). Decker, O., Kiess, J., Schuler, J., Handke, B., & Brähler, E. (2018). Die Leipziger Vieles spricht dafür, beim Aufbau von Kapazitäten der Autoritarismus-Studie 2018: Methode, Ergebnisse und Langzeitver- direkten Fallberatung bzw. Sekundärprävention im Be- lauf. In O. Decker & E. Brähler (Hrsg.) Flucht ins Autoritäre. Rechtsextre- me Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag, reich Rechtsextremismus auf bereits bestehende Exper- S. 65-116. https://www.boell.de/sites/default/files/leipziger_autoritaris- tisen und Beratungsstrukturen in NRW zum Umgang mus-studie_2018_-_flucht_ins_autoritaere_.pdf?dimension1=ds_leip- ziger_studie (24. November 2020). mit rechtsextremen Ideologien und Gruppen zu setzen. Döring, M., Röing, T., & von Boemcken, M. (2020). 'Prävention ist keine Eintags- Zweifelhaft ist jedoch, ob solche Maßnahmen auf der fliege'. Herausforderungen und Bedarfe der Prävention islamistischer Radika- Ebene der Regierungsbezirke, wo etwa die Mobilen Be- lisierung aus lokaler Perspektive in Nordrhein-Westfalen (BICC Working Paper Nr. 2/2020). Bonn: BICC. https://www.bicc.de/uploads/tx_bicc- ratungsstellen angesiedelt sind, sinnvoll umgesetzt tools/BICC_Working_Paper_2_2020_01.pdf (24. November 2020). werden können. Bereits jetzt berichten Mitarbeitende Fielitz, M., Ebner, J., Guhl, J., & Quent, M. (2018). Hassliebe: Muslimfeindlichkeit, Islamismus und die Spirale gesellschaftlicher Polarisierung. Jena, London & von Anfahrtswegen von bis zu zwei Stunden, um Bera- Berlin: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), (24. November 2020). IM-NRW / Innenministerium NRW. (2020). Verfassungsschutzbericht des Lan- zugspersonen rechtsextrem orientierter Jugendlicher“ des Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2019. Düsseldorf. (24. November 2020). te und aufsuchende Sekundärprävention erfordert eine Neitzert, A. (2021). Deradikalisierung und Ausstiegsarbeit in Nordrhein-Westfalen kontinuierliche und langfristige Begleitung der Klien- (BICC Working Paper. Im Erscheinen). tinnen und Klienten vor Ort. Virchow, F., & Häusler, A. (2020). Pandemie-Leugnung und extreme Rechte in Nordrhein-Westfalen. Kurzgutachten für das Netzwerk für Extremismusfor- schung in Nordhrein-Westfalen – CoRE-NRW (CoRE Paper Series 1/2019.). Der Erfolg der „Wegweiser“-Standorte basiert nicht Bonn: BICC. https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/CoRE_Kurz- gutachten3_2020.pdf (24. November 2020). zuletzt auf der Fähigkeit, lokale Netzwerke zu aktivieren und in ihre Präventionsarbeit mit einzubeziehen. Hieraus gilt es zu lernen. Ein möglicher Anknüpfungs- punkt ist das landesweite Förderprogramm "NRWelt- offen", das in bislang 25 Kreisen und kreisfreien Städten Nordrhein-Westfalens lokale Fach- und Koordinie- rungsstellen für den Umgang mit Rechtsextremis- mus und Rassismus geschaffen hat. Ihre Tätigkeiten umfassen im Wesentlichen die Konzeptentwicklung, Netzwerkarbeit und Umfeldberatung. Aufgrund ihrer lokalen Verankerung und Vernetzung bilden diese Stellen aber möglicherweise eine gute Grundlage für den Aufbau einer sekundärpräventiven Struktur gegen Rechtsextremismus im Land. Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) könnte innerhalb des Programms „NRWeltoffen“ zusätzliche, zweckgebundene Mittel für die direkte Fallarbeit mit radikalisierungsgefährdeten Personen oder Gruppen zur Verfügung stellen sowie Kreise und kreisfreie Städte bei der Einrichtung entsprechender Stellen beratend unterstützen. \ POLICY BRIEF 1 \ 2021 7\
bicc \ Internationales Konversionszentrum Bonn Bonn International Center for Conversion GmbH Pfarrer-Byns-Straße 1, 53121 Bonn, Germany +49 (0)228 911 96-0, Fax -22, bicc@bicc.de www.bicc.de www.facebook.com/bicc.de Direktor Prof. Dr. Conrad Schetter AUTORINNEN UND AUTOREN Maurice Döring \ Wissenschaftlicher Mitarbeiter, BICC Susanne Heinke \ Leiterin Presse & Öffentlichkeitsarbeit, BICC Dr. Alina Neitzert \ Wissenschaftliche Mitarbeiterin, BICC Dr. Marc von Boemcken \ Senior Researcher, BICC EDITORIAL DESIGN Diesseits – Kommunikationsdesign, Düsseldorf LEKTORAT Susanne Heinke L AYOUT Heike Webb VERÖFFENTLICHUNGSDATUM 27. Januar 2021 Except where otherwise noted, this work is licensed under: cf. creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/
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