Was die Schule von der Polis lernen kann

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Was die Schule von der Polis lernen kann
                      Die Laborschule Bielefeld ist anders – und erfolgreich.
                             Das zeigen Ergebnisse der PISA-Studie

Die Laborschule Bielefeld, die unter der Leitung von Hartmut von Hentig im Jahr 1974 ihre
Pforten für den ersten Schülerjahrgang öffnete, war und ist aufgrund ihres besonderen
reformpädagogischen Programms eine der bekanntesten Schulen Deutschlands. An der
Laborschule sollen Schüler anders und anderes lernen als an traditionellen Schulen. Lange
blieb umstritten, welchen Erfolg die Schule mit ihrem Programm hat. Nun tat die Laborschule
den mutigen Schritt, an der PISA-Untersuchung teilzunehmen und die Ergebnisse offen zu
legen. Der vorliegende Bericht dokumentiert die Fachleistungen, die in der Laborschule
erreicht wurden, zeigt besondere Stärken und Entwicklungsfelder der Schule auf und
berichtet, wie zufrieden Schüler und Eltern mit der Laborschule sind. Die Autoren sind
wissenschaftliche Mitarbeiter des Forschungsbereichs Erziehungswissenschaft und
Bildungssysteme am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Leiter des
Forschungsbereichs ist Prof. Dr. Jürgen Baumert, der bei der PISA-Studie in Deutschland die
Federführung hatte.

     Dass die Laborschule Bielefeld anders ist als andere Schulen, merkt jeder Besucher der
Laborschule sofort: Es fehlen die Klassenzimmer. Die Schule – sie ist ein einziger offener
Raum, der keine Wände kennt. Die Lerngruppen haben zwar ihre so genannten
Stammgruppenflächen, diese sind jedoch nie völlig abgeschirmt von den Flächen der anderen
Lerngruppen. Eine erstaunliche Schule, fürwahr! Das Schulgebäude ist der gut sichtbare
Ausdruck einer pädagogischen Vision, die auf Vieles verzichtet, was oftmals als
Kernbestandteil von Schule angesehen wird: Bis zur 9. Klassenstufe gibt es in der
Laborschule keine Schulnoten. Eine Differenzierung der Schüler nach Fachleistung gibt es
nicht – Schüler mit besonderem Förderbedarf werden in derselben Lerngruppe unterrichtet
wie Schüler, die später eine gymnasiale Oberstufe besuchen werden. Anstatt für bestimmte
Schulfächer zu pauken, lernen die Schüler in „Erfahrungsbereichen“ beispielsweise den
„Umgang von Menschen mit Menschen“.
     Die Besonderheiten der Laborschule beschränken sich aber nicht auf den Verzicht auf
Noten, Leistungsdifferenzierung und Klassenzimmer, sondern reichen noch tiefer. Sie zeigen
sich insbesondere im selbst gegebenen Erziehungsauftrag der Laborschule, die mehr sein will
als eine Vermittlungsanstalt für Schulwissen. Die Planung des Gründers der Laborschule,
Hartmut von Hentig, stellt einen in Deutschland einzigartigen Entwurf einer veränderten
Schule dar. Geprägt von Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, sah von Hentig die
„Erziehung zur Politik“ als eine Hauptaufgabe der Schule an. Er konzipierte die Schulumwelt
als „Polis“, als eine eigenständige Schulgesellschaft, die im Kleinen das große Gemeinwesen
widerspiegeln sollte. In dieser Polis sollen die Schüler eine gereifte Persönlichkeit ausbilden
und demokratisches Denken und Handeln einüben. Absolventen der Laborschule sollten einen
Beitrag zu einer „besseren“ Gesellschaft leisten können und wollen. Die Strukturen, der
Unterricht und das Miteinander an der Schule wurden auf diese Ziele hin ausgerichtet.
     In ihrer Abkehr von der „Paukschule“ war die Laborschule Bielefeld für viele so etwas
wie ein Flaggschiff der Vision einer „anderen“, menschlicheren Schule. Sie war und blieb
eine Festung der Reformpädagogik, die viele traditionell orientierte Pädagogen gern schleifen
würden. Dass die Laborschule eine sehr große Aufmerksamkeit auf sich zog und sich trotz
ihres umstrittenen Konzepts behaupten konnte, lag u.a. an einem weiteren Spezifikum: Sie
war von Anbeginn als Schule und Forschungsanstalt angelegt und ist in ihrer heutigen Form
eine Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen und gleichzeitig eine Wissenschaftliche
Einrichtung der Universität Bielefeld. Wissenschaftler und Lehrer der Laborschule forschen
an der Laborschule. Individuelle Lebensverläufe von Schülern, die Wirksamkeit neuer
Lehrmethoden und innovativer pädagogischer Konzepte, der Erfolg auf weiterführenden
Schulen – dies und mehr wurde in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Studien untersucht.
Es gibt kaum eine Schule, die so intensiv untersucht wurde wie die Laborschule Bielefeld.
     Inwieweit ließ diese Forschung einen Schluss darüber zu, ob die Laborschule eine
„gute“ Schule ist? In der Evaluationsforschung bezeichnet man Forschung, wie sie an der
Laborschule betrieben wurde, als „interne Evaluation“: Die Untersucher waren mit der
Laborschule auf die eine oder anderen Art und Weise verbunden. Interne Evaluationen sind
oft besonders erfolgreich und erstrebenswert, weil sie von Kenntnissen der Forschenden über
ihr Forschungsobjekt profitieren, weil sie neuralgische Punkte spezifisch untersuchen können
und weil die Suche nach einer Lösung für ein Problem im Mittelpunkt steht. Gleichzeitig ist
die Qualität interner Evaluation bedroht, wenn die notwendige kritische Distanz von Forscher
und Forschungsobjekt abhanden kommt.
     Externe Evaluationen, also eine Untersuchung durch Außenstehende, sah die
wissenschaftliche Konzeption der Laborschule über lange Zeit nicht vor. Das damals übliche
methodische Handwerkszeug der empirischen Pädagogik schien dem Gründer der
Laborschule als ungeeignet, die Umsetzung seiner Vision einer guten Schule wissenschaftlich
zu begleiten. Das Misstrauen gegenüber der „traditionellen“ Wissenschaft hielt lange an und
führte auch zu einer Ablehnung von systematischen Vergleichsstudien, in denen ein- und
derselbe Schulleistungstest bzw. Fragebogen in vielen unterschiedlichen Schulen eingesetzt
wird, um die Schulen miteinander vergleichen zu können. Solche Studien galten (und gelten
in der Laborschule z.T. bis heute) als wissenschaftlich problematisch, praktisch irrelevant und
bildungspolitisch schädlich. Es wurde angenommen, dass Leistungsvergleichsstudien
notwendigerweise zu einer Normierung des Unterrichts führen würden, dass nur noch Wissen
gepaukt würde, das in Leistungsvergleichen abgetestet werden kann, anstatt das zu lernen,
was Menschen zur Lebensbewältigung benötigen. Ob es einer Schule dagegen gelinge, bei
ihren Schülern ein positives Selbstbild zu fördern oder sie zu demokratischem Handeln zu
befähigen, würde – so die Annahme weiter – in Schulvergleichsstudien nicht erfasst.

                    Leistungsvergleichsstudien an Versuchsschulen

     In den vergangenen Jahren haben sich viele reformpädagogisch orientierte Schulen für
die empirische Schulvergleichsforschung geöffnet. Neben dem Druck aus Politik,
Wissenschaft und Öffentlichkeit auf Versuchsschulen, sich externen Evaluationen zu stellen
und Rechenschaft über die eigene Arbeit abzulegen, scheinen drei Punkte für diese
Annäherung verantwortlich zu sein. Zum einen verebbte der Streit darüber, was in der Schule
gelernt werden soll. Es besteht heute kein Dissens mehr über die zentrale Bedeutung von
Lesefähigkeiten, Mathematik und Naturwissenschaften als selbstverständlich nicht die
einzigen, aber wichtigen Zugänge des Menschen zu seiner Umwelt. Obwohl die
pädagogischen Ziele der Laborschule z.B. der traditionellen Schulmathematik keine
besondere Rolle zuschreiben, wird von der Laborschule die Bedeutung der Mathematik im
heutigen Schulsystem anerkannt. Deshalb sollen Laborschüler so gut die Schulmathematik
beherrschen, dass sie bei einem Übergang in eine weiterführende Schule keine Nachteile
haben. Leistungsvergleichsstudien können Aufschluss darüber bringen, ob dieses Ziel
tatsächlich erreicht wurde. Zum zweiten wurde zunehmend deutlich, dass
Schulvergleichsstudien durchaus „fair“ sein können. Die Befürchtung, dass Schulen, die bei
einer „schwierigen“ Schülerschaft gute Arbeit leisten, in Vergleichstest schlecht abschneiden,
wurde entkräftet: Die Ausgangsbedingungen einer Schule werden in komplexen statistischen
Berechnungen mit berücksichtigt, so dass die an einer Schule erzielten Leistungen mit den zu
erwartenden Leistungen verglichen werden können. Drittens hat sich die Einsicht
durchgesetzt, dass sich Schulvergleichsstudien keineswegs auf die Schülerleistung in
bestimmten Fächern beschränken müssen. Es lassen sich durchaus auch andere zentrale
Zielbereiche erfassen und untersuchen: Wie fühlen sich die Schüler einer Schule? Welches
historische Verständnis zeigen sie? Welches Maß an politischem Engagement zeigen sie?
Was verstehen sie von Ökonomie? Wie kooperieren sie miteinander? Wie zufrieden ist die
Elternschaft mit der Schule? All dies sind wichtige Informationen, die Schulen bei ihren
Schulentwicklungsmaßnahmen berücksichtigen können.
     Heute gehören einige reformpädagogisch orientierte Schulen zu den ersten, die die
Chancen der Vergleichsstudien systematisch für die eigene Schulentwicklung nutzen. Bereits
vor drei Jahren ließen sich fünf hessische Gesamtschulen mit besonderem pädagogischen
Profil in einer damals in Deutschland beispiellosen Studie mit Instrumenten aus der
Internationalen Leistungsstudie zur Mathematik- und Naturwissenschaft (TIMSS)
untersuchen – über die Ergebnisse informiert ein in Kürze beim Juventa-Verlag erscheinendes
Buch. Dann war es auch an der Laborschule Bielefeld soweit: Wissenschaftler des Max-
Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin, wurden gebeten, die Schule systematisch im
Rahmen von PISA zu untersuchen. Anders als in den übrigen PISA-Schulen nahmen an der
Laborschule allerdings sämtliche 15jährigen Schüler an der Untersuchung teil, weshalb für
die Auswertung eine verlässlichere Datenbasis zur Verfügung steht. Außerdem wurden an der
Laborschule zusätzliche Instrumente aus anderen nationalen und internationalen
Schulvergleichsuntersuchungen eingesetzt, um insbesondere für den Bereich der politischen
Bildung aussagekräftige Befunde zu ermöglichen. Die Untersuchung nahm insgesamt zwei
Schultage in Anspruch. Als Vergleichsgruppe für die im Folgenden dargestellten Befunde
dienen durchgängig Schülerinnen und Schüler aus Nordrhein-Westfalen.

                           Fachleistungen an der Laborschule

     Auch wenn das Konzept der Laborschule für den fachbezogenen Kompetenzerwerb
weniger differenziert ist als für die Entwicklung sozialer und politischer Kompetenzen, wird
die Wichtigkeit dieses Zielbereichs nicht in Zweifel gezogen. Die Schülerinnen und Schüler
der Laborschule sollen nicht weniger lernen als andere, nur anders – und vielleicht dadurch
auch mehr. Dabei wird besonders betont, dass alle Kinder und Jugendlichen dieses Ziel
gleichermaßen erreichen sollen. Unter dem Stichwort „Bildung für alle“ strebt die
Laborschule an, Freiräume für individuelle Lernprozesse zu schaffen, um auf diese Weise
Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen optimal zu fördern. Mit
der Beteiligung an PISA hat die Laborschule nun den Schritt gewagt zu überprüfen, inwieweit
ihr dies in den untersuchten Bereichen auch tatsächlich gelingt. In den Bereichen Lesen,
Mathematik und Naturwissenschaften ergibt sich ein weitgehend positives und gleichzeitig
differenziertes Bild. Die durchschnittlichen Leistungen der 15-Jährigen in der Laborschule
liegen in allen drei Bereichen deutlich über den Mittelwerten Nordrhein-Westfalens (vgl.
Abb. 1). Im Lesen und in Naturwissenschaften beträgt der Leistungsvorsprung mehr als 40
Punkte, was nach Schätzungen aus TIMSS, PISA und anderen Leistungsstudien dem
Lernzuwachs von gut einem Jahr entspricht. Da jedoch Schülerleistungen nicht nur durch die
Schule sondern auch durch die Familie, die Freundesgruppe und andere Miterzieher in
modernen Gesellschaften beeinflusst werden, sagen diese Befunde noch nichts über die
Effektivität der Laborschule aus; die Mittelwertsunterschiede könnten einfach dadurch
bedingt sein, dass die Schülerinnen und Schüler der Laborschule besonders günstige
Lernvoraussetzungen mitbringen. Und tatsächlich verfügen die Eltern der 15-Jährigen in der
Laborschule im Durchschnitt beispielsweise über deutlich höhere Schul- und
Berufsabschlüsse als die Eltern von Jugendlichen in anderen Schulen Nordrhein-Westfalens.
Um trotzdem erste Hinweise auf die Effektivität der Laborschule zu erhalten, muss man die
dort erzielten Testleistungen mit denen von Schülerinnen und Schülern anderer Schulen
vergleichen, die über einen ähnlichen familiären Hintergrund und ähnliche kognitive
Grundfähigkeiten verfügen. Dieser Vergleich ergibt folgendes Profil (vgl. Abb. 1): In den
Bereichen Lesen, Biologie, Chemie und Physik entsprechen die Leistungen der Laborschüler
dem Leistungsstand vergleichbarer Schüler. Hier erreicht die Laborschule also ihr Ziel, ihre
Schülerinnen und Schüler so zu fördern, dass sie gegen Ende der Schulpflicht über ein
ähnliches Kompetenzniveau verfügen wie andere Jugendliche. In Mathematik bleiben die
Leistungen der Laborschülerinnen und -schüler dagegen etwas unter dem erwarteten
Mittelwert. Die Differenz ist zwar nicht übermäßig groß, aber doch Anlass genug, um über
mögliche Ansatzpunkte für Verbesserungen nachzudenken. Wenn die Schule schließlich
Empfehlungen für den Übergang in die gymnasiale Oberstufe gibt, legt sie Standards an, die
an Gymnasien in NRW üblich sind.
     In Bezug auf das Kompetenzniveau bewegt sich die Laborschule also weitgehend in
einem zufriedenstellenden Bereich. Wie sieht es nun aber mit dem Ziel „Bildung für alle“
aus? Gelingt es der Laborschule, alle Schülergruppen gleichermaßen zu fördern? Ein Blick
auf die Geschlechterunterschiede zeigt, dass die Mädchen in der Laborschule deutlich bessere
Ergebnisse erzielen als die Jungen. Dieser Vorsprung ist im Lesen besonders ausgeprägt, aber
auch in Mathematik und Naturwissenschaften ist er sehr groß. Dies ist unter anderem darauf
zurückzuführen, dass in der Laborschule mehr Mädchen als Jungen aus bildungsnahen
Familien kommen. So haben beispielsweise deutlich mehr Mädchen einen Elternteil mit
Hochschulabschluss als Jungen. Die Laborschule erscheint also bildungsnahen Familien vor
allem für ihre Töchter als attraktiv. Und tatsächlich legen die Daten den Schluss nahe, dass
die Laborschule besonders für die Mädchen ein günstiges Lernumfeld darstellt. Die von den
Mädchen in der Laborschule erzielten Leistungen entsprechen in den Bereichen Lesen und
Mathematik grob denen vergleichbarer Mädchen in anderen Schulen. In den
Naturwissenschaften übertreffen die Laborschülerinnen die Vergleichsgruppe sogar um etwa
20 Punkte. Die Leistungen der Jungen liegen dagegen unter den Werten ihrer
Vergleichsgruppe. In den Bereichen Lesen und Naturwissenschaften sind die Differenzen
vergleichsweise klein. In Mathematik beträgt der Unterschied jedoch 25 Punkte, was dem
Lernzuwachs von mehr als einem halben Jahr entspricht. Die Befunde weisen also darauf hin,
das die Mädchen stärker als die Jungen von den besonderen Lernbedingungen in der
Laborschule profitieren.
     „Bildung für alle“ bedeutet auch, dass Kinder und Jugendliche möglichst unabhängig
von der Schichtzugehörigkeit gute Bildungserfolge erzielen. PISA hat gezeigt, dass
Schulleistungen in Deutschland stärker als in anderen Staaten von der familiären Herkunft der
Schülerinnen und Schüler abhängen. Inwieweit gelingt es der Laborschule, diesen
Zusammenhang zu lockern? Erste Analysen weisen darauf hin, dass die Laborschule in dieser
Hinsicht weder besonders gute noch besonders geringe Erfolge erzielt. Zumindest ist der
Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Eltern und den Schulleistungen
ihrer Kinder innerhalb der Laborschule ähnlich eng wie in der Gesamtgruppe der 15jährigen
in Nordrhein-Westfalens.

                                 Die Erziehung zur Politik

     Der Förderung einer demokratischen Handlungskompetenz wird an der Bielefelder
Laborschule eine ganz besondere Bedeutung beigemessen. So sah Hartmut von Hentig die
„Erziehung zur Politik“ als eine Hauptaufgabe der Schule an. Er konzipierte die Laborschule
als eine Polis, welche die Merkmale der Demokratie in sich enthalten soll: Schüler und
Lehrkräfte sollen in einem verkleinerten, überschaubaren und institutionell geschützten
Rahmen die Erfahrung des Bürgerhandelns machen können, das auf Selbstbestimmung,
Verantwortungsübernahme, Verständigung und Vertrauen beruht. Gezielt wird hierbei auf
eine homogen zusammengesetzte Schülerschaft verzichtet, da diese den Schülern die
Erfahrung gesellschaftlicher Vielfalt vorenthalte. Nur in einer durch Heterogenität
bestimmten Schul“gesellschaft“ – so von Hentig – könnten sich politisch bestimmende
Vorstellungen entfalten: „Unterschiede kennen und bejahen lernen, Benachteiligungen
aufheben, Chancengleichheit nicht mit Gleichbehandlung und gleichmachen verwechseln,
wahrnehmen, wie viele Formen von unverschuldeter Benachteiligung es gibt“ (von Hentig,
1990, S. 14). Welche Effekte hat die „Polis“ auf ihre Schüler? Wir gehen im Folgenden der
Frage nach, auf welche Weise Laborschüler auf strukturelle Benachteiligung reagieren,
inwieweit sie zu Verantwortungsübernahme bzw. -abwehr neigen, und wie ausgeprägt ihre
Bereitschaft für soziales Engagement ist.
     Zur Erfassung von Verantwortungsübernahme und Verantwortungsabwehr wurden den
Laborschülern zwei Texte vorgegeben, in denen die Situation von Jugendlichen in
Entwicklungsländern und die Lage osteuropäischer Arbeiter, die illegal in Deutschland
arbeiten, beschrieben wurden. Im Anschluss sollten die Schülerinnen und Schüler eine Reihe
von Aussagen im Hinblick darauf beurteilen, inwieweit sie den eigenen Gedanken und
Gefühlen entsprechen. Beispielaussagen lauteten: „Es macht mir zu schaffen, dass ich –
verglichen mit diesen Menschen – in einer besseren Lage bin“ (Verantwortungsübernahme).
„Die Leute haben sich das selbst zuzuschreiben, weil sie häufig nicht bereit sind, sich
ausbilden zu lassen“ (Verantwortungsabwehr). Die Aussagen wurden situationsübergreifend
zu den Skalen Verantwortungsübernahme und Verantwortungsabwehr zusammengefasst.
     Insgesamt zeigten sich (vgl. Abb. 2) sehr große Unterschiede zwischen der Laborschule
und Schulen mit vergleichbarer Schülerschaft. Laborschüler tendieren in deutlich geringerem
Maße dazu, auf strukturelle Ungerechtigkeiten mit Verantwortungsabwehr zu reagieren.
Gleichzeitig ist bei ihnen die Neigung zur Verantwortungsübernahme erheblich stärker
ausgeprägt. Zwei weitere Befunde an der Laborschule stehen zudem im Einklang mit
psychologischer Forschung, die die Bedeutung dieser beiden Werthaltungen für die
Entwicklung sozialer Handlungsorientierungen aufgezeigt hat. Zum einen haben wir die
Schüler danach gefragt, welche Formen der politischen Beteiligung für sie in Frage kommen.
Dabei zeigte sich bei den Laborschülern eine erheblich höhere Bereitschaft zu sozialem
Engagement (z.B. armen oder älteren Menschen helfen, Unterschriften für einen offenen Brief
sammeln). Zum anderen bekundeten die Laborschüler eine höhere Bereitschaft zur Integration
von Zuwanderern.
     Interessanter Weise unterscheiden sich die Laborschüler nur wenig von Gleichaltrigen
auf Vergleichsschulen, wenn es um schulnahe Dimensionen sozialen und demokratischen
Denkens und Handelns geht. Die von den Schülern berichtete Bereitschaft, sich in die
Mitschüler hineinzudenken und deren Perspektive zu übernehmen, das berichtete Ausmaß an
Unterstützung von Mitschülern im Unterricht sowie die Einhaltung von Normen in der Schule
ist ähnlich ausgeprägt wie bei Gleichaltrigen auf anderen Schulen.
Die Zufriedenheit und das Wohlbefinden

     Wie beurteilen an der Laborschule die Schüler und ihre Eltern die Schule und ihre
Lehrer? In PISA wurden den Schülern und ihren Eltern eine Reihe von Fragen vorgelegt, die
die Schulzufriedenheit der Schüler, die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern sowie die
Urteile der Eltern über die Schule und ihre Eltern thematisierten. Die Fragen helfen den
Schulen, ein realistisches Bild von der Zufriedenheit ihrer „Kundschaft“ zu erhalten.
     Das pädagogische Programm der Laborschule Bielefeld betont, wie wichtig für Kinder
und Jugendliche eine verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Lehrern ist. Die
Lehrer der Laborschule interessieren sich nicht nur für die Leistungsfortschritte, sondern
insbesondere auch für die Persönlichkeitsentwicklung. Zwischen Lehrern und Schülern soll
sich ein persönlicher Kontakt entwickeln, bei dem der Lehrer auch die individuellen
Bedürfnisse seiner Schüler kennen lernt und ernst nimmt. Wie wirkt sich dies auf die Schüler
aus? Spüren sie eine besonders intensive Schüler-Lehrer-Beziehung? In der PISA-
Untersuchung wurden die Schüler gebeten zu beurteilen, wie sehr Aussagen wie die
folgenden auf ihre Lehrer zutreffen: „Unsere Lehrer/innen haben Verständnis für unsere
persönlichen Probleme“ – „Insgesamt habe ich zu den meisten Lehrerinnen und Lehrern
volles Vertrauen“ (1 = stimmt gar nicht; 5 = stimmt ganz genau). Die Antworten wurden
zusammengefasst und über alle Schüler der Laborschule gemittelt. Insgesamt zeigten sich
(vgl. Abb. 3) sehr große Unterschiede zwischen der Laborschule sowie Integrierten
Gesamtschulen und Gymnasien aus Nordrhein-Westfalen – die Laborschüler nehmen weit
mehr Interesse und Unterstützung von Seiten der Lehrer wahr und vertrauen ihnen stärker.
     In ähnlicher Weise wurden die Schüler nach ihrer allgemeinen Schulzufriedenheit
gefragt (Beispiel: „Ich gehe gerne in meine Schule“; „Ich fühle mich in unserer Schule gut
aufgehoben“). Die Befragung zeigt eine insgesamt sehr positiv ausgeprägte allgemeine
Schulzufriedenheit der Laborschüler. Es passt in dieses Bild, dass auch die Eltern der
untersuchten Laborschüler auf die Frage „Wie zufrieden sind Sie mit der Schule Ihrer
Tochter/ Ihres Sohnes insgesamt?“ eine überdurchschnittliche Zufriedenheit angaben. Wird
danach gefragt, wie die Eltern den Einsatz und die Anstrengungsbereitschaft der Lehrer
beurteilen, schneidet die Laborschule im Vergleich mit Gymnasien und Integrierten
Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen sogar noch positiver ab.

                      Fachleistung und Persönlichkeitsentwicklung

     Am Beispiel der Laborschule lässt sich erkennen, dass eine bewusste pädagogische
Schwerpunktsetzung auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler und die Entwicklung
demokratischer Einstellungen nicht mit Einbußen bei den Fachleistungen einhergehen muss.
Die Dichotomie von Persönlichkeits- und Leistungsentwicklung ist überwunden – der
Laborschule gelingt es, eine anspruchsvolle pädagogische Vision und die Förderung der
Fachleistung unter ein Schuldach zu bekommen. Die besonderen Stärken der Laborschule in
verschiedenen fachbezogenen und nicht-fachbezogenen Aspekten konnten mit den Befunden
aus PISA gut dokumentiert werden und werden den Lehrern an der Laborschule die
Zuversicht geben, sich auf einem richtigen Weg zu befinden. Von noch mehr Nutzen für die
weitere Schulentwicklung an der Laborschule sind womöglich aber die weniger positiven,
vielleicht teilweise auch unerwarteten Befunde: Die hinter den Erwartungen zurückbleibenden
Fachleistungen in Mathematik etwa und die Geschlechterunterschiede, die übrigens nicht nur
bei Fachleistungen gefunden werden konnten, sondern auch bei einigen Dimensionen
politisch-sozialer Handlungsbereitschaft sowie bei der Wahrnehmung der Schulumwelt. Die
Herausforderung für alle Beteiligten an der Laborschule, für Schüler eine fördernde Lern- und
Lebensumgebung zu schaffen und zu bewahren, bleibt bestehen – die Vergleichsdaten mit
anderen Schulen, die die Stärken und Schwächen der Laborschule aufzeigen, dürften der
Laborschule dabei helfen, diese Herausforderung zu bewältigen.

Autoren: Ulrich Trautwein, Petra Stanat, Rainer Watermann, Stefan Krauss und Martin
Brunner, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Abbildung 1.

                 Testleistungen der Schülerinnen und Schüler

  550
  530                                                   Laborschüler/innen

  510                                                   Schüler/innen in NRW
  490
                                                        vergleichbare Schüler/innen in
  470
                                                        NRW
  450

                                                    n
             n

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                       at

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                      M

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                                   N
Abbildung 2.

                         Soziale Werthaltungen

    5
  4,5
    4
  3,5                                                   Laborschule
    3                                                   IGS
  2,5                                                   Gymnasium
    2
  1,5
    1
               Verantwortungs-   Verantwortungsabwehr
                 übernahme
Abbildung 3.

           Schüler- und Elternurteile über die Schule und
                             die Lehrer

  5
  4                                                         Laborschule
  3                                                         IGS
                                                            Gymnasium
  2
  1
        Beziehung      Schüler: Schul-   Eltern: Schul-
      Schüler - Lehrer zufriedenheit     zufriedenheit
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