Chat - Kommunikationsmedium mit Entwicklungspotential?
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Chat – Kommunikationsmedium mit Entwicklungspotential? (Thorsten Dresing info@dresing-pehl.de ) (Text und Originalerhebung auch als download unter www.dresing-pehl.de - Heller, J.; Dresing, T.: Chat - Kommunikationsmedium mit Entwicklungspotential. - In: Bader, R.; Schindler, W.; Eckmann, B. (Hrsg.): Bildung in virtuellen Welten - Praxis und Theorieaußerschulischer Bildung mit Internet und Computer. - Frankfurt am Main: Gemeinschaftswerk d. Evang. Publizistik, 2001, S. 83-90. "Bildung in virtuellen Welten - Praxis und Theorie außerschulischer Arbeit mit Internet und Computer" von W.Schindler, R.Bader und B.Eckmann; Februar 2001; ISBN 3-932194-38-1) LOG BUCH – Einleitung. Der Focus titelt im August 2000, der „Chat“ biete attraktiven zwischenmenschlichen Austausch über das Internet. Trotzdem hört man immer wieder von möglichen Gefahren, die eine intensive Chat- und Internetnutzung mit sich bringen. Haben wir es nun mit “sozialer Isolation und suchtähnlicher Flucht in eine Schein-Realität” oder mit einer neuen, positiv nutzbaren Interaktionsform unter veränderten Kommunikationsbedingungen zu tun? In unserer Untersuchung haben wir die Nutzer zweier verschiedener Chats dazu befragt. Uns interessierte, wie intensiv und von wem ein Chat genutzt wird und was diese Menschen dabei empfinden. Nach einer Einführung in das „Chatten“ (LOG IN) schildern wir unsere wichtigsten Ergebnisse (LOGGED IN) und versuchen im Anschluss Stellung zur Suchtproblematik zu nehmen (LOCKED IN). Das Fazit (LOG OUT) bildet unseren Abschluss und beinhaltet unsere Empfehlung. LOG IN – Was ist ein Chat und wie kann man hier „überleben“? Obwohl an dieser Stelle vor allem ein Praxistest zu empfehlen ist, halten wir es für sinnvoll, auch einen systematischen Einblick in einen Chat zu geben . Der Chat ist ein textbasierter, computervermittelter Dialog, der zwischen zwei oder mehreren Teilnehmern stattfindet. Im Unterschied zur Kommunikation via Email läuft die Kommunikation im Chat zeitlich synchron ab, so dass man direkt miteinander kommunizieren und aufeinander reagieren kann. Es gibt verschiedene Chat-Kommunikationsmöglichkeiten, wie z.B. das IRC (Internet Relay Chat), ICQ (I seek you), den mittlerweile veraltete “Talk-Dienst” und den Web-Chat mittels der jeweils erforderlichen Software (z.B. Web-Browser). Als Voraussetzung für die Teilnahme in den meisten Chats sind neben dem PC mit Internetzugang einige grundlegende Hilfestellungen notwendig. Jeder Teilnehmer muss sich einen ‚Nickname‘ (Spitzname, Pseudonym) auswählen, bevor er teilnehmen kann. Dieser kann dem eigenen Namen ähneln (Sandra22), ein reiner Phantasiename sein (Batman), oder eine bedeutungsleere Zahlen- und Buchstabenkombination darstellen (sgf12). Man hat so schon von vornherein die Möglichkeit, Interessen, Geschlecht und Bekanntheit 1
mitanzugeben oder sich zu anonymisieren, denn in den allermeisten Chats besteht keine Möglichkeit sich zu sehen oder zu hören (Ausnahme z.B. Videokonferenz mit Netmeeting). Die Interaktion der User erfolgt also nahezu ausschließlich mittels der Tastatur. Ein reger Gedankenaustausch erfordert neben einer einwandfreien Datenübertragung vor allem eine schnelle Aktion und Reaktion der User. Gute Lese- und Tippfähigkeiten sind ein sinnvolles Handwerkszeug, wenn man in einem Chatraum, in dem sich oft mehr als 20 Teilnehmer an Gesprächen beteiligen, aktiv mitwirken will. Um Zeit zu sparen und mangelnde Tippfähigkeiten zu kompensieren, sind die Textbeiträge sehr kurz gehalten (ein bis maximal zwei Zeilen), außerdem werden Akronyme (rotfl= rolling on the floor laughing; lol= laughing out loud) verwendet. Um die mangelnde Gestik und Mimik eines ‚Face to Face‘ Gesprächs zu ersetzen, verwenden die Chatter zusätzlich Aktions- und Soundwörter (*g*= grinsen; *froi*= sich freuen; *hmm*= nachdenken; *brr*= frieren). Sie sind fester Bestandteil der Chatkommunikation und dienen des weiteren der Zeitersparnis. Man kann damit auch seine Stimmung oder die Bedeutung des Geschrieben näher erläutern z.B. durch Smilies ;-). Ebenso können Ausdrücke durch Großschreiben verstärkt werden z.B. HALLO. Gerade das Fehlen der visuellen und auditiven Kanäle und die mögliche Anonymität bieten eine Vielzahl interessanter Handlungsoptionen. Der (nichtexistierende) 13 jährige Peter kann als VIVA Moderator auftreten, die 20 jährige Julia als 65 jähriger Rentner und sogar ein Computer könnte (und hat schon!) sich als Person in einem Chat simulieren. Einem dabei möglicherweise aufkommenden Fehlverhalten eines Chatters wird meist schnell ein Riegel vorgeschoben, denn es gibt in den meistens Chats sogenannte „Superuser“(so z.B. im ProSieben Chat), „Bots“ o.ä.. Sie haben ein aufmerksames Auge auf die anderen Teilnehmer und ihr Verhalten. Das beinhaltet die Möglichkeit, ungebetene Gäste, sprich Personen, die die ungeschriebenen Gesetze der Netzkommunikation (Netiquette) verletzen, sei es durch sexistische, gewaltverherrlichende oder rechtsradikale Äußerungen, aus dem Chatbereich auszuschließen. Natürlich kann ein „Superuser“ nicht alles sehen und ständig vor Ort sein, darum gibt es meist mehrere Berechtigte, die gleichzeitig anwesend sind. Zudem können die Rechte eines Superuser auch an vertrauenswürdige Personen weitergegeben werden. Diese Entscheidung obliegt allein der innehabenden Person. LOGGED IN – Die Vorgehensweisen, Methoden und Ergebnisse der Erhebung. 2
Nachdem wir eine Weile selbst gechattet hatten, uns unter verschiedenen Namen angemeldet, gelacht und auch mal herausgeworfen wurden, stellte sich für uns die Frage, wie die anderen Mitchatter sich in ihrem Medium sehen und wie sie damit umgehen. Wir fanden es zu Beginn sehr schwierig längere bzw. mehrere Gespräche gleichzeitig zu führen und sich an die allgemeinen Regeln, Schreibweisen und die Geschwindigkeit zu gewöhnen. So inspiriert starteten wir Anfang 2000 eine Erhebung. Wir haben uns dabei für einen Onlinefragebogen entschieden, da er eine zeit- und kostengünstige, netzimmanente und standardisierte Befragung ermöglichte. Die Teilnehmer konnten so bequem auf einer Homepage die entsprechenden Fragen per Mausklick oder Tastatur beantworten. Unsere 140 “Opfer” fanden wir in den Chats der Community ‚art of com‘ (http://www.artofcom.de damals Schmooz-Community) und des Fernsehsenders ProSieben (http://www.prosieben.de/chat). Dafür wurde jede Person einzeln im Chat angesprochen, informiert und zur Teilnahme gebeten. Das war zunächst gar nicht so leicht. Die Chatter fingen zwar bereitwillig sofort ein Gespräch mit uns an, aber wenn es um die Beantwortung eines Fragebogens ging und die Personen uns nicht kannten, war doch eine Menge an Überzeugungsarbeit zu leisten. Hatten die Chatter das Gefühl dass es um sie persönlich ging und dass ihre Antwort zählt, waren die meisten zur Mithilfe bereit. Die Chat-User, die zu 2/3 (62,6%) aus Männer bestehen und im Schnitt 25 Jahre alt sind (Range der Befragten 13-58 Jahre,), fühlen sich in der Regel verstanden und in die Gemeinschaft der anderen Chatter integriert. Sie investieren viel Zeit (Mittelwert=15,8 Stunden wöchentlich) in die Aufrechterhaltung und Erweiterung der sozialen Beziehungen im Netz. Sehr viel mehr als in der größten deutschen Internetstudie @facts von forsa und der Multimediagruppe München mit 32529 Befragten Personen. Hier lag die Nutzungsdauer des Internets im Schnitt zwischen 3,5 und 6 Stunden pro Woche. Dabei sind in unserer Erhebung Frauen im Schnitt sogar noch etwas länger online (Mittelwert=16,5 Stunden). Auffällig ist auch, dass in der höchsten Altersgruppe zwischen 36 und58 Jahren die Onlinezeit im Schnitt extrem hoch liegt (Mittelwert Männer=20,2, Frauen=19,3 Stunden pro Woche). Insgesamt bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass Onlinezeiten von 26 oder mehr Stunden pro Woche keine absolute Ausnahme bilden (Anteil über 20%). Unsere Umfrage ergab, dass die Mehrzahl der Befragten ehrlich im Chat auftritt und niemanden durch das Vorspielen falscher Tatsachen zu täuschen versucht. Die Mehrzahl der User nehmen weder andere Verhaltensweisen („Beim Chatten gehe ich ehrlicher und offener auf andere Menschen zu, als im sonstigen Leben.“; knapp 61% sagen dazu „manchmal“ bzw. „oft“), noch nehmen sie eine komplett andere Identität („Beim Chatten experimentiere ich mit unterschiedlichen Rollen (z.B. Geschlechtertausch).“; knapp 85% sagen „selten“, „nie“ ist als 3
Antwortmöglichkeit nicht vorhanden gewesen), es sei denn, sie fühlen sich von den anderen missverstanden (also anders als man hätte vermuten können!). Ein Grund dafür, dass einige Frauen im Chat ihre Geschlechtsidentität wechseln, könnte der Versuch sein, sich vor allzu aufdringlichen Chatpartnern zu schützen. Denn wenn der Nickname eindeutig als weiblich zuzuordnen ist, wird man wesentlich häufiger angesprochen, manchmal häufiger als einem lieb ist (Probieren Sie es selbst aus!). Darauf lässt auch die hochsignifikante positive Korrelation von 0,391 (p=0,004, zweiseitig) bei dem Antwortverhalten der Fragen nach dem Rollentausch und dem Gefühl des Missverstandenwerdens schließen. Wobei man sich generell aber nur selten missverstanden fühlt („Wenn ich chatte, habe ich das Gefühl, die anderen können mich nicht so gut einschätzen oder missverstehen mich eher als im sonstigen Leben.“; knapp 87,5% antworten „selten“ oder „manchmal“). Unsere Untersuchung ergab außerdem, dass sich die Chatter untereinander unterstützen und leichter persönliche Probleme miteinander besprechen können. Hierbei erfahren sie häufig mehr über ihre Mitchatter, als dies sonst im realen Leben bei neuen Kontakten der Fall wäre („Beim Chatten erlebe ich seltener eine Hemmschwelle bei der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen, als im realen Leben.“; 46% der Männer und 48% der Frauen sagen „oft“); („Beim Chatten erfährt man einiges von anderen Menschen, an das man im sonstigen Leben schwer herankommt.“; knapp 35 der Männer und 52% der Frauen sagen „oft“). Die “realen” Beziehungen der Chatter leiden dennoch überwiegend nicht unter der Internetnutzung. Die Befragten gaben an, von den im Schnitt 20 Bekannten im Chat schon gut 18 im realen Leben getroffen zu haben. Die meisten User gaben an, dass sie ihre Erfahrungen, die sie im Chat sammeln, nicht in ihr reales Leben integrieren können (56% der Männer und 58% der Frauen sagen „selten“). Aber ein Großteil der Chatter denkt, nach eigenen Angaben, auch nicht über das Verhalten im Chat und die Unterschiede zum realen Leben nach (46% der Männer und 52% der Frauen sagen „selten“). Dennoch sind sich die Meisten über die Verringerung der Hemmschwelle bei der Kontaktaufnahme, die bei mehr als 2/3 der User zu verzeichnen ist, die erhöhte eigene Offenheit und die empfundene, erhöhte Offenheit der Anderen im Klaren. LOCKED IN – Kommunikationsmedium mit Suchtpotential? Das Phänomen der Sucht kann dennoch häufig hinein interpretiert werden. Im Kontext des Chat, ist eindeutig zu beobachten, dass die Nutzungsintensität im Gegensatz zur durchschnittlichen Onlinenutzung (vergl. die schon zitierte Studie @facts) sehr hoch ist. Werte von 30 Stunden pro Woche bildeten in unserer Befragung absolut keine Ausnahme. Obwohl wir aus eigener Erfahrung wissen, dass leicht ein Gefühl des Sogs zur Chatnutzung hin entstehen 4
kann, scheint es scheint uns dennoch in dergroßen Mehrzahl der Fälle nicht angebracht, von einem Suchtverhalten zu sprechen. Wichtig bei der Beurteilung von Chatusern ist die Betrachtung des kontextuellen Zusammenhangs. Computervermittelte Kommunikation im Internet kann dazu beitragen, bestehende zwischenmenschliche Beziehungen zu verändern und auch neue soziale Beziehungen herzustellen. Die Chatter unserer Befragung gaben an, im Schnitt 20 Bekannte im Chat zu haben, von denen sie 18 schon im “realen” Leben getroffen haben (hierzu werden auch „Chattertreffen“ gezählt). Diese Treffen und die damit verbundenen Bekanntschaften können dabei zu einer Veränderung des Freundeskreises führen. Die Wahl des Gesprächspartners unterliegt im Chat nämlich keinen soziodemographische Angaben (z.B. Alter, Herkunft, Bildung), die im „realen“ Leben bestimmend sind. Vielmehr steht das Gespräch im Mittelpunkt. Dadurch unterhalten sich auch Menschen miteinander, die sich im „realen“ Leben meiden würden (z.B. aufgrund von Vorurteilen) bzw. sich auf diese Weise nicht miteinander unterhalten könnten (z.B. wenn sich zwei einander fremde Menschen über ein intimes Problem unterhalten). Der pauschale Vorwurf des Beziehungsverlustes (soziale Isolation am Computer) und des Flüchtens in Schein-Beziehungen (Eskapismus) ist hier also zurückzuweisen. Die Mehrzahl der Chatter selbst verneint die Frage, ob der Chat ein Flüchten vor den in der Realität anstehenden Problemen darstellte (Auf die Frage „Ich chatte, um meiner Arbeit oder meinen Problemen im sonstigen Leben zu entfliehen.“ antworten 81% der Männer und 72% der Frauen mit „selten“). Dennoch glauben wir, dass eine generell persönlichkeitsstabilisierende und beziehungsintensivierende Wirkung der Internet-Kommunikation ebenso unrealistisch ist. Netzaktive haben zwar bei entsprechender Netznutzungskompetenz und Motivation die Chance, ihre privaten und beruflichen Kommunikations- und Beziehungsnetzwerke zu erweitern. Intensive private Netzbeziehungen sind vor allem dann zu erwarten, wenn eine Person sich mit der Netzkultur identifiziert (und das tun ja die meisten Chatter), über die verschiedenen Angebote mit anderen Menschen in Kontakt tritt und diese Kontakte durch private E-Mails und Chats ausbaut. Allerdings können sich Netzkontakte in Abhängigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen wie Selbstwertgefühl, sozialer Kompetenz und aktueller Bedürfnislage als eskapistisch (Flucht, Netzbeziehungen werden als isoliert vom sonstigen Leben wahrgenommen), supplementär (reine Netzbeziehungen ergänzen das bisherige Beziehungsspektrum) oder komplementär (anderweitig nicht behebbare Kontaktdefizite werden partiell im Netz ausgeglichen) erweisen. Eine andere Untersuchungen kommt zu dem Schluss, dass für die meisten Menschen mit Netzzugang computervermittelte soziale Kontakte und Beziehungen supplementäre Funktion haben (Döring, 1999). Bei einer eskapistisch motivierten Onlinenutzung bestehe aber die Möglichkeit einer suchtähnlichen Nutzung und die Intensität könnte durchaus problematisch sein, da sie nicht die Ursache des auslösenden Wunsches zu 5
Chatten stille. Nach wie vor sei die Einbindung in einen breiten und festen sozialen Rahmen ein wichtiger Faktor für die Prävention einer möglichen Chatsucht. LOG OUT – Fazit Dass die Menschen im Chat eher über persönliche, intime Probleme miteinander sprechen, liegt mit Sicherheit daran, dass man den virtuellen „Gegenüber“ dabei nicht sieht und einem weniger unangenehm sein muss – zumal man sich jederzeit aus dem Chat ausloggen kann. Hier spielt es keine Rolle, wie man aussieht, welche Markenkleidung man trägt und selbst nicht ob man hört oder spricht. Wichtig ist nur, dass man lesen und schreiben kann. Hier könnte sich eine neue Möglichkeit bieten, gewohnte Rangordnungen umzuwerfen, viel freier mit der eigenen Identität zu spielen, wobei hiermit nicht unbedingt nur die Geschlechtsidentität gemeint ist, sondern der ungezwungenere Umgang mit sich selbst, der Selbstdefinition und den damit verbundenen Ängsten und Wünschen. Keiner sieht, wenn man rot wird, keiner bemerkt es, wenn man sich das erste Mal im sorgsamen Zurechtweisen bei der gemeinsamen Interessensvertretung übt. Dies ist ein Indiz dafür, dass in der computervermittelten Interaktion die Möglichkeit zu einer anderen, offeneren Art des Umgangs miteinander besteht und so z.B. mangelndes Selbstwertgefühl abgebaut werden könnte. Gerade in dieser Hinsicht muss man die Selbstbeschreibung der Chatter noch einmal kritisch betrachten. Was bedeutet die intensive Nutzung des Chat? Die Chatter glauben zum einen nicht, dass sie die Erfahrungen des Chat in den Alltag übertragen bzw. übernehmen können. Außerdem denken sie nach eigenen Angaben nicht über ihr Verhalten im Chat nach. Also ein blindes Nutzen ohne Nutzen? Vermutlich fällt es den Chattern durch einen Mangel an Reflexion über den Chat schwerer, einen Erfahrungsgewinn zu erkennen, der sich auf das eigene Leben auswirkt.. Die Frage ist allerdings, ob das denn überhaupt notwendig ist. Allein die Tatsache, dass die Chatter mehr über Andere erfahren als bei der direkten Interaktion setzt Zuhören und Einfühlungsvermögen voraus. Es lässt sich vermuten, dass bei der intensiven Nutzung von mehr als 15 Stunden pro Woche zumindest unterbewusst das Chatten einen positiven Effekt für die betreffenden Personen hat. Die Chatter unterhalten sich ständig miteinander oder schauen einfach einige Zeit den verschiedenen Gesprächsfäden zu. Es werden Kontakte geknüpft und gepflegt, Neuankömmlinge begrüßt und "Netiquettverletzer" (z.B. sexistische Annäherungen) aus dem Chat herausgeworfen. Die Chatter identifizieren sich mit ihrer Umgebung und mit den dazugehörigen Menschen. Die intensive Nutzung deutet also auch darauf hin, dass es ihnen Spaß macht, sich dort aufzuhalten, sich mitzuteilen und mit den anderen Chattern die Zeit zu verbringen. Soziale Verhaltensweisen unter veränderten Kommunikationsbedingungen werden 6
immer wieder gelernt und dabei aktiv gestaltet, verändert und auch durchbrochen. Dennoch findet sich immer ein gemeinsamer Konsens in Bezug auf das Verhalten im Netz. Kommunikation im Netz kann, wie auch in der realen Umgebung, auf Dauer nur dadurch funktionieren, dass sich ein meist ungeschriebenes, aber konsistentes, sich auch veränderndes aber für alle Seiten befriedigendes Kommunikationsritual etabliert. Daran arbeiten alle Chatter mehr oder weniger mit, allein dadurch, dass sie intensiv an Gesprächen teilnehmen, eventuell sogar eine Überwachungsfunktion übernehmen und Sorge und Verantwortung für ein ungestörtes Miteinander tragen. Das ist ein intensiver Sozialisationsprozess und ein Einüben in die Übernahme von Verantwortung. Chatten kann damit nicht nur den Rahmen der sozialen Kontakte erweitern und neue Perspektiven ermöglichen, sondern auch eine unterstützende, eventuell korrigierende Funktion in der Sozialisation des Menschen haben. Wenn man darüber hinaus ein gutes Fußballspiel, einen Kneipenabend, eine Spielrunde oder den Ausflug ins Schwimmbad nicht total vergisst, also einen körperlichen, sinnlichen und „realen“ Ausgleich schafft, befürworten wir die Nutzung von Chats und Internet, gerade auch im pädagogischen Zusammenhang. Literatur @facts-Studie: Internetstudie der Multimediagruppe München, 2000, http://www.mgmuc.de/cgi-bin/w3- msql/html/content/index_viewcode_htm.htm?Suchwert=514600, 19.06.2000 Bortz, Jürgen: Statistik für Sozialwissenschaftler. 5. Auflage, Berlin; Springer-Verlag, 1999 Döring, Nicola: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen, Bern; Hogrefe, Verlag für Psychologie, 1999 GIN: Gesundheitsinformationsnetz des Institutes für Biostatistik und Dokumentation an der Universität Innsbruck, Internetsucht – Eine neumodische Krankheit?, Autoren: Zimmerl, Hans D., Österreich; Panosch, Beate, Österreich; Quelle: http://gin.uibk.ac.at/gin/ginmenu/ginframes.cfm Höflich, J.R.: Technisch vermittelte interpersonale Kommunikation. Grundlagen, Organisatorische Medienverwendung, Konstitution „Elektronischer Gemeinschaften“. Opladen; Westdeutscher Verlag, 1996 7
Rheingold, Howard: Lernen, damit umzugehen. In S. Bollman & C. Heibach (Hrsg.), Kursbuch des Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Mannheim; Bollmann- Verlag, 1996 Zwerenz, Karlheinz: Statistik: Datenanalyse mit EXCEL und SPSS. München, Oldenbourg, 2000 8
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