Was haben Namen mit Geschlecht zu tun? - Damaris Nübling Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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Was haben Namen mit Geschlecht zu tun? - Damaris Nübling Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Passau, 24.05.2012
Ringvorlesung "Wissenschaft ist ein Beruf für Frauen“

 Was haben Namen mit Geschlecht zu tun?

                      Damaris Nübling
             Johannes Gutenberg-Universität Mainz
                   nuebling@uni-mainz.de
Was haben Namen mit Geschlecht zu tun? - Damaris Nübling Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Gliederung

1.   Rufname und Geschlecht

     1.1 Sexusneutrale Namen in den USA

     1.2 Androgynisierung deutscher Rufnamen

2.   Spitzname und Geschlecht

3.   Familienname und Geschlecht
Was haben Namen mit Geschlecht zu tun? - Damaris Nübling Johannes Gutenberg-Universität Mainz
1.   Rufname und Geschlecht
Was haben Namen mit Geschlecht zu tun? - Damaris Nübling Johannes Gutenberg-Universität Mainz
► Erste Differenzierung des Menschen: Zuteilung zu einer
  Geschlechtsklasse …
► … direkt gefolgt von der Einordnung in eine von zwei
  Namenklassen,
► … deren Grenze scharf bewacht wird: In Deutschland (und anderen
  europ. Ländern) juristische Vorschrift zu sog. "Geschlechts-
  offenkundigkeit" bei RufN
► Verstöße werden medial sanktioniert;
► Sexusambige Namen verboten; müssen ersetzt bzw. durch einen
  'eindeutigen' zweiten Rufnamen erweitert ('geheilt') werden (Eike
  Thorsten bzw. Eike Leah).
► Nur bei fremdsprachlicher Namen kommt es – meist durch
  MigrantInnen – zu Ausnahmen (Ethnizität bzw. Nationalität toppt
  Geschlecht):
► Fall der indischstämmigen Familie, die ihre Tochter Kiran nennen
  wollte (www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/
  rk20081205_1bvr057607)
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1.1 Sexusneutrale Namen (unisex names)
    in den USA
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Sexusneutrale          Name
                              2009
                              Boy's
                                          2009
                                          Girl's    Avg. Score
Namen in den USA              Rank        Rank
                    Riley        107           38            73
                    Peyton       147           43            95
                    Jordan        45          150            98
Die häufigsten      Jayden            8       188            98
US-amerikanischen   Alexis       186           13           100
Unisex-Namen 2009   Angel         37          176           107
                    Hayden        91          131           111
                    Avery        223           32           128
                    Taylor       298           22           160
                    Payton       330           84           207
                    Cameron       59          356           208
                    Logan         17          453           235
                    Morgan       457           56           257
                    Dakota       251          276           264
                    Kayden       138          441           290
                    Dylan         29          556           293
                    Parker        96          502           299
                    Ryan          19          581           300
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Woher kommen sexusneutrale Namen (Unisex-Namen)?
   Barry/Harper (1982): "Evolution of Unisex Names"
► In den USA gibt es RufN für beide Geschlechter, auch wenn
   faktisch nur selten davon Gebrauch gemacht wird (Studie 1980
   zu Studieren-den: 5% der weibl. und 1,5% der männl.
   Studierenden);
► Sexusneutrale Namen sind diachron instabil, d.h. sie tendieren
   langfristig dazu, exklusiv an ein bestimmtes Geschlecht
   vergeben zu werden (Sexusspezifizierung); umgekehrt
   entstammen die meisten Unisex-Namen sexusspezifischen
   Namen (oder fremden Kulturen, bei deren Namen der Sexus
   nicht bekannt ist).
► Hypothese: Unisex-Namen entstammen öfter männlichen RufN
   und entwickeln sich zu weiblichen weiter – seltener umgekehrt:
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Überprüfung anhand der Auswertung von unisex names in 6 ameri-
kanischen Namenratgebern für Eltern: 3 vor 1950 ("early sources")
und 3 nach 1965 ("recent sources");
Neuere unisex names, die in früheren Namenbüchern als männlich,
weiblich oder weder/noch angegeben waren.

                                                Das heißt: Die
                                                meisten heutigen
                                                unisex names
                                                speisen sich aus
                                                früheren männli-
                                                chen RufN
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Frühere unisex names, die später entweder zu weiblichen oder männ-
lichen wurden, oder die unisex (sexusneutral) blieben ("neither").

                                                      Das heißt:
                                                      unisex names
                                                      tendieren,
                                                      wenn sie denn
                                                      später sexus-
                                                      spezifisch
                                                      gebraucht
                                                      werden, dazu,
                                                      langfristig eher
                                                      zu weiblichen
                                                      RufN zu
                                                      werden:

                                                      Die Hypothese
                                                      hat sich bestätigt.

männlich      >      >       unisex        >      >      weiblich
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1.2 Androgynisierung deutscher Rufnamen
► Pflicht zur "Geschlechtsoffenkundigkeit", d.h. zum onymischen
  „Doing Gender“.
   Aus der Badischen Zeitung 2009: "Euro wollte ein Freiburger Elternpaar sein neugeborenes
   Mädchen nennen. Kein Problem, wäre es ein Junge gewesen. Stattdessen einigte sich die
   zuständige Standesbeamtin mit den Eltern auf die eindeutig weibliche Version Eurone."

► Das Deutsche leistet sich zwei riesige, segregierte Namen-
  inventare, nur um Gender zu markieren.
► Eltern vergeben Kindern heute RufN primär aus euphonischen
  Gründen (früher wirkten andere Gründe: Nachbenennung nach
  Familie, nach Paten etc.); freie Rufnamenvergabe erst seit 19. Jh.!
► Jungen wurden noch lange intrafamilial nachbenannt, Mädchen
  bekamen früher und häufiger neue Namen, da sie
  a) heiraten sollten (Name als Werbung) und
  b) bei Heirat ohnehin ihre Familie verließen
  → bei Mädchen bis heute mehr Namenfluktuation und ein
  größeres Inventar, aus dem geschöpft wird als bei Jungen:
Kleinteich 1992: FrauenN schöpfen aus einem größeren Inventar als MännerN
Drei Möglichkeiten der Sexus-Markierung an Personennamen
              nach Oelkers (2003) "Naming Gender" (~ Doing Gender)

                              a) semantisch (z.B. Chinesisch,
                                               Türkisch, Germanisch)

         b) formal                                  c) konventionell
             (Italienisch, teilw. Deutsch)             (Deutsch)

a) semantisch (über wörtliche Bedeutung): Anemone, Heide, Eberhard
b) formal (z.B. über Movierungssuffixe): Michael-a, Berhard-ine, Christian-e
c) konventionell (phonosemantisch, Laut-/Silben-/Akzentstrukturen):
   Janina vs. Horst, Lilly vs. Günther
Geschlechtsspezifische Strukturmerkmale nach Oelkers 2003:

1.

2.

3.

4.

5.
► Trotz onymischer Geschlechtertrennung gibt es
  unterschiedliche Grade an "Weiblichkeit" und "Männlichkeit"
  bei Rufnamen:

  Lilli oder Janina wirken "weiblicher" als Heike, Ute oder Ruth.

  Horst, Ralf oder Günther wirken "männlicher" als Julian,
  Elias oder Luca.
Offiziell: Zwei segregierte, undurchlässige Nameninventare

  Frauennamen                    Männernamen

  Beate, Ruth, Janina            Klaus, Benjamin
  Susanne, Christina             Uwe, Elias, Wolfgang
  Kerstin, Gertrud               Luca, Bernhard
  Lea, Jana                      Manfred, Sebastian
  Elke, Mechthild …              Markus, Noah …
Aber: Hinter den Kulissen (auf phonologischer Ebene) wird die
Segregation unterminiert:
                      phonologisch weibliche Strukturen
               (Nichterstsilbenakzent, a-Auslaut, volle Vokale, viele Silben
                                           …)

           Frauennamen                                Männernamen

           Janina                                     Noah
           Christina                                  Luca
           Jana                                       Sebastian
           Lea                                        Benjamin
           Susanne                                    Elias
           Beate                                      Uwe
           Kerstin                                    Markus
           Elke                                       Wolfgang
           Gertrud                                    Bernhard
           Mechthild                                  Manfred
           Ruth                                       Klaus

                      phonologisch männliche Strukturen
          (Erstsilbenakzent, kons. Auslaut, viele Konsonanten, wenige Silben …)
Aber: Hinter den Kulissen (auf phonologischer Ebene) wir die Segregation unterminiert:

                      phonologisch weibliche Strukturen
               (Nichterstsilbenakzent, a-Auslaut, volle Vokale, viele Silben
                                           …)

           Frauennamen                                Männernamen
                                                                               Heute werden
           Janina                                     Noah                     bei Mädchen-
           Christina                                  Luca                     und
           Jana                                       Sebastian                Jungennamen so
           Lea                                        Benjamin                 ähnliche Laut-
           Susanne                                    Elias                    Strukturen wie
           Beate                                      Uwe                      noch nie zuvor
           Kerstin                                    Markus                   gewählt!
           Elke                                       Wolfgang
           Gertrud                                    Bernhard
           Mechthild                                  Manfred
           Ruth                                       Klaus

                      phonologisch männliche Strukturen
          (Erstsilbenakzent, kons. Auslaut, viele Konsonanten, wenige Silben …)
"weiblich"                                                       "männlich"
Janína Lílly       Janína Nicóle     Sándra    Íngrid  Úte Gértrud         Ruth
Liliáne Sabrína    Mélanie Ivónne    Kárin     Dóris   Péter Günther   Mark Klaus
Léa       Angélika Níco Júlian       Léon      Bóris Thórsten Hans     Bernd
Nóah      Maximílian         Jónas   Lúca     Lúkas    Gérhard   Max   Rolf Horst

viele Silben                                                                1 Silbe
Akzent weit hinten                                                    Akzent vorne
vokalreicher                                                          wenig Vokale
helle Vokale                                                         dunkle Vokale
vokalischer Auslaut                                             konsonant. Auslaut
viele Nasale/Liquide, [j]                                        viele Obstruenten
viele offene Silben                                            geschlossene Silben
kaum Konsonantenverbindungen                             Konsonantenverbindungen
"weiblich"                                                      "männlich"
Janína Lílly       Janína Nicóle     Sándra    Ingrid  Ute Gértrud         Ruth
Liliáne Sabrína    Mélanie Ivónne    Kárin     Dóris   Peter Günther   Mark Klaus
Lea       Angélika Nico Júlian       Léon      Bóris Thórsten Hans     Bernd
Nóah      Maximílian         Jónas   Lúca     Lúkas    Gérhard   Max   Rolf Horst

Frage: Auf welche konkreten Namen in diesem breiten Spektrum
       (Types) greifen die Eltern zu welcher Zeit vermehrt zu
       (Tokens)?
Und: Konvergieren, insbesondere ab 1968, Mädchen- und
       JungenN bzgl. struktureller Merkmale? (Reaktion auf Jürgen
       Gerhards' Untersuchung, die dies verneint hat)
►      Untersuchung der Top 20 in Fünfjahresschritten von 1945-
       2005 (bzw. 2008);
1    Renate      Hans
2    Monika      Peter
3    Karin       Klaus
4    Ursula      Wolfgang
5    Brigitte    Jürgen
6    Bärbel      Uwe
                            Top 20 im Jahr 1945
7    Elke        Bernd
8    Ingrid      Karl
9    Helga       Horst
10   Christa     Dieter
11   Gisela      Günther
12   Hannelore   Heinz
13   Jutta       Rainer
14   Barbara     Michael
15   Heike       Manfred
16   Christel    Rolf
17   Marion      Gerhard
18   Erika       Werner
19   Angelika    Gerd
20   Anke        Helmut
1    Sandra      Christian
2    Stephanie   Markus
3    Nicole      Michael
4    Kathrin     Stefan
5    Tanja       Andreas
6    Anja        Thomas        Top 20 im Jahr 1975
7    Ivonne      Alexander
8    Julia       Sven
9    Claudia     T(h)orsten
10   Melanie     Jan
11   Katja       Matthias
12   Nadine      Frank
13   Silke       Martin
14   Andrea      Jens
15   Sonja       Sebastian
16   Susanne     Marco
17   Bettina     Oliver
18   Daniela     Andre/André
19   Sabine      Mark/Marc
20   Alexandra   Daniel
1    Leonie     Leon
2    Hanna(h)   Lukas/Lucas
3    Mia        Luka/Luca
4    Lena       Tim(m)
5    Anna       Finn
6    Lea(h)     Jonas         Top 20 im Jahr 2008
7    Emily      Felix
8    Lara       Luis
9    Emma       Paul
10   Sara(h)    Maximilian
11   Laura      Julian
12   Lilli      Niclas
13   Lina       Max
14   Marie      Ben
15   Sophie     Elias
16   Ne(e)le    Jan
17   Johanna    Philipp
18   Sofia      Noa(h)
19   Lisa       Jannick
20   Maja       David
Die Laute des Deutschen: Klassen und Sonoritätswerte

 10 9      8      7,5 7      6    5    4    3            2    1

      e    i      ´   j      l    m    v    f            b    p
 a    ø    y      å               N    z    s/S          d    t
      o    u                      n    Â    X/ç          g    k

     Vokale               Sonoranten   Frikative         Plosive

+ sonor                                                   ‐ sonor
max. Klangfülle                                    min. Klangfülle
Mädchen                   Jungen
  2005 < 1945               2005 < 1945

 10 9       8   7,5 7   6     5     4     3     2   1

      e     i   ´   j   l     m     v     f     b   p
 a    ø     y   å             N     z     s/S   d   t
      o     u                 n     Â     X/ç   g   k

Auslaut/Wortende: Sonoritätsmessung

Fazit: Mädchennamen lauten durchschnittlich deutlich
sonorer aus als Jungennamen, und beide sind in den
letzten 60 Jahren sonorer geworden
0,1 Silbe Differenz

         1 ganze Silbe!

                                                           0,25 S.

Silbenzahl=Namenlänge: starke Konvergenz ab ca. 1970, maximale
Ähnlichkeit 1980; insgesamt deutliche Androgynisierung
Anzahl (abs.) unbetonter Vokale (korreliert mit Silbenzahl):
Androgynisierung; 1945 divergent, bis 1980 starke Konvergenz,
danach gemeinsame Entwicklung (leichter Rückgang, da kürzere Namen)
Hans

Díeter

Tobías
Míchael

Dreisilber, Akzent vorne (Míchael) – Dreisilber Akzent hinten (Tobías)
Zweisilber Akzent vorne (Díeter) – (2-Silber Akz. hinten) – Einsilber (Hans)
Nadíne

Íngrid, Léa

Mariánne

 Mónika

Dreisilber, Akzent vorne (Mónika) – Dreisilber Akzent hinten (Mariánne)
Zweisilber Akzent vorne (Íngrid) – Zweisilber Akzent hinten (Nadíne)
2. Spitzname und Geschlecht
Noch einmal die deutlichsten Sexusindikatoren:
► Auslaut (Mädchen: -a, -e, Jungen: Konsonant);
► Konsonantenanteil bei JungenN insgesamt höher;
► Akzent (Mädchen: nichterstsilbenbetonte Vielsilber;
  Jungen: Einsilber + erstsilbenbetonte Zweisilber),
► und Länge (MädchenN länger als JungenN).

→ Ermittlung eines Genderindexes
Bis jetzt nicht fürs Deutsche entwickelt, doch fürs Englische
(das – insgesamt – ähnliche Rufnamenstrukturen wie das
Deutsche hat):

                                                                31
Zur Ermittlung des onymischen Geschlechtsindexes (phonetic gender
score) nach BARRY/HARPER (1995:812) ‐ zwei Berechnungen:

+2: Der Akzent liegt nicht auf der ersten Silbe (Damáris, Sebástian).
+1: Der Akzent liegt auf der ersten Silbe von drei oder mehr Silben (Jéssica, Fábian).
0: Der Akzent liegt auf der ersten von zwei Silben und der Name hat weniger als 6
      Phoneme (Elke, Udo).
‐1: Der Name ist einsilbig (Ruth, Björn).
‐2: Der Akzent liegt auf der ersten von zwei Silben und der Name hat 6 Phoneme
      oder mehr (Mirjam, Thorsten).
 ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐
+2: Das letzte Phonem ist unbetont und besteht aus [ə] oder [a] (Elke, Uwe).
+1: Das letzte Phonem ist ein unbetonter Vollvokal außer [a], z.B. [o] (Udo).
0: Das letzte Phonem ist ein Sonorant (Liquid oder Nasal) (Mirjam, Björn).
‐1: Das letzte Phonem ist ein Frikativ (Damaris, Rolf).
‐2: Das letzte Phonem ist ein Plosiv (Birgit, Helmut).
                                                                                         abnehmende Sonorität

                                                                                                            32
Diese beiden Werte werden jeweils addiert.
Mögliche Summen: Maximalwerte + 4 bzw. ‐4

      + 4: max. weiblich      Martína    ??
      +3                      Gísela     Roberto
      +2                      Stefanie   Sylvio
      +1                      Marion     Mario
           0                  Sylvia     Rainer
      ̶ 1                     Annegret   Eckehard
       ̶ 2                    Christel   Christian
        ̶ 3                   Marlies    Rudolf
         ̶ 4: max. männlich   Birgit     Siegfried

                                                     33
Korpus (Naumann 1976): Studie zu inoffiziellen Namen =
Spitznamen < Rufnamen

● Befragung von 2.200 Schülern in 17 Orten im Süden der
  DDR 1968/1970 (28 X 5. Klassen, 34 X 8. Klassen, 20 X
  10. Klassen)

● Von der 5.-8. Klasse nimmt die Zahl der Spitznamen zu; sie
  stagniert bis zur 10. Klasse, danach Abfall.

● 85% der SchülerInnen haben mind. einen Spitznamen (auf
  Rufnamenbasis)

                                                          34
Kürzung und/oder Modifikation bei Kosenamen <
Rufnamen (nach Naumann 1976) – folgende Verfahren bei
der KoseN-Bildung:

1. Kurzform durch Weglassen eines Bestandteils (Gerlinde
   > Linde, Renate > Nate, Wolfgang > Wolf, Norbert > Norb,
   Birgit > Birgi etc.), auch Kontraktionen (Angela > Anga,
   Matthias > Mats)

2. Kurzform wird suffigiert: Sigrun > Sigi, Rudolf > Rudi,
   Birgit > Birge, Gotthard > Gotte, Dagmar > Daggel, Dietmar
   > Dietel, Günter > Güntex, Steffen > Steffkus, Steffi > Steffka
   etc.

                                                              35
Mädchen (Beispiele)                         Jungen (Beispiele)
           Vollform    G‐Index   Kurzform    G‐Index   Vollform    G‐Index   Kurzform   G‐Index
           Michaéla       +4       Micha       +2       Míchael      +1        Micha      +2

           Christína      +4        Chris       ‐2     Chrístoph      ‐3       Chris       ‐2
Gruppe 1

             Gísela       +3        Gis         ‐2     Síegfried      ‐4        Sig        ‐3

            Mónika        +3       Moni        +1       Róland        ‐4        Rol        ‐1

           Ramóna         +4       Ramon        0      Férdinand      ‐1       Ferdi      +1

             Édith        ‐2        Edi        +1      Matthías      +1        Mats        ‐3

                        Ø +2,8                Ø +1,0               Ø -1,15              Ø -1,06

            Heidrun       ‐2       Heidi       +1       Sígmar        ‐2        Sigi      +1

           Roswítha       +4        Rosi       +1      Síegfried      ‐4        Sigi      +1

            Andréa        +4        Andi       +1       Andréas      +1        Andi       +1
Gruppe 2

            Stéfanie      +2       Steffi      +1       Stéfan        ‐2       Steffi     +1

           Manuéla        +4      Mannus        ‐1      Détlev        ‐3       Detti      +1

            Cármen        ‐2      Carmchen      ‐2      Ráiner        0       Reinex       ‐3

            Bettína       +4      Bettsche     +2      Wólfgang       ‐2       Wolle      +2

                        Ø +2,3                Ø +0,8                Ø -1,7               Ø +0,3
                                                                                            36
Gruppe 1:            90 MädchenN           33 JungenN

Vollform:            + 2,8                 ‐ 1,15
Kurzform:            + 1,0                 ‐ 1,06 (viele Einsilber!)

Erklärung: Die bloße Kürzung ohne Suffigierung erzeugt viele
           Einsilber und damit "männliche " Strukturen (oft sogar
           identische KurzN: Chris, Micha, Steff)

Gruppe 2:            141 MädchenN          117 JungenN

Vollform:            + 2,3                 ‐ 1,7
Kurzform:            + 0,8                 + 0,3 (viele Suffixe)

Erklärung: Kürzung + Suffigierung

                                                                   37
Begründung – und Diskussion:

Sexusinformation bei Spitznamen obsolet, da Person bereits
bekannt ist; Spitznamen kodieren primär die soziale Relation
zwischen Namenträger und Namenverwender, und diese
überlagert die Sexusinformation – gerade im Auslaut, wo sehr
häufig verniedlichendes, aber sexusambiges -i verwendet
wird….              … oder "männliche" Strukturen entstehen:

Ev-a > Ev-i              Carmen        > Carm
Ann-a > Ann-i            Jutta         > Jutt
Konrad> Kon-i            Christina     > Chris
Olaf > Ol-i        auch: Michael       > Micha

► Die Sexusinformation wird der kosenden (hypokoristi-
  schen) Funktion geopfert!                               38
► Übernamen als Spitznamen sind sprechende Namen;
► Übernamen werden (auch!) meist reziprok gebraucht : Schatz(i),
  Herz(chen), Liebling, Maus(i) etc., d.h. auch hier wird die soziale
  Relation über Gender gestellt;
► Wird Sexus in Kosekontexten generell vernachlässigt bzw.
  abgestuft?
  Soziologische Untersuchungen: Geschlechterspiel tritt in der
  Paarbeziehung zurück (man weiß zuviel über sich). Stattdessen tritt die
  höhere Komplexität der individuellen Personenwahrnehmung in den
  Vordergrund (nur in der ersten Werbungsphase erlebt Gender Hoch-
  konjunktur; hierzu HIRSCHAUER 2001, 2007). Diese Genderrückstufung
  korreliert mit Kleidung, Attitüden und KoseN.

► KoseN werden meist nur adressierend verwendet, man referiert
  damit kaum auf andere Personen; Adressatenkontext ist immer
  sexusdefinit, vgl. die deshalb sexusindefiniten Adressatenformen
  du, ihr, Sie (sexusdefinite Ausdrücke nicht nötig, da Sexus
  evident).                                                      39
3. Familienname und Geschlecht
Beobachtung, die noch
nicht untersucht wurde:

Spitznamen von Frauen
werden eher aus ihrem (inti-
meren) RufN generiert (Steffi
< Stefanie Graf, Franzi <
Franziska von Almsick) -
Spitznamen von Männern
dagegen aus ihren (distan-
zierteren) Familiennamen
(Schumi < Michael Schu-
macher, Poldi < Podolski,
Schweini < Schweinsteiger,
Gorbi < Gorbatschov)
                                Aus der F.A.Z vom 03.05.12
Kürschner 2011:
Untersuchung der Personensteckbriefe von Sportmannschaften
im Internet:

↓ basierend auf …↓   FrauenspitzN: 86   MännerspitzN: 88

… dem RufN                 78                 46

… dem FamN                  8                 42

► Erklärung?
Neues Familiennamengesetz von 1994:

► Entweder behalten beide Ehepartner ihren Geburtsnamen
  (getrennte Namen) oder sie wählen einen der beiden Namen
  als gemeinsamen Ehe- und Familiennamen (Verbot der
  bisher möglichen Doppelnamen)
  → Kinder sind namentlich nur éinem Elternteil zugeordnet

► Wie wird mit dieser neuen Freiheit umgegangen?
  → Untersuchung von Matthias-Bleck 2000:
Die EheN-Wahl 1997 (nach Matthias-Bleck 2000:109)

               getrennte   gemeinsamer     gem. EheN     gem. EheN
                Namen        EheN        ist MannesN   ist FrauenN

 Großstadt      1.624         8.907         8.530           377
 (> 100.000)    (14%)         (86%)         (96%)          (4%)

 Mittelstadt      284         2.746         2.634           112
 (> 40.000)      (9%)         (91%)         (96%)          (4%)

 Kleinstadt       84           927           876            51
 (> 20.000)      (8%)         (92%)         (95%)          (5%)

(Spätere Studien bestätigen diese Ergebnisse)
Fazit:

► Ca. 10% getrennte Namenführung, ca. 90% gemeinsame;

► Wenn gemeinsame Namenführung, dann "gewinnt" zu über
  95% der Mannesname.

► Gründe: Traditionelles (= patriarchalisches) Verhalten ist
  unmarkiert und muss sich nicht legitimieren; Abweichende
  stehen unter Rechtfertigungsdruck – was die qualitative
  Untersuchung bestätigte: Ein Mann mit EheN < FrauenN
  begründet dies über viele Seiten hinweg, während im
  (häufigeren) umgekehrten Fall der Name des Mannes meist
  für "schöner" und "passender" befunden wurde.
Vielen Dank!

Zum Nach- und
Weiterlesen:
Literatur:
Barry, H./Harper, A. (1995): Increased choice of female phonetic attributes in first names. In: Sex
    Roles 32, 11/12, 809-819.
– (1998): Phonetic differentiation between first names of boys and girls. In: Nicolaisen, W.
    (ed.): Proceedings of the XIXth ICOS. Scope, Perspectives and Methods of Onomastics,
    Vol. 3, 40-46.
Gerhards, J. (2003): Die Moderne und ihre Vornamen. Wiesbaden.
Hirschauer, S. (2001): Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie
    sozialer Ordnung. In: Heintz, B. (ed.): Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41 der Kölner
    Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 208-235.
– (2007): Arbeit, Liebe und Geschlechterdifferenz. Über die wechselseitige Konstitution von
    Tätigkeiten und Mitgliedschaften. In: Biebl, S. et al. (eds.): Working Girls. Zur Ökonomie von
    Liebe und Arbeit in der Moderne. Berlin, 23-41.
Kleinteich, B. (1992): Die Vornamen in der DDR 1960-1990. Berlin.
Naumann, H. (1976): Vorname – Rufname – Übername. In: Namenkundliche Informationen 29,
    1-25.
Nübling, D. (2009a): Zur lexikografischen Inszenierung von Geschlecht – Ein Streifzug durch die
    Einträge von Frau und Mann in neueren Wörterbüchern. In: Zeitschrift für Germanistische
    Linguistik 37.3, 593-633.
– (2009b): Von Monika zu Mia, von Norbert zu Noah: Zur Androgynisierung der Rufnamen seit
    1945 aus prosodisch-phonologischer Perspektive. In: Beiträge zur Namenforschung 44,
    2009, 67-110.
Nübling, D. (2012): Von Elisabeth zu Lilly, von Klaus zu Nico: Zur Androgynisierung und Intimi-
   sierung der Rufnamen von 1945 bis heute. In: Günthner, S. et al. (eds.): Genderlinguistik.
   Sprachliche Konstruktionen von Geschlechtsidentität. Berlin/New York, 319-357.
Matthias-Bleck, H. (2000): Empirische Ergebnisse zur Anwendung des neuen Ehenamens-
   rechts. In: Deutsches und Europäisches Familiennamenrecht 2, 108-112.
Oelkers, S. (2003): Naming Gender. Empirische Untersuchungen zur phonologischen Struktur
   von Vornamen im Deutschen. Frankfurt.
Oelkers, S. (2004): Warum Adam und Eva? Vornamengebung und Geschlecht. In: Eichhoff-
   Cyrus, Karin (ed.): Adam, Eva und die Sprache. Beiträge zur Geschlechterforschung.
   Thema Duden Bd. 5. Mannheim, 133-147.
Sacksofsky, U. (1995): Das eheliche Namensrecht – der unendlichen Geschichte dritter Akt. In:
   Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 78, 94-111.
– (2002): Grundrechtsdogmatik ade – Zum neuen Doppelnamen-Urteil des
   Bundesverfassungsgerichts. In: Familie, Partnerschaft, Recht 4, 121-125.
– (2004): Das Ehenamensrecht zwischen Tradition und Gleichberechtigung – zum neuen
   Ehenamensurteil des BVerfG. In: Familie, Partnerschaft, Recht 7, 371-375.
Seibicke, W. (1982/2008): Die Personennamen im Deutschen. Berlin/New York.
www.beliebte-vornamen.de
Sie können auch lesen