WAS JETZT? VON CORONA BIS KLIMAWANDEL: IN EINER WELT VOLLER RISIKEN WERDEN WIR ZU GEFANGENEN DER ANGST. DAS BFR BEGIBT SICH AUF DIE SUCHE NACH DER ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SCHWERPUNKTTHEMA © picture alliance / Wolfgang Steinberg, Motiv von „Alias“ ANGST Was jetzt? Von Corona bis Klimawandel: In einer Welt voller Risiken werden wir zu Gefangenen der Angst. Das BfR begibt sich auf die Suche nach der Zuversicht. 6 BfR 2 GO
ZWISCHEN ANGST UND ZUVERSICHT M askenpflicht, Lockdown, apokalyptische Bilder und düstere Prognosen – die Furcht vor dem © birdys / photocase.de neuartigen Coronavirus hatte die Welt seit dem Frühjahr 2020 fest im Griff. Für das BfR ist diese Krise der aktuelle Anlass, um die Frage, wie Risiken und ihre Wahrnehmung die Gesellschaft herausfordern, zu diskutieren. Mit regelmäßigen Umfragen wie dem „BfR-Verbrauchermonitor“ und dem „BfR-Corona-Mo- nitor“ sowie sozialwissenschaftlichen Studien widmet sich das BfR immer wieder diesem Themenkomplex. „Man könnte meinen, unsere Gesellschaft befindet sich im Daueralarm“, konstatiert BfR-Präsident Professor Andreas Hensel. Er bezieht sich dabei neben der Co- rona-Pandemie auch auf Themen wie Klimawandel, Artenvielfalt, Mikroplastik und Glyphosat und fragt, ob Flucht oder Kampf? Es gibt noch mehr der Alarm stets gerechtfertigt sei. Denn manches Risiko Möglichkeiten, mit Angst umzugehen. stelle sich dank wissenschaftlicher Prüfung als übertrie- ben oder gar als Einbildung heraus – so wie die gefähr- lichen Riesen, gegen die Don Quichotte ankämpfte und die sich als Windmühlen entpuppten. Zunächst: Angst ist überlebenswichtig, warnt sie doch Mensch und Tier vor akuten, mitunter tödlichen Gefah- ren. Sie ist angeboren und evolutionär tief verankert, ein Thalamus veranlasst eigentlich auch eine genaue Analy- archaisches Erbe. se der Situation – die würde allerdings zu lange dauern, um einen Angriff zu überleben. Die Analyse übernimmt Auf der Stufe eines Huhns das Vernunftgehirn. „Wir haben im Gehirn ein Angstsystem, das auf der Und in einer Krise? Da bekommt das primitive Angstge- Stufe eines Huhns ist“, sagt Professor Borwin Bandelow, hirn die Führungsposition, und das Vernunftgehirn tritt Psychiater und Angstexperte von der Universität Göt- in den Hintergrund. „Angst ist kein guter Statistiker“, tingen. Wie ein Feuermelder ist es darauf geeicht, rasch sagt Bandelow. Das eher einfach gestrickte Angstsystem Alarm zu geben und den Körper fähig zur Flucht – oder neigt dazu, neue und unbeherrschbare Risiken wie Ter- zum Kampf – zu machen. Dieses „Überlebenssystem“ roranschläge oder Viren zunächst als unverhältnismäßig hat als zentrales Element den Thalamus, ein Areal im hoch zu veranschlagen – ebenso Gefahren, die genetisch Zwischenhirn. Als „Schaltstation“ muss der Thalamus programmierte Urängste ansprechen wie die vor wilden auf eine Gefahr sofort schlagartig reagieren und eine ge- Tieren (Spinnen, Schlangen, Wölfe) oder vor großen naue Analyse der Situation vornehmen. Höhen (Flugzeugabstürze). Bekannte Bedrohungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Unfälle im Haushalt Im Alarmfall springt in Bruchteilen von Sekunden das werden dagegen unterschätzt, ebenso unsichtbare Ge- Angstsystem an. Über die Schaltstationen des Mandel- fahren wie Radioaktivität und Cyberkriminalität. kerns (Amygdala), des Hypothalamus und der Hirnan- hangsdrüse führt es zum Ausschütten von Stresshormo- Wie begegnet man einer Herausforderung wie dem nen, steigert Puls, Blutdruck und Atemfrequenz. Blut neuartigen Coronavirus? Wie bewältigt man die Angst? wird in die Arme gepumpt, damit man besser kämpfen „Mit Ehrfurcht und gesundem Fatalismus“, lautet Ban- kann, sowie in die Beine, um schneller weglaufen zu delows Antwort. „Ehrfurcht, weil wir das Virus nicht können. All das läuft in Tausendstelsekunden ab. Der unterschätzen dürfen – und gesunder Fatalismus, weil 01/2021 7
SCHWERPUNKTTHEMA „ Viele denken: Das Schlimmste, was passieren kann, liegt nicht mehr hinter uns, sondern vor uns. es schon schiefgehen wird und wir wahrscheinlich nicht stellter Blick auf die Welt. Nachsicht sei die Fähigkeit, an ihm sterben werden.“ Mit einer Prise Galgenhumor miteinander zu reden – „auch wenn wir die Welt alle un- lebt sich's leichter. terschiedlich sehen“. Und unter Neugier versteht Urner die Fähigkeit, Neues zu entdecken und lösungsorientiert Steinzeitliche Angst-Prägung und konstruktiv über die Zukunft nachzudenken, zu sprechen und zu handeln. „Wie kommt es, dass die meisten Menschen zu negativ denken und ein zu negatives Weltbild haben?“, fragt Eine Formel für den Augenblick Maren Urner, Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirt- Der Soziologe und Buchautor Heinz Bude, Professor an schaft Köln (siehe Seite 12). Auch sie verortet die Ant- der Universität Kassel, erinnert an das Grundgefühl in wort in der evolutionären Vergangenheit des Menschen, der Nachkriegszeit. Es war geprägt von einem vorsich- stellt das „Steinzeithirn“ mit seinen Beschränkungen wie tigen Optimismus, weil mit Krieg und Völkermord „das Möglichkeiten ins Zentrum ihrer Überlegungen. „Es ist Schlimmste, was passieren kann“ schon überstanden so optimiert, dass es sehr viel schneller Negatives verar- war. „Es ist vorbei, und es wird nicht wiederkommen.“ beitet als Positives“, erläutert Urner. Diese Stimmungslage hat sich nach Ansicht Budes Die rasche Angstreaktion konnte in der Steinzeit über in der Gegenwart bei den Jüngeren umgekehrt. „Vie- Leben und Tod entscheiden. Aber diese Prägung des Ge- le denken: Das Schlimmste, was passieren kann, liegt hirns ist in der Moderne nur noch bedingt von Vorteil. nicht mehr hinter uns, sondern vor uns“, sagt Bude. Das macht sich bemerkbar, wenn das Gehirn – Urner Auf die Zeit von Frieden, Freiheit und Wohlstand kön- bezeichnet es als Vorhersagemaschine – Entscheidungen ne eine Epoche der Krisen folgen, grundiert von Coro- fällen muss. Angst, Unsicherheit und Stress, wie sie in na-Pandemie, Klimawandel, Handelskriegen und dem Zeiten von Corona herrschen, dominieren das Denken Niedergang traditioneller Wirtschaftszweige wie der und führen auf Abwege. Autoindustrie. „Angstgetriebene Entscheidungen sind schlechte Ent- Hilfreich ist in dieser Situation „lebensdienliches Ver- scheidungen“, sagt Urner. Hinzu komme die Macht der gessen“, um den Alltag zu bewältigen. Gleichzeitig gel- Gewohnheit, die den Großteil unserer Handlungen te es, wach zu bleiben. Das Gefühl der Ohnmacht und präge und neue und konstruktive Lösungen verhinde- Hilflosigkeit, das den Einzelnen in der Pandemie er- re. Macht der Gewohnheit führt zu Fatalismus. Zu dem greife, dürfe sich nicht auf die ganze Gesellschaft über- Gefühl, ohnehin nichts ändern zu können. Am Ende tragen. Das Wichtigste ist für Bude jedoch etwas, das steht erlernte Hilflosigkeit, ein Zustand der Resignation. er als „metaphysisches Quantum“ bezeichnet. Es gehe „Wir müssen weg von der Dauerangst“, fordert Urner darum, das Vertrauen in die Welt zurückzugewinnen und ruft dazu auf, positive Lernerfahrungen zu machen. und in ihr nicht nur eine Ansammlung von Gefahren, „Das ist der Kern des lösungsorientierten Denkens, bei sondern auch einen Horizont für Möglichkeiten zu se- dem es immer um die Frage geht: Was jetzt? Wie kann’s hen. „Hoffnung ohne Optimismus“ bezeichnet Bude weitergehen? Wenn wir uns die nicht stellen, wird jedes als seine Formel für den Augenblick. Denken und Handeln ad absurdum geführt.“ Reflektion auf Vorrat Aber das steinzeitliche Problemgehirn hat auch seine Vorteile. Urner hält das uns eigene kritische Denken Bude regt an, bessere Vorkehrungen für Pandemien, für einen Ansatz, um aus der Ohnmacht zum Handeln Wirtschaftskrisen und andere Großrisiken zu treffen. zu kommen. Diesem kritischen Denken ordnet sie mit „Wir brauchen eine gebündelte wissenschaftliche Re- Naivität, Nachsicht und Neugier drei wesentliche Ei- flektion, die uns auf extreme Gefährdungslagen vorbe- genschaften zu. Naivität könne helfen, Gruppendenken reitet, eine systematische Vorratsreflektion für gesell- zu überwinden. Sie kann etwa aus einem speziellen Fan schaftliche Gesamtkrisen.“ Das Ziel sei eine größere von Borussia Dortmund einen allgemeinen Fußballfan Widerstandskraft (Resilienz) der Gesellschaft. Bislang machen oder helfen, das Coronavirus als die Grenzen fehle es jedoch an einem Ort, einer Einrichtung, in der überschreitendes, globales Problem zu sehen – gemeint die Vorratsreflektion stattfinden könne. „Da sollten wir ist also mit Naivität so etwas wie ein frischer und unver- uns schnell was einfallen lassen“, sagt Bude. 8 BfR 2 GO
01/2021 ZWISCHEN ANGST UND ZUVERSICHT © picture alliance / REUTERS | Phil Noble © .marcs/ photocase.de die Führungsposition. In einer Krise übernimmt das primitive Angstgehirn © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Markus Schreiber 9
SCHWERPUNKTTHEMA © Ian Taylor / unsplash „ Hoffnung ohne Optimismus © .marqs / photocase.de © .marqs / photocase.de Positiv nach vorn schauen und trotzdem Vorkehrungen treffen. Große Krisen kön- nen unsere Gesellschaft widerstandsfähig machen. 10 BfR 2 GO
ZWISCHEN ANGST UND ZUVERSICHT „Wir haben Angst immer vor der Zukunft“, konstatiert Die tägliche Risikobilanz Wolfgang Freitag, Professor für Theoretische Philoso- phie und Sprachphilosophie an der Universität Mann- heim. Wer die Angst verstehen will, muss sich deshalb auch mit der Zukunft auseinandersetzen. Freitag stellt Ob Risiken als hoch oder gering eingeschätzt der Angst die Vorfreude gegenüber und legt für die werden, hängt von diesen Faktoren ab: Zukunft die Kategorien Risiko und Chance fest. Er präsentiert eine Formel, mit der die „Erwartungswahr- • Wahlmöglichkeit: Übernehmen wir das Risiko scheinlichkeit“ berechnet werden kann. Sie soll es er- freiwillig, oder werden wir dazu gezwungen? möglichen, Chancen und Risiken für ein zukünftiges Beispiel: Rauchen oder Passivrauchen Ereignis zu bewerten und einzuschätzen. • Kontrollierbarkeit: Können wir durch eigenes Handeln ein Risiko vermeiden? Um die Erwartungswahrscheinlichkeit zu ermitteln, Beispiel: Geschwindigkeit beim Autofahren wird die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses (etwa • Risiko-Nutzen-Verhältnis: Überwiegen Vorteile das Lawinenrisiko in den Alpen) multipliziert mit der (oder das Vergnügen) das Risiko? subjektiven Bewertung (etwa Vorfreude aufs Skilaufen Beispiel: Fallschirmspringen in den Alpen). In den so ermittelten Wert fließen so- • persönliche Betroffenheit: Gehen mich einzelne wohl – in Form der Bewertung – persönliche Befind- Risiken überhaupt etwas an? lichkeiten und Stimmungslagen als auch – mit der Beispiel: Kinderspielzeug Wahrscheinlichkeit – mehr oder minder richtige und • Schrecklichkeit des Schadens: Wie tragisch ist vernünftige Einschätzungen ein. der Schaden? Beispiel: Autounfall versus Unwohlsein Den Fachleuten nicht alles überlassen • Vertrauen: Wie glaubwürdig ist die verantwortli- che Institution? Wie wahrscheinlich ein Ereignis ist, ist dabei häufig Beispiel: Ärztinnen und Ärzte versus Blog-Artikel auch von Fachleuten nur schwer vorherzusagen. Als • Verantwortlichkeit: Ist das Risiko natürlichen Beispiel nennt Freitag die Frage, inwieweit bestimmte oder menschlichen Ursprungs? Maßnahmen die Ausbreitung des Coronavirus ein- Beispiel: Bakterien in Lebensmitteln versus dämmen. Freitag plädiert dafür, „den Experten nicht Pflanzenschutzmittel alles zu überlassen, insbesondere nicht die Bewertung • Art des Schadeneintritts: Kann der Schaden der Zukunft“. Der Expertenrat sei wichtig für die rati- zeitlich genau lokalisiert werden? onale Einschätzung von Ereigniswahrscheinlichkeiten. Beispiel: akute (Vergiftung) versus chronische Wie das Ereignis bewertet werde, könne aber in einer (Adipositas) Gesundheitsschäden Demokratie nicht von oben herab entschieden werden. • Bekanntheit: Wie neu oder unbekannt ist eine gefährliche Substanz oder ein Erreger? Wie sehr Angst mit Erwartung und Zukunft zusam- Beispiel: SARS-CoV-2 menhängt, macht auch die Kölner Moderatorin und Schauspielerin Shary Reeves in ihrem sehr persönli- chen Beitrag deutlich. Und wenn es nur das „rote Licht“ ist, mit dem die Fernsehkamera signalisiert, dass man „auf Sendung“ ist. „Vor kaum etwas hat man mehr Re- spekt, wenn man in einem solchen Beruf tätig ist.“ Das Gefühl, plötzlich einem unsichtbaren Millionenpubli- kum gegenüberzustehen, löst Stress aus: „Wer sind die tet für mich immer, auf das zu fokussieren, was nach Menschen, die mich beobachten? Was fühlen sie, was der Angst kommt“, sagt Shary Reeves. „Das hilft mir, denken sie? Was wünschen sie mir, und was passt ih- den Zweifel im Keim zu ersticken.“ nen gerade in diesem Moment nicht an mir?“ Sich der Angst stellen und zugleich über sie hinausden- In die Gene tätowiert ken und Zuversicht gewinnen, dieser Grundgedanke kommt in einer afrikanischen Weisheit zum Ausdruck, „Angst ist uns in die Gene tätowiert“, sagt Reeves. die Reeves zitiert: „Wende dein Gesicht der Sonne zu, „Dem einen mehr, dem anderen weniger.“ Prägend wa- denn dann fallen die Schatten hinter dich.“ Das Licht ren für Shary Reeves Ängste und Verlusterlebnisse in der Sonne, schließt Reeves, ist auch aus einem tiefen ihrer turbulenten Kindheit und Jugend. Als Tochter ei- Tunnel sichtbar. ◘ ner aus Afrika gebürtigen Schwarzen Krankenschwes- ter kam sie früh in eine Pflegefamilie und schließlich — in ein strenges Internat. Zugleich half das Vertrauen zu Dieser Text fasst Vorträge des BfR-Wissensdialogs ihren Pflegeeltern ihr, bedrückende Erfahrungen und „Zwischen Angst und Zuversicht“ zusammen. Die On- Diskriminierung zu verkraften und eine starke Persön- line-Veranstaltung fand am 02. November 2020 im Ma- lichkeit zu entwickeln. „Ängste zu überwinden bedeu- gnus-Haus in Berlin statt. 01/2021 11
Sie können auch lesen