WEISSES KREUZ - Trans... Fakten, Fragen, Menschen

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WEISSES KREUZ - Trans... Fakten, Fragen, Menschen
WEISSES KREUZ
Zeitschrift für Sexualität und Beziehung                    Ausgabe 4 | 2018 | #75
                                                                          EINZELPREIS 3 EUR

 Trans...
 Fakten,
 Fragen,
 Menschen

     Transsexualität wahrnehmen   Bibel ernst nehmen   Herausforderungen annehmen
WEISSES KREUZ - Trans... Fakten, Fragen, Menschen
Editorial

                                    Trans...
                                    Fakten, Fragen, Menschen

                                    Liebe Leserinnen und Leser,
Kai Mauritz                         in den letzten Monaten erreichten uns immer wieder Fragen zum Thema Transsexualität.
Fachreferent                        Menschen, die sich selbst in den Konflikt gestellt sehen zwischen ihrer biologischen Ge-
Weißes Kreuz e. V.                  schlechtsidentität auf der einen und ihrem seelischen Geschlechtsempfinden auf der an-
                                    deren Seite: Jugendliche, Alleinlebende, Verheiratete, Familienväter und -mütter. Zumeist
                                    leiden sie bereits seit Jahren oder Jahrzehnten unter der quälenden Frage, ob sie mit den
                                    falschen Geschlechtsmerkmalen geboren worden sind. Bei manchen wird diese Frage irgend-
                                    wann zur inneren Gewissheit.

                                    Und es melden sich Eltern bei uns, deren Kinder das Geschlecht wechseln möchten, oder
                                    Gemeinden, die das Phänomen Transsexualität besser verstehen wollen und nun Orientie-
                                    rungshilfen suchen. Christinnen und Christen ringen um ein biblisches Verständnis. Hat
                                    der Schöpfer seine Menschen nicht eindeutig als Mann oder Frau geschaffen, die das ihnen
                                    zugewiesene Geschlecht annehmen sollten?

                                    Es gibt keine einfachen Antworten. Kein Richtig oder Falsch, das für alle gilt. Wir erleben
    Impressum
                                    uns in dem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dem biblischen
    Herausgeber:                    Zeugnis und dem seelsorgerlich angemessenen Umgang mit Menschen, die sich in einer
    Weißes Kreuz e.V.               schweren Identitätskrise befinden.
    Weißes-Kreuz-Straße 3
    34292 Ahnatal                   Die deutsche Sexualwissenschaftlerin und Dipl. Psychologin Dr. Sophinette Becker erforscht
                                    Störungen der Geschlechtsidentität und begleitet in ihrer therapeutischen Praxis seit vie-
    Tel. 05609/8399-0
    Fax: 05609/8399-22              len Jahren u. a. auch Transsexuelle. In dem Interview, das Martin Leupold mit ihr geführt
                                    hat, gibt sie einen differenzierten Einblick in die medizinische wie therapeutische Dimen-
    info@weisses-kreuz.de           sion von Transsexualität. Sie hinterfragt kritisch die politisch häufig propagierte Allgemein-
    www.weisses-kreuz.de            lösung „Geschlechtsangleichung“ und plädiert stattdessen für individuelle Lösungen.
    Die Zeitschrift erscheint
    vierteljährlich.                Der Artikel und die Theologischen Notizen von Martin Leupold beleuchten das Thema human-
    Bezugspreis:                    wissenschaftlich wie biblisch-theologisch. Er erklärt die entscheidenden Begriffe und Sach-
    12 Euro jährlich                verhalte. Zudem stellt er uns als Leserinnen und Leser zusammen mit transsexuellen
    (Ausland 18 Euro)               Christen in den Riss zwischen der mit der Schöpfung verheißenen Eindeutigkeit der Ge-
                                    schlechter und der – jenseits des Paradieses – von manchen erlebten und erlittenen Dis-
    Konto:
                                    harmonie im Bereich der eigenen Geschlechtsidentität.
    Weißes Kreuz e.V.
    Evangelische Bank eG
    IBAN:                           Eine Auflösung dieser Spannung gibt es nicht. Zumindest nicht, wenn wir fachlich sowie
    DE22 52060410 0000 001937       biblisch redlich mit Transsexualität umgehen wollen. All unsere Erkenntnisse, die wir bis
    BIC: GENODEF1EK1                heute gewonnen haben, sind Stückwerk. Dessen sind wir uns bewusst. Wir sind noch auf
                                    dem Weg. Mit dieser Zeitschrift laden wir Sie ein, mit uns auf dem Weg zu sein.
    Schriftleitung:
    Martin Leupold
    Titelbild:
    Tyler Nix, Joanna Nix /
    unsplash.com
    Auflage: Dezember 2018,         Kai Mauritz,
    10.000 Exemplare                Pastor und Lebensberater Weißes Kreuz e. V.

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Titelthema

Fotos: Hassan Khan, Ludvig Wiese / unsplash.com

                                                  Transsexualität          Martin Leupold

                                                                           W
                                                                                            as wir unter dem Begriff Transsexualität
                                                                                            zusammenfassen, wirft tiefe Fragen auf:

                                                  Beobachtungen, Fragen,                    Warum erleben Menschen sich in Bezug
                                                                                            auf ihr Geschlecht so? Welche Möglichkei-
                                                                                            ten haben sie, damit umzugehen, und wie
                                                  Perspektiven             begegne ich ihnen? Auch der Glaube ist betroffen: Hat Gott
                                                                           nicht den Menschen als Mann oder als Frau geschaffen?
                                                                               Wir spüren, wie ernst und tiefgehend diese Fragen
                                                                           sind. Zugleich sehen wir, wie vielschichtig das Thema ist
                                                                           und wie wenig bisher dazu sicher gesagt werden kann. Ich
                                                                           selbst bin auf diesem Gebiet kein Experte. Als Theologe
                                                                           kann ich nur versuchen, das mir zugängliche Fachwissen

                                                                                                                                        3
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sowie Eindrücke aus persönlichen Gesprächen wahrzu-           Geschlecht verbunden wird, entwickelt sich entscheidend
    nehmen und aus biblischer Perspektive zu betrachten.          anhand von Vorbildern in der Umwelt des Kindes. Jungen
    Aber da wir immer wieder daraufhin angesprochen wer-          und Mädchen scheinen dabei – mit großen individuellen
    den, will ich Sie dahin mitnehmen, wo ich vorläufige Ant-     Unterschieden – jeweils die Rollenangebote zu wählen,
    worten gefunden habe oder ihnen wenigstens auf der Spur       die ihnen aufgrund vorhandener Tendenzen am nächsten
    bin. Und ich wage es, als Seelsorger einige Impulse zum       liegen.3 Wie das Geschlecht erlebt und gelebt wird, bildet
    Umgang miteinander in persönlichen Beziehungen, in            sich aller Wahrscheinlichkeit nach also in der Interaktion
    Seelsorge und Gemeinde zu geben.                              zwischen Anlage und Umwelt heraus.
                                                                       Bei transsexuellen Menschen besteht eine Differenz
    Wovon reden wir eigentlich?                                   zwischen den körperlichen Merkmalen und der eigenen
                                                                  Geschlechtswahrnehmung. Ist dieser Konflikt einmal auf-
    Zuerst: Wir reden von Menschen! Wir reden davon, wie sie      gebrochen, wird er als dauerhaft und oft massiv erlebt.
    sich selbst und ihre Lebenswelt erleben. Wir reden von ih-    Nicht selten ist geradezu von Hass auf den eigenen Ge-
    ren Befürchtungen und ihren Hoffnungen. Und wir reden         schlechtskörper die Rede. Wenn das Lebensumfeld darauf
    von Menschen, die Gott – wie alle anderen Menschen auch       irritiert oder ablehnend reagiert, wird dieser Leidens-
    – bedingungslos liebt.                                        druck noch verstärkt. In der Regel wird mit hoher Intensi-
        Oft begegnet mir eine recht einfache Vorstellung:         tät nach einer Lösung gesucht.
    Transsexuelle sind Frauen im Körper eines Mannes oder
    umgekehrt. Wollen sie diesen Konflikt auflösen, bleibt ih-    Was sagt die Medizin dazu?
    nen nur, den Körper an die Seele anzupassen, bis hin zur
    geschlechtsangleichenden Operation. Die Wirklichkeit ist      Im gegenwärtig gültigen Krankheitsregister der Weltge-
    komplizierter. So gibt es Menschen, die zwar äußerlich und    sundheitsorganisation WHO, dem ICD-10, wird Transse-
    in der Lebensweise das jeweils andere Geschlecht leben        xualität als Störung geführt.4 Deshalb können medizini-
    wollen, auf die operative Geschlechtsangleichung jedoch       sche Maßnahmen von den Krankenkassen übernommen
    verzichten. Manche haben die transsexuelle Geschlechts-       werden. Zu diesen Maßnahmen gehören:
    überzeugung bereits im Kindesalter, andere entdecken sie      • psychotherapeutische Behandlung mit dem Ziel, das
    erst jenseits der Lebensmitte. So verschieden wie die Men-      Leiden des Patienten zu mildern. Zunächst werden das
    schen selbst sind die bevorzugten Begriffe, um die übrigens     Erleben und die Ziele des Patienten geklärt. Bei einem
    heftig gestritten wird: transsexuell, transgender, transi-      dauerhaften Wunsch nach einem Geschlechtswechsel
    dent, trans*. Ich verwende hier den Begriff „transsexuell“      soll die Psychotherapie die damit verbundenen psychi-
    – nicht, weil ich ihn für den geeignetsten halte, sondern       schen Belastungen begleiten. Im Rahmen der therapeu-
    weil er den meisten Menschen geläufig zu sein scheint.          tischen Begleitung kann dieser Wunsch aber auch in den
        So verschieden das individuelle Erleben ist, transsexu-     Hintergrund treten. Dem Wechselwunsch selbst hat die
    elle Menschen sind überzeugt, nicht dem Geschlecht an-          Psychotherapie neutral gegenüberzustehen. Sie soll ihn
    zugehören, das ihnen aufgrund ihrer körperlichen Merk-          weder forcieren noch zu verhindern suchen.
    male zugewiesen wird. Auch wenn die Übergänge fließend        • Hormongaben, die zu körperlichen und mentalen Verän-
    sein können, ist Transsexualität deshalb abzugrenzen von        derungen in Richtung des Wunschgeschlechtes führen.
    dem zeitweiligen Wunsch, das jeweils andere Geschlecht          Bei Heranwachsenden können außerdem Hormone einge-
    vorübergehend darzustellen und z. T. dabei sexuelle Erre-       setzt werden, die das Einsetzen der Pubertät blockieren.
    gung zu erleben (Transvestitismus).                           • Operationen, welche die körperlichen Merkmale so
        Transsexualität ist auch zu unterscheiden von Interse-      weit wie möglich an die des Wunschgeschlechts anglei-
    xualität, bei der die physischen Merkmale nicht eindeutig       chen. Allerdings kann lediglich eine Annäherung und
    auf ein Geschlecht verweisen. Das können die Geschlechts-       keine vollständige Umwandlung erreicht werden. Auch
    chromosomen, aber auch die Geschlechtsorgane oder an-           der genetische Code bleibt unverändert. Die Vorstellung,
    dere körperliche Merkmale sein. Ob der Wunsch nach ei-          man könne sich in naher Zukunft das Geschlecht aussu-
    ner Geschlechtsveränderung auf Intersexualität oder             chen oder sogar beliebig dazwischen wechseln, ist illuso-
    Transsexualität beruht, lässt sich für Außenstehende nicht      risch und kann gerade bei transsexuellen Menschen
    sicher unterscheiden.                                           überzogene Erwartungen wecken, die nach erfolgter Ge-
                                                                    schlechtsangleichung tiefe Enttäuschungen nach sich
    Was meinen wir eigentlich mit                                   ziehen können.
    „Geschlecht“?
                                                                  Wie ist die Rechtslage?
    Mit „Geschlecht“ verbinden wir verschiedene Merkmale,
    zu denen körperliche Voraussetzungen, aber auch Be-           Das seit 1. Januar 1981 in Deutschland geltende Transse-
    wusstseinsentwicklungen gehören. So entwickelt der            xuellengesetz (TSG) regelt die Bedingungen, unter denen
    Mensch in den ersten Lebensjahren sowohl eine eigene          eine Änderung des Vornamens und des Geschlechtsein-
    Überzeugung, welchem Geschlecht er angehört (core gen-        trags im Personenstandsregister möglich sind. Vorausset-
    der identity1 oder kurz identity), als auch Verhaltenswei-    zung ist, dass sich eine Person „auf Grund ihrer transsexu-
    sen, die diesem Geschlecht entsprechen (gender role be-       ellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag
    haviour2 oder kurz expression). Was konkret mit diesem        angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Ge-

4                                                                                                    Weißes Kreuz Zeitschrift 4 | 2018
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Titelthema

        Fotos: Savs, Ramy Kabalan/unsplash.com

schlecht als zugehörig empfindet und seit mindestens drei    tische Unterschiede zwischen dem männlichen und dem
Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen ent-       weiblichen Gehirn. Derzeit werden die Wurzeln von
sprechend zu leben“, sowie „mit hoher Wahrscheinlichkeit     Transsexualität überwiegend in diesem so genannten „ze-
anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden        rebralen Geschlecht“ vermutet. Bei Transsexuellen wür-
zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird.“ 5            den dann das körperliche Geschlecht und das Hirnge-
    Gegenwärtig werden dafür zwei voneinander unab-          schlecht differieren. Es lässt sich aber derzeit nicht
hängige Gutachten von Sachverständigen gefordert, „die       beweisen, dass Transsexualität damit vollständig und in
auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfah-      jedem Fall angeboren ist. Zudem setzt sich die Entwick-
rung mit den besonderen Problemen des Transsexualis-         lung des Gehirns auch nach der Geburt entscheidend fort.
mus ausreichend vertraut sind.“ 6 Für die Änderung des           Andere Beobachtungen legen nahe, dass das ge-
Geschlechtseintrags wurde im Gesetz außerdem eine dau-       schlechtliche Erleben und Verhalten entscheidend von
ernde Fortpflanzungsunfähigkeit sowie die vollzogene ge-     den Beziehungen mitgeprägt wird, die der Mensch in sei-
schlechtsangleichende Operation vorausgesetzt. Das hat       nen ersten Lebensjahren entwickelt: zu sich selbst, zu
das Bundesverfassungsgericht als nicht vereinbar mit dem     Mutter, Vater, Geschwistern und anderen wichtigen Be-
Grundgesetz erklärt und eine Änderung des TSG gefor-         zugspersonen. Eine Rolle könnte z. B. spielen, ob und wie
dert. Für die Kostenübernahme von medizinischen Maß-         sich Jungen mit ihren Vätern, Mädchen mit ihren Müttern
nahmen verlangen Krankenkassen oft ebenfalls Gutach-         identifizieren und ob das Geschlecht des Kindes positiv
ten. Von Interessenverbänden Transsexueller werden           oder negativ wahrgenommen wird. Meines Wissens gibt
sowohl die Forderung nach Gutachten wie auch die Emp-        es aber keine allgemein anerkannte Theorie, mit der man
fehlung einer Psychotherapie als pathologisierend und be-    bestimmte Verhaltensweisen eindeutig aus konkreten Ur-
vormundend kritisiert.                                       sachen ableiten könnte. Menschen können mit gleichen
                                                             Lebensumständen ganz verschieden umgehen. Deutun-
Was sind die Ursachen?                                       gen, in denen sich die einen ziemlich gut wiederfinden,
                                                             treffen auf andere überhaupt nicht zu. Sicher scheint zu
Über die Ursachen von Transsexualität wird intensiv dis-     sein, dass die Entwicklung des geschlechtlichen Erlebens
kutiert. Eine genetische Ursache ist nach meiner Kenntnis    und Verhaltens ein komplexer Prozess ist, der sich aus vie-
bisher nicht nachgewiesen worden. Bereits während der        len Faktoren speist und auch im Erwachsenenalter keines-
vorgeburtlichen Entwicklung bilden sich erste charakteris-   wegs abgeschlossen ist.

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Fotos: Jacoblund, Ridofranz / istockphoto.com
    Wie verläuft ein Wechsel                                           Auch Angehörige werden durch einen solchen Prozess
    des Geschlechts?                                               stark herausgefordert. Bei verheirateten Transsexuellen
                                                                   führt er zusätzlich zu dem Konflikt, dass mit dem Ge-
    Ein Geschlechtswechsel ist ein längerer Prozess. In den        schlecht eine wesentliche Voraussetzung der Ehe verän-
    90er Jahren wurden dazu von einer Expertenkommission           dert wird. Häufig werden solche Ehen geschieden. Es gibt
    Empfehlungen für die psychotherapeutische Begleitung           aber auch Partner, die nach dem Geschlechtswechsel bei-
    entwickelt.7 Zunächst sollte eine Diagnose klären, wie das     einander bleiben.
    transsexuelle Erleben mit der körperlichen und seelischen          Wenn das transsexuelle Erleben bei Minderjährigen
    Gesamtverfassung zusammenhängt. Möglicherweise liegt           auftritt, liegt die Last der Verantwortung bei den Eltern.
    hinter dem transsexuellen Wunsch eine nicht erkannte In-       Besonders drängend ist die Situation, wenn sich bereits
    tersexualität, eine andersgeartete seelische Störung, die      die Pubertät ankündigt. Da spätere operative Angleichun-
    sich auf die Geschlechtsüberzeugung auswirkt oder eine         gen an das Wunschgeschlecht deutlich eingeschränkter
    von dem Betreffenden nicht akzeptierte homosexuelle            möglich sind als vorher, werden zunehmend Hormone
    Orientierung. Sichergestellt werden sollte auch, dass der      eingesetzt, die die Pubertät hinauszögern (Pubertätsblo-
    Wunsch selbstbestimmt und dauerhaft ist.                       cker). Mögliche langfristige Folgen sind jedoch meines
        Wird die Transsexualität bestätigt, lebt der/die Betref-   Wissens kaum erforscht.
    fende zunächst eine Zeit lang im gewünschten Geschlecht            Gegenwärtig erscheint der Geschlechtswechsel meist
    („Alltagstest“). In diesem Zusammenhang kann auch              als einzig mögliche Option. Nach Alternativen auch nur zu
    schon die Änderung des Vornamens vorgenommen wer-              fragen gilt als Ausdruck einer feindseligen Haltung gegen-
    den. Bestätigt sich in dieser Zeit der Veränderungswunsch,     über transsexuellen Menschen bzw. als Angriff auf ihre
    wird durch Hormongaben die körperliche und mentale             Selbstbestimmung. Aber die Radikalität und Endgültig-
    Annäherung an das Wunschgeschlecht begonnen. Diese             keit dieses Weges erfordern m. E. eine sorgfältige Prüfung.
    sind auch Voraussetzung einer geschlechtsangleichenden         Die Entscheidung trifft selbstverständlich der betreffende
    Operation. Die Hormonbehandlung muss nach der Opera-           Mensch selbst. Viele wollen mit dieser Entscheidung aber
    tion lebenslang fortgesetzt werden.                            gar nicht allein gelassen werden, sondern wünschen sich
        In der Vergangenheit wurde für diesen Gesamtprozess        einfühlsame und zugleich unabhängige Begleitung.
    ein Zeitraum von mindestens drei Jahren veranschlagt.
    Diese Zeiten haben sich zum Teil inzwischen erheblich          Was bedeutet Transsexualität für unser
    verkürzt. Einerseits ist es nachvollziehbar, wenn Men-         Verständnis von Geschlecht?
    schen einen solchen Weg möglichst rasch „hinter sich
    bringen“ wollen. Andererseits legen die Tiefe des Eingriffs    Von den Gendertheorien wird Transsexualität als einer
    in die Persönlichkeit und die Unumkehrbarkeit einer sol-       der Gründe ins Feld geführt, die Polarität der beiden Ge-
    chen Entscheidung nahe, sie mit aller Sorgfalt und ohne        schlechter Mann und Frau grundsätzlich in Frage zu stel-
    Handlungsdruck zu erwägen.                                     len. Nur wenn diese so genannte Geschlechterdichotomie

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WEISSES KREUZ - Trans... Fakten, Fragen, Menschen
Titelthema

überwunden werde, könnten Transsexuelle einen gleich-            Gott, ein Gräuel.“ (5. Mose 22,5) Offenbar sollen auch da-
berechtigten Platz in der Gesellschaft finden. Die medizi-       durch Ehe und Familie und damit die Existenz des Gottes-
nischen Möglichkeiten, durch Hormongaben und Operati-            volkes geschützt werden. Auf welche konkreten Verhal-
onen körperliche und mentale Geschlechtsmerkmale zu              tensweisen das Gebot im alten Israel zielte, lässt sich
verändern, werden aber auch als Weg wahrgenommen,                allenfalls vermuten.
allen – und nicht nur transsexuellen – Menschen im Blick             Wenn Transsexualität dazu in Spannung steht, dann
auf ihr Geschlecht einen immer weiter gehenden Gestal-           wird diese von transsexuellen Menschen auf jeden Fall
tungsspielraum zu verschaffen. Ob das überhaupt wün-             nicht hervorgerufen, sondern sie finden sich bereits darin
schenswert ist, sollte gesellschaftlich offen diskutiert wer-    vor. Auch etwas so Grundlegendes wie das Geschlecht ist
den können. Ich möchte mich hier auf die Frage                   offensichtlich von dem Verlust der Harmonie und Eindeu-
beschränken, ob wir – wie weithin gefordert wird – diese         tigkeit mitbetroffen, den die Schöpfung nach dem Zeugnis
Theorien unkritisch übernehmen müssen, wenn wir trans-           der Bibel durch den Sündenfall erlitten hat. Dass sich
sexuellen Menschen gerecht werden wollen.                        Menschen ohne ihr Zutun nicht in dem Geschlecht wieder-
    Tatsache ist, dass die verschiedenen Ebenen, auf de-         finden können, auf das ihr Körper verweist, thematisiert
nen wir unser Geschlecht wahrnehmen, bei transsexuel-            die Bibel an keiner Stelle. Grundsätzlich tritt sie aber dem
len Menschen differieren. Transsexuelle Menschen bewe-           Effekt entgegen, dass das Leitbild von Ehe und Familie
gen sich gewissermaßen zwischen den beiden                       ausgrenzend gegenüber den Menschen wirkt, denen seine
Geschlechtern. Aber auch sie bewegen sich in dieser              Verwirklichung in ihrer individuellen Lebensführung ver-
grundlegenden Polarität. Obwohl die meisten Menschen             wehrt bleibt.
sich relativ klar als einem der beiden Geschlechter zuge-            Das Neue Testament öffnet die Gemeinschaft mit dem
hörig erleben, hat jeder Mensch auch Merkmale, die in            Gott der Bibel über das Volk Israel hinaus. Auf Leben und
Tendenz eher beim anderen Geschlecht zu finden sind.             Erhalt dieses Volkes bezogene Gebote werden dabei für die
Männer können auch weibliche, Frauen männliche Züge              anderen Völker nicht verpflichtend gemacht. Das Leitbild
haben. Es gibt also eine Vielfalt, diese Polarität individuell   von Ehe und Familie als solches ist jedoch in der Schöpfung
zu gestalten. Aber nichts nötigt uns, eine Vielfalt anstelle     verankert, deshalb ist es auch für die christliche Ethik nicht
dieser Polarität anzunehmen.                                     verzichtbar. Diese Ethik ist aber nicht Voraussetzung, son-
    Dennoch wirkt sich diese Polarität auf transsexuelle         dern immer Folge der Gemeinschaft mit Gott, die durch
Menschen in besonderer Weise aus. Denn in unserer Ge-            Christus ohne unser Verdienst hergestellt wird. Gott nimmt
sellschaft ist es für die ungehinderte Teilhabe am Leben         nicht erst die an, die es irgendwie geschafft haben, seinem
oft entscheidend, eindeutig als Mann oder als Frau er-           Bild zu entsprechen. Sondern er nimmt die an, die ihn su-
kennbar zu sein. Wenn Menschen das nicht so einfach              chen, gerade weil sie erkannt haben, dass ihr Leben seinem
möglich ist, finden sie innerhalb dieser Polarität nicht         Bild nicht entspricht. Und das gilt nach dem Zeugnis der
selbstverständlich ihren Platz. Damit kann eine erhebliche       Bibel ausnahmslos für alle (Rö 3,23).
Benachteiligung verbunden sein. Es gibt keinen Grund,                Das erste, was dieses Evangelium jedem Menschen zu
die Frage, welche Toiletten transsexuelle Menschen wohl          sagen hat, ist also: „Du darfst sein!“ Nicht, weil alles an dir
benutzen sollten, irgendwie witzig zu finden. Manche ris-        in Ordnung oder stimmig ist, sondern weil Gott dich liebt.
kieren lieber gesundheitliche Schäden, weil sie die öffent-      Würde Gott nur das an uns annehmen, was seinem Willen
liche Toilette aus Angst möglichst ganz meiden.8                 entspricht, er dürfte niemanden von uns annehmen. Aber
    Wenn wir von Transsexualität reden, reden wir von            er nimmt uns an, auch mit all dem, was in unserem Leben
Menschen, die sich diesen Konflikt nicht selbst gesucht ha-      seinem Entwurf widerspricht. Egal, ob es uns schicksal-
ben. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Gender-        haft widerfahren oder durch uns selbst verschuldet wor-
theorien für viele transsexuelle Menschen etwas enorm            den ist. Transsexuelle Menschen erleben sich oft beson-
Befreiendes haben. Sie fußen jedoch auf einem Welt- und          ders ausgeprägt als falsch, nicht dazugehörig,
Menschenbild, das nach unserer Überzeugung mit dem               ausgeschlossen schon dadurch, dass sie sind, wie sie sind.
christlichen Glauben nicht vereinbar ist.9 Gleichzeitig          Deshalb dürfen wir gerade ihnen gegenüber diese Bot-
kann die reale Bedrängnis, in der transsexuelle Menschen         schaft nicht relativieren: „Du darfst sein!“
sind, Christen nicht gleichgültig sein. Deshalb wollen wir           Weil wir alle nur durch diese Gnade von Gott ange-
nun das biblische Zeugnis auf diese Thematik hin sichten.        nommen sind, ruft er uns nun auch gegenseitig auf:
                                                                 „Nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat
Wie können wir Transsexualität in                                zu Gottes Lob.“ (Rö 15,7) Wir müssen dazu nicht alles an
biblischer Perspektive verstehen?                                einem Menschen gut finden oder allen seinen Entschei-
                                                                 dungen zustimmen. Das „Du darfst sein!“ bedeutet nicht
Das biblische Zeugnis vom Miteinander der Geschlechter           gleichzeitig ein „Du darfst alles machen.“ Wir wollen ge-
wird in den Theologischen Notizen auf S. 16 dieser Zeit-         meinsam dem Bild, das Gott entspricht, näher kommen.
schrift näher entfaltet. Danach gehört die Polarität der Ge-     Aber Gottes Ja zu uns hängt nicht davon ab, wie viel davon
schlechter zum biblischen Menschenbild. An einer Stelle          in diesem Leben Wirklichkeit wird und wo wir an unüber-
fordert die Bibel, dass das jeweilige Geschlecht eines Men-      steigbare Grenzen gelangen. Deshalb kann auch unser Ja
schen klar erkennbar sein soll: „Eine Frau soll nicht Män-       zueinander nicht davon abhängen. Vollkommenheit ist
nersachen tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider          uns auf dieser Welt nicht verheißen (Phil 3,12), deshalb
anziehen; denn wer das tut, der ist dem HERRN, deinem            können wir sie auch nicht voneinander fordern.

                                                                                                                                   7
WEISSES KREUZ - Trans... Fakten, Fragen, Menschen
Der Konflikt eines transsexuellen Menschen mit sei-
                                                       nem Geschlechtskörper bedeutet die Erfahrung einer tie-
                                                       fen Disharmonie. Sie sollte m. E. weder ignoriert noch ba-
                                                       gatellisiert werden. Menschen, die sie an sich selbst
                                                       erfahren, dürfen darin nicht allein gelassen werden. Aber
                                                       auch die, die ihnen nahe stehen, brauchen Unterstützung.
                                                       Nach gegenwärtigem Kenntnisstand können wir nicht vor-
                                                       aussetzen, dass es eine für alle gleichermaßen geltende
                                                       oder gar vollständige Lösung gibt. Umso wichtiger ist es,
                                                       Leitlinien zu formulieren, wie wir gemeinsam mit dieser
                                                       Wirklichkeit umgehen und gangbare Wege in die Zukunft
                                                       finden können.

                                                       Was ist in der Begegnung mit
                                                       transsexuellen Menschen wichtig?
                                                       Atmosphäre der Wertschätzung und Offenheit schaf-
                                                       fen: Das Ja zum biblischen Menschenbild darf nicht in ein
                                                       Nein gegenüber Menschen und Menschengruppen kip-
                                                       pen. Denn dann werden Menschen entmutigt, sich in ih-
                                                       ren Fragen und Konflikten anderen anzuvertrauen und
                                                       Hilfe zu suchen. Dem Evangelium entspricht eine Atmo-
                                                       sphäre, in der jeder wagen kann, sich in geeigneter Weise
                                                       zu offenbaren. Dinge, die die Harmonie stören, werden
    Fotos: Caleb Lucas, Nik Macmillan / unsplash.com

                                                       nicht verschwiegen, sondern offen und respektvoll ange-
                                                       sprochen. Wo dagegen Klagen oder Anklagen vorherr-
                                                       schen, werden Menschen verstummen, die sich nicht si-
                                                       cher sind, wie die anderen auf ihr Erleben reagieren
                                                       werden, oder sogar Ablehnung befürchten.
                                                           Selbstverständlich annehmen: Kaum etwas wird
                                                       von transsexuellen Menschen mehr thematisiert als das
                                                       Gefühl, ausgeschlossen zu sein und nicht dazuzugehören.
                                                       Offensichtlich bedrängt die allgegenwärtige und selbst-
                                                       verständliche Einteilung aller in Männer und Frauen diese
                                                       Menschen sehr viel stärker, als es den anderen zunächst
                                                       einleuchtet. Wenn das so ist, genügt nicht die verbale Ver-
                                                       sicherung, dass man ja grundsätzlich nichts gegen Trans-
                                                       sexuelle habe. Die Annahme will nicht nur behauptet, son-
                                                       dern erfahren werden. Das heißt nicht, allen Zielen und
                                                       Entscheidungen des anderen von vornherein zuzustim-
                                                       men. Aber es bedeutet, dass auch Fragen, die vielleicht im
                                                       Raum stehen, die Beziehung zueinander nicht in Frage
                                                       stellen.
                                                           Irritationen eingestehen: Das Geschlecht ist ein für
                                                       die Identität entscheidendes Merkmal. Deshalb kann es
                                                       zutiefst verunsichern, wenn wir einen Menschen hier
                                                       nicht eindeutig zuordnen können. Diese Verunsicherung
                                                       muss nicht verdrängt werden. Sie wird auch durch den er-
                                                       hobenen Zeigefinger einer wohlfeilen Toleranzforderung
                                                       nicht überwunden. Es gilt vielmehr, diese innere Abwehr
                                                       einzugestehen, sie Gott hinzulegen und sich von ihm die
                                                       Liebe schenken zu lassen, die er selbst zu allen Menschen
                                                       hat.
                                                           Nicht ausweichen: Wenn wir eine Spannung schwer
                                                       aushalten, neigen wir dazu, auf Distanz zu den Menschen
                                                       zu gehen, die uns damit konfrontieren. Oder wir verlan-
                                                       gen, dass der Betreffende schnell etwas dagegen tut. Aber
                                                       auch die Bagatellisierung, das sei doch alles ganz normal,
                                                       kann ein Versuch sein, sich der Spannung zu entledigen
                                                       und einer Auseinandersetzung damit aus dem Weg zu ge-

8                                                                                         Weißes Kreuz Zeitschrift 4 | 2018
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hen. Eine wirkliche Hilfe sind Menschen, die die Kraft fin-     blieben schwankend oder sind ins Geburtsgeschlecht zurückge-
den, sich selbst mit in die Situation hineinzustellen und       kehrt.10 Vielleicht bleibt jeder Weg ein Kompromiss, der auch ein
die damit verbundenen Lasten mitzutragen (Gal 6,2).             Stück Verzicht erfordert, z. B. auf letzte Eindeutigkeit oder auf den
     Unvoreingenommen anschauen: Wenn Dinge irri-               perfekten Körper. Nach allem, was wir wissen, ist die gewünschte
tierend oder beängstigend sind, sind wir versucht, sie gar      Lösung nicht in jedem Fall zu erreichen. Auch vom Glauben her
nicht erst an uns heran zu lassen. Doch dann können wir         dürfen wir zwar vieles erhoffen und erbitten. Aber wir können nie-
mit ihnen nicht umgehen. Sie werden immer größer und            mals etwas versprechen oder ausschließen. Ganz sicher dürfen
immer schwerer zu handhaben. Weil Gott da ist, können           wir uns aber darauf verlassen, dass Gott den Weg auch dann noch
wir ohne Angst alles anschauen, was uns begegnet. Wir           kennt, wenn wir keinen mehr sehen oder er uns ganz und gar
können gemeinsam davor stehenbleiben und zunächst               fremd und unheimlich wird.
einfach fragen: Was erlebst du? Was bedeutet es für dich?           Wie immer sie sich entscheiden, transsexuelle Menschen ge-
Was verstehst du daran, was nicht? Was bringt dir Erleich-      hen einen langen Weg. Sie brauchen Begleiter, die nicht nur gele-
terung, was macht dir Angst? Voreilige Schlüsse und Ur-         gentlich einen guten Rat geben, sondern die mitgehen, die gerade
teile können uns dagegen hindern, gangbare Wege zu ent-         in Krisen da sind und selbst dann, wenn sie eine Entscheidung
decken und einzuschlagen.                                       nicht teilen können, zugewandt bleiben. Weil auch Gott selbst sein
     Mitbetroffene im Blick haben: Transsexuelle Men-           Ja zum Menschen niemals zurücknimmt (Rö 11,29; 2. Tim 2,13).
schen konzentrieren sich nicht selten stark auf ihr eigenes
Erleben. Sie haben mitunter nicht im Blick, dass es auch
Angehörige, vor allem Ehepartner und Kinder, vor eine oft
                                                                                     Martin Leupold ist evan-
extreme Herausforderung stellt. Gemeinde hat gerade in                               gelischer Theologe und
dieser Hinsicht die Chance, zu unterstützen, die Interes-                            Seelsorger und Leiter des
sen aller im Blick zu behalten und vielleicht sogar in Kon-                          Weißen Kreuzes e. V.
flikten zu vermitteln.
     Geeignete Hilfe und Begleitung suchen: Transsexu-
alität berührt elementar die Frage nach der eigenen Iden-
tität. Sie stellt in der Regel mindestens zeitweise eine gro-
ße psychische Belastung dar. Menschen brauchen dann
einen Raum, in dem sie sich ohne Angst und Handlungs-
druck über ihre Wahrnehmung klar werden können. Über            1 dt. Kerngeschlechtsidentität, Begriff von Robert Stoller 1978
                                                                2 dt. Geschlechtsrollenverhalten, Begriff bei Robert T. Francoer 1991
die Begleitung durch Angehörige, Freunde oder Mitchris-         3 Doris Bischof-Köhler (3/2006): Von Natur aus anders. Die Psycholo-
ten hinaus sollte fachkundige, professionelle Hilfestellung       gie der Geschlechtsunterschiede, Stuttgart, S. 40f
gesucht werden. Sachgerechte Beratung oder Psychothe-           4 http://www.icd-code.de, Zugriff am 25.07.2018. Ein erneuertes
                                                                  ICD-11 befindet sich in Erarbeitung.
rapie wird dabei die eigenen Wahrnehmungen und Ziele            5 Zitiert nach www.gesetze-im-internet.de/tsg/__1.html, Zugriff am
des Klienten respektieren und ihn nicht in eine bevorzugte        10.09.2018
Richtung drängen.                                               6 Ebenda.
                                                                7 Zeitschrift für Sexualforschung 10, 1997, S. 147-156. Dr. Sophinette
     Zeit lassen: Immer wieder wird berichtet, dass trans-        Becker, mit der ich für dieses Heft ein ausführliches Interview führen
sexuelle Menschen auf einen Geschlechtswechsel gerade-            durfte, hat an diesen Empfehlungen maßgeblich mitgewirkt.
zu drängen. Vielleicht ist das ein Ausdruck der starken         8 Es gibt natürlich ernsthafte Gründe, bei Toiletten oder auch
                                                                  Umkleideräumen zwischen den Geschlechtern zu trennen. Diese
Spannung, in der sie stehen, und der Hoffnung, ihr durch          können nicht diskussionslos beiseitegeschoben werden. Vielmehr
eine Veränderung endlich entgehen zu können. Zugleich             müssen Lösungen gefunden werden, die die berechtigten Bedürfnisse
ist es ein tiefer Einschnitt, der das gesamte Leben radikal       aller berücksichtigen.
                                                                9 Ausführlich dazu bei Nikolaus Franke: Sexuelle Vielfalt im Unterricht
verändert. Das gilt nicht erst für eine geschlechtsanglei-        (Denkangebot 4), Ahnatal 5/2017
chende Operation. Auch Hormone verändern nicht nur              10 Dazu liegt mir eine bewegende Lebensgeschichte vor.
den Körper, sondern auch die Persönlichkeit. Manche
hochgespannten Erwartungen bleiben unerfüllt. Und Pro-
bleme, die anderswo in der Persönlichkeit liegen, erledi-
gen sich auch nicht mit einem Wechsel des Geschlechts.
Besonders herausgefordert sind Eltern, deren Kinder sich
als transsexuell erleben. Denn sie entscheiden ja nicht für
sich, sondern für einen anderen Menschen. Deshalb sollte
Zeit sein, alles in Ruhe und ohne äußeren Druck zu beden-
ken, was bedacht werden muss, um den bestmöglichen
Weg zu finden.                                                      Mehr erfahren
     Gangbare Wege entdecken: Zurzeit scheint oft der               Sie würden sich gern näher über ein Thema im
Weg eines Geschlechtswechsels einschließlich aller mögli-           Bereich Sexualität und Beziehungen informieren?
chen geschlechtsangleichenden Operationen der einzig                Stöbern Sie einfach in der Mediathek des Weißen
richtige zu sein. Es gibt jedoch auch Transsexuelle, die im         Kreuzes unter
Wunschgeschlecht leben, auf operative Eingriffe aber ver-
zichtet haben. Manchen hat der Geschlechtswechsel auf               www.weisses-kreuz.de/mediathek
Dauer nicht die ersehnte Verbesserung gebracht, manche

                                                                                                                                       9
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Weißes Kreuz Zeitschrift 4 | 2018
                                    Fotos: Randy Jacob, David Marcu / unsplash.com
Titelthema

                        Trans* – Einblicke in ein
                          kontroverses Thema

       Martin Leupold im Interview mit Dr. phil. Sophinette Becker

Trans* scheint in aller Munde zu sein.          Und im Gespräch spüren Sie erst mal nur:            Früher hat man sehr feste Vorstellun-
Aber wovon reden wir eigentlich? Was ist        Sie fühlen sich ganz unwohl als Mann.          gen gehabt: Ein echter Transsexueller will
Trans* wirklich und wie geht es den             Oder als Frau. Aber Sie spüren zunächst        alle Operationen, die möglich sind. Und er
Menschen, die sich als Trans* erleben?          gar nichts davon, dass sie sich dem ande-      ist, wenn er das Geschlecht wechselt, wie-
Da gibt es keine einheitliche Antwort. Es       ren Geschlecht zugehörig fühlen. Bei man-      der heterosexuell. Ist jemand, der von
gibt die Vorstellung, Trans* sei immer          chen ist es zutiefst verborgen, weil es mit    Mann zu Frau wechselt, nachher weiterhin
gleich: Da sind Menschen, die fühlen sich       Scham verbunden ist oder weil sie Mob-         sexuell an Frauen interessiert, ist er nicht
im falschen Körper und wollen in einem          bingerfahrungen gemacht haben, und             echt. Es gab sehr normative Vorstellungen
anderen Körper leben. Wenn man sich je-         kommt dann im Lauf der Zeit erst heraus.       und die Patienten haben sich angepasst
doch die einzelnen Entwicklungen an-                Es gibt auch Menschen, die bleiben         und haben genau das erzählt, was die Leute
schaut, sind die sehr verschieden. Es sind      hin- und hergerissen. In der Öffentlichkeit    hören wollten. Wenn Sie offener sind, ist es
schon große Unterschiede, ob jemand von         scheint meist alles klar, jemand weiß: Ich     komplizierter. Die einen leben sehr gut mit
klein auf das Gefühl hat: Ich bin nicht rich-   bin immer schon Frau gewesen. Früher ha-       einem sozialen Geschlechtswechsel und
tig als Junge oder Mädchen. Oder ob das         ben die Patienten gemeint, einem sagen zu      Hormonen, aber wollen sich nicht operie-
viel später im Leben erst jemandem be-          müssen: Ich fühlte mich schon als Baby als     ren lassen, weil sie das ihrem Körper nicht
wusst wird und der Wunsch sich entwi-           Frau. Kein Mensch fühlt sich als Baby als      zumuten wollen. Sie leben ganz gut sozial
ckelt. Man sollte sich nicht eine einheitli-    Frau. Als Kinder haben wir ziemlich gut        als Frau und finden unter Umständen einen
che Sache vorstellen, genauso wie man           beide Möglichkeiten. Es gibt Jungen, die       Partner, der damit umgehen kann.
nicht sagen kann: die Heterosexuellen.          haben auch was süß Mädchenhaftes an
                                                sich, und es gibt Mädchen, die zeitweilig      Nun ist Trans* ja auch eine medizinische
Ist das eigentlich ein neues Thema?             als Lausbub erscheinen und sich trotzdem       Diagnose. Das heißt, es gibt auch Kriteri-
Geschlechtswechsel hat es in allen Jahr-        in der Pubertät, wenn die sekundären Ge-       en dafür, wann sie gegeben ist.
hunderten gegeben. Natürlich ohne die           schlechtsmerkmale kommen, in die eine          Manche sind von klein auf wirklich un-
heutigen Möglichkeiten der Medizin. Und         oder andere Identität finden.                  heimlich klar in diese Richtung gegangen.
wie darüber gesprochen wird, hat natür-             Es gibt viele Frauen, die nicht gern mit   Ich habe jemanden gesehen, der vor der
lich immer damit zu tun, wie die jeweilige      Puppen gespielt haben, aber nicht trans*       Hormonbehandlung schon eindeutig wie
Geschlechterlage in einer Gesellschaft aus-     werden. Also sind diese Zeichen nicht alle     ein junger Mann wirkte und das von klein
sieht. Da ist ja bei uns eine Menge in Bewe-    notwendiges „Wenn das so ist, wird es so.“     auf auch vertreten hat. Er hat sich einen
gung geraten. Natürlich wirkt sich das auf      Es gibt aber andere Personen, von denen        Namen gegeben, der eindeutig männlich
diejenigen, die das Geschlecht wechseln         man in der Kindheit nichts sehen kann,         ist und das auch unter seinen Freunden
wollen oder sich dem anderen zugehörig          obwohl sie innerlich vielleicht schon sol-     durchgesetzt. In fremder Umgebung ist er
fühlen, auch aus.                               che Empfindungen hatten oder sich diffus       immer als Junge durchgegangen. Solche
                                                unwohl fühlten, wo es sich später so ent-      Leute gibt es. Es gibt aber welche, wo das
Aber es geht immer irgendwie um eine            wickelt.                                       nicht so ist. Viele sagen: Und dann habe ich
Differenz zwischen dem Geschlecht, das                                                         einen Film gesehen. Oder ich habe im In-
der Körper zeigt, und dem, als was sich         Also muss man immer wieder individuell         ternet recherchiert und dann habe ich
der Mensch selbst erlebt?                       schauen: Wie geht’s dem Menschen, wie          plötzlich Schilderungen gesehen und habe
Das eine ist das Unbehagen an dem körper-       erlebt er sich und wo will er hin?             gesagt: Das bist ja du. Das ist für viele ein
lich gegebenen Geschlecht. Also: Ich bin        Ja, und deshalb kann ich sagen, nach drei-     Auslöser. Es ist zunächst eine Selbstdiag-
kein Junge, ich will kein Junge sein, ich       ßig Jahren Beschäftigung mit dem Thema:        nose.
kann kein Junge sein. Oder kein Mädchen.        Ich habe schon lange aufgehört zu sagen:           Und obwohl es immer wieder von an-
Das ist die eine Seite. Und das andere ist:     Ist das eine echte Transsexualität oder        deren Experten kritisiert wird: Ich erlebe
Ich fühle mich dem anderen Geschlecht           nicht? Sondern ich sage eher: Geht es je-      häufig, dass die Patienten möchten, dass
zugehörig. Es gibt Menschen, die sagen:         mandem auf diesem Weg Schritt für              ich sie für transsexuell halte, weil sie das
Ich will eine Geschlechtsumwandlung.            Schritt besser oder nicht?                     Gefühl haben: Dann stimmt es.

                                                                                                                                         11
Fotos: Nik Shuliahin, Anthony Tran/stocksnap.io
Und wie geht das aus? Ist es dann unter-              Objektive Kriterien sind bei Psychodia-    Operation gemacht haben muss, die in
schiedlich? Oder weisen Sie es ganz zu-           gnosen immer ein Problem. Bedingungen          etwa das Erscheinungsbild dem anderen
rück, sagen Sie: Musst du selber wissen?          werden zwar immer wieder formuliert,           Geschlecht annähert, und dass man sterili-
Irgendwas dazwischen. Je nach Verlauf.            aber doch immer vorsichtiger. Und letzt-       siert sein muss, damit man keine Kinder im
Ich habe z. B. oft die Leute nicht sofort so      lich sagt man heute: Es ist eine Verlaufsdi-   Ausgangsgeschlecht kriegen kann, und
angesprochen, wie das Wunschgeschlecht            agnostik.                                      dass, wenn man verheiratet ist, man sich
war, sondern gesagt: Es wird sich entwi-                                                         scheiden lassen muss.
ckeln. Sie haben mehr davon, wenn ich Ih-         Und wie ist dieser Verlauf?                        Seitdem ich mich mit dem Thema be-
nen spiegle, wie ich es wahrnehme.                Man muss die juristische Ebene und die         fasse, soll das Transsexuellengesetz refor-
    Die diagnostischen Kriterien in der Me-       medizinische und therapeutische Ebene          miert werden, wurde es aber nicht. Nur
dizin haben sich sehr verändert. Früher           trennen. Das wird häufig verwechselt.          das Bundesverfassungsgericht hat Stück
galt: Transsexuell ist, wer im andern Kör-        Wenn man den Vornamen und den Perso-           für Stück bestimmte Teile des Transsexuel-
per leben möchte, sich dem anderen Ge-            nenstand ändern will, bedarf es nach dem       lengesetzes kassiert. Erst mal, dass Auslän-
schlecht zugehörig fühlt und operiert wer-        Transsexuellengesetz zweier voneinander        der es nicht benutzen konnten. Zweitens,
den will. Und dann hieß es: Wer                   unabhängiger Gutachten. Dann sagen viele       dass der Operationszwang wegfiel. Der
transsexuell ist, muss operiert werden. Das       Leute: Ja, die Hormonbehandlung darf           Sterilisierungszwang. Der Scheidungs-
ist natürlich ein Zirkelschluss. Davon ist        nach dem Gesetz dann und dann stattfin-        zwang. Das ist alles weg, so dass mittler-
man später abgekommen und hat den Ope-            den. Das steht gar nicht im Gesetz. Das Ge-    weile die Voraussetzungen für die Ände-
rationswunsch nicht mehr als ein Kriterium        setz beschäftigt sich ausschließlich mit den   rung des Personenstandes dieselben sind
genommen, sondern hat eher gesagt: Der            Voraussetzungen für die Vornamens- und         wie für die Vornamensänderung, nämlich
Wunsch muss längere Zeit bestanden ha-            Personenstandsänderung und überhaupt           die Begutachtung durch zwei voneinander
ben, und er muss lebbar sein. Ich habe auch       nicht mit den Behandlungen. Das ist Sozi-      unabhängige Gutachter.
Menschen gesehen, wo ich sagen würde:             algesetzgebung. Es wird aber durcheinan-           Das andere ist die medizinische Seite.
Ja, die sind transsexuell, stimmt für sie.        dergebracht, weil auch die Krankenkassen       Da gab es Standards der Behandlung, an
Aber in ihrem Umfeld, z. B. in einem Mig-         oft die Gerichtsgutachten haben wollen.        denen ich auch mitgewirkt habe. Natürlich
rantenmilieu, wo das vollkommen abge-                 Den Vornamen kann man relativ leicht       sind die nach 20 Jahren überholt. Trotz-
lehnt ist, ist es für sie nicht lebbar, weil es   ändern. Aber für den Personenstand hatte       dem würde ich dieses stufenweise Vorge-
mit dem Verlust der Familie verbunden ist.        das Gesetz vorgesehen, dass man eine           hen empfehlen: Man kommt in Kontakt

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Titelthema

mit jemandem, man versucht mit ihm das             Früher haben die Patienten das brav         hatten, aber noch mal wissen wollten, was
zu klären. Er probiert es allmählich aus,      gelernt und haben gesagt: Es hat mich nie       mit ihnen ist. Ich finde immer interessant,
klärt sein Umfeld auf und nimmt wahr, wie      erregt, es hat mich immer nur beruhigt.         dass manche hinterher sich mit dem abge-
die Reaktionen sind, ob er damit leben         Damit sie in die Schablone passen. Ich          legten Teil ein bisschen versöhnen. Ich
kann. Dann kommt die Hormonbehand-             merke: Je offener ich für Widersprüche al-      habe das Gefühl, es ging ihnen besser,
lung. Da gab es auch zeitliche Fristen, die    ler Art bin, je mehr erzählen mir die Pati-     wenn das andere nicht vernichtet werden
aber auch nicht völlig starr sind. Wir haben   enten die Widersprüche. Oder jemand hat-        muss. Man hat ja auch Erfahrungen in die-
damals anderthalb Jahre bis zur Hormon-        te irgend sonst eine Perversion,                sem Körper gemacht, die ja nicht alle nur
behandlung empfohlen, in der Regel.            masochistisch oder sonst was. Das haben         schlimm waren.
Meistens erfolgt es heute nach einem hal-      die nicht gesagt, weil sie wussten: Aha,
ben Jahr.                                      dann kommt: Sie sind ja gar nicht richtig       Nun gibt es ja auch unter Kindern und
    Und dann kommt irgendwann die Fra-         transsexuell. Und je mehr Sie das machen,       Teenagern solche, die sich als trans* er-
ge: Ist die Operation für die Person hilf-     je mehr Schablonenhaftes erfahren Sie.          leben. Woran erkennen Eltern, dass die
reich und wichtig oder nicht? Aber gestuft,                                                    Frage im Raum steht, und was würden
damit man auch wieder zurückgehen kann,        Lassen sich in der Therapie auch Ursa-          Sie denen raten?
wenn man merkt: Es geht einem nicht gut        chen finden und bearbeiten?                     Das ist eine wirklich komplizierte Angele-
damit. Sagen wir mal: Jemand bekommt           Manche Selbsthilfegruppen und Transse-          genheit, weil es da auch Kontroversen zwi-
Hormone. Er hofft, es wird ihm sehr viel       xuellenverbände sind stramme Lobbyis-           schen den Fachleuten gibt. Früher war es
besser gehen, merkt aber, dass er so depres-   ten, die mich auch nur sehr zum Teil mö-        ziemlich klar, dass man die Diagnose
siv bleibt wie zuvor. Oder alle Probleme       gen, weil ich dagegen bin, so mit Verboten      Transsexualität eigentlich vor sechzehn
bleiben bestehen. Dann muss man natür-         zu arbeiten. Die wollen, dass man da gar        nicht stellen sollte und wo ziemlich klar
lich überlegen, ob das sinnvoll ist.           nichts erkundet. Ich kenne durchaus Pati-       war: Hormone allerfrühestens mit sieb-
                                               enten, wo ich eine Idee habe, woher das         zehn und operative Eingriffe erst später. Da
Also ist die Operation nicht immer die         vielleicht kommen könnte. Wo ich mir aber       hat sich in den letzten zehn Jahren etwas
Lösung.                                        sage: Das ist ein Ausweg, mit dem sie leben     massiv geändert. Und zwar wurde damit
Es wird immer in der Literatur gesagt, es      können. Beispiel: Früher hat man gesagt,        begonnen, dass man die Diagnose früher
gebe niemanden, der es bereue. Das             wenn eine biologische Frau mit transsexu-       stellt und dass man den Kindern zu Beginn
stimmt nicht. Ich allein habe vielleicht       ellem Wunsch einen sexuellen Missbrauch         der Pubertät Pubertätsblocker gibt. Das
zwanzig Leute gesehen, die es bereuen.         in der Kindheit erlebt hat, dann muss man       sind Antihormone, die die sexuelle Ent-
Die melden sich nicht in der Öffentlichkeit,   den bearbeiten und dann ist sie nicht mehr      wicklung, die Entwicklung der sekundären
weil sie zutiefst beschämt sind. Es gibt so-   transsexuell. Ich kann sagen, ich hatte eine    Geschlechtsmerkmale, aufhalten. Dadurch
genannte Regretter (vom engl. regret – be-     Reihe schwerst missbrauchter Frauen, mit        wird natürlich auch die Sexualität unter-
dauern, d. Red.), wo der Weg zu schnell        Gewalt und sexuellem Missbrauch und             drückt. Dann heißt es: Das ist reversibel,
gegangen wurde. Jemand hatte sich so viel      Vernachlässigung, also der schlimmsten          wird ja nur unterdrückt. Was es längerfris-
erhofft an Identität und Selbstsicherheit      Trias, die es gibt, für die der transsexuelle   tig für die Entwicklung bedeutet, kann man
und hat unheimlich Druck gemacht und           Weg tatsächlich ein Ausweg aus dem              überhaupt noch nicht beurteilen.
man hat dem nachgegeben. Jetzt ist er          Nichtbewältigbaren war. Wo sie eine ande-            Ich gehöre zu denen, die das kritisie-
operiert und vermännlicht, aber er hat das     re, bessere Identität entwickeln konnten.       ren. Ich bin immer noch nicht davon über-
Gefühl: Ich weiß immer noch nicht, wer         Es lässt sich nicht alles behandeln, was        zeugt, dass es gut ist, die Pubertät so zu
ich bin. Das gibt es durchaus.                 man versteht.                                   unterdrücken. Die Leute, die das befür-
                                                   Also wenn ich eine Ursache vermute,         worten, und die sind in der Mehrheit und
Kann etwas wie Trans* aussehen, aber           heißt das nicht: Damit ist der transsexuelle    haben sich auch faktisch durchgesetzt, die
etwas anderes sein?                            Weg automatisch falsch. Die Frage ist im-       sagen: Dadurch ermöglichen wir ihnen ein
Es gab die klassische Differentialdiagnos-     mer: Stabilisiert es die Person – oder nicht?   besseres Passing (Übergang ins Wunschge-
tik. Hat jemand das Tragen der Kleidung        Andere würden Ihnen allerdings sagen:           schlecht, d. Red.), sie bleiben kleiner oder
des anderen Geschlechts als sexuell erre-      Das ist alles schon von Geburt an festge-       sie entwickeln nicht die starken männli-
gend empfunden, dann ist er Transvestit        legt, das ist das Hirngeschlecht, das kann      chen Geschlechtsmerkmale und es geht
und kann nicht transsexuell sein. Nun gibt     man alles nur bestätigen und darüber psy-       ihnen deshalb in Zukunft besser. Natürlich,
es die Gruppe, die ich immer die Spätberu-     chodynamisch nachzudenken ist Men-
fenen nenne. In der Fachliteratur heißen       schenrechtsverletzung.
sie late-onset, also die Mann-zu-Frau-
Transsexuellen, die relativ spät in ihrem
Leben damit herauskommen. Wir wissen
                                               Also sind die Ursachen auf jeden Fall
                                               komplex.
                                                                                                   Beratung finden
von dieser Gruppe, dass es da relativ viele    Ja. Unsere eigene geschichtliche Entwick-           Sie suchen eine Beratungs-
gibt, die einen Transvestitismus in der Vor-   lung ist ja auch nicht etwas, was einfach da        stelle in Ihrer Nähe?
geschichte hatten. Es gibt Leute, wo ein       war, und – Bingo! – haben wir’s gefühlt.            Geben Sie einfach Ihre Post-
Transvestitismus irgendwann in eine            Jeder hat männliche und weibliche Antei-            leitzahl ein unter
transsexuelle Entwicklung mündet. Des-         le, das ist ja auch Entwicklung. Ich habe in
halb hat man die Differentialdiagnose          den letzten Jahren viele Therapien ge-              www.weisses-kreuz-hilft.de
Transvestitismus weitgehend aufgegeben.        macht mit Leuten, die das alles hinter sich

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wenn Sie 1,97 m groß sind und riesige           Darf man eigentlich Mühe mit so einem           täuscht sind. Deshalb gehört für mich zur
Hände haben und heißen Chantal, ist es          Wunsch haben oder damit, von heute auf          guten Psychotherapie bei Transsexuellen
nicht so einfach.                               morgen einen anderen Namen zu sagen?            etwas, das ich aktive Desillusionierung
    Das verstehe ich als Argument. Ich fin-     Man kann auch durchaus sagen: Es fällt          nenne. D. h. vor der Operation die Grenzen
de allerdings in der Abwägung den Eingriff      mir schwer. Die Patienten unterscheiden         der Möglichkeiten mit dem Patienten bear-
in die Entwicklung sehr groß. Das ist kont-     sehr fein, ob die Eltern sich Mühe geben,       beiten, so dass sie realistische Erwartungen
rovers in der Fachwelt, aber die Mehrheit       aber sich versprechen, oder ob sie’s einfach    haben, weil sonst eine maßlose Enttäu-
denkt inzwischen schon, dass das eine           nie machen und so tun, als sei es nicht. Ich    schung erfolgt. Es ist eine Geschlechtsan-
gute Methode ist. Sie sei ja reversibel. Na-    kenne jemanden, der lebt jetzt schon jah-       gleichung. Jemand sagte mal: „Irgendwie
türlich kann man die Pubertätsblocker ab-       relang vollkommen als Mann, ist total           sind wir Kunstfiguren.“ Es gibt Grenzen der
setzen, aber im Großen und Ganzen, wenn         überzeugend. Der Vater ist in einer evan-       Medizin. Auch wenn man heute immer
man die Behandlung mal angefangen hat,          gelischen Sekte – die können ja manchmal        mehr machen kann. Es ist wichtig, dass die
geht sie auch weiter.                           sehr strikt sein – und der ignoriert das ein-   Leute sich damit auseinandersetzen.
    Jetzt ist ja Ihre Frage: Was sagt man El-   fach.
tern? Mich rufen relativ viele Eltern an und                                                    Also es ist auf jeden Fall ein langer und
sagen dann: Wir wollen nicht, dass das          Immer wieder wird darauf hingewiesen,           strapaziöser Weg.
Kind in die Uniklinik kommt, weil wir wis-      dass Trans*Menschen sehr verletzlich            Deshalb sagen auch manche Leute: Ich will
sen, dann geht’s schnell los. Und andere        sind und die Gefahr der psychischen In-         Psychotherapie, weil ich weiß, dass das
gehen in einer Geschwindigkeit vor, dass        stabilität da ist.                              schwierig ist, und ich will die anderen Din-
mir selber manchmal die Ohren schla-            Es hat immer auch etwas mit deren Vorer-        ge in meinem Rucksack, die Steine, die da
ckern. Es gibt beides. Mein Vorschlag ist       fahrungen zu tun. Es gibt Leute, die haben      noch lasten, loswerden, damit ich diesen
eigentlich immer: Es ist gut, das Kind hat      überhaupt keine negative Erfahrung ge-          Weg auch in voller Stärke gehen kann.
eine Therapie, in der es das alles auspro-      macht. Die kommen gut damit zurecht,
bieren kann. So viel Freiraum und Mög-          sind in ihrem Umfeld akzeptiert. Es gibt        Zurzeit scheint es mir aber fast eine Eu-
lichkeiten, sich auszuprobieren, wie mög-       andere, die haben Mobbingerfahrungen            phorie zu geben: Es gibt eine Vielfalt, du
lich und so wenig somatische Eingriffe wie      gemacht und sind natürlich ganz anders          kannst dir aussuchen, ob du Mann oder
möglich. Da würden aber andere wider-           verletzlich. Man muss nicht alle wie ein ro-    Frau sein willst oder noch was anderes.
sprechen.                                       hes Ei behandeln. Es gibt auch welche, die      Ich war kürzlich zu einer Tagung, da wur-
    Sozial, denke ich, kann man viel aus-       das relativ offensiv vertreten: Ab jetzt habt   de eine Gruppe Jugendlicher interviewt.
probieren. Es gibt Leute, die vertreten in-     ihr mich soundso zu nennen. Und man             Die haben alle gesagt, sie sind Trans*.
zwischen, man sollte – wenn die das schon       muss sich dem auch nicht immer sofort           „Also jetzt nehme ich Hormone, und dann
im Vorschulalter sagen – sie schon in der       beugen.                                         später nehme ich mal keine, und dann wer-
neuen Rolle in die Schule einschulen, ohne          Ich nehme jetzt mal Ehepaare. Diese         de ich schwanger, und dann werde ich wie-
dass die andern das wissen. Ich glaube, es      Spätberufenen, late-onset, sind oft verhei-     der welche nehmen.“ Man kann alles ma-
ist besser, die Mitschüler erfahren das ir-     ratet und haben Kinder. Jetzt gibt es Frau-     chen. Ich habe nur für mich gedacht: Das
gendwann und gehen damit um, da habe            en, die sagen: Kein Problem! Und dann           ist die ganz normale jugendliche Omnipo-
ich auch ganz gute Erfahrungen. Sie sollen      merken sie: Es ist doch ein Riesenproblem.      tenz, wo man alles kann und gar nichts.
alles sozial ausprobieren können, aber sich     Ich finde immer am günstigsten, wenn die        Firmiert aber unter dem Label „Trans*“.
nicht gleich festlegen: Jetzt ist man trans-    Ehefrau sagt: Es ist für mich ein Problem.           Es gibt auch Lobbyistinnen, die sagen:
sexuell. Ich glaube nicht, dass man mit elf     Bitte lass mir Zeit, dass ich rausfinde, ob     Warum nicht mehrfach im Leben hin und
die Diagnose Transsexualität stellen kann.      ich damit zurechtkomme. Es gibt manche,         her? Würde ich sagen: Sozial habe ich
Andere Leute sagen, sie können das.             die ihren Partnerinnen genügend Zeit las-       nichts dagegen, wenn die Leute gern ein
                                                sen, und es gibt manche, die so damit be-       Jahr Günther, ein Jahr Maria sind, mich
Gibt’s denn Begleitungsmöglichkeiten            schäftigt sind, das jetzt durchzuziehen,        stört es nicht. Wenn sie aber körperliche
eigentlich für die Familie, für Eltern?         dass sie die Frau überrennen.                   Eingriffe vorgenommen haben, dann ist es
Viel zu wenig. Es gibt Gruppen, wo die                                                          was anderes. Oder Hormone, die ja auch
Leute selbst so was gegründet haben für         Stichwort Suizidalität?                         seelisch wirken.
Angehörige, aber eigentlich gibt es zu we-      Es sind nicht alle suizidgefährdet. Und              Es ist so ein bisschen „Anything goes“
nig Angebote. Es gibt auch Eltern, die ganz     wenn jemand suizidgefährdet ist, dann aus       und „Alles ist easy“. Es gibt ein Buch von
verzweifelt sind, weil sie das Gefühl haben,    ganz unterschiedlichen Gründen, z. B.           einer Medizinhistorikerin, das heißt „Trans
das Kind geht jetzt in diese Richtung, und      wenn jemand eine lange Leidensgeschich-         im Glück“. Das liest sich wirklich so: Wenn
sie haben das Gefühl, es hat mit was ganz       te hinter sich hat. Ich hatte einen Patien-     Sie alles richtig machen, Ihre Kollegen ver-
anderem zu tun. Denen sag ich aber auch:        ten, den die Familie mit dem Leben be-          nünftig aufklären – die Trennung von der
Wenn Sie sich nur dagegen stellen, dann         droht hat, wenn er nicht aufhört, als Mann      Ehefrau ist ein halber Satz – ist alles prima.
passiert gar nichts. Am wichtigsten ist,        zu leben. Es gibt Leute, wo man sagen           Und da denke ich an die Leute, die ich so
dass Sie im Kontakt bleiben und den             kann, es sind Folgen der sozialen Ausgren-      gesehen habe, wie mühsam es ist, auch bei
Wunsch nicht als solches ablehnen. Son-         zung, die sie suizidgefährdet machen.           denen, wo es gutgegangen ist. Oder es gibt
dern sagen, o.k., lass uns mal gucken, wie          Es gibt aber auch Leute, die illusionäre    Verheiratete, die Angst haben, die Frau zu
das geht und wie du damit leben kannst,         Erwartungen haben an das, was die Medi-         verlieren. Und gleichzeitig immer stärker
und das ausprobieren usw.                       zin kann und in der Folge furchtbar ent-        das Gefühl haben, sie müssen ganz als Frau

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