EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9 - Politische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund
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Politische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund Andreas M. Wüst und Thorsten Faas GUTACHTEN EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
Impressum ISBN 978-3-96250-083-2 Herausgegeben vom Forum Berlin Friedrich-Ebert-Stiftung Dr. Dietmar Molthagen Hiroshimastraße 17 10785 Berlin Autoren Andreas M. Wüst, Thorsten Faas Lektorat Gaby Rotthaus Umschlagfotos Titel: Boarding1Now/istockphoto.com Rückseite: vchal/istockphoto.com mucft, maxoidos/Fotolia.com Gestaltung Pellens Kommunikationsdesign GmbH, Bonn Druck Druckerei Brandt GmbH, Bonn © 2018 by Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin https://www.fes.de/forum-berlin/ https://www.facebook.com/ForumBerlinFES/ Eine gewerbliche Nutzung der von der FES herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung durch die FES nicht gestattet.
Inhalt Vorwort des Herausgebers .......................................................................................4 Einleitung ...................................................................................................................5 Zusammensetzung .....................................................................................................7 Verfügbare Daten ....................................................................................................10 Erklärungsansätze für die Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund .....................................................................................12 Empirische Befunde zur Wahlbeteiligung .............................................................13 Erklärungsansätze für politische Präferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund ...................................................................................17 Empirische Befunde zu Parteipräferenzen ...........................................................18 Ausblick und Fazit ..................................................................................................21 Anhang Tabellen..........................................................................................................23 Literaturverzeichnis......................................................................................................24 Abbildungsverzeichnis..................................................................................................26 Die Autoren.................................................................................................................27
4 Vorwort des Herausgebers Was denken Menschen über Politik und wie beurteilen sie Bürger_innen von der eigenen oder familiären Migrations die Funktionsfähigkeit der Demokratie? Diese Doppelfrage erfahrung geprägt sind, oder ob ganz andere Faktoren – ist Ausgangspunkt aller Studien der Friedrich-Ebert-Stif- man denke an soziale Lage, Bildungsbiografie, den Wohn- tung. Immer wieder versuchen wir, die politischen Einstel- ort – das politische Denken stärker prägen. lungen bestimmter Bevölkerungsgruppen zu ermitteln – seien es selbsterklärte Nichtwähler_innen, Angehörige der Diese Fragen beantworten Andreas Wüst und Thorsten sogenannten „arbeitenden Mitte“ oder Bewohner_innen Faas unter Berücksichtigung verschiedener empirischer in Stadtteilen mit auffallend niedriger Wahlbeteiligung. Studien der vergangenen Jahre. Sie können dadurch am Ende auch beantworten, ob es überhaupt sinnvoll ist, aus Der vorliegende Band der Publikationsreihe „empirische den überaus verschiedenen Menschen mit Migrations Sozialforschung“ fragt nach den politischen Einstellun- hintergrund eine politische Bevölkerungsgruppe zu gen von Bürger_innen mit Migrationshintergrund. Dies ist konstruieren. Die Friedrich-Ebert-Stiftung möchte mit die- erstens ein wachsender Teil der Gesellschaft, blickt man sem Gutachten einen Beitrag zu der Diskussion über an- auf Prognosen der Bevölkerungsent wicklung. Zweitens gemessene Partizipation und Repräsentanz von Bürger_ sind es Menschen, deren politische Partizipation in der innen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland leis- Summe unterdurchschnittlich ist. So ist die Wahlbeteili- ten. Zugleich möchten wir die oft emotionale Debatte um gung unter Menschen mit Migrationshintergrund niedri- die Bedeutung von Migration und Integration versach ger, zugleich aber auch ihre Repräsentanz in politischen lichen, indem hier aufgezeigt wird, welche politischen Gremien nur gering ausgeprägt. Dies haben in jüngerer Einstellungsfolgen die Migrations erfahrung hat – und Vergangenheit viele politische Beobachter_innen mit Blick welche die Erfahrungen in der deutschen Gesellschaft. auf den im September 2017 gewählten Bundestag betont, unter dessen Abgeordneten nur 58 oder umgerechnet Dr. Dietmar Molthagen 8,2 % einen Migrationshintergrund haben. Drittens stellt Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin sich die Frage, inwiefern politische Einstellungen dieser Arbeitsbereich empirische Sozialforschung POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Einleitung 5 Deutschland ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- gleitet werden. Im Laufe der Zeit und vor allem im Gene- derts vor allem durch den Zuzug von Aussiedlerinnen und rationenverlauf können sich daher politische Orientierun- Aussiedlern sowie Arbeitskräften und ihren Nachkommen gen und politisches Verhalten ändern. Ferner unterliegt wieder zu einem Einwanderungsland geworden. Seit 1990 der politische Wettbewerb in Deutschland (Parteien, Kan- hat eine schrittweise Lockerung der sehr restriktiven Ein- didatinnen und Kandidaten, Themen und Lösungsansät- bürgerungsbestimmungen aus dem Jahr 1913 (RuStAG) ze) ebenfalls erheblichen Veränderungsprozessen. Daher vielen Einwanderinnen und Einwanderern die Einbürge- können sowohl die Wahlberechtigten mit als auch die rung erleichtert. Mit der Reform des Staatsangehörigkeits jenigen ohne Migrationshintergrund grundsätzlich von rechts (StAG) zum Januar 2000 wurde das Abstammungs- allen politischen Akteuren zur Beteiligung an einer Wahl prinzip (ius sanguinis) um das Territorialprinzip (ius soli) und zur Abgabe der Stimme für eine Partei oder einen ergänzt. Kandidaten bzw. eine Kandidatin gewonnen werden. Schließlich können Ereignisse im Herkunftsland (bspw. in Diese Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts führ- Russland oder in der Türkei) und die bilateralen Beziehun- te zu einer kontinuierlichen Erhöhung der Zahl deutscher gen dieser Länder zu Deutschland Einfluss auf politische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit Migrationshinter Orientierungen in Deutschland haben, gerade bei Men- grund von 7,7 Mio. (2005) auf 9,6 Mio. (2016). Dadurch schen mit entsprechendem Migrationshintergrund. hat sich auch der Anteil der Wahlberechtigten mit Migra- tionshintergrund1 unter allen Wahlberechtigten auf mitt- Zwar haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- lerweile 10,2 % erhöht; die Einführung des ius soli greift ler seit Ende der 1990er Jahre (Wüst 2002) immer wieder erst ab 2018 vollends, da die seit 2000 geborenen ius soli mit Fragen nach der politischen Partizipation und Par Kinder von nun an volljährig und wahlberechtigt werden.2 teiwahl von Menschen mit Migrationshintergrund in Ganz unabhängig von der Anzahl weiterer Einwanderin- Deutschland beschäftigt (Wüst 2011), dennoch gehört nen und Einwanderer wird der Anteil der Wahlberechtig- der Themenbereich nicht zum Standardrepertoire wahl ten mit Migrationshintergrund in den kommenden Jahren soziologischer Analysen. Dies hat trotz gewachsener zunehmen. Gruppengröße mit dem vergleichsweise geringen Anteil an Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund zu tun Es wäre jedoch vereinfachend, von einem quasi stetig sowie mit der eben skizzierten Heterogenität der Gruppe. wachsenden „Block“ an Wählerinnen und Wählern mit Beides stellt empirische Forschung vor beachtliche Heraus- Migrationshintergrund auszugehen, der den Ausgang von forderungen, insbesondere im Hinblick auf die nötigen Wahlen immer stärker beeinflusst. Zum einen gehören Fallzahlen in Umfragen. Daher sind die Befunde zu politi- Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund recht schen Einstellungen und Wahlverhalten von Menschen unterschiedlichen Gruppen (nach Herkunft und Religion, mit Migrationshintergrund lückenhaft. Es bedarf deshalb aber auch nach Bildung und Berufsstatus) an; zum ande- sowohl weitergehender Analysen bereits vorhandener ren vollziehen sich innerhalb aller gesellschaftlichen Grup- Daten als auch einer zufriedenstellenden (und das heißt: pen kontinuierlich Veränderungsprozesse, die in diesem umfassenderen) Berücksichtigung von Wahlberechtigten Fall von gruppenspezifischen Integrationsprozessen be- mit Migrationshintergrund in künftigen Studien. 1 Die Angaben mit Bezug zur amtlichen Statistik erfolgen auf Grundlage der Definition des Statistischen Bundesamts. 2 Mit der Einführung des ius soli konnten auch unter 10-Jährige mit ausländischer Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsangehörigkeit auf Antrag erwerben (§ 40b StAG). Allerdings war dies nur bis zu einem Jahr nach Inkrafttreten des StAG möglich. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
6 Um uns den politischen Einstellungen und dem politischen Schritt einen Überblick geben über für Sekundäranalysen Verhalten von Menschen mit Migrationshintergrund verfügbare Umfragedaten. Auf dieser Basis widmen sich einschließlich der damit verbundenen Folgen adäquat die Abschnitte 3 und 4 dann der Wahlbeteiligung sowie widmen zu können, werden wir im Folgenden in vier der Parteiwahl von Menschen mit Migrationshinter- Schritten vorgehen. Zunächst klären wir in Form einer grund3, wobei auch auf die vermittelnden Mechanismen, Beschreibung der Zusammensetzung der Gruppe deren allen voran die politischen Einstellungen, eingegangen Bedeutung und schaffen so eine Basis für weitergehende wird. Dabei geben wir zunächst einen Überblick über Analysen. Dazu können wir vor allem auf Daten der amt- mögliche theoretische Zugänge, gefolgt von Darstellun- lichen Statistik zurückgreifen. Für weitergehende Analy- gen des Forschungsstands und runden dies punktuell sen von Einstellungen und Verhaltensabsichten genügt durch eigene Sekundäranalysen ab. Wir schließen mit diese Quelle allerdings nicht, weshalb wir im zweiten einem Fazit und Ausblick. 3 In den Sozialwissenschaften ist eine im Vergleich zur amtlichen Statistik leicht vereinfachte Operationalisierung des Migrationshinter- grunds üblich. Einen Migrationshintergrund hat, wer entweder selbst mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit im Ausland gebo- ren wurde oder ein Elternteil hat, das dieses Kriterium erfüllt. POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Zusammensetzung 7 Gut ein Zehntel der wahlberechtigten Deutschen (im Alter 1,2 % bzw. 0,5 % aller Wahlberechtigten mit Migrations- von 18 Jahren und darüber) hat einen Migrationshinter- hintergrund aus. Wie heterogen die Gruppe der Menschen grund. Es handelt sich dabei vor allem um Personen, die und damit auch der Wahlberechtigten ist, zeigt sich entweder selbst oder von denen zumindest ein Elternteil daran, dass weitere 3,3 % ihre Wurzeln in vielen verschie- als Aussiedler oder Spätaussiedler nach Deutschland ge- denen, anderen Ländern haben. kommen sind. Die größte Gruppe, nämlich ein knappes Drittel (3,2 % aller Wahlberechtigten) stammt aus Län- Unter dem Blickwinkel der Integration ist die Frage nach dern des Gebiets der ehemaligen Sowjetunion, überwie- Unterschieden zwischen verschiedenen Generationen von gend dem heutigen Russland (1,2 %) und Kasachstan Menschen mit Migrationshintergrund von besonderer (1,2 %). Weitere 1,5 % stammen aus Polen und 0,5 % Bedeutung. Betrachtet man die Zusammensetzung noch- aus Rumänien. Auch wenn nicht alle Deutschen, deren mals aus dieser Perspektive, dann zeigt sich, dass der weit Hintergrund in diesen Ländern liegt, deutsche Wurzeln überwiegende Anteil (8,1 % aller Wahlberechtigten) eine haben, so gilt dies doch für den weit überwiegenden Teil eigene Migrationserfahrung besitzt und somit zur ersten dieser Wahlberechtigten. Generation der Einwanderinnen und Einwanderer gehört. Dies betrifft ganz überwiegend die Wahlberechtigten aus Unter den Deutschen aus Nicht-Aussiedlerländern befinden Aussiedlerländern. Jeweils nur 0,2 % der Wahlberechtig- sich vor allem Türkeistämmige und Menschen, die aus dem ten gehören den Nachfolgegenerationen aus ehemals Gebiet des ehemaligen Jugoslawien stammen. Sie machen sowjetischen Gebieten oder aus Polen an. Die Türkeistäm- Abbildung 1: Zusammensetzung der Wahlberechtigten nach Migrationshintergrund, Herkunftsgebiet und Generation 2016 (in % aller Wahlberechtigten) Gebiet ehem. YU 0,5 1. Generation 8,1 andere 3,3 2. Generation 2,1 Rumänien 0,5 Türkei 1,2 Polen 1,5 Gebiet ehem. SU 3,2 ohne MH 89,8 mit MH 10,2 YU (1) 0,3 RO (2) 0,0 YU (2) 0,2 RO (1) 0,5 andere (1) 2,5 TK (2) 0,7 TK (1) 0,5 PL (2) 0,2 andere (2) 0,8 PL (1) 1,3 SU (2) 0,2 SU (1) 3,0 Quelle: Mikrozensus 2016. Die Zahlen in den Klammern weisen jeweils den Anteil der Personen erster (1) und zweiter (2) Einwanderungsgeneration aus. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
8 migen ohne eigene Migrationserfahrung machen dage- Zensus 2011 zurückgegriffen werden. Die Verteilung der gen mit 0,7 % die größte Teilgruppe unter den Wahlbe- Anteile der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund rechtigten ohne eigene Migrationserfahrung aus. Hinzu innerhalb Deutschlands zeigt zum einen ein Ost-West- und kommen mit 0,2 % vor allem Deutsche, von denen ein zum anderen ein Stadt-Land-Gefälle. Während es 2013 Elternteil aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien mit Ausnahme Berlins im Osten keine Wahlkreise mit einem nach Deutschland gekommen ist. nennenswerten Anteil an Wahlberechtigten mit Migra tionshintergrund gab, liegen die entsprechenden Anteile Der jährlich erhobene Mikrozensus ermöglicht leider keine im Westen durchweg höher. In insgesamt elf Wahlkrei- Differenzierung der Bevölkerung nach Migrationshinter- sen – alle in Großstädten – lag der Anteil der Wahlbe grund in Wahlkreisen. Um ein Bild der regionalen Vertei- rechtigten mit Migrationshintergrund über einem Fünftel lung zeichnen zu können, muss deshalb auf Daten des der Wahlberechtigten insgesamt. Abbildung 2: Anteil Wahlberechtigter mit Migrationshintergrund in Wahlkreisen 2013 (Datengrundlage: Zensus 2011) Anteile in % Quelle: Wüst 2016 in German Politics 25 (3); Karte © Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (www.bkd.bund.de) POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Durch die demographische Entwicklung und durch die Ein- Anteils der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund 9 führung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 zu erwarten. Diese Entwicklung wird ab 2018 zunächst liegt der Anteil der Deutschen mit Migrationshintergrund bei den jüngeren Wahlberechtigten sichtbar. Da jedoch in den jüngeren Alterskohorten deutlich höher als in älte- die jüngeren Alterskohorten weniger Menschen umfas- ren. Bei den 0- bis unter 5-jährigen und den 5- bis unter sen als die älteren Alterskohorten (die 5- bis 10-Jährigen 10-jährigen Deutschen beträgt der Anteil der Kinder mit machen ungefähr die Hälfte der 50- bis 55-Jährigen aus), Migrationshintergrund über 37 %; bei den 10- bis unter ist in naher Zukunft mit einem stetigen, aber keinem 18-Jährigen liegt er noch über 30 %. Mit Blick auf die sprunghaften Anstieg der Wahlberechtigten mit Migra jüngeren Alterskohorten zeigt sich eine Annäherung des tionshintergrund zu rechnen. Anteils der Deutschen mit Migrationshintergrund und des Anteils der Menschen mit Migrationshintergrund an der ge- Prognosen zu zukünftigen Anteilen der Wahlberechtigten samten Bevölkerung. Die weit überwiegende Zahl der in mit Migrationshintergrund an allen Wahlberechtigten lie- Deutschland geborenen Kinder mit Migrationshinter- gen nicht vor. Konservativ geschätzt wird der Anteil im grund besitzt inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft Jahr 2021 (also dem Jahr der voraussichtlich nächsten durch Geburt. Bundestagswahl) auf mindestens 10,8 %, vier Jahre spä- ter (2025) auf mindestens 11,6 % ansteigen.4 Dabei wird Geht man weiterhin davon aus, dass es über diese natür- vor allem der Anteil türkeistämmiger Wahlberechtigter lich nachwachsenden Generationen hinaus noch zu Ein- überproportional ansteigen (auf mindestens 1,5 % aller bürgerungen in den mittleren Alterskohorten kommen Wahlberechtigten im Jahr 2025). wird, dann ist ein weiterer, kontinuierlicher Anstieg des Abbildung 3: Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund an allen Deutschen bzw. Einwohnern nach Altersgruppen (in %) 50 45 Deutsche Einwohner 40 35 30 25 20 15 10 5 0 0 bis 5 bis 10 bis 15 bis 18 bis 20 bis 25 bis 30 bis 35 bis 40 bis 45 bis 50 bis 55 bis 60 bis 65 bis 70 bis 75 unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter und 5 10 15 18 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 älter Quelle: Mikrozensus 2016. 4 Für diese konservative Schätzung wird lediglich die Alterung der derzeitigen Bevölkerung (Stand: 2017) berücksichtigt, aber keine weiteren Wanderungsbewegungen, Einbürgerungen oder Todesfälle. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
10 Verfügbare Daten Daten zur Zusammensetzung der Gruppe der Menschen ZDF aufgenommen, die nachfolgend ausgewertet wer- mit Migrationshintergrund lassen sich sehr gut aus ver- den konnten (Wüst 2000, 2002, 2003a, 2003b, 2004). fügbaren amtlichen Statistiken gewinnen; Informationen Seit 2002 wird der Migrationshintergrund im European zu politischen Einstellungen und politischem Verhalten Social Survey (ESS) kontinuierlich erhoben, seit 2009 auch fehlen dort jedoch gänzlich. Wie in skandinavischen Län- im Vorwahl- und Nachwahl-Querschnitt der German Lon- dern (Wass et al. 2015; Bergh/Bjørklund 2011; Togeby gitudinal Election Study (GLES). 1999) gibt es in Deutschland eine Repräsentative Wahl- statistik, doch ermöglicht diese lediglich eine Differen Andere Umfrageprogramme ermöglichen zumindest die zierung der Wahlbeteiligung und der Parteiwahl nach Analyse von interessierenden Teilaspekten. So erhebt das Geschlecht und Altersgruppen, nicht nach Migrationshin- Sozio-ökonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts tergrund. Auch in den sogenannten Exit Polls, den reprä- für Wirtschaftsforschung (DIW) neben dem politischen sentativen Befragungen von Wählerinnen und Wählern Interesse die längerfristige Bindung an eine Partei, der Frei- nach Verlassen des Wahllokals durch Umfrageinstitute im willigensurvey (FWS) des Deutschen Zentrums für Alters- Auftrag von Fernsehanstalten, wird nicht nach Migrations fragen (2014) erfragte die Beteiligung an der Bundestags- hintergrund differenziert. Daher müssen sich Analysen wahl 2013 und das Integrationsbarometer des Sachver- des Wahlverhaltens von Deutschen mit Migrationshinter- ständigenrats für Integration und Migration (SVR) erfasste grund primär auf Umfragedaten vor oder nach Wahlen 2015 die Parteineigung. Hinzu kommen Einzelstudien stützen, denn der Rückgriff auf kleinräumige Aggregat- verschiedener Institutionen, deren Daten größtenteils daten etwa zu Stadtteilen, würde neue Probleme mit sich nicht oder noch nicht für Sekundäranalysen zur Verfü- bringen. gung stehen, darunter vor allem Studien von Stiftungen wie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Pokorny 2016).5 Im Eine Überblicksdarstellung zu verfügbaren Daten erarbei- Rahmen dieses Gutachtens wird punktuell auf Befunde teten bereits Stephanie Müssig und Susanne Worbs dieser Befragungen hingewiesen, auch wenn lediglich in (2012). Danach ist es nur in wenigen Umfrageprogram- die Daten der Konrad-Adenauer-Stiftung Einblick gewährt men gelungen, sowohl den Migrationshintergrund ein- wurde. Schließlich konnte eine Studie der fünf größten schließlich notwendiger Differenzierungen als auch Fra- Einwanderergruppen unter Berücksichtigung von drei Ge- gen nach politischen Einstellungen bis hin zum nerationen in Baden-Württemberg („Integration gelun- Wahlverhalten gemeinsam zu erfassen. Für das Jahr 1999 gen?“) genutzt werden, die einige Fragen zur politischen und die zwölf Monate vor der Bundestagswahl 2002 wur- Partizipation enthält und deren Daten über GESIS für den Zusatzfragen in die Politbarometer-Befragungen des Sekundäranalysen zur Verfügung stehen. 5 Es gibt darüber hinaus Veröffentlichungen von Daten, deren methodische Anlage nur teilweise geklärt werden konnte und die nicht für Sekundäranalysen zugänglich sind (z.B. endaX und Data-4U). POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Tabelle 1: Migrationshintergrund im European Social Survey 2002 – 2016 11 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Gesamt Fallzahl der Menschen 277 286 302 352 390 422 410 421 2.860 mit MH (N) Anteil (gewichtet) 11,1 11,6 12,3 14,7 15,8 17,4 16,1 17,8 14,6 1. Gen. (N) 112 137 143 145 164 199 171 145 1.216 2. Gen. (N) 165 149 159 207 226 223 239 276 1.644 Frühere SU (N) 40 65 77 82 84 96 76 61 581 Südeuropa (N) 15 29 35 26 50 41 49 56 301 Zum Zweck eigener Sekundäranalysen greifen wir auch Migrationsbiografie als auch zu ihren Einstellungen und auf die Kumulation der ersten acht Wellen des European ihrem Verhalten gestellt wurden. Aus der Tabelle wird je- Social Survey (2002 bis 2016, im Folgenden ESS) zurück. doch auch ersichtlich, wie stark die Fallzahlen abnehmen, Wie Tabelle 1 zeigt, sind in der Kumulation ausreichend sobald nach einzelnen Gruppen (hier: Personen aus der viele Menschen mit Migrationshintergrund interviewt ehemaligen Sowjetunion und aus Südeuropa) differen- worden, wobei ihnen sowohl spezifische Fragen zu ihrer ziert wird. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
12 Erklärungsansätze für die Wahlbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund Zur Erklärung der Beteiligung an Wahlen wird vor allem kratischen Sozialisation im Herkunftsland das Ausmaß auf das Civic Voluntarism Model von Sidney Verba, Kay der external efficacy beeinträchtigen. Lehman Schlozman und Henry Brady (1995) zurückge- griffen. Neben der Ressourcenausstattung eines Indivi Darüber hinaus spielen die soziale Einbindung (z. B. in duums (er oder sie „kann wählen“) sind demnach moti- Form von Vereinsmitgliedschaften), die interpersonale vationelle Faktoren („möchte wählen“) und mobilisierende politische Kommunikation und die politische Integration Faktoren des Umfelds („soll wählen“) für die Wahlbetei (andere Partizipationsformen) eine Rolle für die Motiva ligung ausschlaggebend. tion, sich politisch zu beteiligen. Die Mobilisierung von Wahlberechtigten erfolgt grundsätzlich durch Parteien, Zur Ressourcenausstattung zählen vor allem Bildungs- Kandidatinnen und Kandidaten, zumeist vermittelt über grad, Erwerbsstatus und – im Sinne von Erfahrung – das Medien oder aber im persönlichen Kontakt. Dabei scheint Lebensalter. Speziell mit Blick auf Menschen mit Migra es für die zielgruppenspezifische Ansprache von Bedeu- tionshintergrund und hier gerade für die erste Generation tung zu sein, ob eine Gruppe von Wählerinnen oder tragen Sprachkenntnisse und auch die Aufenthaltsdauer Wählern groß oder klein ist, d.h. wie groß das Mobili in Deutschland zu einer besseren Ressourcenausstattung sierungspotenzial ist. Dabei kann die direkte Ansprache bei. Als summarischer Indikator für die relevante Ressour- für die Entscheidung, sich an einer Wahl zu beteiligen, cenausstattung kann auf die sogenannte internal efficacy, ausschlaggebend sein (Heath et al. 2013: 132 – 153) und d. h. die subjektive Beurteilung der eigenen Fähigkeit, es könnte auch eine Rolle spielen, ob diese direkte An- politische Fragen verstehen zu können, zurückgegriffen sprache durch einen Angehörigen der gleichen Herkunfts- werden. land- bzw. ethnischen Gruppe erfolgt oder nicht. Während der Grad der internal efficacy die Befähigung Vor allem für Minderheiten ist der Grad des Zugehörig- zur politischen Partizipation widerspiegelt, liefert die ex- keitsgefühls zu einem Gemeinwesen ein relevanter Faktor ternal efficacy Informationen zum Grad der Motivation, für die Motivation, sich zu beteiligen. Der Ausschluss aus sich politisch zu beteiligen. Unter external efficacy ver- einer Gesellschaft, etwa in Form von Diskriminierung, steht man die Wahrnehmung des politischen Systems als kann eigenes Engagement stark eingeschränken. Schließ- responsiv, d. h. dass die eigene Partizipation, wiederum lich sollten thematische und personelle Angebote von aus subjektiver Sicht, tatsächlich einen Einfluss auf Regie- Parteien und Kandidatinnen bzw. Kandidaten vorliegen, rungshandeln und Politikergebnisse hat. Gerade bei der die geeignet sind, die Motivation zur Beteiligung für ersten Migrantengeneration kann das Fehlen einer demo- Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund zu erhöhen. POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Empirische Befunde zur Wahlbeteiligung 13 Es ist schwierig, allein auf der Grundlage von Umfrage ligung an der Bundestagswahl 2009 (Wüst 2011: 167 –169) daten zu repräsentativen Ergebnissen zur Wahlbeteiligung bestätigten vor allem den direkten und indirekten Einfluss der Wahlberechtigten oder einzelner gesellschaftlicher der Generationszugehörigkeit auf die Wahlbeteiligung. Gruppen zu kommen: Zum einen ist die Beteiligung an Darüber hinaus zeigte sich, dass das Herkunftsland im einer Wahl sozial erwünscht, was häufig dazu führt, dass Hinblick auf zwei Faktoren für die Wahlbeteiligung in in Umfragen höhere Beteiligungsraten gemessen werden Deutschland eine Rolle spielt: Einerseits ist die Sozialisa als in der Realität. Zudem haben Menschen mit hohem tion in einer Demokratie beteiligungsfördernd (ähnliche Interesse und hoher Beteiligungsbereitschaft auch eine Ergebnisse auch für Finnland: Wass et al. 2015), anderer- höhere Wahrscheinlichkeit, an politischen Umfragen teil- seits werden Wahlberechtigte, die einer großen Migran- zunehmen. Beides führt zu einem systematischen Over tengruppe in Deutschland angehören, offenbar eher von reporting der Wahlbeteiligung in Umfragen (Beispiele: Parteien mobilisiert als Angehörige kleinerer Gruppen Faas 2013; Voogt/Saris 2003). Zudem wird die Wahlbetei- (Wüst 2011: 168 –170). ligung in Umfragen unterschiedlich abgefragt, häufig mit lediglich zwei Antwortoptionen („würde zur Wahl ge- Ergänzend zu diesen vor allem ressourcenorientierten hen“ oder „würde nicht zur Wahl gehen“; z. B. in der Analysen haben Soziologinnen und Soziologen der Uni- Regionalstudie BW), manchmal aber auch differenzierter versität Konstanz für die fünf größten Migrantengruppen mit mehreren Antwortoptionen wie in der GLES-Vorwahl der ersten bis dritten Generation in Baden-Württemberg umfrage („würde bestimmt“, „wahrscheinlich“, „vielleicht“ den Einfluss einiger weiterer sozialer und motivationaler bis „wahrscheinlich nicht“ und „sicher nicht“ zur Wahl Faktoren auf die Wahlbeteiligung geprüft (Fick et al. 2014: gehen). Insofern sollten die je nach Umfrage festgestell- 110 –117). Neben Bildung und Alter erwiesen sich die Par- ten Beteiligungsniveaus und -differenzen weniger als tizipation in einheimischen Vereinen und die Bleibeabsicht6 absolute Werte verstanden werden, sondern vor allem als stärkste Einflussfaktoren auf die Wahlbeteiligung, wo- zur Orientierung der Unterschiede dienen, wohingegen hingegen sich Generationeneffekte hier nicht bestätigten. die Analyse möglicher Erklärungsfaktoren für festgestellte Beteiligungsunterschiede zu einem Verständnis davon Die Umfragedaten der regionalen Studie enthalten einen beiträgt, warum sich einzelne Personen oder Gruppen weiteren potenziell relevanten Faktor, der keinen Eingang häufiger bzw. seltener an Wahlen beteiligen als andere. in die multivariaten Analysen bei Fick et al. (2014) fand. Mit der Frage, ob man direkt angesprochen wurde, sich In deskriptiven Analysen von Daten des ESS der Jahre politisch zu engagieren, ist eine Variable verfügbar, die 2002 bis 2008 konnten folgende soziodemografische eine Abschätzung direkter Mobiliserungseffekte erlaubt. und generationenspezifische Beteiligungsmuster aufge- Die beschreibende Analyse (Abbildung 4) zeigt, dass eine zeigt werden (Müssig/Worbs 2012: 31–34): Die erste Ge- explizite Aufforderung zum politischen Engagement ins- neration, Frauen und jüngere Personen mit Migrations- gesamt und vor allem in Bezug auf Wahlberechtigte aus hintergrund beteiligten sich seltener; dagegen korrelierte Italien, aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und eine Erwerbsbeteiligung positiv mit der Wahlbeteiligung. aus der Türkei einen erheblichen Einfluss auf die Wahl Multivariate Analysen der Daten der GLES zur Wahlbetei- beteiligung haben kann. 6 Die Beteiligungsdifferenz zwischen Wahlberechtigten mit und ohne Migrationshintergrund fällt in dieser Studie mit acht Prozent- punkten gering aus; allerdings wurden auch nur die fünf größten Migrantengruppen befragt. Die Beteiligungsdifferenz steigt von sechs auf 23 Prozentpunkte, wenn die Gruppen derjenigen (ohne/mit MH) verglichen werden, die Deutschland in den nächsten Jahren verlassen möchten. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
14 Abbildung 4: Wahlbeteiligungsabsicht in den fünf größten Einwanderergruppen in Baden-Württemberg ohne und mit direkter Ansprache zu politischem Engagement im Jahr 2013 (in %) 100 90 80 70 60 ohne Ansprache 50 mit Ansprache 40 Differenz 30 25 19 17 20 15 7 9 10 6 0 ohne MH mit MH ehem. SU Polen Türkei Italien ehem. YU Quelle: Integration gelungen? (ZA 6761), Auswahl: Wahlberechtigte ohne MH und der 1. und 2. Generation; eigene Analyse und Darstellung. Nun kann dieser vermeintliche Mobilisierungseffekt darauf förderlich für die politische Partizipation ist – ein Muster, zurückzuführen sein, dass gezielt angesprochene Wahl- das auch aus der Sozialkapitalforschung bekannt ist: Mit- berechtigte sich aufgrund anderer Charakteristika und gliedschaften in Vereinen wirken sich dann positiv auf Einflüsse ohnehin eher an einer Wahl beteiligt hätten. Da- politisches Engagement für das Gemeinwesen aus, wenn her haben wir diesen Einfluss unter Kontrolle jener Einfluss- diese Mitgliedschaften zu einer gruppenübergreifenden, faktoren geprüft, die auch das Konstanzer Team heran brückenbauenden Integration in die Gesellschaft führt, gezogen hatte (Fick et al. 2014: 113). In unserer Analyse nicht aber Unterschiede zwischen Gruppen verfestigen. werden dabei – analog zu den anderen Studien, die wir hier behandeln – nur deutsche Staatsbürger ab 18 Jahren Die Daten der GLES, die anlässlich der Bundestagswahl (Wahlberechtigte) berücksichtigt, d. h. wir haben eine 2013 erhoben wurden (Abbildung 5), bestätigen an ver- hypothetische Wahlbeteiligung anderer Staatsbürger aus- schiedenen Stellen frühere Befunde. Unterschiede hin- geklammert (Tabelle 1 im Anhang). Es bestätigt sich, dass sichtlich Migrantengeneration bestehen 2013 nicht; auch es neben dem bekannten Einfluss des Alters vor allem mit Blick auf das Herkunftsland zeigen sich nur geringe Ressourcen (Bildung), Motivation (Bleibeabsicht) und Mo- Differenzen. Allerdings ergibt sich eine im Vergleich hö bilisierung (direkte Ansprache) sind, die sich förderlich auf here Wahlbeteiligung derjenigen Befragten, die angeben, die Wahlbeteiligung auswirken. Während die Herkunfts- entweder selbst als (Spät-)Aussiedler nach Deutschland land- und Generationeneffekte alles in allem moderat gekommen oder deren Kinder zu sein (61 %). Menschen, ausfallen, kommen Faktoren der sozialen Einbindung wie die nicht zur Gruppe der Aussiedler gehören, geben an, Mitgliedschaften in Vereinen mit überwiegend deutschen sich seltener an der Wahl beteiligt zu haben (56 %). Mitgliedern (positiv) und in Vereinen mit überwiegend aus- ländischen Mitgliedern (negativ) zur Erklärung der Wahl Mit den GLES-Daten zur Bundestagswahl 20137 lassen beteiligung hinzu. Gerade der negative Effekt einer Mit- sich weitere Elemente, die einerseits zu den Ressourcen gliedschaft in stärker ethnisch geprägten Vereinen zeigt, zu zählen sind, andererseits im Bereich Motivation veror- dass nicht jede Form von Sozialintegration automatisch tet werden können, auf ihren Einfluss auf die Beteiligung 7 GLES-Querschnittsdaten zur Bundestagswahl 2017 (Vor- und Nachwahl) lagen bei Redaktionsschluss (Ende 2017) leider noch nicht vor. POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Abbildung 5: Berichtete Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 15 nach Migrationshintergrund (in %) 100 82,6 80 61,1 57,8 58,2 57,3 56,8 56,1 56,6 60 40 20 0 ohne MH mit MH 1. Generation 2. Generation (Spät) ehem. SU Nicht- Türkei (n=3214) (n=557) (n=337) (n=220) Aussiedler (n=162) Aussiedler (n=122) (n=175) (n=383) Quelle: GLES Vorwahl-Nachwahl-Querschnitt (ZA 5702), eigene Datenaufbereitung, Analyse und Darstellung. an einer Wahl hin überprüfen. Ohne unmittelbaren Zusam Politik sprechen, desto höher ist die Motivation, sich auch menhang zu einem Migrationshintergrund zeigt sich – an- an der Bundestagswahl zu beteiligen. Demgegenüber ders als in einer früheren Analyse von Wüst (2011: 168) –, sinkt ihre Motivation beträchtlich, wenn sie annehmen, dass die Wahlbeteiligung dann geringer ausfällt, wenn dass Parteien nicht an den Ansichten der Wählerinnen und die im Haushalt gesprochene Sprache nicht die deutsche Wähler, sondern nur an Wählerstimmen interessiert sind ist. Und: An je mehr Tagen Wahlberechtigte im Alltag über (external efficacy; siehe insgesamt Tabelle 2 im Anhang). Abbildung 6: Berichtete Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 danach, ob politische Sachverhalte verstanden werden können (in %) 100 91 90 83 80 74 72 70 70 60 (eher) nicht 50 teils / teils 40 (eher) ja 34 30 20 10 0 ohne MH mit MH Quelle: GLES Vorwahl-Nachwahl-Querschnitt (ZA 5702), eigene Datenaufbereitung, Analyse und Darstellung. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
16 Besonders interessant ist der migrantenspezifische Effekt erfahrungen gibt, die mit dem Migrationshintergrund der internal efficacy (Abbildung 6) auf die Wahlbeteili- verknüpft sind. In der ersten Generation fallen diese Un- gung (vgl. Tabelle 2 im Anhang). Während unter denjeni- terschiede besonders groß aus, bleiben aber auch in der gen Wahlberechtigten ohne Migrationshintergrund, die zweiten Generation bestehen (Ceyhan 2012). angeben, politische Inhalte verstehen zu können, die Wahlbeteiligung 19 Prozentpunkte höher ist als bei Wahl- Positive Effekte hat dagegen eine (längere) Aufenthalts- berechtigten, die angeben, politische Inhalte nicht ver dauer: Je länger Menschen mit Migrationshintergrund in stehen zu können, fällt dieser Unterschied bei den Wahl- Deutschland leben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit berechtigten mit Migrationshintergrund mit 40 Prozent- ihrer Wahlbeteiligung. Wer erst seit fünf Jahren oder we- punkten sehr viel höher aus. Fehlende efficacy kann also niger in Deutschland lebt, dessen Wahlwahrscheinlichkeit bei Menschen ohne Migrationshintergrund offenkundig liegt bei unter 50 Prozent, bei einer Aufenthaltsdauer durch andere Faktoren kompensiert werden; in Erman von 5 bis 20 Jahren liegt diese bei 64 Prozent, von über gelung solcher Kompensationen wirkt sich geringere effi- 20 Jahren dagegen bei 80 Prozent und damit kaum cacy bei Menschen mit Migrationshintergrund dagegen niedriger als in der Gruppe der Menschen ohne Migra stark auf die Beteiligungsbereitschaft aus. Die Fähigkeit tionshintergrund. Eine Angleichung der Beteiligungsbe- zum Verständnis politischer Inhalte hängt vor allem von reitschaft von Menschen mit Migrationshintergrund ist struktureller Integration (Sprache, Bildung, Erwerbsarbeit) demnach vor allem eine Frage der Zeit. ab, aber auch davon, wie die Funktionsweise unseres politischen Systems sowie politische Sachverhalte vermit- Insgesamt verdeutlichen der Überblick über den Forschungs- telt werden. stand sowie unsere ergänzenden Analysen, welchen unter- schiedlichen Einflüssen das Wahlverhalten von Menschen Wir wollen die Betrachtung der Wahlbeteiligung mit zwei mit Migrationshintergrund unterliegt. Auch ihr Verhalten deskriptiven Analysen auf Basis des European Social Sur- wird durch Einflussfaktoren, die sich ganz generell und vey beschließen, die bislang so in der Literatur nicht un- unabhängig vom Migrationshintergrund auf politische ternommen wurden: Welche Rolle spielen die Aufent- Beteiligung auswirken, geprägt. Der Einfluss migrations- haltsdauer und etwaige Diskriminierungserfahrungen für spezifischer Faktoren kommt dann hinzu; allerdings zeigt die eigene Wahlbeteiligung? Tatsächlich wirken sich Dis- der Blick auf die internal efficacy auch, dass allgemeingül- kriminierungserfahrungen negativ auf die Wahrschein- tige Faktoren bei Menschen mit Migrationshintergrund lichkeit eigener Wahlbeteiligung aus: Innerhalb der Grup- einen deutlich stärkeren Einfluss auf Partizipation haben pe der Menschen mit Migrationshintergrund liegt die können als bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung bei 79 Prozent, Eine detaillierte Herausarbeitung dieser komplexen Mecha wenn keine Diskriminierungserfahrungen vorliegen, da- nismen wird die vorliegende Datenlandschaft sicher nicht gegen nur bei 59 Prozent, wenn es Diskriminierungs leisten können – dies bleibt Aufgabe zukünftiger Studien. POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Erklärungsansätze für politische Präferenzen von Menschen 17 mit Migrationshintergrund Zur Erklärung politischer Präferenzen von Wahlberechtig- 2011; Herbolsheimer/Wüst 2012). Und schließlich ist die ten mit Migrationshintergrund wird vor allem auf Ansätze parlamentarische Präsenz von Bedeutung, da Abgeordne- der empirischen Wahlforschung zurückgegriffen, die das te mit Migrationshintergrund nachweislich einen etwas Wahlverhalten ganz allgemein erklären. Hierzu zählen anderen Wortschatz nutzen und etwas andere inhaltliche Themen und Probleme, Zuschreibung von Lösungskom- Schwerpunkte setzen (Blätte/Wüst 2017). Die Bedeutung petenzen, Kandidatenpräferenzen und retrospektive auch deskriptiver Repräsentation gesellschaftlicher Grup- Bewertungen von Partei- und Regierungspolitik (Wüst pen haben Debatten im Nachgang zur Bundestagswahl 2002). Analog zu den skizzierten Mustern bezüglich der 2017 vor allem im Hinblick auf Frauen, aber auch auf jün- Hintergründe der Wahlbeteiligung haben auch Analysen gere Abgeordnete gezeigt. der Wahlentscheidung einzelner Migrantengruppen ge- zeigt, dass die üblichen Erklärungsansätze der Wahlfor- Die Nähe oder Distanz von Wahlberechtigten mit Migra schung hier durchaus greifen; gruppenspezifische Wahl- tionshintergrund zu einzelnen politischen Parteien hat muster bleiben jedoch auch dann erhalten (Bird et al. offenbar auch mit dem Vertrauen zu tun, dass die Be 2011: 66 –106), wenn man die in den üblichen Erklä- lange und Interessen der eigenen Gruppe auch im Kon- rungsansätzen enthaltenen Faktoren berücksichtigt. flikt mit der Mehrheitsgesellschaft vertreten werden (Tiberj 2011: 71). Generalisierend lässt sich von einem Diese Ergebnisse legen nahe, dass zur Erklärung der Partei kulturellen Konflikt zwischen Vertreterinnen und Vertre- wahl von Menschen mit Migrationshintergrund weitere, tern einer (homogen verstandenen) Mehrheitsgesellschaft d. h. vor allem migrationsspezifische Ergänzungen not- und einer (heterogen verstandenen) pluralistischen Ge- wendig sind. Hierzu gehören – zumindest bei der ersten sellschaft sprechen (Wüst 2004). Kulturelle Grundkon Generation – die politische Sozialisation im Herkunftsland flikte zwischen dominanten Gruppen und Minderheiten- (politisches Regime und Parteien), migrationsspezifische gruppen waren im Zuge von Nationalstaatsbildungen Erfahrungen (z. B. Unterstützung der eigenen Gruppe üblich und anhaltend (Lipset/Rokkan 1967). Die dauer- durch bestimmte Parteien) und die Sozialisation im Ein- hafte Niederlassung von Menschen anderer Kulturen in wanderungsland (z. B. Aufenthaltsdauer). der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eine ent- sprechende Politisierung führten zu einer Aktivierung die- Darüber hinaus ist nicht nur für die erste Generation von ser kulturellen Konfliktlinie. Durch unterschiedliche Posi Bedeutung, welche Erfahrungen der Unterstützung bzw. tionen entlang der kulturellen Konfliktlinie werden politi- Integration und welche Diskriminierungserfahrungen im sche Parteien für verschiedene gesellschaftliche Gruppen Einwanderungsland gemacht werden, welche integra und damit auch für Gruppen von Einwanderinnen und Ein- tionspolitischen Positionen und welche Vorstellungen wandern eher wählbar oder eher nicht wählbar. Schließlich hinsichtlich gesellschaftlicher Vielfalt politische Parteien können unterschiedliche Positionen der Parteien zur Poli- einnehmen. Hierzu gehört auch die Aufstellung von Kan- tik im und gegenüber dem Herkunftsland eine Rolle für didatinnen und Kandidaten mit vergleichbarem Hinter- die Wahlentscheidung spielen, insbesondere dann, wenn grund, die häufiger gewählt werden (Bergh/Bjørklund die bilateralen Beziehungen politisiert werden. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
18 Empirische Befunde zu Parteipräferenzen Vergleichende Analysen des Wahlverhaltens zeigen, dass zuneigen (SVR 2016: 15). Es muss eingeschränkt werden, Einwandererinnen und Einwanderer sowie Menschen mit dass die Daten des SVR nicht zwischen zunächst folgen Migrationshintergrund eher Parteien wählen, die sich links loser Parteineigung (ausländischer Staatsbürgerinnen und von der Mitte positionieren (Messina 2006; Bird et al. Staatsbürger) und durchaus politisch relevanter Partei 2011). Dies gilt in Frankreich sogar für die meisten ideolo- präferenzen (Eingebürgerter) differenzieren. Jedenfalls ist gisch eigentlich konservativen Wählerinnen und Wähler auch in anderen Ländern bereits eine konservativere poli- mit Migrationshintergrund (Tiberj 2011). Dieses generelle tische Einstellung osteuropäischer Einwanderinnen und Muster zeigt sich jedoch weder für alle Gruppen von Ein- Einwanderer aufgefallen (Perez-Nievas 2011). wanderinnen und Einwanderern noch für jede Wahl. So- wohl in Nordamerika (DeSipio 1996; Ramakrishnan 2005) Ob die für diese Einwanderinnen und Einwanderer festzu- als auch in Europa (Bird et al. 2011: 66 –106) gibt es im- haltende Präferenz für die CDU/CSU etwas mit der Sozia- mer wieder Abweichungen von der allgemein zu beob- lisation in einem sozialistisch geprägten Herkunftsland zu achtenden Präferenz für Parteien der politischen Linken. tun hat (im Sinne einer „Gegensozialisation“) oder aber überwiegend konservativeren Grundhaltungen geschul- Eine dieser Abweichungen stellen Aussiedler und Spät- det ist, lässt sich bisher empirisch nicht klar belegen. aussiedler in Deutschland dar, vor allem Russlanddeut- Wahlberechtigte, die entweder selbst oder deren Eltern sche. Wiederholt wurde eine außerordentlich starke Prä- aus autoritären Ländern stammen, weisen jedenfalls nicht ferenz Russlanddeutscher für die CDU/CSU von über 70 % die unter Einwanderinnen und Einwandern sonst übliche festgestellt (Wüst 2003; Fick et al. 2014). Zumindest bei signifikante Präferenz für Parteien links der Mitte auf der ersten Generation Russlanddeutscher ist diese Un (Wüst 2011: 171 – 173); und die erste Generation unter- terstützung der CDU/CSU auch eine Form von Dankbar- scheidet sich hierbei nicht signifikant von der zweiten. keit gegenüber der Union, weil sie es war, die einfache Möglichkeiten der Einwanderung von Aussiedlern nach Das Wahlverhalten der größten Gruppe von Einwanderin- Deutschland durchgesetzt hat. Dieser Aspekt wurde in nen und Einwanderern ohne deutsche Vorfahren, der der einschlägigen Literatur früh thematisiert (Wüst 2003) Türkeistämmigen, passt dagegen gut in das aus der For- und im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 in Gesprächen schung bekannte Muster einer stärkeren Präferenz für mit Fokusgruppen bestätigt (Goerres et al. 2017). Zwi- politisch linksorientierte Parteien. Die weit überwiegende schenzeitlich haben sich aber sowohl die längerfristigen Präferenz für die SPD von über 60 % um das Jahr 2000 Bindungen an die CDU/CSU gelockert (Kroh/Tucci 2010) (Wüst 2003) zeigt sich nicht mehr durchgehend, doch als auch die Unterstützung bei Wahlen abgeschwächt sind Gewinne für Parteien rechts von der Mitte sehr ge- (Wüst 2011). Neuere Ergebnisse zur Parteineigung (SVR ring. Auch in der GLES, die 2013 unter Türkeistämmigen 2016) bestätigen einerseits diese Trends, belegen aber an- eine relative Mehrheit für die Grünen (37 %) vor der SPD dererseits eine nach wie vor starke Unterstützung der (22 %) und der Linkspartei (16 %) gemessen hat, kam die (Spät-)Aussiedler für die CDU/CSU. Dabei ist anzumerken, CDU/CSU lediglich auf 13 % und die FDP auf 0 %. Es ist dass der Rückgang der Unterstützung für die Unions in dieser Gruppe nach wie vor eine merkliche Distanz zu parteien den kleineren Parteien (v.a. Linke und Grüne) zu den bürgerlich-konservativen Parteien feststellbar. Gute gekommen ist. Im Hinblick auf Erklärungsansätze für die Parteipräferenz Darüber hinaus gibt es Indizien, dass Einwanderinnen und von Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund zeigt Einwanderer, die seit dem Jahr 2000 nach Deutschland sich, dass es weder zwischen Menschen mit und ohne gekommen sind und zu einem beträchtlichen Teil aus Ost- Migrationshintergrund klare Unterschiede der politischen europa stammen, ebenfalls überwiegend der CDU/CSU Agenda gibt, noch zwischen verschiedenen Einwanderer- POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
gruppen (Wüst 2014; Pokorny 2016: 77–78). Interessant für Ausländer offener gegenüber als Wahlberechtigte 19 ist jedoch, dass die Befragten mit Migrationshintergrund in ohne Migrationshintergrund, vor allem Nicht-Aussiedler der GLES-Studie 2009 trotz nahezu identischer Problem und in Deutschland Geborene. Diese beiden Gruppen be- nennungen unterschiedlichen Parteien die Kompetenz fürworten auch höhere Steuern und Abgaben für mehr zur Lösung der Themen und Probleme zuschreiben. Wahl- staatliche Leistungen. Dies sehen die (Spät-)Aussiedler und berechtigte mit Aussiedlerhintergrund schreiben – bei Menschen mit eigener Migrationserfahrung deutlich an- gleicher Problemwahrnehmung! – der Union mehr Kom- ders: sie wünschen sich weniger Zuzug, weniger Steuern petenzen zu, andere Wahlberechtigte mit Migrationshin- sowie Abgaben und damit auch weniger Sozialleistungen. tergrund der SPD und den Grünen (Wüst 2014: 125), was auf Einflüsse tieferliegender Dispositionen hindeutet. Ein Schließlich können Parteipräferenzen auch vom Diskrimi- solches Muster ist allerdings bei den wahlberechtigten Be- nierungspotenzial und Diskriminierungserfahrungen be- fragten der Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung nicht einflusst werden. Mit GLES-Daten, die vor und nach der oder nur schwach erkennbar (Pokorny 2016: 78 –79). Bundestagswahl 2009 erhoben wurden, zeigte sich be- reits, dass Wahlberechtigte, die nicht als (Spät-)Aussiedler Dass es dennoch Einstellungsunterschiede zwischen Wahl- nach Deutschland gekommen waren, jedoch türkische berechtigten mit und ohne Migrationshintergrund gibt, Wurzeln haben oder muslimischen Glaubens sind, signi zeigen Analysen politischer Positionen. Für 2009 wurde fikant häufiger andere Parteien als die CDU/CSU gewählt dies bereits dokumentiert (Wüst 2014: 127 –129). Be- haben (Wüst 2011: 172 –173). In der SVR-Studie des Jah- trachtet man die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen res 2016 wurde gezielt nach persönlichen Diskriminie- Positionen verschiedener Gruppen im Vergleich zu den rungserfahrungen gefragt und diese in Bezug zur Partein- wahrgenommenen Parteipositionen anlässlich der Bun- eigung gesetzt (SVR 2016). Dabei zeigt sich ein sehr destagswahl 2013 (Abbildung 7), dann ergibt sich ein ähnliches Muster (Abbildung 8): Während die Neigung ähnliches Bild wie bei der Wahl zuvor. Wahlberechtigte für die Unionsparteien von 30 % (keine Diskriminierung mit Migrationshintergrund stehen Zuzugsmöglichkeiten erfahren) auf 14 % (hoher Grad an erfahrener Diskrimi- Abbildung 7: Migrationshintergrund und Parteienwettbewerb 2013 9 8 (mehr– weniger Zuzugsmöglichkeiten CSU ohne MH 7 CDU Libertär-autoritär deutschstämmig für Ausländer) FDP erste Gen MH 6 zweite Gen anderer MH SPD 5 Linke 4 Grüne 3 3 4 5 6 7 8 9 Sozioökonomisch (weniger – mehr Steuern und Abgaben weniger – mehr staatliche Leistungen) Quelle: GLES Vorwahl-Nachwahl-Querschnitt (ZA 5702), eigene Datenaufbereitung, Analyse und Darstellung. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
20 nierung) sinkt, steigt analog die Präferenz für Parteien der Migrationshintergrund ein komplexes Wirkungsmuster er- politischen Linken von 62 % auf 76 %. gibt: Über allgemein bekannte Erklärungsfaktoren bleiben auch spezifisch mit dem Migrationshintergrund verknüpfte Insgesamt zeigt sich somit auch mit Blick auf politische und Faktoren relevant; zusätzlich ergeben sich markante Unter- Parteipräferenzen ein Bild, wonach sich bei Menschen mit schiede zwischen verschiedenen Zuwanderergruppen. Abbildung 8: Parteineigung nach Grad selbst erfahrener Diskriminierung 2016 (in %) 100 CDU/CSU SPD Grüne Linke andere 80 Politisch linkes Lager zusammen: 62 % 67 % 76 % 60 40 40 41 40 30 27 20 17 18 17 14 14 10 11 8 8 6 0 keine Diskriminierung geringer Grad hoher Grad an Diskriminierung an Diskriminierung Quelle: SVR Policy Brief 2016 – 5: 21 (Befragte mit Migrationshintergrund ab 18 Jahren). POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Ausblick und Fazit 21 Eine Einwanderungsgesellschaft ist auch dadurch charak- in Ansätzen und meist auch nur für große Teilgruppen (Russ- terisiert, dass zunehmend mehr Menschen mit Migra landdeutsche, Türkeistämmige), zentralen Forschungs tionshintergrund wahlberechtigt sind. Der Anteil von der- fragen nachzugehen. So bestehen nur wenige und nicht zeit gut zehn Prozent wird in den kommenden Jahren ganz widerspruchsfreie Erkenntnisse über die Ursachen wachsen. Dies liegt daran, dass von 2018 an Menschen, der niedrigeren Wahlbeteiligung von Deutschen mit Mi die seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im grationshintergrund im Vergleich zu Deutschen ohne Mi- Jahr 2000 als deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbür- grationshintergrund. Und hinsichtlich der Parteinähe ger geboren wurden, zur wahlberechtigten Bevölkerung konnten zwar plausible und von Daten durchaus gestützte hinzukommen, während die Zahl der Wahlberechtigten Hypothesen zu möglicherweise wichtigen Faktoren auf- ohne Migrationshintergrund aufgrund einer deutlich hö- gestellt werden, doch reichen die Befragtenzahlen insbe- heren Zahl an Sterbefällen (die Bevölkerung mit Migra sondere nicht dafür aus, die entscheidenden Faktoren der tionshintergrund ist im Durchschnitt deutlich jünger) Parteinähe zu extrahieren und Bedeutungsverschiebun- überproportional abnimmt. gen im Zeitverlauf herauszuarbeiten. Insgesamt hat sich gezeigt, welch vielfältigen, teils wider- Es besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, auch im sprüchlichen Einflüssen die Einstellungs- und Verhaltens- Hinblick auf die politische Integration von Menschen mit welten von Menschen mit Migrationshintergrund unter- Migrationshintergrund in der Praxis (Pfeffer-Hofffmann liegen. Dabei ähneln die Muster zwar häufig jenen, die 2017). So gibt es jenseits der weithin bekannten, großen wir aus Analysen von Menschen ohne Migrationshinter- Gruppen von Einwanderinnen und Einwanderern (Russland- grund kennen; zugleich sind an vielen Stellen allerdings deutsche und Türkeistämmige), die derzeit Gegenstand in- migrationsspezifische Ergänzungen der Erklärungsmodel- tensiverer Forschungsanstrengungen sind (Goerres et al. le notwendig. Unsere Ergebnisse zum Einfluss der Aufent- 2017), zunehmend neue Gruppen, deren politisches Ver- haltsdauer, der Bleibeabsicht, der Vertrautheit mit dem halten weitgehend unerforscht ist. Hierzu zählen vor al- politischen System oder der persönlichen Mobilisierung lem Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Osteuropa auf die Wahlbeteiligung, aber auch die Befunde zum Ein- ohne deutsche Wurzeln seit der EU-Osterweiterung (seit fluss politischer Erfahrungen im Aus- und Einwande- 2004) und solche aus Südeuropa in Folge der Finanz- und rungsland und von Diskriminierungserfahrungen sowohl Eurokrise (seit 2007). Parallel dazu hat sich auch die Par- auf die Beteiligungsabsicht als auch auf parteipolitische teienlandschaft verändert: Spätestens mit dem Einzug der Präferenzen, zeugen von der Notwendigkeit migrations- AfD in den Bundestag stellt sich die Frage, inwieweit spezifischer Anpassungen von Analysemodellen. Insge- einerseits diese Partei für bestimmte Wahlberechtigte mit samt aber muss festgehalten werden: Um diese migra Migrationshintergrund attraktiv ist und welche Auswir- tionsspezifischen Einflüsse und ihre genauen Wirkungs- kungen andererseits die Präsenz der stark migrationskri wege genauer verstehen zu können, bedarf es weiterer tischen AfD auf die Wahlbeteiligung und die Parteipräfe- Forschung auf Basis einer verbesserten Datenlage. renzen der verschiedenen Migrantengruppen hat. Obwohl sich seit Ende der 1990er Jahre die Anzahl der Aus Sicht der empirischen Wahlforschung gibt es zum jenigen Umfragen erhöht hat, in denen zwischen Men- einen Fragen grundsätzlicher Natur, die intensiver behan- schen mit und ohne Migrationshintergrund unterschie- delt werden sollten, und zum anderen besteht die Not- den werden kann, besteht nach wie vor ein Mangel an wendigkeit, ältere Befunde auf ihre heutige Gültigkeit hin aktuellen und repräsentativen Ergebnissen zu politischen zu prüfen. Zu den grundsätzlichen Fragen gehört die Einstellungen und zum politischen Verhalten dieser Perso- Identifikation derjenigen Mechanismen, die Nähe bzw. nengruppe. Die vorhandenen Daten ermöglichen es nur Distanz bestimmter Gruppen zu den verschiedenen Par- EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
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