EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9 - Politische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund

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EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9 - Politische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund
Politische Einstellungen
            von Menschen
            mit Migrationshintergrund
            Andreas M. Wüst und Thorsten Faas
GUTACHTEN

            EMPIRISCHE
            SOZIALFORSCHUNG
            9
EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9 - Politische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund
EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9 - Politische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund
Politische Einstellungen
von Menschen
mit Migrationshintergrund
Andreas M. Wüst und Thorsten Faas
EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9 - Politische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund
Impressum

ISBN 978-3-96250-083-2

Herausgegeben vom
Forum Berlin
Friedrich-Ebert-Stiftung
Dr. Dietmar Molthagen
Hiroshimastraße 17
10785 Berlin

Autoren
Andreas M. Wüst, Thorsten Faas

Lektorat
Gaby Rotthaus

Umschlagfotos
Titel: Boarding1Now/istockphoto.com
Rückseite: vchal/istockphoto.com
mucft, maxoidos/Fotolia.com

Gestaltung
Pellens Kommunikationsdesign GmbH, Bonn

Druck
Druckerei Brandt GmbH, Bonn

© 2018 by Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin
https://www.fes.de/forum-berlin/
https://www.facebook.com/ForumBerlinFES/

Eine gewerbliche Nutzung der von der FES
herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche
Zustimmung durch die FES nicht gestattet.
Inhalt

Vorwort des Herausgebers .......................................................................................4

Einleitung ...................................................................................................................5

Zusammensetzung .....................................................................................................7

Verfügbare Daten ....................................................................................................10

Erklärungsansätze für die Wahlbeteiligung von Menschen
mit Migrationshintergrund .....................................................................................12

Empirische Befunde zur Wahlbeteiligung .............................................................13

Erklärungsansätze für politische Präferenzen von Menschen
mit Migrationshintergrund ...................................................................................17

Empirische Befunde zu Parteipräferenzen ...........................................................18

Ausblick und Fazit ..................................................................................................21

Anhang Tabellen..........................................................................................................23

Literaturverzeichnis......................................................................................................24

Abbildungsverzeichnis..................................................................................................26

Die Autoren.................................................................................................................27
4   Vorwort des Herausgebers

    Was denken Menschen über Politik und wie beurteilen sie        Bürger_innen von der eigenen oder familiären Migrations­
    die Funktionsfähigkeit der Demokratie? Diese Doppel­frage      erfahrung geprägt sind, oder ob ganz andere Faktoren –
    ist Ausgangspunkt aller Studien der Friedrich-Ebert-Stif-      man denke an so­ziale Lage, Bildungsbiografie, den Wohn-
    tung. Immer wieder versuchen wir, die politischen Einstel-     ort – das politische Denken stärker prägen.
    lungen bestimmter Bevölkerungsgruppen zu ermitteln –
    seien es selbsterklärte Nichtwähler_innen, Angehörige der      Diese Fragen beantworten Andreas Wüst und Thorsten
    sogenannten „arbeitenden Mitte“ oder Bewohner_innen            Faas unter Berücksichtigung verschiedener empirischer
    in Stadtteilen mit auffallend niedriger Wahlbeteiligung.       Studien der vergangenen Jahre. Sie können dadurch am
                                                                   Ende auch beantworten, ob es überhaupt sinnvoll ist, aus
    Der vorliegende Band der Publikationsreihe „empirische         den überaus verschiedenen Menschen mit Migrations­
    Sozialforschung“ fragt nach den politischen Einstellun-        hintergrund eine politische Bevölkerungsgruppe zu
    gen von Bürger_innen mit Migrationshintergrund. Dies ist       kon­struieren. Die Friedrich-Ebert-Stiftung möchte mit die-
    erstens ein wachsender Teil der Gesellschaft, blickt man       sem Gutachten einen Beitrag zu der Diskussion über an-
    auf Prognosen der Bevölkerungsent­   wicklung. Zweitens        gemessene Partizipation und Repräsentanz von Bür­ger_
    sind es Menschen, deren politische Partizipation in der        innen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland leis-
    Summe unterdurchschnittlich ist. So ist die Wahlbeteili-       ten. Zugleich möchten wir die oft emo­tionale Debatte um
    gung unter Menschen mit Migrationshintergrund niedri-          die Bedeutung von Migration und Integration versach­
    ger, zugleich aber auch ihre Repräsentanz in politischen       lichen, indem hier aufgezeigt wird, welche politischen
    Gremien nur gering ausgeprägt. Dies haben in jüngerer          Einstellungsfolgen die Migrations­   erfahrung hat – und
    Vergangenheit viele politische Beobachter_innen mit Blick      welche die Erfahrungen in der deutschen Gesellschaft.
    auf den im September 2017 gewählten Bundestag betont,
    unter dessen Abgeordneten nur 58 oder umgerechnet              Dr. Dietmar Molthagen
    8,2 % einen Migrationshintergrund haben. Drittens stellt       Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin
    sich die Frage, inwiefern politische Einstellungen dieser      Arbeitsbereich empirische Sozialforschung

                                                                 POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Einleitung                                                                                                                                5

Deutschland ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-                gleitet werden. Im Laufe der Zeit und vor allem im Gene-
derts vor allem durch den Zuzug von Aussiedlerinnen und               rationenverlauf können sich daher politische Orientierun-
Aussiedlern sowie Arbeitskräften und ihren Nachkommen                 gen und politisches Verhalten ändern. Ferner unterliegt
wieder zu einem Einwanderungsland geworden. Seit 1990                 der politische Wettbewerb in Deutschland (Parteien, Kan-
hat eine schrittweise Lockerung der sehr restriktiven Ein-            didatinnen und Kandidaten, Themen und Lösungsansät-
bürgerungsbestimmungen aus dem Jahr 1913 (RuStAG)                     ze) ebenfalls erheblichen Veränderungsprozessen. Daher
vielen Einwanderinnen und Einwanderern die Einbürge-                  können sowohl die Wahlberechtigten mit als auch die­
rung erleichtert. Mit der Reform des Staatsangehörigkeits­            jenigen ohne Migrationshintergrund grundsätzlich von
rechts (StAG) zum Januar 2000 wurde das Abstammungs-                  allen politischen Akteuren zur Beteiligung an einer Wahl
prinzip (ius sanguinis) um das Territorialprinzip (ius soli)          und zur Abgabe der Stimme für eine Partei oder einen
ergänzt.                                                              Kandidaten bzw. eine Kandidatin gewonnen werden.
                                                                      Schließlich können Ereignisse im Herkunftsland (bspw. in
Diese Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts führ-             Russland oder in der Türkei) und die bilateralen Beziehun-
te zu einer kontinuierlichen Erhöhung der Zahl deutscher              gen dieser Länder zu Deutschland Einfluss auf politische
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit Migrationshinter­              Orientierungen in Deutschland haben, gerade bei Men-
grund von 7,7 Mio. (2005) auf 9,6 Mio. (2016). Dadurch                schen mit entsprechendem Migrationshintergrund.
hat sich auch der Anteil der Wahlberechtigten mit Migra-
tionshintergrund1 unter allen Wahlberechtigten auf mitt-              Zwar haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lerweile 10,2 % erhöht; die Einführung des ius soli greift            ler seit Ende der 1990er Jahre (Wüst 2002) immer wieder
erst ab 2018 vollends, da die seit 2000 geborenen ius soli            mit Fragen nach der politischen Partizipation und Par­
Kinder von nun an volljährig und wahlberechtigt werden.2              teiwahl von Menschen mit Migrationshintergrund in
Ganz unabhängig von der Anzahl weiterer Einwanderin-                  Deutschland beschäftigt (Wüst 2011), dennoch gehört
nen und Einwanderer wird der Anteil der Wahlberechtig-                der Themenbereich nicht zum Standardrepertoire wahl­
ten mit Migrationshintergrund in den kommenden Jahren                 soziologischer Analysen. Dies hat trotz gewachsener
zunehmen.                                                             Gruppengröße mit dem vergleichsweise geringen Anteil
                                                                      an Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund zu tun
Es wäre jedoch vereinfachend, von einem quasi stetig                  sowie mit der eben skizzierten Heterogenität der Gruppe.
wachsenden „Block“ an Wählerinnen und Wählern mit                     Beides stellt empirische Forschung vor beachtliche Heraus-
Migrationshintergrund auszugehen, der den Ausgang von                 forderungen, insbesondere im Hinblick auf die nötigen
Wahlen immer stärker beeinflusst. Zum einen gehören                   Fallzahlen in Umfragen. Daher sind die Befunde zu politi-
Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund recht                schen Einstellungen und Wahlverhalten von Menschen
unterschiedlichen Gruppen (nach Herkunft und Religion,                mit Migrationshintergrund lückenhaft. Es bedarf deshalb
aber auch nach Bildung und Berufsstatus) an; zum ande-                sowohl weitergehender Analysen bereits vorhandener
ren vollziehen sich innerhalb aller gesellschaftlichen Grup-          Daten als auch einer zufriedenstellenden (und das heißt:
pen kontinuierlich Veränderungsprozesse, die in diesem                umfassenderen) Berücksichtigung von Wahlberechtigten
Fall von gruppenspezifischen Integrationsprozessen be-                mit Migrationshintergrund in künftigen Studien.

1   Die Angaben mit Bezug zur amtlichen Statistik erfolgen auf Grundlage der Definition des Statistischen Bundesamts.
2   Mit der Einführung des ius soli konnten auch unter 10-Jährige mit ausländischer Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsangehörigkeit
    auf Antrag erwerben (§ 40b StAG). Allerdings war dies nur bis zu einem Jahr nach Inkrafttreten des StAG möglich.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
6   Um uns den politischen Einstellungen und dem politischen                Schritt einen Überblick geben über für Sekundäranalysen
    Verhalten von Menschen mit Migrationshintergrund                        verfügbare Umfragedaten. Auf dieser Basis widmen sich
    einschließlich der damit verbundenen Folgen adäquat                     die Abschnitte 3 und 4 dann der Wahlbeteiligung sowie
    widmen zu können, werden wir im Folgenden in vier                       der Parteiwahl von Menschen mit Migrationshinter-
    Schritten vorgehen. Zunächst klären wir in Form einer                   grund3, wobei auch auf die vermittelnden Mechanismen,
    Beschreibung der Zusammensetzung der Gruppe deren                       allen voran die politischen Einstellungen, eingegangen
    Bedeutung und schaffen so eine Basis für weitergehende                  wird. Dabei geben wir zunächst einen Überblick über
    Analysen. Dazu können wir vor allem auf Daten der amt-                  mögliche theoretische Zugänge, gefolgt von Darstellun-
    lichen Statistik zurückgreifen. Für weitergehende Analy-                gen des Forschungsstands und runden dies punktuell
    sen von Einstellungen und Verhaltensabsichten genügt                    durch eigene Sekundäranalysen ab. Wir schließen mit
    diese Quelle allerdings nicht, weshalb wir im zweiten                   einem Fazit und Ausblick.

    3   In den Sozialwissenschaften ist eine im Vergleich zur amtlichen Statistik leicht vereinfachte Operationalisierung des Migrationshinter-
        grunds üblich. Einen Migrationshintergrund hat, wer entweder selbst mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit im Ausland gebo-
        ren wurde oder ein Elternteil hat, das dieses Kriterium erfüllt.

                                                                         POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Zusammensetzung                                                                                                                              7

Gut ein Zehntel der wahlberechtigten Deutschen (im Alter                 1,2 % bzw. 0,5 % aller Wahlberechtigten mit Migrations-
von 18 Jahren und darüber) hat einen Migrationshinter-                   hintergrund aus. Wie heterogen die Gruppe der Menschen
grund. Es handelt sich dabei vor allem um Personen, die                  und damit auch der Wahlberechtigten ist, zeigt sich
entweder selbst oder von denen zumindest ein Elternteil                  daran, dass weitere 3,3 % ihre Wurzeln in vielen verschie-
als Aussiedler oder Spätaussiedler nach Deutschland ge-                  denen, anderen Ländern haben.
kommen sind. Die größte Gruppe, nämlich ein knappes
Drittel (3,2 % aller Wahlberechtigten) stammt aus Län-                   Unter dem Blickwinkel der Integration ist die Frage nach
dern des Gebiets der ehemaligen Sowjetunion, überwie-                    Unterschieden zwischen verschiedenen Generationen von
gend dem heutigen Russland (1,2 %) und Kasachstan                        Menschen mit Migrationshintergrund von besonderer
(1,2 %). Weitere 1,5 % stammen aus Polen und 0,5 %                       Bedeutung. Betrachtet man die Zusammensetzung noch-
aus Rumänien. Auch wenn nicht alle Deutschen, deren                      mals aus dieser Perspektive, dann zeigt sich, dass der weit
Hintergrund in diesen Ländern liegt, deutsche Wurzeln                    überwiegende Anteil (8,1 % aller Wahlberechtigten) eine
haben, so gilt dies doch für den weit überwiegenden Teil                 eigene Migrationserfahrung besitzt und somit zur ersten
dieser Wahlberechtigten.                                                 Generation der Einwanderinnen und Einwanderer gehört.
                                                                         Dies betrifft ganz überwiegend die Wahlberechtigten aus
Unter den Deutschen aus Nicht-Aussiedlerländern befinden                 Aussiedlerländern. Jeweils nur 0,2 % der Wahlberechtig-
sich vor allem Türkeistämmige und Menschen, die aus dem                  ten gehören den Nachfolgegenerationen aus ehemals
Gebiet des ehemaligen Jugoslawien stammen. Sie machen                    sowjetischen Gebieten oder aus Polen an. Die Türkeistäm-

 Abbildung 1: Zusammensetzung der Wahlberechtigten nach Migrationshintergrund,
              Herkunftsgebiet und Generation 2016 (in % aller Wahlberechtigten)

                                                                     Gebiet ehem. YU 0,5                   1. Generation 8,1

                                                                                           andere 3,3                    2. Generation 2,1
                                                             Rumänien 0,5

                                                           Türkei 1,2

                                                            Polen 1,5

                                                                        Gebiet ehem. SU 3,2
         ohne MH 89,8                 mit MH 10,2
                                                                                                     YU (1) 0,3
                                                                                      RO (2) 0,0
                                                                                                        YU (2) 0,2
                                                                                    RO (1) 0,5
                                                                                                               andere (1) 2,5
                                                                                  TK (2) 0,7
                                                                             TK (1) 0,5
                                                                              PL (2) 0,2
                                                                                                                     andere (2) 0,8
                                                                              PL (1) 1,3

                                                                                  SU (2) 0,2
                                                                                                          SU (1) 3,0

 Quelle: Mikrozensus 2016.
 Die Zahlen in den Klammern weisen jeweils den Anteil der Personen erster (1) und zweiter (2) Einwanderungsgeneration aus.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
8   migen ohne eigene Migrationserfahrung machen dage-                   Zensus 2011 zurückgegriffen werden. Die Verteilung der
    gen mit 0,7 % die größte Teilgruppe unter den Wahlbe-                Anteile der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund
    rechtigten ohne eigene Migrationserfahrung aus. Hinzu                innerhalb Deutschlands zeigt zum einen ein Ost-West- und
    kommen mit 0,2 % vor allem Deutsche, von denen ein                   zum anderen ein Stadt-Land-Gefälle. Während es 2013
    Elternteil aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien                 mit Ausnahme Berlins im Osten keine Wahlkreise mit einem
    nach Deutschland gekommen ist.                                       nennenswerten Anteil an Wahlberechtigten mit Migra­
                                                                         tionshintergrund gab, liegen die entsprechenden Anteile
    Der jährlich erhobene Mikrozensus ermöglicht leider keine            im Westen durchweg höher. In insgesamt elf Wahlkrei-
    Differenzierung der Bevölkerung nach Migrationshinter-               sen – alle in Großstädten – lag der Anteil der Wahlbe­
    grund in Wahlkreisen. Um ein Bild der regionalen Vertei-             rechtigten mit Migrationshintergrund über einem Fünftel
    lung zeichnen zu können, muss deshalb auf Daten des                  der Wahlberechtigten insgesamt.

     Abbildung 2: Anteil Wahlberechtigter mit Migrationshintergrund in Wahlkreisen 2013
                  (Datengrundlage: Zensus 2011)

                                                                                        Anteile in %

      Quelle: Wüst 2016 in German Politics 25 (3); Karte © Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (www.bkd.bund.de)

                                                                      POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Durch die demographische Entwicklung und durch die Ein-                Anteils der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund             9
führung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000              zu erwarten. Diese Entwicklung wird ab 2018 zunächst
liegt der Anteil der Deutschen mit Migrationshintergrund               bei den jüngeren Wahlberechtigten sichtbar. Da jedoch
in den jüngeren Alterskohorten deutlich höher als in älte-             die jüngeren Alterskohorten weniger Menschen umfas-
ren. Bei den 0- bis unter 5-jährigen und den 5- bis unter              sen als die älteren Alterskohorten (die 5- bis 10-Jährigen
10-jährigen Deutschen beträgt der Anteil der Kinder mit                machen ungefähr die Hälfte der 50- bis 55-Jährigen aus),
Migrationshintergrund über 37 %; bei den 10- bis unter                 ist in naher Zukunft mit einem stetigen, aber keinem
18-Jährigen liegt er noch über 30 %. Mit Blick auf die                 sprunghaften Anstieg der Wahlberechtigten mit Migra­
jünge­ren Alterskohorten zeigt sich eine Annäherung des                tionshintergrund zu rechnen.
Anteils der Deutschen mit Migrationshintergrund und des
Anteils der Menschen mit Migrationshintergrund an der ge-              Prognosen zu zukünftigen Anteilen der Wahlberechtigten
samten Bevölkerung. Die weit überwiegende Zahl der in                  mit Migrationshintergrund an allen Wahlberechtigten lie-
Deutschland geborenen Kinder mit Migrationshinter-                     gen nicht vor. Konservativ geschätzt wird der Anteil im
grund besitzt inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft               Jahr 2021 (also dem Jahr der voraussichtlich nächsten
durch Geburt.                                                          Bundestagswahl) auf mindestens 10,8 %, vier Jahre spä-
                                                                       ter (2025) auf mindestens 11,6 % ansteigen.4 Dabei wird
Geht man weiterhin davon aus, dass es über diese natür-                vor allem der Anteil türkeistämmiger Wahlberechtigter
lich nachwachsenden Generationen hinaus noch zu Ein-                   überproportional ansteigen (auf mindestens 1,5 % aller
bürgerungen in den mittleren Alterskohorten kommen                     Wahlberechtigten im Jahr 2025).
wird, dann ist ein weiterer, kontinuierlicher Anstieg des

    Abbildung 3: Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund an allen
                 Deutschen bzw. Einwohnern nach Altersgruppen (in %)

     50
     45
                                                                                               Deutsche             Einwohner
     40
     35
     30
     25
     20
     15
     10
       5
       0
           0 bis 5 bis 10 bis 15 bis 18 bis 20 bis 25 bis 30 bis 35 bis 40 bis 45 bis 50 bis 55 bis 60 bis 65 bis 70 bis         75
           unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter unter                      und
             5    10    15     18     20     25     30     35     40     45     50     55     60     65     70     75           älter

    Quelle: Mikrozensus 2016.

4     Für diese konservative Schätzung wird lediglich die Alterung der derzeitigen Bevölkerung (Stand: 2017) berücksichtigt, aber keine
      weiteren Wanderungsbewegungen, Einbürgerungen oder Todesfälle.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
10   Verfügbare Daten

     Daten zur Zusammensetzung der Gruppe der Menschen                   ZDF aufgenommen, die nachfolgend ausgewertet wer-
     mit Migrationshintergrund lassen sich sehr gut aus ver-             den konnten (Wüst 2000, 2002, 2003a, 2003b, 2004).
     fügbaren amtlichen Statistiken gewinnen; Informationen              Seit 2002 wird der Migrationshintergrund im European
     zu politischen Einstellungen und politischem Verhalten              Social Survey (ESS) kontinuierlich erhoben, seit 2009 auch
     fehlen dort jedoch gänzlich. Wie in skandinavischen Län-            im Vorwahl- und Nachwahl-Querschnitt der German Lon-
     dern (Wass et al. 2015; Bergh/Bjørklund 2011; Togeby                gitudinal Election Study (GLES).
     1999) gibt es in Deutschland eine Repräsentative Wahl-
     statistik, doch ermöglicht diese lediglich eine Differen­           Andere Umfrageprogramme ermöglichen zumindest die
     zierung der Wahlbeteiligung und der Parteiwahl nach                 Analyse von interessierenden Teilaspekten. So erhebt das
     Geschlecht und Altersgruppen, nicht nach Migrationshin-             Sozio-ökonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts
     tergrund. Auch in den sogenannten Exit Polls, den reprä-            für Wirtschaftsforschung (DIW) neben dem politischen
     sentativen Befragungen von Wählerinnen und Wählern                  Interesse die längerfristige Bindung an eine Partei, der Frei-
     nach Verlassen des Wahllokals durch Umfrageinstitute im             willigensurvey (FWS) des Deutschen Zentrums für Alters-
     Auftrag von Fernsehanstalten, wird nicht nach Migrations­           fragen (2014) erfragte die Beteiligung an der Bundestags-
     hintergrund differenziert. Daher müssen sich Analysen               wahl 2013 und das Integrationsbarometer des Sachver-
     des Wahlverhaltens von Deutschen mit Migrationshinter-              ständigenrats für Integration und Migration (SVR) erfasste
     grund primär auf Umfragedaten vor oder nach Wahlen                  2015 die Parteineigung. Hinzu kommen Einzelstudien
     stützen, denn der Rückgriff auf kleinräumige Aggregat-              verschiedener Institutionen, deren Daten größtenteils
     daten etwa zu Stadtteilen, würde neue Probleme mit sich             nicht oder noch nicht für Sekundäranalysen zur Verfü-
     bringen.                                                            gung stehen, darunter vor allem Studien von Stiftungen
                                                                         wie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Pokorny 2016).5 Im
     Eine Überblicksdarstellung zu verfügbaren Daten erarbei-            Rahmen dieses Gutachtens wird punktuell auf Befunde
     teten bereits Stephanie Müssig und Susanne Worbs                    dieser Befragungen hingewiesen, auch wenn lediglich in
     (2012). Danach ist es nur in wenigen Umfrageprogram-                die Daten der Konrad-Adenauer-Stiftung Einblick gewährt
     men gelungen, sowohl den Migrationshintergrund ein-                 wurde. Schließlich konnte eine Studie der fünf größten
     schließlich notwendiger Differenzierungen als auch Fra-             Einwanderergruppen unter Berücksichtigung von drei Ge-
     gen nach politischen Einstellungen bis hin zum                      nerationen in Baden-Württemberg („Integration gelun-
     Wahlverhalten gemeinsam zu erfassen. Für das Jahr 1999              gen?“) genutzt werden, die einige Fragen zur politischen
     und die zwölf Monate vor der Bundestagswahl 2002 wur-               Partizipation enthält und deren Daten über GESIS für
     den Zusatzfragen in die Politbarometer-Befragungen des              ­Sekundäranalysen zur Verfügung stehen.

     5   Es gibt darüber hinaus Veröffentlichungen von Daten, deren methodische Anlage nur teilweise geklärt werden konnte und die nicht
         für Sekundäranalysen zugänglich sind (z.B. endaX und Data-4U).

                                                                      POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Tabelle 1: Migrationshintergrund im European Social Survey 2002 – 2016                                                    11

                         2002    2004      2006      2008          2010      2012      2014       2016     Gesamt
    Fallzahl der
    Menschen             277      286       302       352          390        422       410       421       2.860
    mit MH (N)
    Anteil (gewichtet)   11,1    11,6      12,3      14,7          15,8      17,4       16,1      17,8       14,6

    1. Gen. (N)          112      137       143       145          164        199       171        145      1.216
    2. Gen. (N)          165      149       159       207          226        223       239        276      1.644

    Frühere SU (N)        40       65        77           82         84        96        76         61        581
    Südeuropa (N)         15       29        35           26         50        41        49         56        301

Zum Zweck eigener Sekundäranalysen greifen wir auch            Migrationsbiografie als auch zu ihren Einstellungen und
auf die Kumulation der ersten acht Wellen des European         ihrem Verhalten gestellt wurden. Aus der Tabelle wird je-
Social Survey (2002 bis 2016, im Folgenden ESS) zurück.        doch auch ersichtlich, wie stark die Fallzahlen abnehmen,
Wie Tabelle 1 zeigt, sind in der Kumulation ausreichend        sobald nach einzelnen Gruppen (hier: Personen aus der
viele Menschen mit Migrationshintergrund interviewt            ehemaligen Sowjetunion und aus Südeuropa) differen-
worden, wobei ihnen sowohl spezifische Fragen zu ihrer         ziert wird.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
12   Erklärungsansätze für die Wahlbeteiligung von Menschen
     mit Migrationshintergrund

     Zur Erklärung der Beteiligung an Wahlen wird vor allem           kratischen Sozialisation im Herkunftsland das Ausmaß
     auf das Civic Voluntarism Model von Sidney Verba, Kay            der external efficacy beeinträchtigen.
     Lehman Schlozman und Henry Brady (1995) zurückge-
     griffen. Neben der Ressourcenausstattung eines Indivi­           Darüber hinaus spielen die soziale Einbindung (z. B. in
     duums (er oder sie „kann wählen“) sind demnach moti-             Form von Vereinsmitgliedschaften), die interpersonale
     vationelle Faktoren („möchte wählen“) und mobilisierende         politische Kommunikation und die politische Integration
     Faktoren des Umfelds („soll wählen“) für die Wahlbetei­          (andere Partizipationsformen) eine Rolle für die Motiva­
     ligung ausschlaggebend.                                          tion, sich politisch zu beteiligen. Die Mobilisierung von
                                                                      Wahlberechtigten erfolgt grundsätzlich durch Parteien,
     Zur Ressourcenausstattung zählen vor allem Bildungs-             Kandidatinnen und Kandidaten, zumeist vermittelt über
     grad, Erwerbsstatus und – im Sinne von Erfahrung – das           Medien oder aber im persönlichen Kontakt. Dabei scheint
     Lebensalter. Speziell mit Blick auf Menschen mit Migra­          es für die zielgruppenspezifische Ansprache von Bedeu-
     tionshintergrund und hier gerade für die erste Generation        tung zu sein, ob eine Gruppe von Wählerinnen oder
     tragen Sprachkenntnisse und auch die Aufenthaltsdauer            Wählern groß oder klein ist, d.h. wie groß das Mobili­
     in Deutschland zu einer besseren Ressourcenausstattung           sierungspotenzial ist. Dabei kann die direkte Ansprache
     bei. Als summarischer Indikator für die relevante Ressour-       für die Entscheidung, sich an einer Wahl zu beteiligen,
     cenausstattung kann auf die sogenannte internal efficacy,        ausschlaggebend sein (Heath et al. 2013: 132 – 153) und
     d. h. die subjektive Beurteilung der eigenen Fähigkeit,          es könnte auch eine Rolle spielen, ob diese direkte An-
     politische Fragen verstehen zu können, zurückgegriffen           sprache durch einen Angehörigen der gleichen Herkunfts-
     werden.                                                          land- bzw. ethnischen Gruppe erfolgt oder nicht.

     Während der Grad der internal efficacy die Befähigung            Vor allem für Minderheiten ist der Grad des Zugehörig-
     zur politischen Partizipation widerspiegelt, liefert die ex-     keitsgefühls zu einem Gemeinwesen ein relevanter Faktor
     ternal efficacy Informationen zum Grad der Motivation,           für die Motivation, sich zu beteiligen. Der Ausschluss aus
     sich politisch zu beteiligen. Unter external efficacy ver-       einer Gesellschaft, etwa in Form von Diskriminierung,
     steht man die Wahrnehmung des politischen Systems als            kann eigenes Engagement stark eingeschränken. Schließ-
     responsiv, d. h. dass die eigene Partizipation, wiederum         lich sollten thematische und personelle Angebote von
     aus subjektiver Sicht, tatsächlich einen Einfluss auf Regie-     Parteien und Kandidatinnen bzw. Kandidaten vorliegen,
     rungshandeln und Politikergebnisse hat. Gerade bei der           die geeignet sind, die Motivation zur Beteiligung für
     ersten Migrantengeneration kann das Fehlen einer demo-           Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund zu erhöhen.

                                                                    POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Empirische Befunde zur Wahlbeteiligung                                                                                                13

Es ist schwierig, allein auf der Grundlage von Umfrage­             ligung an der Bundestagswahl 2009 (Wüst 2011: 167 –169)
daten zu repräsentativen Ergebnissen zur Wahlbeteiligung            bestätigten vor allem den direkten und indirekten Einfluss
der Wahlberechtigten oder einzelner gesellschaftlicher              der Generationszugehörigkeit auf die Wahlbeteiligung.
Gruppen zu kommen: Zum einen ist die Beteiligung an                 Darüber hinaus zeigte sich, dass das Herkunfts­land im
einer Wahl sozial erwünscht, was häufig dazu führt, dass            Hinblick auf zwei Faktoren für die Wahlbeteiligung in
in Umfragen höhere Beteiligungsraten gemessen werden                Deutschland eine Rolle spielt: Einerseits ist die Sozialisa­
als in der Realität. Zudem haben Menschen mit hohem                 tion in einer Demokratie beteiligungsfördernd (ähnliche
Interesse und hoher Beteiligungsbereitschaft auch eine              Ergebnisse auch für Finnland: Wass et al. 2015), anderer-
höhere Wahrscheinlichkeit, an politischen Umfragen teil-            seits werden Wahlberechtigte, die einer großen Migran-
zunehmen. Beides führt zu einem systematischen Over­                tengruppe in Deutschland angehören, offenbar eher von
reporting der Wahlbeteiligung in Umfragen (Beispiele:               Parteien mobilisiert als Angehörige kleinerer Gruppen
Faas 2013; Voogt/Saris 2003). Zudem wird die Wahlbetei-             (Wüst 2011: 168 –170).
ligung in Umfragen unterschiedlich abgefragt, häufig mit
lediglich zwei Antwortoptionen („würde zur Wahl ge-                 Ergänzend zu diesen vor allem ressourcenorientierten
hen“ oder „würde nicht zur Wahl gehen“; z. B. in der                Analysen haben Soziologinnen und Soziologen der Uni-
Regionalstudie BW), manchmal aber auch differenzierter              versität Konstanz für die fünf größten Migrantengruppen
mit mehreren Antwortoptionen wie in der GLES-Vorwahl­               der ersten bis dritten Generation in Baden-Württemberg
umfrage („würde bestimmt“, „wahrscheinlich“, „vielleicht“           den Einfluss einiger weiterer sozialer und motivationaler
bis „wahrscheinlich nicht“ und „sicher nicht“ zur Wahl              Faktoren auf die Wahlbeteiligung geprüft (Fick et al. 2014:
gehen). Insofern sollten die je nach Umfrage festgestell-           110 –117). Neben Bildung und Alter erwiesen sich die Par-
ten Beteiligungsniveaus und -differenzen weniger als                tizipation in einheimischen Vereinen und die Bleibeabsicht6
absolute Werte verstanden werden, sondern vor allem                 als stärkste Einflussfaktoren auf die Wahlbe­teiligung, wo-
zur Orientierung der Unterschiede dienen, wohingegen                hingegen sich Generationeneffekte hier nicht bestätigten.
die Analyse möglicher Erklärungsfaktoren für festgestellte
Beteiligungsunterschiede zu einem Verständnis davon                 Die Umfragedaten der regionalen Studie enthalten einen
beiträgt, warum sich einzelne Personen oder Gruppen                 weiteren potenziell relevanten Faktor, der keinen Eingang
häufiger bzw. seltener an Wahlen beteiligen als andere.             in die multivariaten Analysen bei Fick et al. (2014) fand.
                                                                    Mit der Frage, ob man direkt angesprochen wurde, sich
In deskriptiven Analysen von Daten des ESS der Jahre                politisch zu engagieren, ist eine Variable verfügbar, die
2002 bis 2008 konnten folgende soziodemografische                   eine Abschätzung direkter Mobiliserungseffekte erlaubt.
und generationenspezifische Beteiligungsmuster aufge-               Die beschreibende Analyse (Abbildung 4) zeigt, dass eine
zeigt werden (Müssig/Worbs 2012: 31–34): Die erste Ge-              explizite Aufforderung zum politischen Engagement ins-
neration, Frauen und jüngere Personen mit Migrations-               gesamt und vor allem in Bezug auf Wahlberechtigte aus
hintergrund beteiligten sich seltener; dagegen korrelierte          Italien, aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und
eine Erwerbsbeteiligung positiv mit der Wahlbeteiligung.            aus der Türkei einen erheblichen Einfluss auf die Wahl­
Multivariate Analysen der Daten der GLES zur Wahlbetei-             beteiligung haben kann.

6   Die Beteiligungsdifferenz zwischen Wahlberechtigten mit und ohne Migrationshintergrund fällt in dieser Studie mit acht Prozent-
    punkten gering aus; allerdings wurden auch nur die fünf größten Migrantengruppen befragt. Die Beteiligungsdifferenz steigt von
    sechs auf 23 Prozentpunkte, wenn die Gruppen derjenigen (ohne/mit MH) verglichen werden, die Deutschland in den nächsten Jahren
    verlassen möchten.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
14
         Abbildung 4: Wahlbeteiligungsabsicht in den fünf größten Einwanderergruppen in Baden-Württemberg
                      ohne und mit direkter Ansprache zu politischem Engagement im Jahr 2013 (in %)

           100

            90

            80

            70

            60                                                                                                                 ohne Ansprache
            50                                                                                                                 mit Ansprache

            40                                                                                                                 Differenz

            30                                                                                       25
                                                        19                           17
            20                           15
                           7                                             9
            10                                                                                                     6

              0
                   ohne MH         mit MH        ehem. SU        Polen          Türkei         Italien      ehem. YU

         Quelle: Integration gelungen? (ZA 6761), Auswahl: Wahlberechtigte ohne MH und der 1. und 2. Generation; eigene Analyse und Darstellung.

     Nun kann dieser vermeintliche Mobilisierungseffekt darauf                  förderlich für die politische Partizipation ist – ein Muster,
     zurückzuführen sein, dass gezielt angesprochene Wahl-                      das auch aus der Sozialkapitalforschung bekannt ist: Mit-
     berechtigte sich aufgrund anderer Charakteristika und                      gliedschaften in Vereinen wirken sich dann positiv auf
     Einflüsse ohnehin eher an einer Wahl beteiligt hätten. Da-                 ­politisches Engagement für das Gemeinwesen aus, wenn
     her haben wir diesen Einfluss unter Kontrolle jener Einfluss-               diese Mitgliedschaften zu einer gruppenübergreifenden,
     faktoren geprüft, die auch das Konstanzer Team heran­                       brückenbauenden Integration in die Gesellschaft führt,
     gezogen hatte (Fick et al. 2014: 113). In unserer Analyse                   nicht aber Unterschiede zwischen Gruppen verfestigen.
     werden dabei – analog zu den anderen Studien, die wir
     hier behandeln – nur deutsche Staatsbürger ab 18 Jahren                    Die Daten der GLES, die anlässlich der Bundestagswahl
     (Wahlberechtigte) berücksichtigt, d. h. wir haben eine                     2013 erhoben wurden (Abbildung 5), bestätigen an ver-
     hypothetische Wahlbeteiligung anderer Staatsbürger aus-                    schiedenen Stellen frühere Befunde. Unterschiede hin-
     geklammert (Tabelle 1 im Anhang). Es bestätigt sich, dass                  sichtlich Migrantengeneration bestehen 2013 nicht; auch
     es neben dem bekannten Einfluss des Alters vor allem                       mit Blick auf das Herkunftsland zeigen sich nur geringe
     Ressourcen (Bildung), Motivation (Bleibeabsicht) und Mo-                   Differenzen. Allerdings ergibt sich eine im Vergleich hö­
     bilisierung (direkte Ansprache) sind, die sich förderlich auf              here Wahlbeteiligung derjenigen Befragten, die angeben,
     die Wahlbeteiligung auswirken. Während die Herkunfts-                      entweder selbst als (Spät-)Aussiedler nach Deutschland
     land- und Generationeneffekte alles in allem moderat                       gekommen oder deren Kinder zu sein (61 %). Menschen,
     ausfallen, kommen Faktoren der sozialen Einbindung wie                     die nicht zur Gruppe der Aussiedler gehören, geben an,
     Mitgliedschaften in Vereinen mit überwiegend deutschen                     sich seltener an der Wahl beteiligt zu haben (56 %).
     Mitgliedern (positiv) und in Vereinen mit überwiegend aus-
     ländischen Mitgliedern (negativ) zur Erklärung der Wahl­                   Mit den GLES-Daten zur Bundestagswahl 20137 lassen
     beteiligung hinzu. Gerade der negative Effekt einer Mit-                   sich weitere Elemente, die einerseits zu den Ressourcen
     gliedschaft in stärker ethnisch geprägten Vereinen zeigt,                  zu zählen sind, andererseits im Bereich Motivation veror-
     dass nicht jede Form von Sozialintegration automatisch                     tet werden können, auf ihren Einfluss auf die Beteiligung

     7     GLES-Querschnittsdaten zur Bundestagswahl 2017 (Vor- und Nachwahl) lagen bei Redaktionsschluss (Ende 2017) leider noch nicht vor.

                                                                             POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Abbildung 5: Berichtete Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013                                                                   15
              nach Migrationshintergrund (in %)

    100

               82,6
     80

                                                                               61,1
                              57,8            58,2           57,3                           56,8                   56,1    56,6
     60

     40

     20

      0
            ohne MH          mit MH      1. Generation 2. Generation         (Spät)       ehem. SU             Nicht-      Türkei
            (n=3214)         (n=557)        (n=337)       (n=220)          Aussiedler      (n=162)           Aussiedler   (n=122)
                                                                            (n=175)                           (n=383)
 Quelle: GLES Vorwahl-Nachwahl-Querschnitt (ZA 5702), eigene Datenaufbereitung, Analyse und Darstellung.

an einer Wahl hin überprüfen. Ohne unmittelbaren Zusam­                  Politik sprechen, desto höher ist die Motivation, sich auch
menhang zu einem Migrationshintergrund zeigt sich – an-                  an der Bundestagswahl zu beteiligen. Demgegenüber
ders als in einer früheren Analyse von Wüst (2011: 168) –,               sinkt ihre Motivation beträchtlich, wenn sie annehmen,
dass die Wahlbeteiligung dann geringer ausfällt, wenn                    dass Parteien nicht an den Ansichten der Wählerinnen und
die im Haushalt gesprochene Sprache nicht die deutsche                   Wähler, sondern nur an Wählerstimmen interessiert sind
ist. Und: An je mehr Tagen Wahlberechtigte im Alltag über                (external efficacy; siehe insgesamt Tabelle 2 im Anhang).

 Abbildung 6: Berichtete Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 danach,
              ob politische Sachverhalte verstanden werden können (in %)

                           100
                                                      91
                            90
                                               83
                            80                                                    74
                                       72                                 70
                            70

                            60                                                                     (eher) nicht
                            50                                                                     teils / teils

                            40                                                                     (eher) ja
                                                                    34
                            30

                            20

                            10

                              0
                                            ohne MH                      mit MH

 Quelle: GLES Vorwahl-Nachwahl-Querschnitt (ZA 5702), eigene Datenaufbereitung, Analyse und Darstellung.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
16   Besonders interessant ist der migrantenspezifische Effekt       erfahrungen gibt, die mit dem Migrationshintergrund
     der internal efficacy (Abbildung 6) auf die Wahlbeteili-        verknüpft sind. In der ersten Generation fallen diese Un-
     gung (vgl. Tabelle 2 im Anhang). Während unter denjeni-         terschiede besonders groß aus, bleiben aber auch in der
     gen Wahlberechtigten ohne Migrationshintergrund, die            zweiten Generation bestehen (Ceyhan 2012).
     angeben, politische Inhalte verstehen zu können, die
     Wahlbeteiligung 19 Prozentpunkte höher ist als bei Wahl-        Positive Effekte hat dagegen eine (längere) Aufenthalts-
     berechtigten, die angeben, politische Inhalte nicht ver­        dauer: Je länger Menschen mit Migrationshintergrund in
     stehen zu können, fällt dieser Unterschied bei den Wahl-        Deutschland leben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit
     berechtigten mit Migrationshintergrund mit 40 Prozent-          ihrer Wahlbeteiligung. Wer erst seit fünf Jahren oder we-
     punkten sehr viel höher aus. Fehlende efficacy kann also        niger in Deutschland lebt, dessen Wahlwahrscheinlichkeit
     bei Menschen ohne Migrationshintergrund offenkundig             liegt bei unter 50 Prozent, bei einer Aufenthaltsdauer
     durch andere Faktoren kompensiert werden; in Erman­             von 5 bis 20 Jahren liegt diese bei 64 Prozent, von über
     gelung solcher Kompensationen wirkt sich geringere effi-        20 Jahren dagegen bei 80 Prozent und damit kaum
     cacy bei Menschen mit Migrationshintergrund dagegen             niedriger als in der Gruppe der Menschen ohne Migra­
     stark auf die Beteiligungsbereitschaft aus. Die Fähigkeit       tionshintergrund. Eine Angleichung der Beteiligungsbe-
     zum Verständnis politischer Inhalte hängt vor allem von         reitschaft von Menschen mit Migrationshintergrund ist
     struktureller Integration (Sprache, Bildung, Erwerbsarbeit)     demnach vor allem eine Frage der Zeit.
     ab, aber auch davon, wie die Funktionsweise unseres
     politischen Systems sowie politische Sachverhalte vermit-       Insgesamt verdeutlichen der Überblick über den Forschungs-
     telt werden.                                                    stand sowie unsere ergänzenden Analysen, welchen unter-
                                                                     schiedlichen Einflüssen das Wahlverhalten von Menschen
     Wir wollen die Betrachtung der Wahlbeteiligung mit zwei         mit Migrationshintergrund unterliegt. Auch ihr Verhalten
     deskriptiven Analysen auf Basis des European Social Sur-        wird durch Einflussfaktoren, die sich ganz generell und
     vey beschließen, die bislang so in der Literatur nicht un-      unabhängig vom Migrationshintergrund auf politische
     ternommen wurden: Welche Rolle spielen die Aufent-              Beteiligung auswirken, geprägt. Der Einfluss migrations-
     haltsdauer und etwaige Diskriminierungserfahrungen für          spezifischer Faktoren kommt dann hinzu; allerdings zeigt
     die eigene Wahlbeteiligung? Tatsächlich wirken sich Dis-        der Blick auf die internal efficacy auch, dass allgemeingül-
     kriminierungserfahrungen negativ auf die Wahrschein-            tige Faktoren bei Menschen mit Migrationshintergrund
     lichkeit eigener Wahlbeteiligung aus: Innerhalb der Grup-       einen deutlich stärkeren Einfluss auf Partizipation haben
     pe der Menschen mit Migrationshintergrund liegt die             können als bei Menschen ohne Migrationshintergrund.
     Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung bei 79 Prozent,          Eine detaillierte Herausarbeitung dieser komplexen Mecha­
     wenn keine Diskriminierungserfahrungen vorliegen, da-           nismen wird die vorliegende Datenlandschaft sicher nicht
     gegen nur bei 59 Prozent, wenn es Diskriminierungs­             leisten können – dies bleibt Aufgabe zukünftiger Studien.

                                                                   POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Erklärungsansätze für politische Präferenzen von Menschen                                                                    17

mit Migrationshintergrund

Zur Erklärung politischer Präferenzen von Wahlberechtig-       2011; Herbolsheimer/Wüst 2012). Und schließlich ist die
ten mit Migrationshintergrund wird vor allem auf Ansätze       parlamentarische Präsenz von Bedeutung, da Abgeordne-
der empirischen Wahlforschung zurückgegriffen, die das         te mit Migrationshintergrund nachweislich einen etwas
Wahlverhalten ganz allgemein erklären. Hierzu zählen           anderen Wortschatz nutzen und etwas andere inhaltliche
Themen und Probleme, Zuschreibung von Lösungskom-              Schwerpunkte setzen (Blätte/Wüst 2017). Die Bedeutung
petenzen, Kandidatenpräferenzen und retrospektive              auch deskriptiver Repräsentation gesellschaftlicher Grup-
Bewertungen von Partei- und Regierungspolitik (Wüst            pen haben Debatten im Nachgang zur Bundestagswahl
2002). Analog zu den skizzierten Mustern bezüglich der         2017 vor allem im Hinblick auf Frauen, aber auch auf jün-
Hintergründe der Wahlbeteiligung haben auch Analysen           gere Abgeordnete gezeigt.
der Wahlentscheidung einzelner Migrantengruppen ge-
zeigt, dass die üblichen Erklärungsansätze der Wahlfor-        Die Nähe oder Distanz von Wahlberechtigten mit Migra­
schung hier durchaus greifen; gruppenspezifische Wahl-         tionshintergrund zu einzelnen politischen Parteien hat
muster bleiben jedoch auch dann erhalten (Bird et al.          offenbar auch mit dem Vertrauen zu tun, dass die Be­
2011: 66 –106), wenn man die in den üblichen Erklä-            lange und Interessen der eigenen Gruppe auch im Kon-
rungsansätzen enthaltenen Faktoren berücksichtigt.             flikt mit der Mehrheitsgesellschaft vertreten werden
                                                               (Tiberj 2011: 71). Generalisierend lässt sich von einem
Diese Ergebnisse legen nahe, dass zur Erklärung der Partei­    kulturellen Konflikt zwischen Vertreterinnen und Vertre-
wahl von Menschen mit Migrationshintergrund weitere,           tern einer (homogen verstandenen) Mehrheitsgesellschaft
d. h. vor allem migrationsspezifische Ergänzungen not-         und einer (heterogen verstandenen) pluralistischen Ge-
wendig sind. Hierzu gehören – zumindest bei der ersten         sellschaft sprechen (Wüst 2004). Kulturelle Grundkon­
Generation – die politische Sozialisation im Herkunftsland     flikte zwischen dominanten Gruppen und Minderheiten-
(politisches Regime und Parteien), migrationsspezifische       gruppen waren im Zuge von Nationalstaatsbildungen
Erfahrungen (z. B. Unterstützung der eigenen Gruppe            üblich und anhaltend (Lipset/Rokkan 1967). Die dauer-
durch bestimmte Parteien) und die Sozialisation im Ein-        hafte Niederlassung von Menschen anderer Kulturen in
wanderungsland (z. B. Aufenthaltsdauer).                       der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eine ent-
                                                               sprechende Politisierung führten zu einer Aktivierung die-
Darüber hinaus ist nicht nur für die erste Generation von      ser kulturellen Konfliktlinie. Durch unterschiedliche Posi­
Bedeutung, welche Erfahrungen der Unterstützung bzw.           tionen entlang der kulturellen Konfliktlinie werden politi-
Integration und welche Diskriminierungserfahrungen im          sche Parteien für verschiedene gesellschaftliche Gruppen
Einwanderungsland gemacht werden, welche integra­              und damit auch für Gruppen von Einwanderinnen und Ein-
tionspolitischen Positionen und welche Vorstellungen           wandern eher wählbar oder eher nicht wählbar. Schließlich
hinsichtlich gesellschaftlicher Vielfalt politische Parteien   können unterschiedliche Positionen der Parteien zur Poli-
einnehmen. Hierzu gehört auch die Aufstellung von Kan-         tik im und gegenüber dem Herkunftsland eine Rolle für
didatinnen und Kandidaten mit vergleichbarem Hinter-           die Wahlentscheidung spielen, insbesondere dann, wenn
grund, die häufiger gewählt werden (Bergh/Bjørklund            die bilateralen Beziehungen politisiert werden.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
18   Empirische Befunde zu Parteipräferenzen

     Vergleichende Analysen des Wahlverhaltens zeigen, dass           zuneigen (SVR 2016: 15). Es muss eingeschränkt werden,
     Einwandererinnen und Einwanderer sowie Menschen mit              dass die Daten des SVR nicht zwischen zunächst folgen­
     Migrationshintergrund eher Parteien wählen, die sich links       loser Parteineigung (ausländischer Staatsbürgerinnen und
     von der Mitte positionieren (Messina 2006; Bird et al.           Staatsbürger) und durchaus politisch relevanter Partei­
     2011). Dies gilt in Frankreich sogar für die meisten ideolo-     präferenzen (Eingebürgerter) differenzieren. Jedenfalls ist
     gisch eigentlich konservativen Wählerinnen und Wähler            auch in anderen Ländern bereits eine konservativere poli-
     mit Migrationshintergrund (Tiberj 2011). Dieses generelle        tische Einstellung osteuropäischer Einwanderinnen und
     Muster zeigt sich jedoch weder für alle Gruppen von Ein-         Einwanderer aufgefallen (Perez-Nievas 2011).
     wanderinnen und Einwanderern noch für jede Wahl. So-
     wohl in Nordamerika (DeSipio 1996; Ramakrishnan 2005)            Ob die für diese Einwanderinnen und Einwanderer festzu-
     als auch in Europa (Bird et al. 2011: 66 –106) gibt es im-       haltende Präferenz für die CDU/CSU etwas mit der Sozia-
     mer wieder Abweichungen von der allgemein zu beob-               lisation in einem sozialistisch geprägten Herkunftsland zu
     achtenden Präferenz für Parteien der politischen Linken.         tun hat (im Sinne einer „Gegensozialisation“) oder aber
                                                                      überwiegend konservativeren Grundhaltungen geschul-
     Eine dieser Abweichungen stellen Aussiedler und Spät-            det ist, lässt sich bisher empirisch nicht klar belegen.
     aussiedler in Deutschland dar, vor allem Russlanddeut-           Wahlberechtigte, die entweder selbst oder deren Eltern
     sche. Wiederholt wurde eine außerordentlich starke Prä-          aus autoritären Ländern stammen, weisen jedenfalls nicht
     ferenz Russlanddeutscher für die CDU/CSU von über 70 %           die unter Einwanderinnen und Einwandern sonst übliche
     festgestellt (Wüst 2003; Fick et al. 2014). Zumindest bei        signifikante Präferenz für Parteien links der Mitte auf
     der ersten Generation Russlanddeutscher ist diese Un­            (Wüst 2011: 171 – 173); und die erste Generation unter-
     terstützung der CDU/CSU auch eine Form von Dankbar-              scheidet sich hierbei nicht signifikant von der zweiten.
     keit gegenüber der Union, weil sie es war, die einfache
     Möglichkeiten der Einwanderung von Aussiedlern nach              Das Wahlverhalten der größten Gruppe von Einwanderin-
     Deutschland durchgesetzt hat. Dieser Aspekt wurde in             nen und Einwanderern ohne deutsche Vorfahren, der
     der einschlägigen Literatur früh thematisiert (Wüst 2003)        Türkeistämmigen, passt dagegen gut in das aus der For-
     und im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 in Gesprächen             schung bekannte Muster einer stärkeren Präferenz für
     mit Fokusgruppen bestätigt (Goerres et al. 2017). Zwi-           politisch linksorientierte Parteien. Die weit überwiegende
     schenzeitlich haben sich aber sowohl die längerfristigen         Präferenz für die SPD von über 60 % um das Jahr 2000
     Bindungen an die CDU/CSU gelockert (Kroh/Tucci 2010)             (Wüst 2003) zeigt sich nicht mehr durchgehend, doch
     als auch die Unterstützung bei Wahlen abgeschwächt               sind Gewinne für Parteien rechts von der Mitte sehr ge-
     (Wüst 2011). Neuere Ergebnisse zur Parteineigung (SVR            ring. Auch in der GLES, die 2013 unter Türkeistämmigen
     2016) bestätigen einerseits diese Trends, belegen aber an-       eine relative Mehrheit für die Grünen (37 %) vor der SPD
     dererseits eine nach wie vor starke Unterstützung der            (22 %) und der Linkspartei (16 %) gemessen hat, kam die
     (Spät-)Aussiedler für die CDU/CSU. Dabei ist anzumerken,         CDU/CSU lediglich auf 13 % und die FDP auf 0 %. Es ist
     dass der Rückgang der Unterstützung für die Unions­              in dieser Gruppe nach wie vor eine merkliche Distanz zu
     parteien den kleineren Parteien (v.a. Linke und Grüne) zu        den bürgerlich-konservativen Parteien feststellbar.
     Gute gekommen ist.
                                                                      Im Hinblick auf Erklärungsansätze für die Parteipräferenz
     Darüber hinaus gibt es Indizien, dass Einwanderinnen und         von Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund zeigt
     Einwanderer, die seit dem Jahr 2000 nach Deutschland             sich, dass es weder zwischen Menschen mit und ohne
     gekommen sind und zu einem beträchtlichen Teil aus Ost-          Migrationshintergrund klare Unterschiede der politischen
     europa stammen, ebenfalls überwiegend der CDU/CSU                Agenda gibt, noch zwischen verschiedenen Einwanderer-

                                                                    POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
gruppen (Wüst 2014; Pokorny 2016: 77–78). Interessant                            für Ausländer offener gegenüber als Wahlberechtigte            19
ist jedoch, dass die Befragten mit Migrationshintergrund in                      ohne Migrationshintergrund, vor allem Nicht-Aussiedler
der GLES-Studie 2009 trotz nahezu identischer Pro­blem­                          und in Deutschland Geborene. Diese beiden Gruppen be-
nennungen unterschiedlichen Parteien die Kompetenz                               fürworten auch höhere Steuern und Abgaben für mehr
zur Lösung der Themen und Probleme zuschreiben. Wahl-                            staatliche Leistungen. Dies sehen die (Spät-)Aussiedler und
berechtigte mit Aussiedlerhintergrund schreiben – bei                            Menschen mit eigener Migrationserfahrung deutlich an-
gleicher Problemwahrnehmung! – der Union mehr Kom-                               ders: sie wünschen sich weniger Zuzug, weniger Steuern
petenzen zu, andere Wahlberechtigte mit Migrationshin-                           sowie Abgaben und damit auch weniger Sozialleistungen.
tergrund der SPD und den Grünen (Wüst 2014: 125), was
auf Einflüsse tieferliegender Dispositionen hindeutet. Ein                       Schließlich können Parteipräferenzen auch vom Diskrimi-
solches Muster ist allerdings bei den wahlberechtigten Be-                       nierungspotenzial und Diskriminierungserfahrungen be-
fragten der Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung nicht                            einflusst werden. Mit GLES-Daten, die vor und nach der
oder nur schwach erkennbar (Pokorny 2016: 78 –79).                               Bundestagswahl 2009 erhoben wurden, zeigte sich be-
                                                                                 reits, dass Wahlberechtigte, die nicht als (Spät-)Aussiedler
Dass es dennoch Einstellungsunterschiede zwischen Wahl-                          nach Deutschland gekommen waren, jedoch türkische
berechtigten mit und ohne Migrationshintergrund gibt,                            Wurzeln haben oder muslimischen Glaubens sind, signi­
zeigen Analysen politischer Positionen. Für 2009 wurde                           fikant häufiger andere Parteien als die CDU/CSU gewählt
dies bereits dokumentiert (Wüst 2014: 127 –129). Be-                             haben (Wüst 2011: 172 –173). In der SVR-Studie des Jah-
trachtet man die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen                       res 2016 wurde gezielt nach persönlichen Diskriminie-
Positionen verschiedener Gruppen im Vergleich zu den                             rungserfahrungen gefragt und diese in Bezug zur Partein-
wahrgenommenen Parteipositionen anlässlich der Bun-                              eigung gesetzt (SVR 2016). Dabei zeigt sich ein sehr
destagswahl 2013 (Abbildung 7), dann ergibt sich ein                             ähnliches Muster (Abbildung 8): Während die Neigung
ähnliches Bild wie bei der Wahl zuvor. Wahlberechtigte                           für die Unionsparteien von 30 % (keine Diskriminierung
mit Migrationshintergrund stehen Zuzugsmöglichkeiten                             erfahren) auf 14 % (hoher Grad an erfahrener Diskrimi-

 Abbildung 7: Migrationshintergrund und Parteienwettbewerb 2013

                                            9

                                            8
       (mehr– weniger Zuzugsmöglichkeiten

                                                          CSU
                                                                                   ohne MH
                                            7
                                                          CDU
                Libertär-autoritär

                                                                             deutschstämmig
                 für Ausländer)

                                                    FDP
                                                                erste Gen      MH
                                            6
                                                                                          zweite Gen
                                                                      anderer MH                           SPD
                                            5
                                                                                                                         Linke

                                            4
                                                                                                                 Grüne

                                            3
                                                3     4           5                6                   7                 8         9
                                                                           Sozioökonomisch
                                                                 (weniger – mehr Steuern und Abgaben
                                                                  weniger – mehr staatliche Leistungen)

 Quelle: GLES Vorwahl-Nachwahl-Querschnitt (ZA 5702), eigene Datenaufbereitung, Analyse und Darstellung.

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
20   nierung) sinkt, steigt analog die Präferenz für Parteien der                Migrationshintergrund ein komplexes Wirkungsmuster er-
     politischen Linken von 62 % auf 76 %.                                       gibt: Über allgemein bekannte Erklärungsfaktoren bleiben
                                                                                 auch spezifisch mit dem Migrationshintergrund verknüpfte
     Insgesamt zeigt sich somit auch mit Blick auf politische und                Faktoren relevant; zusätzlich ergeben sich markante Unter-
     Parteipräferenzen ein Bild, wonach sich bei Menschen mit                    schiede zwischen verschiedenen Zuwanderergruppen.

      Abbildung 8: Parteineigung nach Grad selbst erfahrener Diskriminierung 2016 (in %)

                   100

                                                CDU/CSU           SPD            Grüne           Linke          andere

                    80
                                                               Politisch linkes Lager zusammen:
                                         62 %                                  67 %                                  76 %
                    60

                                    40                                    40                                    41
                    40
                               30
                                                                   27

                    20                                                                17                              18    17
                                          14                                                             14
                                                                                10                                                 11
                                                 8    8                                      6

                      0
                                keine Diskriminierung                     geringer Grad                          hoher Grad
                                                                        an Diskriminierung                    an Diskriminierung

      Quelle: SVR Policy Brief 2016 – 5: 21 (Befragte mit Migrationshintergrund ab 18 Jahren).

                                                                               POLITISCHE EINSTELLUNGEN VON MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Ausblick und Fazit                                                                                                           21

Eine Einwanderungsgesellschaft ist auch dadurch charak-        in Ansätzen und meist auch nur für große Teilgruppen (Russ-
terisiert, dass zunehmend mehr Menschen mit Migra­             landdeutsche, Türkeistämmige), zentralen Forschungs­
tionshintergrund wahlberechtigt sind. Der Anteil von der-      fragen nachzugehen. So bestehen nur wenige und nicht
zeit gut zehn Prozent wird in den kommenden Jahren             ganz widerspruchsfreie Erkenntnisse über die Ursachen
wachsen. Dies liegt daran, dass von 2018 an Menschen,          der niedrigeren Wahlbeteiligung von Deutschen mit Mi­
die seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im          grationshintergrund im Vergleich zu Deutschen ohne Mi-
Jahr 2000 als deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbür-        grationshintergrund. Und hinsichtlich der Parteinähe
ger geboren wurden, zur wahlberechtigten Bevölkerung           konnten zwar plausible und von Daten durchaus gestützte
hinzukommen, während die Zahl der Wahlberechtigten             Hypothesen zu möglicherweise wichtigen Faktoren auf-
ohne Migrationshintergrund aufgrund einer deutlich hö-         gestellt werden, doch reichen die Befragtenzahlen insbe-
heren Zahl an Sterbefällen (die Bevölkerung mit Migra­         sondere nicht dafür aus, die entscheidenden Faktoren der
tionshintergrund ist im Durchschnitt deutlich jünger)          Parteinähe zu extrahieren und Bedeutungsverschiebun-
überproportional abnimmt.                                      gen im Zeitverlauf herauszuarbeiten.

Insgesamt hat sich gezeigt, welch vielfältigen, teils wider-   Es besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, auch im
sprüchlichen Einflüssen die Einstellungs- und Verhaltens-      Hinblick auf die politische Integration von Menschen mit
welten von Menschen mit Migrationshintergrund unter-           Migrationshintergrund in der Praxis (Pfeffer-Hofffmann
liegen. Dabei ähneln die Muster zwar häufig jenen, die         2017). So gibt es jenseits der weithin bekannten, großen
wir aus Analysen von Menschen ohne Migrationshinter-           Gruppen von Einwanderinnen und Einwanderern (Russland-
grund kennen; zugleich sind an vielen Stellen allerdings       deutsche und Türkeistämmige), die derzeit Gegenstand in-
migrationsspezifische Ergänzungen der Erklärungsmodel-         tensiverer Forschungsanstrengungen sind (Goerres et al.
le notwendig. Unsere Ergebnisse zum Einfluss der Aufent-       2017), zunehmend neue Gruppen, deren politisches Ver-
haltsdauer, der Bleibeabsicht, der Vertrautheit mit dem        halten weitgehend unerforscht ist. Hierzu zählen vor al-
politischen System oder der persönlichen Mobilisierung         lem Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Osteuropa
auf die Wahlbeteiligung, aber auch die Befunde zum Ein-        ohne deutsche Wurzeln seit der EU-Osterweiterung (seit
fluss politischer Erfahrungen im Aus- und Einwande-            2004) und solche aus Südeuropa in Folge der Finanz- und
rungsland und von Diskriminierungserfahrungen sowohl           Eurokrise (seit 2007). Parallel dazu hat sich auch die Par-
auf die Beteiligungsabsicht als auch auf parteipolitische      teienlandschaft verändert: Spätestens mit dem Einzug der
Präferenzen, zeugen von der Notwendigkeit migrations-          AfD in den Bundestag stellt sich die Frage, inwieweit
spezifischer Anpassungen von Analysemodellen. Insge-           einerseits diese Partei für bestimmte Wahlberechtigte mit
samt aber muss festgehalten werden: Um diese migra­            Migrationshintergrund attraktiv ist und welche Auswir-
tionsspezifischen Einflüsse und ihre genauen Wirkungs-         kungen andererseits die Präsenz der stark migrationskri­
wege genauer verstehen zu können, bedarf es weiterer           tischen AfD auf die Wahlbeteiligung und die Parteipräfe-
Forschung auf Basis einer verbesserten Datenlage.              renzen der verschiedenen Migrantengruppen hat.

Obwohl sich seit Ende der 1990er Jahre die Anzahl der­         Aus Sicht der empirischen Wahlforschung gibt es zum
jenigen Umfragen erhöht hat, in denen zwischen Men-            einen Fragen grundsätzlicher Natur, die intensiver behan-
schen mit und ohne Migrationshintergrund unterschie-           delt werden sollten, und zum anderen besteht die Not-
den werden kann, besteht nach wie vor ein Mangel an            wendigkeit, ältere Befunde auf ihre heutige Gültigkeit hin
aktuellen und repräsentativen Ergebnissen zu politischen       zu prüfen. Zu den grundsätzlichen Fragen gehört die
Einstellungen und zum politischen Verhalten dieser Perso-      Identifikation derjenigen Mechanismen, die Nähe bzw.
nengruppe. Die vorhandenen Daten ermöglichen es nur            Distanz bestimmter Gruppen zu den verschiedenen Par-

EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 9
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