Mit Ohren, Nase und Gespür - LWL

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Mit Ohren, Nase und Gespür - LWL
Mit Ohren, Nase und Gespür
Michael Wahl ist 38 Jahre alt und blind. Bis er 18 Jahre alt
war, hatte er auf dem rechten Auge noch vier Prozent Sehkraft,
heute ist es nur noch ein Prozent. Dieser vermeintlich kleine
Unterschied bedeutete für ihn damals den Übergang von einer
schweren Sehbehinderung hin zur Blindheit.

Wie er diesen Einschnitt erlebt hat und wie er sich heute in
der Welt bewegt, hat Michael Wahl bis Ende Mai 2019 in der
zeitlosen Kolumne „Von hier an blind“ für die Online-Ausgabe
des Magazins der Süddeutschen Zeitung aufgeschrieben. In
insgesamt acht Folgen berichtet der Autor von seinen
Erfahrungen mit seiner Behinderung, davon, wie er andere
Menschen wahrnimmt, von den Bereicherungen, die er durch seine
Blindheit erfährt, aber auch von seinen Ängsten. Und er
erzählt, welche Lösungen er sich immer wieder sucht, wenn er
mit schwierigen Alltagssituationen konfrontiert ist.

In der fünften Folge der Kolumne, die wir für euch verlinkt
haben, erklärt Michael Wahl, der als Referatsleiter im Sozial-
und Gesundheitsministerium Rheinland-Pfalz arbeitet, wie seine
Arbeitswelt funktioniert und welche App sein Leben
revolutioniert hat.
(Spoiler: Es ist die App „Be My Eyes“, die Menschen ohne
Sehbehinderung mit blinden oder stark sehbehinderten Menschen
verknüpft. Das Konzept: Wenn jemand mit Sehbehinderung im
Alltag auf ein Hindernis stößt und schnell mal die Hilfe eines
Sehenden braucht, kann sie oder er über die App suchen, ob aus
der sehenden Community gerade jemand in der Nähe ist und
unterstützen kann.)
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„Die   Arbeitswelt                           braucht
Querdenkerinnen                                  und
Querdenker“

Herr Kuhlemann, wie kamen Sie auf die
Idee, ein Unternehmen zu gründen, das
Menschen   mit   Autismus  im   Beruf
unterstützt?
René Kuhlemann: Ich habe einen sehr persönlichen Bezug zu dem
Thema, genauso wie Dirk Müller-Remus, mit dem ich das
Unternehmen zusammen gegründet habe. Ich bin selbst Asperger-
Autist und Dirks Sohn ebenfalls. Dirk und mich hat es sehr
beschäftigt, dass so viele Autisten in Deutschland arbeitslos
sind – und das, obwohl viele von ihnen überdurchschnittliche
Kenntnisse und Fähigkeiten haben. Deshalb haben wir überlegt,
wie wir Autisten dabei unterstützen können, ihre Stärken
besser zu nutzen und einen Platz im ersten Arbeitsmarkt zu
finden. Dirk hat mit dieser Idee auch schon in seinem ersten
Start-Up auticon sehr gute Erfahrungen gemacht, das allerdings
eine reine IT-Beratung ist und ausschließlich autistische IT-
Consultants beschäftigt. Mit Diversicon wollen wir eine
größere Zielgruppe ansprechen, also Autisten, deren Interessen
und Talente außerhalb des IT-Bereichs liegen oder die weniger
belastbar sind und nicht in wechselnden Projektumfeldern
arbeiten können.

Frau Ollech, Sie sind kurz nach der
Gründung eingestiegen. Hatten auch Sie
vor Diversicon einen so direkten Bezug
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zum Thema?
Sally Ollech: Nein, für mich war die Auseinandersetzung mit

Autismus und Neurodiversität [?] neu. Aber die Idee hat mich
damals sofort überzeugt und begeistert. Ich habe außerdem 2012
die   Organisation     „querstadtein“     mitgegründet,    die
Stadtführungen durch Berlin und Dresden anbietet, die von
obdachlosen und geflüchteten Stadtführerinnen und -führern
geleitet werden. Ich hatte also schon Erfahrung mit dem
sozialunternehmerischen Ansatz, auf die Ressourcen und Stärken
von   Menschen     zu   setzen.    Diese   Erfahrungen     der
Organisationsentwicklung bringe ich jetzt bei Diversicon mit
ein. René ist der Experte für das Thema Autismus in unserem
Geschäftsleitungsteam – das ergänzt sich sehr gut.

 Dirk und mich hat es sehr beschäftigt, dass so viele Autisten
 in Deutschland arbeitslos sind – und das, obwohl viele von
 ihnen überdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten haben.
 Sally Ollech

Wie unterstützen Sie mit Diversicon
Menschen mit Autismus konkret bei der
Berufswahl und im Beruf?
Ollech: Wir haben unser Angebot in drei Bausteine aufgeteilt.
Das erste Element ist die berufliche Orientierung. Wir
unterstützen Autistinnen und Autisten in einem achtwöchigen
Kurs dabei, ihre Stärken zu erkennen und sich konkrete
berufliche Ziele zu stecken. Im zweiten Schritt beraten und
begleiten wir die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer während
der anschließenden Bewerbungsphase. Und wenn sie eine feste
Stelle gefunden haben, bieten wir ihnen als dritten Baustein
an, sie mit einem Jobcoaching weiterhin zu begleiten. In
Zukunft möchten wir unser Angebot noch erweitern und gezielt
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Schülerinnen und Schüler beim Übergang in den Beruf
unterstützen. So könnten künftig mehr junge Menschen im
Autismus-Spektrum direkt nach dem Schulabschluss auf dem
Arbeitsmarkt Fuß fassen und einen Beruf wählen, der gut zu
ihnen passt.

Kuhlemann: In der Bewerbungsphase schalten wir uns auch aktiv
ein, indem wir auf die potentiellen Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber zugehen. Die dadurch entstehenden direkten
Kontakte zwischen Firmen und Bewerberinnen und Bewerbern wären
anders oftmals nicht zustande gekommen. Ein wichtiger Teil
unseres Konzeptes ist es auch, die Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber zu beraten und dabei zu unterstützen,
vielfältigere Teams in ihren Firmen aufzubauen. Und wir
informieren und sensibilisieren die Arbeitsagenturen und
Jobcenter für das Thema. In Zukunft wollen wir noch mehr tun
und eine autismusspezifische Sozial- und Teilhabeberatung
aufbauen.

Wer darf Ihre Angebote nutzen?
Kuhlemann: Grundsätzlich alle Menschen im Autismus-Spektrum.
Bisher hatten wir Teilnehmerinnen und Teilnehmer von 19 bis 54
Jahren dabei, es gibt also in keine Richtung eine
Altersbegrenzung. Wer möchte, kann sich online mit ein paar
Angaben zu ihrer oder seiner Person und zum bisherigen
Werdegang bewerben. Es ist übrigens nicht zwingend nötig, eine
Diagnose einzuholen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie lang
die Wartezeiten bei den verschiedenen Diagnosestellen oft
sind, außerdem möchte ja auch nicht jede und jeder die Tests
und Untersuchungen dafür machen. Unser Ansatz ist es deshalb,
nach der Anmeldung zum Kurs erst einmal ausführlich mit jeder
Interessentin und jedem Interessenten zu sprechen. Wir möchten
sie so kennenlernen und können danach besser einschätzen, ob
ein Kurs bei Diversicon sie weiterbringen kann oder nicht.
Entscheidend ist auch, ob jemand motiviert an die Sache
herangeht und ob sie oder er in eine Kursgruppe passt.
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Was kosten Ihre Kurse und Coachings und
wo finden sie statt?
Ollech: Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind unsere
Leistungen kostenlos. Je nach Zuständigkeit werden die Kurse,
Beratungen und Coachings durch die Agentur für Arbeit, das
Jobcenter oder die Rentenversicherung finanziert. Allerdings
gibt es uns bisher nur in Berlin. Grundsätzlich können sich
zwar gerne auch Interessentinnen und Interessenten aus anderen
Bundesländern zu unseren Kursen anmelden und sie werden dabei
in der Regel auch vom zuständigen Träger unterstützt. Doch da
unser Kurs zwei Monate dauert, müssen Teilnehmerinnen und
Teilnehmer von außerhalb für diese Zeit eine Unterkunft in
Berlin finden. Das ist leider nicht allen möglich.
Mittelfristig wollen wir unsere Kurse und die Jobvermittlung
aber auch in anderen Regionen Deutschlands anbieten.

 Es ist nicht zwingend nötig, vor der Anmeldung zu unseren
 Kursen eine Autismus-Diagnose einzuholen. Wir sprechen vorher
 einfach ausführlich mit jeder Interessentin und jedem
 Interessenten.
 René Kuhlemann

Ihr Ansatz ist es, auf die Stärken von
autistischen Menschen zu schauen. Welche
sind das?
Kuhlemann: Dazu gibt es einen schönen Satz aus der Community:
„Kennst Du einen Autisten, kennst Du einen Autisten.“ Wie alle
Menschen haben also auch Menschen im Autismus-Spektrum sehr
individuelle und unterschiedliche Fähigkeiten. Es gibt dennoch
einige Stärken, die tatsächlich bei fast allen vorhanden sind.
Zum Beispiel haben die meisten Autistinnen und Autisten ein
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hohes Qualitätsbewusstsein und einen guten Blick für Details.
Dadurch können sie Zusammenhänge und Muster oft besonders
schnell erkennen. Auch ein intuitives Verständnis für
technische Systeme kommt häufiger vor – und manche sind in den
Bereichen Entwicklung und Design besonders gut.

Ollech: Menschen im Autismus-Spektrum nehmen viele Dinge etwas
anders wahr als ihre Kolleginnen und Kollegen. Dadurch kommen
sie oft auf neue und ungewöhnliche Lösungen. Die moderne
Arbeitswelt braucht solche Querdenkerinnen und Querdenker, um
innovativ und effizient arbeiten zu können und sich für die
Zukunft aufzustellen.

Welche Branchen und Berufe passen
besonders gut zu diesen Fähigkeiten?
Kuhlemann: Das hängt ganz davon ab, was unsere Teilnehmerinnen
und Teilnehmer können und wollen – und was potentielle
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber suchen und anbieten können.
Wir stecken immer zuerst mögliche Aufgabenfelder ab, die zu
den individuellen Stärken der Teilnehmenden passen. Das können
zum Beispiel Bereiche wie Recherche und Analyse oder
Strukturierung und Optimierung sein. Oft ist auch die
Fähigkeit   gefragt,   anspruchsvolle    Soll-Ist-Abgleiche
durchzuführen, oder ein ausgeprägtes kreativ-künstlerisches
Talent. Im zweiten Schritt suchen wir nach passenden Berufen.
Dabei denken wir immer branchenübergreifend. Unsere Kurs-
Absolventinnen und -Absolventen haben so schon in ganz
verschiedenen Bereichen Arbeit gefunden, zum Beispiel im
öffentlichen Dienst, im Grafikbereich, bei einer
Sicherheitsfirma, in der technischen Gebäudeausstattung, in
der Wissenschaft oder im Bereich Erneuerbare Energien.

Gibt es auch Berufe, die gar nicht für
Autisten geeignet sind?
Ollech: Das werden wir auf Veranstaltungen oft gefragt.
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Pauschal lässt sich aber auch das nicht beantworten. Jeder
Autist, jede Autistin ist eben anders. Daher schließen wir
erstmal keinen Berufswunsch aus, nicht mal Mitarbeit im
Vertrieb – das ist sicherlich kein klassisches Tätigkeitsfeld
für die Mehrheit der Autistinnen und Autisten. Aber ich kenne
einen Autisten, der unglaublich guten Vertrieb für seine Idee
macht und einfach selber Unternehmer geworden ist. Die Tendenz
ist, dass es meistens dann nicht gut passt, wenn Ehrlichkeit
und Offenheit in einem Job nicht erwünscht sind. Viele
Autistinnen und Autisten haben nämlich ein ausgeprägtes
Gerechtigkeitsempfinden und für sie ist Ehrlichkeit sehr
wichtig.

Welche     Rahmenbedingungen      müssen
Unternehmen schaffen, damit Autistinnen
und Autisten gut arbeiten können?
Kuhlemann: Auch das ist sehr verschieden, und wir erleben in
unseren Kursen immer wieder, dass es da kein Patentrezept
gibt. Deshalb klären wir das bei jeder Job-Vermittlung
individuell ab. Einige Beispiele: Viele unserer Kandidatinnen
und Kandidaten bevorzugen ein reizarmes Umfeld. Sie mögen kein
grelles Neonlicht und wollen auch keinen unruhigen
Arbeitsplatz direkt am Gang oder in einem Großraumbüro. Wenn
sich das nicht vermeiden lässt, der Job ansonsten aber gut
passt,       können       Rückzugsmöglichkeiten          oder
geräuschunterdrückende Kopfhörer schon eine Lösung sein.
Einige wünschen sich in ihren Berufen wenig oder gar keinen
Kundenkontakt, weil soziale Interaktionen sie sehr anstrengen.
Andere wiederum können sich das durchaus vorstellen und mögen
es sehr, anderen Sachverhalte zu erklären, die sie
interessieren.

Ollech: Struktur und Eindeutigkeit sind ebenfalls sehr
wichtig. Deshalb sollten im Unternehmen sämtliche Abläufe,
Aufgaben und Ansprechpartnerinnen und -partner klar definiert
sein. Das klingt banal, ist im Arbeitsalltag aber oft eine
Herausforderung. Die meisten Menschen reden zum Beispiel oft
in Konjunktiven und Floskeln, ohne es zu merken. Für
Autistinnen und Autisten sind die „versteckten“ Botschaften
und Dinge „zwischen den Zeilen“ schwer zu entschlüsseln.
Abhilfe schafft eine möglichst klare und direkte Sprache.
Vielfalt in einem Team setzt unserer Erfahrung nach einerseits
große Potenziale frei, bedeutet aber eben auch Arbeit. Es ist
daher wichtig, dass die Teamleiterinnen und -leiter eines
Unternehmens dazu bereit sind, ein inklusives, diverses Team
zu führen, und das gesamte Kollegium offen und empathisch auf
die neuen Perspektiven zugeht, die da ins Team kommen.

Foto:
Diversicon

Über unsere Interviewpartner
René Kuhlemann
Geburtsjahr: 1975
Wohn-/Arbeitsort: Berlin
Beruf: Gründer und Geschäftsführer von Diversicon
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: ist selbst
Asperger-Autist und hat langjährige Erfahrung aus der
Unternehmensberatung
Foto:
Diversicon

Sally Ollech
Geburtsjahr: 1983
Wohn-/Arbeitsort: Berlin
Beruf: Mitglied der Geschäftsleitung bei Diversicon
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: hat Freude an
Vielfalt und langjährige Erfahrung als Sozialunternehmerin

Für die Region Westfalen-Lippe:

Angebote und Unterstützung für Autistinnen und
Autisten
Auch der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) berät und
unterstützt Menschen im Autismus-Spektrum. Hier haben wir die
wichtigsten Angebote und Anlaufstellen nach Situationen und
Lebensbereichen für euch aufgelistet:

⸺ Diagnose und Beratung: Die Autismus-Ambulanz der LWL-Klinik
Dortmund ist eine der wenigen Ambulanzen in Deutschland, die
nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene Diagnosen
stellt.    Wer   möchte,    kann    sich   hier   in   einer
Spezialsprechstunde beraten lassen und wird bei Bedarf an
andere Anlaufstellen weitervermittelt.

⸺ Wohnen: Autistinnen und Autisten, die Schwierigkeiten mit
der Organisation des Alltags haben, können sich in einer
Wohngruppe für Menschen im Autismus-Spektrum dabei
unterstützen lassen. Dieses Angebot des LWL-Wohnverbunds
Marsberg richtet sich vor allem an Jugendliche und junge
Erwachsene. In der Wohngruppe können bis zu acht Personen
leben. Darüber hinaus bietet auch das LWL-Inklusionsamt
Soziale Teilhabe Plätze in Wohngruppen an.

⸺ Arbeit: Ansprechpartner zu allen Fragen rund um das Thema
„Autismus und Arbeit“ sind die Integrationsfachdienste, die im
Auftrag des LWL arbeiten. In 20 regionalen Anlaufstellen
beraten und unterstützen sie Menschen mit Behinderung und
Menschen im Autismus-Spektrum, die eine Arbeitsstelle suchen.
Bei Bedarf begleiten die Fachkräfte auch im Berufsleben
weiter. Sie sind in den Kreisen und kreisfreien Städten der
Region gut vernetzt und kennen dort potentielle
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Sie beraten auch die
Unternehmen zum Beispiel dabei, einen Arbeitsplatz optimal
auszustatten.

Auch mit einem Jobcoaching des LWL-Inklusionsamtes Arbeit
können sich Menschen im Autismus-Spektrum und Menschen mit
Behinderung im Beruf begleiten lassen. Jobcoaches besuchen
regelmäßig den Arbeitsplatz, unterstützen im Berufsalltag und
vermitteln bei Bedarf zwischen der Arbeitnehmerin oder dem
Arbeitnehmer, dem Unternehmen und den Kolleginnen oder
Kollegen. Das kann vor allem dann sehr hilfreich sein, wenn
das Arbeitsverhältnis gerade erst begonnen oder wenn es
Veränderungen im Betrieb gegeben hat.
Das   Jobcoaching     und   die   Begleitung  durch   die
Integrationsfachdienste sind Unterstützungsangebote für
Menschen    mit   einer   Schwerbehinderung  oder   einer
Gleichstellung.
Raum für Inklusion                               –     und
viele neue Ideen

Frau Trzecinski, welchen persönlichen
Bezug haben Sie zum Thema Inklusion?
Das Thema beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Mein Vater
war schwerhörig, das hat er anderen Menschen aber nie offen
gesagt. Deshalb gab es in Gesprächen mit Fremden oft Probleme.
Wir Kinder haben in diesen Situationen früh vermittelt und
versucht, Missverständnisse aufzuklären. Diese Erfahrung hat
mich sicher stark beeinflusst. Später habe ich
Sonderschulpädagogik studiert, anschließend aber erst einmal
als Managerin bei Microsoft gearbeitet.

Wie sind Sie aus dieser Situation heraus
auf die Idee gekommen, einen inklusiven
Coworking-Space zu starten?
Ich wollte etwas Neues machen und dabei meine Erfahrungen aus
der freien Wirtschaft und dem Bildungsbereich einbringen. 2010
habe ich „KOPF, HAND + FUSS“ gegründet, eine gemeinnützige
Organisation, die sich mit verschiedenen Medien-Projekten für
eine inklusive Gesellschaft einsetzt. Zum Beispiel haben wir
eine App entwickelt, mit der Jobcenter-Formulare in Deutscher
Gebärdensprache erklärt werden. Eine weitere Entwicklung war
IRMGARD: Mit dieser App können Menschen, die nicht schreiben
und lesen können, damit anfangen und es lernen.
Das Besondere bei uns ist, dass wir bei jedem Projekt von
Anfang an mit Leuten aus der Zielgruppe zusammenarbeiten.
Dadurch habe ich viele tolle Menschen kennengelernt, die ganz
unterschiedliche Behinderungen haben. Einige davon wollten
sich gerne selbständig machen, fanden aber keinen passenden
Arbeitsort. In Berlin gibt es zwar über 100 Coworking-Spaces,
aber bisher keinen einzigen barrierefreien. Deshalb haben wir
2017 selbst ein solches Büro eröffnet. Seither bieten wir
verschiedene Arbeitsplätze auf insgesamt 760 Quadratmetern an,
darunter ein Gemeinschaftsbüro mit 20 Schreibtischen und
mehrere Konferenzräume, die wir für Veranstaltungen vermieten.

 Das Besondere bei uns ist, dass wir bei jedem Projekt von
 Anfang an mit Leuten aus der Zielgruppe zusammenarbeiten.
 Dadurch habe ich viele tolle Menschen kennengelernt, die ganz
 unterschiedliche Behinderungen haben.
 Stefanie Trzecinski

Wen wollen Sie mit diesem Angebot
ansprechen und wer nutzt Ihre Büros
bisher?
Bei uns arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen, unser
Angebot gilt also für jede und jeden. Das ist unser
Verständnis von Inklusion, das „Anderssein“ ist bei uns
normal. Die meisten unserer Coworkerinnen und Coworker ohne
Behinderung kommen aus dem Bezirk Wedding, diejenigen mit
Behinderung aus ganz Berlin. Sie arbeiten für Vereine, Start-
ups oder als Freiberufler.
Aktuell haben wir 20 solcher Nutzerinnen und Nutzer, sind
damit aber noch nicht ausgebucht. Hinzu kommen Firmen,
Stiftungen und Vereine, die ab und zu unsere Meetingräume
anmieten. Sie kommen meist deshalb zu uns, weil wir
barrierefrei sind, und nutzen etwa unsere kostenfreie
induktive Höranlage für ihre Veranstaltungen oder unsere Bühne
mit Rampe. Daran freut mich besonders, dass ich den Leuten
schon bei der ersten Begehung unserer Räume zeigen kann, wie
Inklusion ganz einfach funktionieren und dazu auch noch
ansprechend gestaltet sein kann. Sie verlassen uns also immer
mit einem sehr positiven Eindruck.
Was bedeutet „barrierefrei“ bei Ihnen
genau und wie unterscheiden Sie sich
diesbezüglich von anderen Coworking-
Spaces?
Zunächst einmal gibt es bei uns keine Schwellen und die Türen
sind breit genug für jeden Rollstuhl. Auch die Toiletten sind
so gebaut. Das ist aber nicht unser Alleinstellungsmerkmal,
denn diese Infrastruktur bieten manche anderen Coworking-
Spaces auch.
Das Entscheidende ist, wie unsere Arbeitsplätze eingerichtet
sind und dass sie individuell angepasst werden können. Zum
Beispiel sind alle unsere Schreibtische elektrisch
höhenverstellbar. Außerdem stellen wir auch inklusive Möbel
bei uns auf, die wir selbst zusammen mit Designerinnen und
Designern entwickelt haben. Den „konFAIRenztisch“ etwa: Er hat
drei unterschiedliche Höhen, damit beispielsweise Menschen mit
einem Rollstuhl darunter bequem Platz nehmen und die
Arbeitsfläche optimal nutzen können.
Auch kleinwüchsige Menschen können so an einer für sie
passenden Tischhöhe sitzen. Der konFAIRenztisch hat außerdem
keine Tischbeine, so dass Menschen mit Sehbehinderungen sich
nicht daran stoßen oder stolpern können. Den Tisch haben wir
zusammen mit dem Verein „be able“ entworfen und bei der
Planung mit Menschen zusammengearbeitet, die verschiedene
Bedürfnisse und Anforderungen an ein solches Möbelstück haben.
So machen wir es bei all unseren Projekten. Unser neuestes ist
der Designer-Sessel „Schaumlove“, der komplett aus Schaumstoff
besteht und deshalb auch für Menschen mit spastischen
Behinderungen sehr bequem ist.
Türklinke, die auch kleinere Menschen oder Menschen mit
Rollstuhl gut bedienen können. Foto: Stefanie Trzecinski
Ein flexibles 3D-Modell ermöglicht es Menschen mit
Sehbehinderung, sich im Coworking-Space zu orientieren.
Foto: Sascha Collet, figures cc

Der konFAIRenztisch mit unterschiedlich hohen Ebenen.
Foto: Matthias Steinbrecher
Wer möchte, kann sich bei Ihnen auch von
einer Assistentin oder einem Assistenten
am    Arbeitsplatz     begleiten     und
unterstützen lassen. Was ist das für ein
Angebot?
Das sind so genannte Assistenzleistungen, die unsere
Coworkerinnen und Coworker je nach Bedarf wahrnehmen können.
Wer sich beispielsweise gerade von einem Burn-Out erholt oder
eine andere psychische Erkrankung hat, kann sich von unserer
Psychologin begleiten lassen, die im Alltag individuell
unterstützt und etwa dabei hilft, mit Stresssituationen besser
umzugehen. Außerdem können wir mehrere Arbeitsassistentinnen
und -assistenten zur Verfügung stellen, die auf Wunsch bei der
Arbeit unterstützen. Auch wir vom TUECHTIG-Team helfen in
verschiedenen Situationen gerne weiter. Wenn jemand zum
Beispiel nicht gut Deutsch spricht, korrigieren wir für sie
oder ihn Texte, etwa für E-Mails. Und wenn eine Website nicht
mit dem Screenreader gelesen werden kann, lesen wir sie
einfach vor.

Das ist eine Menge an Angeboten und
Leistungen. Würden Sie sagen, dass
TUECHTIG damit komplett barrierefrei und
inklusiv ist – oder fallen Ihnen im
Alltag manchmal Punkte auf, die Sie noch
verbessern wollen?
Ich bin mir sicher, dass wir niemals fertig sein werden. Wir
nehmen regelmäßig die Rückmeldungen unserer Kundinnen und
Kunden auf, außerdem kommen uns selbst ständig neue Ideen, die
wir auch umsetzen. Ein Beispiel: Bisher hatten wir nur Türen
mit normalen Klinken. Die sind für kleinwüchsige Menschen aber
zu hoch. Anders gebaute Türklinken gibt es bisher nicht auf
dem Markt, also entwickeln wir jetzt gemeinsam mit dem
Designer Bruno Ziebell selbst welche, die weiter nach unten
reichen.

Ein anderes Thema ist die Orientierung in unseren Räumen: Wir
brauchen ein Tastmodell unseres Coworking-Spaces, damit blinde
Menschen begreifen können, wie unsere Räume aussehen.
Normalerweise sind sie statisch und können nicht mehr
angepasst werden, wenn sie einmal fertig sind. Wir verändern
unsere Räume allerdings täglich, stellen mal Tische in U-Form
auf, mal gar keine Tische und stattdessen nur Stühle. Deshalb
entwickeln wir jetzt ein flexibles Tastmodell gemeinsam mit
blinden und sehbehinderten Menschen und der Firma „Figures“,
die ebenfalls im TUECHTIG arbeitet. Wir haben dafür kürzlich
einen 3D-Drucker angeschafft, den wir von einem Preisgeld
finanziert haben. Mit diesem Gerät können wir nun
maßstabsgetreue Miniatur-Möbel herstellen, die sich flexibel
versetzen lassen.

Sind durch solche Kooperationen innerhalb
des Coworking-Spaces selbst schon einmal
neue Ideen für Projekte oder Produkte
entstanden?
Ja, so einige! Zum Beispiel aus der gemeinsamen Arbeit an
unserem Tastmodell: Die Coworkerinnen und Coworker der Firma
„Figures“ entwickeln unter anderem Info-Grafiken für Online-
Zeitungen. Sie übertragen ihre Erfahrungen aus der Kooperation
im TUECHTIG nun auf diese Arbeit. Gerade überlegen sie, wie
Info-Grafiken im Netz auch für Blinde und Menschen mit
Sehbehinderung erfahrbar werden könnten. Das Tolle daran ist,
dass sie selbst diese Idee hatten – wir von TUECHTIG hatten
damit nichts zu tun.
Möchten Sie Ihre Entwicklungen bald auch
größer vermarkten, Ihre Möbel oder das
flexible Tastmodell zum Beispiel zum Kauf
anbieten?
Nein, dazu fehlen uns die Kapazitäten, außerdem ist das nicht
unser Ziel. Wir möchten mit unserem Konzept etwas bewegen und
zeigen, wie Inklusion in der Arbeitswelt funktionieren kann,
ohne dass die Räume aussehen wie im Krankenhaus. Aber: Wir
nehmen durchaus Einzelaufträge an und bauen auf Wunsch zum
Beispiel einen konFAIRenztisch oder ein Tastmodell für andere
Einrichtungen nach. Unsere Ideen sind außerdem nicht
patentrechtlich geschützt, also sozusagen „Open Source“. Wer
handwerklich geschickt ist, darf unsere Möbel gerne nachbauen.

Foto:   Helen
Nicolai/HelenN
icolai
BusinessPortra
its

Über unsere Interviewpartnerin
Name: Stefanie Trzecinski
Geburtsjahr: 1972
Wohn-/Arbeitsort: Berlin
Beruf: Gründerin und Geschäftsführerin von „KOPF, HAND + FUSS“
und des TUECHTIG und Lehrbeauftragte an der Humboldt-
Universität Berlin
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: hatte einen
Angehörigen, der schwerhörig war und deshalb oft von seinen
Mitmenschen ausgegrenzt wurde.

Passt perfekt!

Herr Demblin, was war Ihr Antrieb, sich
beruflich    mit     sozialen    Themen
auseinanderzusetzen?
Mir ist das aus persönlichen Gründen wichtig, weil ich das
Leben sowohl mit als auch ohne Behinderung kenne. Ich hatte
mit 19 einen Badeunfall und lebe seither mit Rollstuhl. Ab
diesem Zeitpunkt wurde ich komplett anders behandelt, auch auf
dem Arbeitsmarkt. Ich habe also am eigenen Leib erlebt, wie
sich das Verhalten der Menschen im eigenen Umfeld verändern
kann, wenn so etwas passiert und man dann plötzlich mit einer
Behinderung lebt, die für alle sichtbar ist. Deshalb möchte
ich das Leben auch von anderen Menschen mit Behinderung
positiv verändern. In der Wirtschaft liegt dafür aus meiner
Sicht das größte Potenzial.

Warum sehen Sie dort besonders große
Möglichkeiten?
Weil Menschen nur auf allen Ebenen unserer Gesellschaft
teilhaben können, wenn sie einen Job haben. Dann verdienen sie
ihren Lebensunterhalt eigenständig, können selbstbestimmt
leben und sich beruflich wie privat weiterentwickeln und
beweisen. Auf der anderen Seite liegt gerade bei Unternehmen
ein großes Potenzial für Inklusion. Wenn dort Barrierefreiheit
überall mitgedacht wird, intern wie extern, baulich, aber auch
in den Köpfen, profitieren alle davon. So wird die Offenheit
in der gesamten Gesellschaft gefördert. Dieses neue und
umfassende „über den Tellerrand denken“ schafft ein ungeheures
Innovationspotenzial.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Stellen Sie sich vor, eine Mitarbeiterin mit einer
Höreinschränkung beginnt in einer neuen Abteilung. Durch eine
offene Kommunikation über das, was sie in ihrem Arbeitsumfeld
braucht, werden die anderen Kolleginnen und Kollegen animiert,
ebenfalls über ihre eigenen Bedürfnisse nachzudenken. So
werden Potenziale freigesetzt, die sonst vielleicht nicht
erkannt worden wären, und diese kann das Unternehmen gezielt
fördern. Damit lässt sich die Leistung der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter oft deutlich steigern.

Wie haben sie konkret damit begonnen, die
Themen Arbeit und Inklusion zu verbinden?
Gemeinsam mit meinem Kollegen Wolfgang Kowatsch hatte ich im
Jahr 2009 die Idee, die inklusive Jobplattform myAbility.jobs
zu entwickeln (früher: Career Moves). Unternehmen können dort
Arbeitsplätze anbieten und ausdrücklich Menschen mit
Behinderung ansprechen. Das Konzept ist, dass ganz normale
Arbeitsstellen ausgeschrieben und keine extra Stellen
geschaffen werden – wir wollen die Unternehmen also zu
gelebter Inklusion animieren.
Schon in der Anfangszeit haben wir schnell gemerkt, dass viele
Betriebe bei diesem Thema grundsätzliche Unterstützung
benötigen. Sie sind oft unsicher, was genau sie tun müssen, um
inklusive Bedingungen in ihren Unternehmen herzustellen.
Deshalb haben wir die Unternehmensberatung „myAbility“
gegründet. Damit und mit unserem DisAbility-Talent-Programm
arbeiten wir täglich daran, unserer Vision einer
chancengerechten und barrierefreien Welt näher zu kommen.

 Wir haben gemerkt, dass viele Betriebe bei diesem Thema
 grundsätzliche Unterstützung benötigen. Sie sind oft
 unsicher, was genau sie tun müssen, um inklusive Bedingungen
 in ihren Unternehmen herzustellen.
 Gregor Demblin

Worum geht          es    im    DisAbility-Talent-
Programm?
Inklusion ist ja nicht erst auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
wichtig, sondern auch schon vorher, an den Schulen und Unis.
Dort werden die Weichen für Karrieren gestellt und die
Nachwuchskräfte von morgen ausgebildet. Das DisAbility-Talent-
Programm schafft hier Berührungspunkte und „matcht“
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit hoch qualifizierten
Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, die
potenzielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Betriebe
sein könnten. Zu unseren Zielgruppen zählen Studierende und
junge Absolventinnen und Absolventen, die zum Beispiel Seh-,
Hör- oder Mobilitätseinschränkungen, Legasthenie, Epilepsie,
psychische Erkrankungen oder Diabetes haben. Die Unternehmen
treffen diese jungen Menschen im Rahmen unseres Programms und
lernen sie näher kennen. Die Studierenden wiederum lernen in
Gruppen- und Einzelcoachings, sich zu präsentieren und ihre
Behinderung als Karrierefaktor zu sehen. So gewinnen beide
Seiten: Die Unternehmen lernen potenzielle zukünftige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen, die Studierenden
können zukünftige Arbeitsbereiche aktiv erkunden.
Aus welchen Elementen                     besteht        das
Programm genau?
Es gibt mehrere Veranstaltungen und Formate, die den
Studierenden dabei helfen, ihre Karriere zu planen. Dazu
zählen Gruppencoachings, bei denen die jungen Talente mit
einem Medientrainer an ihrer Wirkung und Körpersprache
arbeiten, um auf Bewerbungsgespräche gut vorbereitet zu sein.
In Einzelcoachings wird individuell über das Thema Karriere
und die nächsten Schritte gesprochen. Beim Karriereworkshop
wird das Thema Behinderung und Karriere erörtert, außerdem
werden Tipps für die so genannten Job-Shadowings gegeben.
Dabei begleiten Studierende eine erfahrene Mitarbeiterin oder
einen erfahrenen Mitarbeiter eines Unternehmens im
Arbeitsalltag und schauen ihr oder ihm über die Schulter. Das
Highlight des Programms ist aber der Matching Day.

Was geschieht beim Matching Day?
Die Talente lernen an diesem Tag bei einem Speeddating die
Personalverantwortlichen unserer Partnerunternehmen kennen.
Sie wenden also das erste Mal das Gelernte aus den Coachings
an, aber in einem sicheren Rahmen. Bei den Job-Shadowings
können sie außerdem das erste Mal einen Blick in Abteilungen
werfen, in denen sie später vielleicht einmal arbeiten werden.
Dieser Teil ist auch der wertvollste des DisAbility-Talent-
Programms, weil die Studierenden dabei Kontakte aufbauen, sich
fachlich austauschen und Berührungsängste abbauen können. Das
gleiche gilt umgekehrt auch für die Unternehmen.

Welchen    Anreiz   bieten                     Sie   den
Unternehmen,    bei   Ihrem                     Programm
mitzumachen?
Mehr als elf Prozent der Studierenden in Deutschland geben an,
eine Behinderung zu haben. Gleichzeitig ist der Anteil an
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Behinderung in
österreichischen wie deutschen Unternehmen deutlich geringer.
Das möchten wir zusammen mit den Unternehmen gern ändern.
Durch das DisAbility-Talent-Programm schaffen wir eine
Plattform, mit der unsere Partnerunternehmen hochqualifizierte
Studierende mit Behinderung kennenlernen können. Sie können so
einem möglichen Fachkräftemangel in Zukunft besser begegnen
und zugleich etwas zur Inklusion auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt beitragen.

Wie gut funktioniert das Programm bisher?
Sehr gut, denn wir merken, dass viele Studierende noch sehr
wenig Bewerbungserfahrung und demnach viele Fragen haben. Im
Programm gibt es darauf konkrete Antworten, außerdem
profitieren die jungen Menschen von allen Formen des
Coachings. Den Erfolg des Programms können wir übrigens auch
an Zahlen belegen: Mehr als 25 Prozent unserer Teilnehmerinnen
und Teilnehmer haben durch DisAbility-Talent-Programm später
eine Festanstellung oder ein längeres Praktikum bekommen

Über DisAbility Talent
Das DisAbility-Talent-Programm startete 2015 in Österreich und
fand dort seither insgesamt drei Mal statt. Die
Partnerunternehmen waren unter anderem die UniCredit Bank
Austria, IBM, REWE, PwC, die Wirtschaftskammer Österreich, die
Caritas, die Österreichischen Lotterien, Takeda und die
Oesterreichische Nationalbank.
Wegen des großen Erfolgs startet das Programm im Jahr 2019
auch in Deutschland. In Berlin und München findet je eine
Pilotphase mit Unternehmen wie SAP, dem Robert Koch Institut,
SANOFI, BASF, Axel Springer, PwC, dem Flughafen München, EY
(Ernest & Young), Siemens, der Allianz und der Swiss Re. 2020
soll das Programm auf die Städte Zürich und Frankfurt am Main
ausgeweitet werden.
In Berlin läuft das Programm schon. Für München können sich
Interessierte aller Studienrichtungen noch bis zum 26. Mai
2019 per Mail an talents@myability.org mit einem Lebenslauf
und einem kurzen Motivationsschreiben bewerben. Hier findet
ihr weitere Infos zum Zeitplan und zum Ablauf.

Foto: Udo Titz

Über unseren Interviewpartner
Name: Gregor Demblin
Geburtsjahr: 1977
Wohn-/Arbeitsort: Wien
Beruf: Gründer der sozialen Unternehmensberatung myAbility
Social Enterprise GmbH und der inklusiven Jobplattform
myAbility.jobs; organisiert zusammen mit seinem inklusiven
Team das DisAbility Talent Programm, das ab dem Frühjahr auch
in Deutschland Studierende mit Behinderung mit Unternehmen
zusammenbringt.
(Persönlicher Bezug   zum   Thema)   Behinderung:   ist   selbst
querschnittsgelähmt und Rollstuhlnutzer.
„Damit hatten wir überhaupt
nicht gerechnet“
Eduard Wiebe hebt eine Einkaufstasche aus seinem
Rollstuhlanhänger, dabei rieseln ein paar goldene
Konfettischnipsel zu Boden. „Die sind noch von der
Siegerehrung bei ProSieben“, sagt er grinsend. Er sammelt die
glänzenden Schnipsel auf und legt sie auf seinen Schreibtisch.

Ende März 2019 stand der Fertigungsleiter des Bielefelder
Unternehmens Teuto InServ zusammen mit Geschäftsführer und
Mit-Erfinder Andreas Neitzel im Goldregen auf der Bühne der
ProSieben-Erfindershow „Das Ding des Jahres“. 41 Prozent der
Fernsehzuschauer hatten bei der telefonischen Abstimmung im
Finale live für die beiden angerufen und ihre Erfindung
„Rollikup“ zur besten Idee gekürt. Damit wurde die weltweit
erste Anhängerkupplung für Rollstühle auf einen Schlag
bekannt. Und auch das Preisgeld kann sich sehen lassen:
100.000 Euro.

Menschen mit           Behinderung          den     Alltag
erleichtern
„Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet“, sagt Andreas
Neitzel. Eigentlich geht es bei der Show darum, dass die
Zuschauer eine Erfindung wählen, die sie selbst gut gebrauchen
könnten. Dieses Mal stimmte eine überwältigende Mehrheit für
„Rollikup“. Der Name für die Erfindung ist aus den Wörtern
„Rollstuhl“ und „Kupplung“ zusammengesetzt, denn mit ihr
lassen sich Koffer, Kinder- und Transportanhänger mit einer
Hand sicher an Rollstühlen verschiedenster Hersteller
befestigen. Menschen, die mit Rollstuhl leben und Oberkörper
und Arme frei bewegen können, können so viel einfacher und
ohne Hilfe einkaufen, verreisen und mit kleinen Kindern
unterwegs sein – das ist eine große Erleichterung im Alltag.
Geht nicht? Gibt’s nicht!

                                 Neitzel und Wiebe arbeiteten
                                 abends und manchmal auch
                                 nachts an den Entwürfen für
                                 ihre Erfindung, um den
                                 Rollikup perfekt zu machen.
                                 Foto: LWL/Busch

Die „Rollikup“-Erfolgsgeschichte begann im Herbst 2017. Damals
erfuhr das Teuto-InServ-Team von einem Mann, der mit Rollstuhl
lebte und gern allein sein Kind vom Kindergarten
abholen wollte. „Er suchte nach einer Möglichkeit, einen
Kinder-Caddy an seinem Rollstuhl zu befestigen“, erklärt
Wiebe. „Aber Kupplungssysteme für Fahrradanhänger passen nicht
an einen Rollstuhl und sind in der Bedienung auch viel zu
kompliziert. Also dachten wir: Wenn es da noch nichts
Passendes gibt, entwickeln wir das halt.“ Der Betriebsleiter
des Inklusionsunternehmens begann zu tüfteln. Er brütete in
den Mittagspausen zusammen mit Andreas Neitzel über Entwürfen,
arbeitete abends, manchmal sogar nachts zu Hause an seiner
Idee.

Anfang 2018 war der Prototyp fertig. Dafür schraubten die
beiden eine Kupplung dauerhaft an einen Rollstuhl, an der sich
ein Anhänger mit einem Handgriff sicher anklicken und mit
einem weiteren Handgriff wieder lösen lässt. Während der Fahrt
funktioniert die Kupplung wie ein flexibles Kugelgelenk. Die
Nutzerin oder der Nutzer kann so einen Anhänger oder Koffer
bequem um jede Kurve ziehen. Wiebe und Neitzel haben diesen
Entwurf inzwischen weiterentwickelt und einen nur zwölf Kilo
schweren Anhänger konstruiert, mit dem sich zwei große
Einkaufstaschen oder eine Wasserkiste transportieren lassen.
Selbst in einen Auto-Kofferraum passt der Anhänger bequem
hinein.

Eduard Wiebe führt in diesem Zeitraffer-Video vor, wie der
Rollikup-Anhänger, den er und sein Kollege zusätzlich zur
Kupplung entworfen haben, einfach vom Rollstuhl getrennt und
im Auto verstaut werden kann.

„Bewirb dich ruhig, aber das wird sowieso
nichts“
Eine ehemalige Praktikantin brachte Wiebe und Neitzel im
vergangenen Sommer auf eine Idee: Sie schlug vor, dass die
beiden ihre Erfindung doch im Fernsehen vorstellen und sie so
bekannter machen sollten. „Sie empfahl uns ‚Das Ding des
Jahres‘ und schickte uns auch gleich die Bewerbungsunterlagen
mit“, erinnert sich Wiebe lächelnd. „Sie hat sich so viel Mühe
gegeben, dass wir gar nicht anders konnten, als uns zu
bewerben.“ Andreas Neitzel war von der Idee anfangs noch wenig
begeistert. Aber er stimmte zähneknirschend zu: „Ich habe
gesagt: ‚Mach doch, aber das wird sowieso nichts.‘“ Heute
lacht er, wenn er das erzählt. Denn es wurde doch etwas.

„Das Casting war ein Kampf“
Andreas Neitzel und Eduard Wiebe kamen in die engere Auswahl
aus 400 Erfinderinnen und Erfindern, die das Pro7-Team aus
knapp 1.000 Bewerbungen ausgesucht und zum Casting eingeladen
hatte. Im September fuhren sie nach Köln und präsentierten den
„Rollikup“ einer ersten Jury. „Das Casting war ein echter
Kampf“, sagt Wiebe. „Die Konkurrenz war groß und die
Atmosphäre war sehr angespannt, denn es gab ja auch viele
andere Teams, die sich bei mehreren Sendungen gleichzeitig
beworben hatten und unbedingt weiterkommen wollten. Manche
Erfinder hatten sogar ihren Job gekündigt und alles auf eine
Karte gesetzt“, erzählt er.

Olympischer Geist und Zusammenhalt
Doch das Teuto-InServ-Team überzeugte die Casting-Jury. Im
Januar reisten die Bielefelder zum zweiten Mal nach Köln, um
ihren ersten Fernsehauftritt aufzuzeichnen, begleitet von Ines
Rose. Die Geschäftsführerin der Werkhaus GmbH, dem
Mutterunternehmen von Teuto-InServ, hatte die beiden von
Anfang an unterstützt und fieberte nun im ProSieben-Studio im
Publikum mit.

Ihre Idee vor laufender Kamera vorzuführen, war für Neitzel
und Wiebe ein spannendes Erlebnis, aber unter den Teilnehmern
war die Stimmung jetzt lockerer: „Alle Erfinderteams waren im
selben Hotel untergebracht. Dadurch haben wir uns
untereinander schon etwas kennengelernt“, erzählt Andreas
Neitzel. „Wir haben uns nett unterhalten – und statt
Konkurrenzdenken herrschte eher olympischer Geist: Wir hatten
alle sowieso schon gewonnen, indem wir teilnehmen durften.“
Für die „Rollikup“-Erfinder war das tatsächlich so, denn sie
hatten ihr Hauptziel schon mit dem ersten Auftritt erreicht:
Das Kupplungssystem wurde bekannter, noch dazu gab es eine
Menge Lob von der ProSieben-Jury und begeistertes Feedback von
potenziellen Kundinnen und Kunden.
Andreas Neitzel (links), Eduard Wiebe (rechts) und der
Rollikup sind die stolzen Gewinner der ProSieben-Show „Das
Ding des Jahres“. Foto: ProSieben/Willi Weber (Das Ding des
Jahres, Finale Staffel 2, ausgestrahlt am 26. März 2019).

Inklusive Produktion
Doch damit war der Weg noch nicht zu Ende. Die beiden Erfinder
qualifizierten sich für das Finale und setzten sich dort live
gegen die übrigen fünf Finalisten durch. Die Freude war auch
unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Bielefeld
riesig, sagt Neitzel, der nach dem aufregenden Fernsehauftritt
und dem Presserummel noch etwas müde, aber sehr zufrieden
aussieht. „Wir feiern gleich einen dreifachen Sieg. Wir sind
die Gewinner der Show und können das Preisgeld in unser
Unternehmen investieren. Menschen, die mit Rollstuhl leben,
gewinnen durch unsere Erfindung eine Menge Lebensqualität. Und
unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch die
Werkstatt der Werkhaus GmbH selbst haben in Zukunft eine
spannende neue Aufgabe.“
Damit meint er die insgesamt 28 Menschen, die bei Teuto InServ
arbeiten. Zwei Drittel von ihnen haben eine Behinderung. Ihre
Aufgaben: Sie bearbeiten, prüfen und verpacken Bauteile für
einen großen Automobil-Zulieferer und andere Unternehmen. Der
„Rollikup“     ist    das   erste    eigene    Produkt     des
Inklusionsunternehmens, die ersten 1.000 Exemplare der
innovativen Kupplung haben die Mitarbeiter schon gefertigt,
die nächste Charge ist geplant. Von der Produktion profitieren
auch die Beschäftigten in der Werkstatt für Menschen mit
Behinderung der Werkhaus GmbH. Sie fertigen ein Bauteil für
den „Rollikup“ mit ihrer CNC-Maschine.

 „Wir haben eine Menge Anrufe und Nachrichten von
 Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern bekommen, die die Kupplung
 haben wollten. Einige haben sogar gesagt: ‚Egal, was der
 Rollikup kostet, ich brauche sowas!‘“
 Eduard Wiebe

Ein toller Motivationsschub
Die Produktionszahlen steigen, und das ist auch dringend
nötig. Denn der Bedarf nach einer solchen Lösung ist offenbar
riesig. Das haben beiden Erfinder schon nach der Ausstrahlung
der ersten ProSieben-Show gemerkt: „Wir haben eine Menge
Anrufe und Nachrichten von Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern
bekommen, die die Kupplung haben wollten. Einige haben sogar
gesagt: ‚Egal, was der Rollikup kostet, ich brauche sowas!‘“,
erzählt Eduard Wiebe.

Mindestens ebenso wichtig wie das positive Feedback und die
zusätzlichen Umsätze ist für beide Unternehmen aber auch der
Motivationsschub, den sie in den vergangenen Wochen bekommen
haben. „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind
wahnsinnig stolz auf den Erfolg und die vielen positiven
Medienberichte“, sagt die Geschäftsführerin der Werkhaus GmbH
Ines Rose. „Einige unserer Beschäftigten haben die
Zeitungsartikel über die Fernsehshow sogar ausgeschnitten und
an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. Dieses tolle Erlebnis hat
uns allen neuen Schwung gegeben.

Von links nach rechts:
Andreas Neitzel, Ines Rose
und Eduard Wiebe vor dem
Firmengebäude        der
TeutiInServ   gGmbH.   Foto:
LWL/Busch

Mehr zum Unternehmen und zum Rollikup
Möchtet ihr wissen, was der Inklusionsbetrieb Teuto InServ
sonst noch so alles macht? Dann könnt ihr hier unser Porträt
über das Unternehmen lesen, das schon vor einiger Zeit auf
unserem Blog erschienen ist.

Mehr Informationen zum „Rollikup“ bekommt ihr auf der Website
von Teuto InServ. Den Vertrieb übernimmt der Fahrradzubehör-
Händler Bike-Bep24 (dort könnt ihr die Kupplung bestellen).
Model mit Down-Syndrom
Die Modebranche gilt als hartes Pflaster. Wer als Model nicht
in ein bestimmtes Schema passt, zu klein oder zu dick ist oder
nicht die „richtige“ Art von Schönheit hat, wird aussortiert –
und bekommt entweder keine Jobs oder kann den Beruf gar nicht
erst ausüben.

Seit einigen Jahren beginnen manche Magazine und Designer in
der Branche, umzudenken. Sie wollen nicht mehr nur dünne,
weiße Mädchen, sondern suchen immer öfter auch Menschen und
Gesichter, die etwa unterschiedlicher Herkunft sind,
interessant aussehen und nicht in ein starres Ideal passen.
Daraus können Karrieren für Menschen entstehen, die bisher zum
Beispiel wegen einer Behinderung bisher nicht in die Branche
passten – so auch die junge Australierin Madeline Stuart, die
das Down-Syndrom hat. Mit 17 Jahren erzählte sie ihrer Mutter,
dass sie Model werden möchte. Die organisierte ein
Fotoshooting und stellte die Bilder ins Netz, wo die junge
Frau schnell eine große Fangemeinde aufbaute. Auch ein
südafrikanischer Modeschöpfer wurde auf sie aufmerksam und
engagierte die damals 18-Jährige für einen Auftritt in New
York. Damit ging Madeleine Stuarts Karriere so richtig los,
die bis heute andauert.

Im Blog des Schweizerischen Tagesanzeigers könnt ihr eine
kurze Version von Madeleine Stuarts Geschichte lesen – und
euch dort auch einige tolle Fotos anschauen, die Ausschnitte
aus Stuarts Berufsalltag bei den Fashion Weeks 2018 in New
York und London zeigen. Der Reuters-Fotograf Andrew Kelly hat
die junge Frau dorthin begleitet und seine Eindrücke mit der
Kamera eingefangen.
Eine Anhängerkupplung                                  für
Rollstühle
Die Entwicklung des Erfinder-Duos der Teuto InServ aus
Bielefeld ist ebenso simpel wie genial: zwei Mitarbeiter des
Inklusionsunternehmens haben ein Kupplungssystem für den
Rollstuhl entwickelt, an dem man Koffer, Transport- oder
Kinderanhänger sicher befestigen kann. „Rollikup“ heißt diese
Entwicklung von Andreas Neitzel und Eduard Wiebe,
zusammengesetzt aus den Wörtern „Rollstuhl“ und „Kupplung“.
Das System ist das weltweit erste seiner Art, denn anders als
zum Beispiel schon existierende Kupplungen für Fahrradanhänger
lässt sich „Rollikup“ auch hinter dem Rücken und mit einer
Hand bedienen.

Das Entwickler-Team stellt seine Erfindung am Dienstag, 19.
März, in der TV-Show „Das Ding des Jahres“ vor. Es bewirbt
sich damit um ein Preisgeld von 100.000 Euro. Zur Jury gehören
unter anderem der Moderator Joko Winterscheidt und das Model
Lena Gercke.

Die Show wird um 20.15 Uhr auf Pro Sieben ausgestrahlt. Hier
gibt es weitere Informationen zur Sendung und eine Mediathek
mit allen Folgen.

Übrigens: Wenn ihr wissen wollt, was der Inklusionsbetrieb
Teuto InServ sonst noch so alles macht, lest hier unser
Porträt über das Unternehmen!
Irgendwas mit Computern

Frau Ray, welche Entwicklungen im IT-
Bereich machen diesen Berufszweig für
Menschen mit Behinderung interessant?
Die IT-Branche wächst seit Jahren, im vergangenen Jahr sogar
um fast 3 Prozent. Wir selbst, die akquinet AG, sind ein IT-
Dienstleister für andere Unternehmen, bei denen wir zum
Beispiel ERP- und Kollaborations-Systeme einführen. Die
Abkürzung „ERP“ heißt „Enterprise-Resource-Planning“. Das sind
IT-Anwendungen, mit denen die Betriebe ihre Prozesse besser
steuern und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter fördern können.
Wir entwickeln darüber hinaus auch eigene Softwarelösungen und
pflegen in unseren Rechenzentren die IT-Systeme und Daten
unserer Kunden. Da heute viele Unternehmen immer mehr in ihre
IT investieren und sie ausbauen, haben viele Dienstleister –
also auch wir – einen immer größeren Bedarf an zusätzlichen
Experten, vor allem in den Bereichen Entwicklung, Consulting,
Sales und Support. Diese Leute werden natürlich allerseits
heiß umworben. Genau hier liegt aus meiner Sicht eine große
Chance für Menschen mit Behinderung.

Welche Chancen meinen Sie damit?
In der Branche sind sehr viele Arbeitsplätze unbesetzt, daher
suchen wir immer neues Fachpersonal. Menschen mit
Behinderungen könnten von diesem positiven Trend im IT-
Berufszweig sehr profitieren, weil sie hier mit weniger mit
anderen Bewerberinnen und Bewerbern konkurrieren müssen. Laut
der Bundesagentur für Arbeit arbeiten im Moment aber leider
nur etwa 23.000 Menschen mit schwereren Behinderungen im IT-
Sektor – da schlummern aus meiner Sicht riesige Potenziale und
viele Chancen.

Was tun Sie als Integrationsbeauftragte
in Ihrem Unternehmen, um diese Kluft zu
schließen?
Wir haben unter anderem eine Inklusionskampagne mit dem Namen
„Inklusion? – na klar!“ ins Leben gerufen. Damit wollen wir
nach und nach ein Netzwerk in der IT-Branche zur beruflichen
Inklusion von Menschen mit Behinderungen aufbauen. Wir setzen
uns zum Beispiel dafür ein, dass der Austausch zwischen IT-
Branchenvertretern, Interessenverbänden und Akteuren      der
beruflichen Rehabilitation stärker und besser wird.
Eine der Maßnahmen in der Kampagne war außerdem, dass wir 2017
als akquinet AG eine Woche lang am Online-Format
„Karriereratgeber“ des Magazins Computerwoche teilgenommen
haben. Dort haben wir gezielt Menschen mit Behinderungen zu
Jobs in der IT-Branche beraten.
Auch jetzt noch können Interessierte auf der Plattform
regelmäßig mit Insidern in Kontakt treten und ihnen Fragen
stellen – zum Beispiel zu deren Arbeitsalltag, dem Ablauf der
Mitarbeitersuche in Unternehmen und zu den nötigen
Qualifikationen für verschiedene Berufsbilder in der Branche.

Wie war die Resonanz auf das Angebot?
Gut! Wir bekamen einige Anfragen über das Online-Forum und
hatten außerdem auch direkten Kontakt mit Interessierten. Der
schöne Nebeneffekt für uns als Unternehmen ist, dass wir durch
solche Aktionen am IT-Arbeitsmarkt mittlerweile als
Inklusionstreiber gesehen werden. Und das schlägt sich unter
anderem darin nieder, dass wir inzwischen mehr qualifizierte
Bewerberinnen und Bewerber auf ausgeschriebene Stellen haben.
Wir hoffen, damit unseren Bedarf an neuen Experten nach und
nach zu decken und zugleich anderen vorleben zu können, wie
angewandte Inklusion in der IT-Branche funktioniert.
Manche Menschen mit Behinderungen wissen nicht so recht, ob
 sie ihre Behinderung im Bewerbungsprozess überhaupt erwähnen
 sollten. Diese Unsicherheit entsteht häufig aus der Sorge vor
 Nachteilen. Ich sehe das aber so: Wenn man in einem Umfeld
 arbeitet, in dem schon durch den Job viel von einem gefordert
 wird, ist es besonders wichtig, offen mit den persönlichen
 Bedingungen und eventuellen Einschränkungen umzugehen.
 Rükiye Ray

Welche Fragen wurden Ihnen während dieser
Woche am häufigsten gestellt, wo gibt es
also besonderen Informationsbedarf?
Es haben vor allem sehr viele junge Menschen mit Behinderungen
Kontakt mit uns aufgenommen. Sie möchten nach der Schule gern
in einem Beruf in der IT-Branche arbeiten, wissen aber nicht,
wie sie sich dafür qualifizieren müssen und können. Wir haben
sie     im    Rahmen      der    Aktionswoche       zu     den
Weiterbildungsmöglichkeiten in der Branche informiert. Es gibt
beispielsweise gute IT-Fernstudiengänge oder auch duale
Ausbildungen, die einen stärkeren Praxisbezug haben. Solche
dualen Studiengänge bieten wir zum Beispiel auch selbst an,
und zwar gemeinsam mit dem Institut für Softwaretechnik und
Outsourcing an der FH Wedel.
Ein weiteres großes Thema war das der Teilhabe, also die Frage
danach, wie die berufliche Inklusion in einem IT-Unternehmen
funktioniert. Das hatte ich als Inklusionsbeauftragte schon
erwartet. Die große Frage dahinter ist immer die gleiche: Wie
können    Strukturen     und   die   Verhaltensweisen      der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen so
verändert, gefördert und gelebt werden, dass alle
gleichberechtigt sind und gut arbeiten können?
Und wie geht das?
Eine große Verantwortung haben immer die Köpfe eines Teams,
also die Chefs. Durch eine klare Aufgabenverteilung und die
begleitende Kommunikation im Berufsalltag können sie
entscheidend dazu beitragen, dass die inklusive Zusammenarbeit
im Team möglich wird. Umgekehrt sollten Menschen mit
Behinderungen schon im Bewerbungsprozess darauf achten, ob die
vorgegebenen Strukturen passend für gelebte Teilhabe sind. Für
solche Fragen sind vor allem die Inklusionsbeauftragten eines
Unternehmens sehr wichtige Ansprechpersonen, vor allem für
neue Jobanwärterinnen und -anwärter.

Was war die ungewöhnlichste Frage, die
Sie während der Kampagne gehört oder
gelesen haben?
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ich habe in meinem Beruf
täglich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beziehungsweise
Bewerberinnen und Bewerben zu tun, die eine Behinderung haben.
Das ist für uns Alltagsroutine und ganz normal. In vielen
anderen Unternehmen und auch in der Gesellschaft ist das aber
leider noch nicht so. Bei einigen Anfragen zeigte sich dann,
dass manche Menschen mit Behinderungen gar nicht so recht
wissen, ob sie ihre Behinderung im Bewerbungsprozess überhaupt
erwähnen sollten. Diese Unsicherheit entsteht häufig aus der
Sorge vor Nachteilen.
Ich sehe das aber so: Wenn man in einem Umfeld arbeitet, in
dem schon durch den Job viel von einem gefordert wird, ist es
besonders wichtig, offen mit den persönlichen Bedingungen und
eventuellen Einschränkungen umzugehen. Das ist sogar eine
Voraussetzung dafür, einen vertrauensvollen und konfliktfreien
Umgang mit Kolleginnen und Kollegen oder den Führungskräften
zu erreichen. Deshalb ist mein Rat: Geht von Beginn an offen
mit eurer Behinderung um. Stört euch nicht an Fragen und
Unsicherheiten eures Umfelds, sondern nehmt sie als Chance an.
Unsicherheiten sind menschlich und gehören von beiden Seiten
dazu. Je offener ihr also selbst mit eurer Behinderung seid,
desto größere Chancen entstehen auch für die Menschen in eurem
Arbeitsumfeld, respektvoll und selbstverständlich damit
umzugehen.

Foto: akquinet
gGmbH

Über unsere Interviewpartnerin
Name: Rükiye Ray
Geburtsjahr: 1971
Wohn-/Arbeitsort: Hamburg
Beruf: Integrationsbeauftragte bei der akquinet AG
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: ist selbst
Rollstuhlfahrerin und seit 2016 bei ihrem Unternehmen
verantwortlich für die Inklusion von Mitarbeitern.
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