WELCHER AFFE STECKT IN UNS?

Die Seite wird erstellt Hortensia-Viktoria Klein
 
WEITER LESEN
bild der wissenschaft online - Heftarchiv                                                                    11/07/2009 12:39

                                            Ausgabe: 4/2008, Seite 18        - Leben & Umwelt

                                            WELCHER AFFE STECKT IN UNS?
                                            Streit um unser äffisches Erbe: Beobachtungen an wilden Menschenaffen
                                            sollen klären, ob wir eher den kriegerischen Schimpansen oder den
                                            friedvollen Bonobos ähneln.

                                            von Volker Sommer

                                            Wie wir gerechtere Gesellschaften schaffen können, hängt davon ab,
                                            welcher Affe in uns steckt. Ist unser innerer Primat ein Schimpanse,
                                            müssen wir gegen unsere Natur ankämpfen – weil speziell die Männchen
                                            von Pan troglodytes ruchlos, machtgierig und aggressiv sind. Ist in uns
                                            hingegen ein Bonobo verborgen, dann brauchen wir unserer Natur lediglich
                                            freien Lauf zu lassen. Denn bei Pan paniscus geht’s friedlich zu, Weibchen
                                            geben den Ton an, und Sex kittet die Gemeinschaft. Also dann: „Let"s go
                                            bonobo...“ Doch dass Schimpansen vom Mars sind und Bonobos von der
                                            Venus, ist viel zu simpel, um wahr zu sein. Was die Story aber auch
                                            spannend macht. Nicht nur, weil die Geschichte über unsere Urgeschichte
                                            reich an Reizworten ist – Gewalt und Lust, Ökologie und Feminismus –,
                                            sondern auch, weil sie an unser Selbstverständnis rührt. Die Unterschiede
                                            zwischen Bonobos und Schimpansen sind von entscheidender Bedeutung
                                            für die Rekonstruktion unserer Vergangenheit und die Gestaltung unserer
                                            Zukunft.
                                            Fossilien und molekulare Uhren legen nahe, dass Schimpansen, Bonobos
                                            und Menschen noch vor fünf bis sechs Millionen Jahren gemeinsame
                                            Vorfahren hatten. Die Menschen fächerten sich mannigfach auf, wobei nur
                                            Homo sapiens bis heute überdauert hat, während sich die Gattung Pan erst
                                            vor rund zwei Millionen Jahren aufspaltete. Bonobos etablierten sich in den
                                            dichten Regenwäldern am Südufer des Kongo-Flusses. Im nördlicheren
                                            Afrika breiteten sich Schimpansen aus: im Dschungel, aber auch im lichten
                                            Forst und in der Savanne. In vier Subspezies haben sie vom Senegal im
                                            Nordwesten bis zum Kongo im Süden und Tansania im Osten überlebt
                                            (siehe Karte). Die genetische Variabilität der Schimpansen ist entsprechend
                                            größer als die der Bonobos am linken Ufer der geografischen Barriere.
                                            Dass Schimpansen heute als machiavellische Machtfanatiker gelten und
                                            Bonobos als Kreuzung zwischen Dalai Lama und Alice Schwarzer, ließ sich
                                            in den Frühjahren der Primatologie keineswegs vorhersehen. Denn
                                            zunächst waren Schimpansen Sympathieträger – dank Jane Goodall, die
                                            1960 begann, sie in der Wildnis zu erforschen. Die Engländerin zeichnete
                                            ein paradiesisches Gemälde, demzufolge Schimpansen-Gesellschaften auf
                                            Kooperation gründen und auf dem friedlichen Einsatz von Intelligenz.
                                            Goodalls Botschaft, dass Schimpansen die besseren Menschen seien, stand
                                            in der Denktradition von Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778). Als
                                            Naturromantiker und Kulturpessimist hatte der französisch-schweizerische
                                            Philosoph behauptet, dass Konkurrenz und Feindschaft in menschlichen
http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31391064                           Page 1 of 9
bild der wissenschaft online - Heftarchiv                                                                     11/07/2009 12:39

                                            Philosoph behauptet, dass Konkurrenz und Feindschaft in menschlichen
                                            Urgesellschaften unbekannt waren, und dass der sittliche Niedergang erst
                                            mit Technologie und Wissenschaft begann. Goodall war schockiert, als ihre
                                            geliebten Schimpansen um 1974 begannen, einander zu töten: Männliche
                                            Verbündete rotteten Nachbargruppen aus und entführten junge Weibchen.
                                            Die Primatologen-Pionierin war ehrlich genug, Aggressionen detailgetreu zu
                                            dokumentieren – bis hin zur grausigen Praxis, Blut von Besiegten zu
                                            schlürfen.
                                            VERZEHR VON SÄUGLINGEN
                                            Auch andernorts berichteten Schimpansenforscher alsbald von letalen
                                            Übergriffen inklusive Töten und Verzehr von Säuglingen. Überhaupt
                                            entpuppten sich die Männchen als gnadenlose Frauenunterdrücker, die
                                            stets die besten Brocken beanspruchten. Das passte zur Philosophie von
                                            Thomas Hobbes (1588 bis 1679). Im Gegensatz zu Rousseau hatte der
                                            Engländer den Krieg aller gegen alle für den Naturzustand menschlicher
                                            Gesellschaft gehalten – und einen starken, auf Fortschritte der
                                            Wissenschaft gründenden Staat gefordert, um Eigennutz und Machtgier zu
                                            zügeln. Doch Biologen wie Laien, sozialisiert von Hippie-Happenings und
                                            Studentenrevolte, wollten lieber Gutes als Schlechtes über unsere
                                            natürlichen Neigungen hören. Das Image der Schimpansen als Aushänger
                                            der „Zurück-zur-Natur“-Bewegung war allerdings beschädigt. Zu dieser
                                            Zeit begannen erste Studien an Bonobos. Was diese Menschenaffen taten
                                            – und was sie nicht taten – versöhnte die Naturromantiker. Weil Bonobos
                                            ein stellungsreiches Sexualverhalten pflegen, ohne sich quasi-kriegerisch
                                            zu bekämpfen, galten sie als Botschafter des „make love, not war“, als
                                            bessere Menschen und als bessere Schimpansen.
                                            Der kometenhafte Aufstieg der Bonobos zu den Pop-Stars unter den
                                            Primaten ist vor allem dem niederländischen Verhaltensforscher Frans de
                                            Waal zu verdanken. Gemäß seinen unterhaltsamen und provokanten
                                            Büchern verhalten sich Bonobos zu Schimpansen wie Tag zu Nacht. Kritiker
                                            wenden ein, dass de Waals Forschung auf Zoo und Labor beschränkt ist,
                                            wo Verhalten verformt sei. De Waal kontert, dass manifeste Unterschiede
                                            zwischen Schimpansen und Bonobos gerade in Gefangenschaft offenbar
                                            werden. Denn dort leben sie unter gleichen Bedingungen, während ihr
                                            Verhalten im Freiland zahlreichen Einflüssen unterliegt. Diese Problematik
                                            ist zentral in der Primatologie, da soziale und ökologische Flexibilität ein
                                            herausragendes Merkmal von Affen und Menschenaffen ist. Tiere der
                                            gleichen Art können nämlich je nach ihrer Umwelt verschiedene
                                            Verhaltensprofile ausbilden: sogenannte Kulturen. Das trifft auch auf uns
                                            „Menschen-Affen“ zu, die wir zahllose Sitten und Überlebensstrategien
                                            entwickelt haben, mit deren Hilfe wir den gesamten Globus besiedelt
                                            haben. Die kulturelle Vielfalt von Menschen wird seit Jahrhunderten
                                            dokumentiert. Aber erst seit 50 Jahren lernen wir etwas über
                                            Schimpansen, wobei nur eine Handvoll Populationen genauer studiert
                                            wurde.
                                            Sie unterscheiden sich in Dutzenden von Verhaltensweisen hinsichtlich
                                            Körperpflege, Werkzeugeinsatz oder sozialem Miteinander: In Westafrika
                                            hämmern die Schimpansen Nüsse mit Steinen auf, während sie diese
                                            Technik anderswo nicht erfunden haben. Mancherorts fischen Schimpansen
                                            mit hergerichteten Stöckchen nach Termiten, anderswo angeln sie nur
                                            Ameisen oder benutzen Werkzeug so gut wie nie. Schimpansen vom
                                            westafrikanischen Taï-Gebiet und der ostafrikanischen Gombe-Region
                                            wiederum betupfen als Einzige Wunden mit Blättern, lediglich die in Gombe
                                            kratzen sich mit Steinen oder Ästen. Ähnlich wie wir von einem
                                            „japanischen“ oder „französischen“ Kulturkreis sprechen, ordnen
http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31391064                            Page 2 of 9
bild der wissenschaft online - Heftarchiv                                                                      11/07/2009 12:39

                                            „japanischen“ oder „französischen“ Kulturkreis sprechen, ordnen
                                            Primatologen Schimpansen anhand ihrer spezifischen Verhaltensmuster der
                                            „Gombe-Kultur“ oder der „Taï-Kultur“ zu.
                                            KULTUR IN DER NATUR

                                            Unser Wissen über Bonobos ist viel lückenhafter. Wirklich wilde Bonobos
                                            wurden nur im Gebiet um Lomako (siehe Karte) untersucht – vor allem
                                            vom Team um Gottfried Hohmann und Barbara Fruth. Wegen des
                                            Bürgerkriegs wurde die Studie um 2000 nach zehn Jahren abgebrochen.
                                            Die Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in
                                            Leipzig haben ihre Forschungen seither in den Salonga-Nationalpark
                                            verlagert. Erst jetzt, nach über fünf Jahren, gewöhnen sich die Bonobos
                                            allmählich an die Beobachter. Unterschiede zwischen Bonobos und
                                            Schimpansen lassen sich also nur unter Vorbehalt feststellen, zumal ihre
                                            Gesellschaften – wie die von Menschen – eine „historische“ Dimension
                                            haben. Ein Anthropologe vom Mars, der im Deutschland des letzten
                                            Jahrzehnts gelebt hätte, würde unsere Friedfertigkeit herausstreichen,
                                            hätte bei einem Besuch zwischen 1935 und 1945 aber ein ganz anderes
                                            Urteil gefällt. Ähnlich ging es Jane Goodall: Zwischen 1960 und 1970
                                            waren ihre Gombe-Schimpansen friedlich – aber im Jahrzehnt darauf
                                            entpuppten sich viele als Killer. Wer weiß, was ausgedehntere
                                            Freilandstudien an Bonobos zutage fördern werden? Bislang gelten die
                                            Begegnungen zwischen ihren Gruppen als friedvoll. Der starre Dualismus
                                            zwischen Schimpansen und Bonobos hat sich dennoch bereits aufgeweicht.
                                            Beispielsweise galt Jagd auf Affen, Schweine oder Antilopen als Privileg der
                                            Schimpansen. Doch inzwischen ist klar, dass sie dieser Beute nur an
                                            bestimmten Orten nachstellen, und dass Bonobos zuweilen ebenfalls
                                            Waldantilopen ergreifen. Und: Obwohl Bonobos nur sehr selten Werkzeug
                                            einsetzen, bleibt das ebenfalls im Rahmen schimpansischer
                                            Gepflogenheiten. Denn beispielsweise in Budongo in Uganda verwenden
                                            Schimpansen Werkzeuge so gut wie nie.

                                            Die jeweiligen Gepflogenheiten haben viel mit der Verfügbarkeit von
                                            Nahrung zu tun. Ist die karg, dann macht Not erfinderisch und führt zum
                                            Einsatz von Werkzeug und Jagd. In einem üppigen Lebensraum kann man
                                            sich hingegen eher auf die faule Haut legen. Wo Bonobos leben, sind die
                                            Baumkronen breit und damit nahrungsreich, enthalten die Früchte wenig
                                            Schadstoffe, und wachsen eiweißreiche Kräuter, auf die in mageren Zeiten
                                            zurückgegriffen werden kann. Diese geringe Nahrungskonkurrenz erlaubt
                                            Bonobos, in relativ großen Kleingruppen von durchschnittlich sechs bis
                                            sieben Tieren auf Futtersuche zu gehen. Aber mancherorts können es sich
                                            auch Schimpansen leisten, so sozial zu sein. Statt „Alles-oder-Nichts“ also
                                            ein „Mehr-oder-Weniger“. Allerdings hat dieser Gradualismus auch
                                            Grenzen. Die wesentlichen Gegensätze zwischen Schimpansen und
                                            Bonobos haben mit Aggression zu tun – wobei in letzter Zeit gerade der
                                            ursprüngliche Kontrast zwischen bösen Schimpansen und netten Bonobos
                                            fraglich geworden ist. Denn Bonobos sind keineswegs pazifistisch. Vielmehr
                                            sind die bösen Buben bei ihnen die Mädchen.
                                            schrecklich zugerichtete kerle
                                            Auch de Waal war aufgefallen, dass Bonobo-Weibchen engere Kontakte
                                            unterhalten als Schimpansinnen. Manche Biologen erklären diese häufigere
                                            Nähe und Fellpflege als eine Strategie, um Männchen anzulocken. Denn für
                                            ein Männchen sind mehrere Weibchen, die zusammenhocken, attraktiver
                                            als ein einzelnes. Weibchen-Beziehungen wären demnach als
                                            Nebenprodukt der Konkurrenz entstanden. Die amerikanische Primatologin
                                            Amy Parish deutete die Vorstellung, dass Männchen-Weibchen-Achsen die
http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31391064                             Page 3 of 9
bild der wissenschaft online - Heftarchiv                                                                    11/07/2009 12:39

                                            Amy Parish deutete die Vorstellung, dass Männchen-Weibchen-Achsen die
                                            tragende Struktur der Bonobo-Gesellschaft seien, dagegen als
                                            Nebenprodukt der männlichen Weltanschauung. Parish war zwar Schülerin
                                            von Frans de Waal, aber zugleich von Sarah Hrdy – einer Begründerin
                                            feministisch orientierter Primatenforschung. Parish wies nach, dass sich
                                            Bonobo-Weibchen gegenseitig bevorzugen und Männchen oft meiden. Und
                                            Parish entdeckte, dass bei Bonobos die Weibchen dominant sind – wobei
                                            diese umgekehrt wie bei Schimpansen – häufig handgreiflich gegenüber
                                            Männchen werden. Schimpansen- und Bonobo-Männchen sind um ein
                                            Fünftel schwerer als Weibchen und deshalb diesen körperlich überlegen.
                                            Doch gemeinsam sind die Bonobo-Weibchen stärker – Frauenpower durch
                                            Kooperation. Sie bilden Koalitionen und greifen Männchen gemeinsam an,
                                            um sie einzuschüchtern und ihnen Nahrung streitig zu machen. In Zoos,
                                            wo wenig Gelegenheit zur Flucht besteht, werden die Kerle oft schrecklich
                                            von den Weibern zugerichtet. Bisswunden, fehlende Finger und Zehen,
                                            Kerben in Ohrmuscheln, ein durchtrennter Penis – alles kommt vor.
                                            Amy Parish befragte sämtliche Zoos und Forschungsinstitute, die Bonobos
                                            hielten, nach den Hierarchiemustern. Die Antwort lautete oft: „Tja, mit
                                            unserem Männchen muss etwas nicht stimmen“ – denn einen Mann unter
                                            der Knute von Frauen hielten die Pfleger für einen gestörten Weichling.
                                            Doch dann stellte sich heraus, dass in praktisch allen Kolonien Weibchen
                                            das Sagen hatten. In der Wildnis sieht es kaum anders aus: Weibliche
                                            Aggression kann dort ebenfalls extrem sein. Als beispielsweise ein den
                                            Alpha-Status anstrebender Bonobo sich aggressiv gegenüber einem Baby
                                            verhielt, wurde er von einer Weibchen-Horde dermaßen zugerichtet, dass
                                            er auf Nimmerwiedersehen verschwand. Nie wurden bei Schimpansinnen
                                            solche Gegenattacken beobachtet. Allianzen unter Weibchen ließen sich
                                            erklären, wenn sie miteinander verwandt wären. Das ist jedoch weder bei
                                            den wilden Schimpansen noch bei den Bonobos der Fall, wie DNA-Analysen
                                            aus Kot, Haaren und Mundschleimhaut belegen. Adoleszente Weibchen der
                                            Gattung Pan verlassen in der Regel ihre Geburtsgruppe – wohl, weil durch
                                            Inzucht gezeugte Babys eine doppelt so hohe Sterblichkeit haben. Die
                                            ausgewanderten Weibchen werden deshalb mit einem Sammelsurium
                                            „fremder“ Geschlechtsgenossinnen konfrontiert – erbitterten
                                            Konkurrentinnen. Wie aber kitten die Bonobo-Frauen ihre Bündnisse?
                                            Einerseits ist die Nahrung in ihrer Urwaldheimat so üppig, dass Streit
                                            ohnehin milder ausfällt. Das erleichtert den freundlichen Umgang.
                                            Andererseits bauen Bonobos auf ein unter Primaten einzigartiges System
                                            gegenseitiger Belohnung: gleichgeschlechtlichen Sex.

                                            Die Partnerinnen liegen dabei Bauch auf Bauch und reiben die für die
                                            Gattung Pan typischen Schwellungen der Ano-Genital-Region aneinander.
                                            Bei diesem „gg-rubbing“ – dem „genito-genitalen Reiben“ – wird vor allem
                                            die Klitoris stimuliert. Verglichen mit Schimpansen ist das Lustorgan viel
                                            stärker ausgeprägt. Schwellungen halten ebenfalls länger an und sind
                                            stärker abgekoppelt von der fruchtbaren Phase des Geschlechtszyklus.
                                            Homosexuelle Kontakte haben nichts mit Ersatzbefriedigung zu tun.
                                            Vielmehr bevorzugen Weibchen oft trotz eindeutiger Angebote der
                                            Männchen nicht nur lesbisches Miteinander, sondern brechen sogar Hetero-
                                            Sex ab, um sich Homo-Sex zuzuwenden. Dass Weibchen dabei Orgasmen
                                            erleben, legen tranceartige Mimik und lustvolle Laute nahe. Die Initiative
                                            für Sex geht vor allem von rangniederen Weibchen aus, während ranghohe
                                            häufig die Top-Position einnehmen. Die Partnerinnen verschaffen einander
                                            also Lusterlebnisse – und diese positiven Gefühle erleichtern die
                                            Kooperation.

http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31391064                           Page 4 of 9
bild der wissenschaft online - Heftarchiv                                                                       11/07/2009 12:39

                                            SEX ALS SOZIALER SCHACHZUG
                                            Sexualität ist mithin keine Methode des Friedenstiftens, wie es das
                                            Blumenkinder-Motto „make-love-not-war“ suggeriert, sondern ein sozialer
                                            Schachzug, mit dem Weibchen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten
                                            verschieben. Dank ihrer lustbetonten Bündnispolitik können Weibchen
                                            begehrte Nahrungsbrocken vor den Männchen sichern. Sowohl eine
                                            gelegentliche Jagdbeute als auch die bis 20 Kilogramm schweren
                                            Trecularia-Früchte werden unter Weibchen aufgeteilt. Frauenpower zahlt
                                            sich auch bei der Fortpflanzung aus. Zum einen sind bei Bonobos
                                            Kindstötungen unbekannt. Zum anderen kommen die Babys früher zur
                                            Welt als bei Schimpansen, und es werden – zumindest in Gefangenschaft –
                                            im Schnitt 0,7 Nachkommen pro Tier mehr aufgezogen. Bei nur zwei bis
                                            drei Kindern insgesamt ist das ein erheblicher Vorteil. Wenn sich
                                            Koalitionen dermaßen auszahlen, warum lassen sich Schimpansinnen
                                            selbst dann von ihren Männern unterdrücken, wenn sie in einem fetten
                                            Biotop leben? Warum verbünden sie sich nicht wenigstens in Zoos, wo
                                            Nahrung ja keineswegs knapp ist? Oder umgekehrt: Warum pochen
                                            Bonobo-Frauen selbst in Tierparks auf Dominanz, obwohl sie dort gut
                                            versorgt werden? Wahrscheinlich haben unterschiedliche Ausleseprozesse
                                            während der letzten zwei Millionen Jahre die Zweige der Gattung Pan auf
                                            bestimmte Sozialsysteme getrimmt. Der üppige Urwald im ökologisch
                                            stabilen Herzen Afrikas begünstigte die Ausbildung eines Matriarchats, bis
                                            die weibliche Macht fester Bestandteil der Bonobo-Gesellschaft wurde. Die
                                            wechselnden und oft mageren Gegenden weiter im Norden – in denen
                                            vielerorts Gorillas die Konkurrenz verschärften – verfestigten hingegen das
                                            Patriarchat der Schimpansen.

                                            Wie haben wir uns die ursprüngliche Situation am Anbeginn der
                                            Menschwerdung zu denken? Lebten die Urahnen von Menschen,
                                            Schimpansen und Bonobos männerzentriert, dann wären frauenzentrierte
                                            Gesellschaften ein späterer Sonderweg. Schwangen bei den Urhominiden
                                            Frauen das Zepter, wären patriarchale Verhältnisse erst später entstanden.
                                            Fossilienforscher, Anthropologen und Kulturwissenschaftler sind uneins, ob
                                            während des Prozesses der Menschwerdung je matriarchale Verhältnisse
                                            herrschten. Manches spricht aber dafür, dass in den ursprünglichen Jäger-
                                            Sammler-Gesellschaften die Macht gleichmäßiger zwischen den
                                            Geschlechtern verteilt war.
                                            MÄNNER VERLIEREN DIE KONTROLLE

                                            Einerseits hatten die Frauen wohl mehr Freiheit, weil die Männer sie auf
                                            ihren Sammelzügen schlecht überwachen konnten. Andererseits waren die
                                            Geschlechter bei der Nahrungsbeschaffung aufeinander angewiesen.
                                            Außerdem belegen DNA-Sequenzen überlebender Urvölker, dass Frauen
                                            häufiger in ihrer Geburtsgruppe bleiben – wo sie mit Schwestern, Müttern,
                                            Großmüttern und Tanten zusammenleben. Solche Matrilinien sind für
                                            Männer schwer zu kontrollieren. Im allerletzten Abschnitt unserer
                                            Stammesgeschichte hat sich männliche Dominanz hingegen ziemlich
                                            flächenmäßig durchgesetzt. Denn als vor 15 000 Jahren die Landwirtschaft
                                            aufkam, öffnete sich die soziale Schere zwischen Habenichtsen und
                                            Besitzenden. Reichere Männer konnten dadurch oft nicht nur mehrere
                                            Frauen an sich binden, sondern schotteten sie auch von ihrem Geburtsclan
                                            ab. In 70 Prozent aller Kulturen ziehen Frauen heute in der Regel zu ihrem
                                            Mann. Lediglich bei 30 Prozent der Kulturen zieht der Mann zur Frau oder
                                            beide gründen einen neuen Hausstand.
                                            Fest steht, dass Frauen, die in ihrer Ursprungsfamilie bleiben, seltener
                                            Opfer männlicher Gewalt werden. Gemäß einer Galionsfigur des
http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31391064                               Page 5 of 9
bild der wissenschaft online - Heftarchiv                                                                     11/07/2009 12:39

                                            Opfer männlicher Gewalt werden. Gemäß einer Galionsfigur des
                                            Feminismus, Simone de Beauvoir, scheiterten frühe
                                            Emanzipationsbestrebungen, weil Frauen „verteilt unter den Männern
                                            leben“, anstatt sich miteinander zu verbünden. Frauen liegen damit im
                                            Trend anderer Säugetiere, weil Koalitionen unter Nicht-Verwandten
                                            generell ungewöhnlich sind. Ungewöhnlich – aber nicht unmöglich, wie die
                                            Bonobos lehren. Deren ideelle Schwesterschaft kann selbst Artgrenzen
                                            überbrücken: Als Amy Parish ihren neugeborenen Sohn der Bonobo-Frau
                                            Lana im Zoo von San Diego zeigte, schaute diese verblüfft drein, holte
                                            dann ihr eigenes Baby und hielt es hoch – wohl, um mit der Primatologin
                                            Mutterfreuden zu teilen. Ein andermal winkte Parish der Alpha-Frau Louise
                                            zu, damit die sich zur Kamera drehen sollte. Louise deutete die Geste als
                                            Futterbetteln und warf ihr die Hälfte ihres Sellerie-Bündels zu.
                                            In modernen Gesellschaften lehnen wir strikte patriarchale Strukturen aus
                                            ethischen und politischen Gründen ab. Ist die Mitgift der Evolution vom
                                            Typus der Schimpansen, müssten wir dabei gegen unser ursprüngliches
                                            Erbe ankämpfen. Gaben uns die Urahnen hingegen Frauenpower mit auf
                                            den Weg, würde uns die Gleichberechtigung sozusagen von Natur aus
                                            leichter fallen. Wie dem auch sei: Zum Glück spricht einiges dafür, dass
                                            wir mehr soziale Flexibilität besitzen als unsere nächsten Verwandten –
                                            vermutlich das Erfolgsrezept für unsere weite geografische Ausbreitung.
                                            Doch leicht ist die Sache mit der Gerechtigkeit auf keinen Fall. Denn auch
                                            wenn Frauen regieren, gibt es Konflikte. Verhandlungen sind daher immer
                                            nötig – und es ist noch viel zu lernen, um friedfertiger miteinander
                                            umzugehen. !

                                             VOLKER SOMMER

                                             Der 1954 geborene international renommierter Primatenforscher und
                                             Sachbuchautor hat am University College London den Lehrstuhl für
                                             Evolutionäre Anthropologie inne. Er ist Mitglied der Sektion für
                                             Menschenaffen der International Union for the Conservation of Nature
                                             (IUCN), der Naturschutz-Sektion der UNO. Sommer erforscht das
                                             Sozialverhalten wilder Affen und Menschenaffen in Indien, Thailand und
                                             Nigeria. Über seinen Kampf für den Erhalt der seltensten Unterart
                                             unserer nächsten Verwandten berichtet er in seinem neuen Buch
                                             „Schimpansenland. Wildes Leben in Afrika“ – ein sehr persönliches
                                             Zeugnis des Abenteuers Wissenschaft in einer der letzten Wildnisse.

                                             AFFEN IN AFRIKA – FRÜHER UND HEUTE

                                             Nur wenig Lebensraum ist den Bonobos und den vier Schimpansen-
                                             Unterarten verblieben. In den letzten 100 Jahren wurden ihre
                                             Populationen immer weiter zurückgedrängt, in einigen Ländern sind die
                                             Menschenaffen bereits ausgerottet. Die Gründe dafür sind die
                                             Vernichtung der natürlichen Lebensräume, hemmungslose Bejagung
                                             durch den Menschen und Krankheiten wie Ebola.

                                             GUT ZU WISSEN: SCHIMPANSEN UND BONOBOS – EIN STECKBRIEF

http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31391064                            Page 6 of 9
Sie können auch lesen