"Wer bin ich?" - Pfarrerverband

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»Wer bin ich?«

Seelsorgerliche Beobachtungen zum Märchen vom Rumpelstilzchen
Von: Barbara Wilhelmi, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe 8/2020

Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm nannten ihre Märchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“;
sie waren also keineswegs nur für Kinder gedacht, sondern auch für Erwachsene. Auch für sie werden
darin unterschiedliche Probleme des Lebens und Möglichkeiten zu deren Lösung aufgezeigt. Barbara
Wilhelmi nimmt dies für die Seelsorge auf und verdeutlicht am Beispiel des Märchens vom
Rumpelstilzchen, welche Inhalte und Deutungsmöglichkeiten darin interessant sein könnten für
Patientinnen und Patienten in Rehabilitationskliniken.

Während in einem Akutkrankenhaus noch die unmittelbare leidvolle Gegenwart und ihre Verarbeitung
im Vordergrund stehen, haben die Menschen in der Anschlussheilbehandlung Zeit, über anderes
nachzudenken und zu sprechen. Im Fokus sollen hier Möglichkeiten eines zeitlich begrenzten
Gruppengesprächs über ein Märchen in einer Klinik stehen, das die Lebens- und
Krankheitserfahrungen von Menschen aufnimmt. Dies geschieht am Beispiel des Märchens vom
Rumpelstilzchen. Bei einigen Motiven verweise ich auch auf andere Märchen und zeitgeschichtliche
Bezüge von damals und heute. Nicht eingegangen werden kann auf eine vergleichende Betrachtung
der Märchendeutung auf dem Hintergrund unterschiedlicher Konzepte, wie etwa der Psychoanalyse
oder anderer tiefenpsychotherapeutischer Richtungen (vgl. dazu im Literaturverzeichnis Angela
Waiblinger).

Für die meisten Menschen bedeutet die Krankheit einen tiefen Einschnitt, der zum Anlass genommen
werden kann, sich mit der eigenen Person und der eigenen Geschichte zu beschäftigen. Ein guter
Einstieg dazu ist die Reflexion über den eigenen Namen. denn die zentrale Frage aus
Rumpelstilzchen lautet: „Wie heiße ich?“ In diesem Märchen gibt es weitere Anknüpfungspunkte wie
die Wirkung der Tränen, durch die sich eine Tür öffnet oder auch die tiefe Verzagtheit vor einer als
unmöglich bewerteten Aufgabe. Patienten verbinden damit eigene Erfahrungen, z.B. vor einer
chemotherapeutischen Behandlung zu stehen.

Zum Anfang: Ein armer Müller

Rumpelstilzchen gehört zu den bekannteren Märchen der Grimmschen Sammlung. Der erste Satz
eines Märchens der Brüder Grimm stellt meist die Ausgangslage dar, die zum „Problem“ führt: Hier ist
es „ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter“. Die Rede ist von einem Müller, der
im ganzen Verlauf des Märchens nicht mehr auftaucht und auch nie explizit ein „Vater“ genannt wird.
Und er verhält sich auch nicht wie ein Vater. Er ist ein „armer“ Müller, der hier bloßes Stroh drischt,
denn er trifft auf den König und gibt im Gespräch vor, dass seine schöne Tochter Stroh zu Gold
spinnen könne. Von einer Mutter weiß dieses Märchen nichts und so verengt sich die Thematik unter
den beiden Männern: König und Müller treffen sich in ihrer Haltung, dass alles ums Geld oder ums
Gold geht. Der Müller, versucht sein Leben aufzuwerten durch das Anpreisen seiner Tochter. Es
könnte auch eine Art von Geltungssucht sein, denn immerhin lässt er sie tatsächlich fortbringen –
ohne seinen Fehler zuzugeben und den Irrtum aufzudecken. Obwohl er weiß, dass sie die Fähigkeit
nicht hat, überlässt er sie dennoch dem König.

Für die Hörer und Hörerinnen des Märchens kann das Verhalten des Müllers zu eigenen Erinnerungen
führen, denn immer noch reden Eltern ihre Kinder „besser“ und preisen deren Erfolge. Es darf
vermutet werden, dass Eltern dadurch ihren eigenen Wert erhöhen wollen. Die so herausgestellten
Kinder stehen aber dadurch gerade nicht im Mittelpunkt, sondern vielmehr die stolzen Eltern. Das ist

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vergleichsweise harmlos gegenüber den Müttern und Vätern, die ihre Kinder im Sport zu
Höchstleistungen trimmen lassen und sie dafür sehr früh weggeben, ähnlich dem hier erzählten
Abschied von zuhause. Nicht selten spielt dabei auch der Blick auf das zu erwartende Gold und Geld
eine Rolle.

Der goldgierige König

Die Fokussierung auf das Gold wird bei dem Müller möglicherweise durch seine Armut ausgelöst, im
König zeigt sich jedoch bloße Habgier, die sich von Tag zu Tag steigert. Er möchte das Gold und
sperrt die schöne Müllerstochter in ein Zimmer, wo sie unter der Androhung, bei Misserfolg ihr Leben
zu verlieren, das Stroh zu Gold spinnen soll. Stroh eint nur die Farbe mit Gold, es ist jedoch gar nicht
zum Spinnen geeignet. Im Märchen Die drei Spinnerinnen, soll das Mädchen immerhin spinnbares
Flachs zu Gold verwandeln. Im Märchen Rumpelstilzchen aber geht es um ein „rentables“ Geschäft:
Etwas Billiges wird eingesetzt, um etwas Wertvolles und Beständiges herauszuholen. Das Mädchen
ist durch die Schuld anderer in eine aussichtslose Lage geraten. Sie weiß, sie kann das Stroh nicht zu
Gold spinnen und reagiert mit Verzagtheit, mit Angst vor der unmöglich scheinenden Aufgabe.

In ihre Lage können sich Patientinnen und Patienten einfühlen, denn diese ist ähnlich der Situation, in
denen Menschen eine schlimme Diagnose erhalten. Sie fühlen sich ohne Chance, ausgeliefert
zwischen Tod und Leben. Sie spüren keine Kraft für das, was vor ihnen liegt und können hinter den
monatelangen anstrengenden Chemotherapien nicht das goldene Funkeln einer Heilung erblicken.
Andere mögen sich an Phasen der Berufstätigkeit erinnern, in denen sie sich überfordert fühlten und
glaubten, ihr Pensum nicht bewältigen zu können.

Weinen öffnet die Tür

Auch „die arme Müllerstocher (…) wusste um ihr Leben keinen Rat“. Ihre Angst wächst und sie beginnt
zu weinen. „Da ging auf einmal die Türe auf“, und einmal mehr fängt die Rettung im Märchen mit den
Tränen an. Auch im Märchen Das Wasser des Lebens führen die Tränen der Söhne zu dem weisen
Alten, der ihnen den rettenden Weg zur Heilung des Vaters weist. Im Märchen Rumpelstilzchen öffnet
sich eine Tür, als das Mädchen zu weinen beginnt und ein kleines Männchen tritt herein, das nach
dem Grund des Weinens fragt.

Zu Verarbeitungs- und Heilungsprozessen gehören die Tränen, aber Erwachsene versuchen im
Allgemeinen, sie zu vermeiden. In bestimmten Situationen sind sie öffentlich „erlaubt“ oder sie
werden sogar erwartet, wie bei Verzweiflung, Trauer oder auch beim Lachen. Jedoch stützen sich die
meisten nicht auf die Erfahrung der befreienden Wirkung, so wie sie könnten. Nach schweren
Krankheits- und Therapieverläufen ist es in Reha-Kliniken wichtig, Erfahrungen und Emotionen
auszutauschen und zu teilen, wozu auch das Weinen gehören kann.

Das zwiespältige Helferlein

Das Männchen zeigt sich als eines der „Helferlein“, von denen viele Mythen wissen. Es sind die
„übernatürlichen Helfer“, die zu alten Volksmärchen gehören. Sie helfen meist nicht uneingeschränkt,
sondern stellen eine Bedingung, z.B. darf man sie nicht bei der Arbeit erblicken, wie bei den
Heinzelmännchen zu Köln oder sie möchten etwas für ihre Leistung bekommen wie der Froschkönig,
der nur die goldene Kugel aus dem Brunnen holt, wenn er mit der Königstochter leben darf. Im
Märchen Die drei Spinnerinnen tauchen drei alte Frauen als gute Feen auf und die geforderte
Gegenleistung ist vergleichsweise einfach: Sie möchten zur Hochzeit eingeladen werden als

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Verwandte. Im Märchen Rumpelstilzchen fragt das Männchen auch zuerst, „was gibst du mir, wenn
ich das Stroh zu Gold spinne?“ Es will helfen, aber nicht aus Nächstenliebe, sondern es erwartet eine
Gegenleistung, ist aber zunächst mit dem Halsband des Mädchens zufrieden. Die zwiespältige Figur
des Männchens wird in diesem Moment deutlich. Auf der einen Seite empfindet es Mitleid und es lässt
sich durch Tränen rufen, aber andererseits nutzt es auch die Notlage für sich.

Der Zusammenhang von Hilfe und Gegenleistung zeigt sich einigen Patientinnen und Patienten ganz
aktuell während ihrer Krankheit. Sie berichten von Erfahrungen in gewinnorientierten Krankenhäusern.
In einem gewissen Sinn werden auch hier Notlagen ausnutzt, denn bei vielen Patientinnen und
Patienten kommen diese Erinnerungen hervor bei dem Satz: „Was gibst du mir, wenn ich dir helfe?“

Die Maßlosigkeit

Die Müllerstochter hat etwas zum Einlösen und so kann das Stroh zu Gold gesponnen werden, aber
der König will mehr. Er führt das Mädchen am nächsten Abend in eine noch größere Kammer mit
Stroh. Noch einmal soll es dieses binnen einer Nacht zu Gold spinnen unter der Drohung, „wenn ihr
das Leben lieb wäre“. Wieder weiß sich das Mädchen nicht zu helfen, es weint und wieder kommt das
kleine Männchen. Dieses Mal wird das Stroh für einen Ring zu Gold gesponnen. Aber die
Goldgierigkeit des Königs kennt keine Grenzen und er setzt in der dritten Nacht das Mädchen in eine
noch größere Kammer mit einem Heiratsversprechen, denn bei ihm wiegt das Geld mehr als die
Herkunft.

In den Märchengesprächen kommt oft die Frage auf, ob denn tatsächlich die Brüder Grimm diese
detaillierte, thematische Auslegung so beabsichtigt hätten. Die Märchenforschung belegt einerseits die
Absicht der Verfasser, etwas Ursprüngliches für das Volk herauszugeben, aber andererseits haben sie
auch Jahrzehnte lang immer weiter an den Formulierungen gefeilt. Bei dem Märchen Rumpelstilzchen
aus einem älteren Volksmärchen haben sie sogar den Namen geändert und auch die Figur des
goldgierigen Königs. Sie bevorzugten diese vor einer anderen Variante, in der das Problem darin
besteht, dass das Mädchen „nur“ Gold spinnen kann. Auch einige andere Märchen zeigen die
charakterverderbende Eigenschaft der Goldbezogenheit, die im Zwerg in Schneeweißchen und
Rosenrot oder auch bei den Brüdern in Das Wasser des Lebens als Hauptwesenszug dargestellt wird.
Das Märchen nimmt so möglicherweise Bezug zur industriellen Entwicklung im 19. Jh., die das
Finanzwesen in der Gesellschaft änderte. Nun zählte Geld mehr als die familiäre Herkunft und das
Standesdenken.

Jakob und Wilhelm Grimm mögen zwar in ihrer politischen Einstellung unterschiedlich gewesen sein,
aber in den Märchen wird die Fokussierung auf das Geld als falsche Einstellung gesehen und sie
befinden sich mit ihrer Kritik an der Gier in bester Gesellschaft mit anderen Literaten und Komponisten
des 19. Jh. Ein Beispiel aus der Musikgeschichte ist Richard Wagner, der die Gefahr der Goldgier in
seinem „Ring“ als Hauptthema in vielen Variationen zum Ausdruck bringt. So lässt er den Riesen
Fafner im „Siegfried“ singen: „Ich lieg’ und besitz’“, was so viel heißt, dass er das Gold „be-sitzt“
und er sich darauf ausruhen kann, in seinem Schlaf nicht gestört werden will – und im Gegensatz
dazu stehen die Tätigen, die Arbeitenden, die sich Gold nicht erarbeiten können. Es wird nur
genommen, geraubt und es liegt ein „Fluch“ darauf.

Es geht im Märchen Rumpelstilzchen deshalb auch um die Gefahr des verengten materialistischen
Blicks auf das Leben. Die Steigerung der Goldgier des Königs erinnert an aktuelle Tendenzen von
Maßlosigkeit mancher Gehälter und Boni und an Gewinnversprechen deregulierter Bankengeschäfte.
Oft fällt an dieser Stelle einem Teilnehmer oder einer Teilnehmerin ein, wie der Sog des
Geldmachens, der Gewinnmaximierung, das eigene Leben beeinflusst hat und man „von sich weg
gekommen ist“ auf einen falschen Weg. Auf der anderen Seite berichten Patientinnen und Patienten
auch davon, dass ein Arbeitgeber die Zeit in einer Rehabilitationsklinik „nutzt“, um den

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möglicherweise unprofitablen Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin loszuwerden.

Das Lebendige ist wichtiger

Als der König beim dritten Mal die noch größere Kammer zeigt, macht er keine Androhung mehr,
sondern ein Heiratsversprechen: Das Mädchen soll wegen des Goldes den König heiraten. Es ist ein
Mann, der, wie zuvor der „arme“ Vater, nur im Gold-Horizont denkt und handelt. Wieder kommt das
Männchen herbei. Hatten wir den König in der ständigen Steigerung des Materiellen erfahren,
entspricht der dritte Wunsch des Männchens genau dem Gegenteiligen: Es möchte nichts Materielles,
ihm ist „etwas Lebendes lieber“. Das Männchen ist damit eine Gegenfigur mit anderen Werten. Das
Mädchen verspricht ihm das erste Kind in der Not. Es redet sich die Gefahr klein („wer weiß, wie das
noch wird“), aber es bleibt ihr ja auch gar nichts anderes übrig, um den Kopf aus der Schlinge zu
ziehen.

Das Motiv, das Erstgeborene weggeben zu müssen in der Not des Augenblicks, kennen viele
Märchen: Rapunzel, Das singende, springende Löweneckerchen, Marienkind, Das Mädchen ohne
Hände. Die Märchen erinnern auch an frühe Traditionen, das erste Kind einer höheren Macht zu
versprechen, um sie dadurch zu besänftigen. Das belegen Funde in Mooren aus der Zeit der
Germanen und Kelten. Von Kindesopfern wissen wir auch aus der griechischen Tragödie (Iphigenie)
und aus der Bibel, z.B. bei der versuchten Opferung Isaaks oder bei Jephtas Tochter.

In unserem Märchen reagiert das Männchen nicht aggressiv, sondern empfindet wieder Mitleid, als die
junge Königin zu jammern und zu weinen beginnt, und setzt sein Vorhaben nicht mit Brutalität durch.
Er gibt ihr eine Aufgabe: wenn sie diese zu lösen vermag, kann sie das Kind behalten.

Die Macht des Namens

Die Aufgabe besteht darin, den Namen des Männchens zu erraten, was als unlösbar erscheint, denn
es gibt eine unüberschaubare Fülle von Namen. Gleichzeitig ist der Name etwas so Persönliches,
dass das Männchen ihn mit seiner ganzen Existenz gleichsetzt und versucht, die Namensnennung zu
vermeiden. Den Namen zu wissen und auszusprechen, verleiht Macht. Die Beziehung schaffende
Kraft und das enge Verhältnis durch die Namensnennung wird in der christlichen Tradition im
Taufritual praktiziert. Wir spüren den engen Gottesbezug im Buch Jesaja (43,1): „Ich (Gott) habe dich
bei deinem Namen gerufen, du bist mein“, und wir lesen auch, dass die Namen im Buch des Himmels
geschrieben seien (Lk. 10,20). Damit wird gesagt, dass die Einzelnen bei Gott – so viele es auch sein
mögen – nach der jüdisch-christlichen Tradition nicht verloren gehen. Im hebräisch-jüdischen Kontext
ist es nur Gott selbst, dessen Name nicht ausgesprochen werden darf. Das Tetragramm JHWH wurde
mit anderer Vokalisation (Jehova) oder mit anderen Konsonanten, aber gleichen Vokalen (Adonaj)
angerufen. In diesem Sinne setzt sich also das Rumpelstilzchen an Gottes Stelle, wenn es für sich das
geheimnisvolle Wissen und das Nicht-Aussprechen des Namens beansprucht.

Bei der Reflexion des eigenen Namens wird deutlich, wie sehr er eine Person prägt. Er wird von
anderen gegeben, und das hat ebenso eine Bedeutung wie diejenige, die im Laufe eines Lebens
erwächst. Der Name verbindet mit den Vorfahren, wenn er nach einem bestimmten Ahnen ausgewählt
wurde, oder es besteht vielleicht ein religiöser Zusammenhang, denn sehr viele Namen gehen auf
Heilige der christlichen Tradition zurück, wie z.B. Anna, Barbara oder Paulus. Aber wir finden auch
andere Traditionen, sie sich in den Namen niederschlagen, wie das Symboltier Bär in Björn oder der
mythologische Name Heidrun.

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Wer bin ich?

Über Namen zu sprechen, öffnet den Zugang zur eigenen Geschichte, zur eigenen Existenz. In der
Besprechung dieses Märchens kann – je nach Zielgruppe – vertiefend damit gearbeitet werden. Es ist
nicht nur eine allgemeine Geschichte der (un)geliebten Namen, der Spitznamen und der
Namenswechsel. In einer Reha-Klinik mit kardiologischen und onkologischen Indikationen geht es im
besonderen Sinne um die eigene Lebensgeschichte. Die Krankheit und die Behandlung ist eine tiefe
Zäsur für Patientinnen und Patienten. Sie stellen sich Fragen: Wer bin ich? Habe ich so gelebt, wie ich
bin? Wer könnte ich in Zukunft sein? Für Herzpatientinnen und -patienten ist die eigene Mitte wichtig,
ihre Identität. Meist ist die Krankheit plötzlich eingetreten und sie trifft sie im Innersten. Eine andere
Frage ist, was möglicherweise in ihrem Leben zu viel oder falsch war, was gefehlt hat. Mit der
Möglichkeit der Anonymität im Internetzeitalter hat der Satz „Wie heiße ich?“ eine neue, bedrohliche
Version bekommen: „Ich weiß, wer du bist!“

Die Suche

Die junge Königin kämpft um ihr Kind. Obwohl sie selbst einen schlimmen Vater hatte, der sich nicht
um sie kümmerte, macht sie es nun anders. Sie wiederholt nicht ihre eigenen Erfahrungen bei ihrem
Kind, was leider in vielen Fällen der Misshandlung vorkommt. Diese junge Königin scheint sich
entwickelt zu haben, sie ist nicht mehr abhängig – weder vom Vater noch vom König. Sie nimmt die
Aufgabe selbst in die Hand, den Namen zu finden und bittet nicht ihren Mann, sondern sendet selbst
Boten aus, um alle möglichen Namen zu erforschen.

Nach der Rückkehr des Männleins nennt sie die Namen der Heiligen Drei Könige: Kaspar, Melchior
und Balthasar, die aus der christlichen Legende stammen. Beim zweiten Versuch wird das Märchen
an dieser Stelle humorvoll. Die Königin lässt nach der ersten Umfrage aus dem weiten Umfeld nun in
der nahen Umgebung, in der Nachbarschaft, nachfragen. Dabei kommen sehr merkwürdige Namen zu
Tage und wir können uns vorstellen, wie Nachbarn vielleicht beim verdeckten Blick aus dem Fenster
sich heimlich Spitznamen geben: „Rippenbiest“ oder „Hammelwade“ oder „Schnürbein“. Doch nach
jeder Namensnennung wiederholt das Männchen: „So heiß ich nicht“.

Nach dem dritten Tag kommt der Bote zurück und hat am Ende der Welt, dort, wo Fuchs und Has sich
Gute Nacht sagen, um die Waldecke geblickt an einem hohen Berg und ein kleines Haus gesehen, wo
um das Feuer ein „gar zu lächerliches Männchen auf einem Bein hüpfte und dabei schrie“: Heute
back ich, morgen brau ich, Übermorgen hol ich der Königin ihr Kind, Ach, wie gut, dass niemand weiß,
Dass ich Rumpelstilzchen heiß.

Nun ist der Name gefunden. Die Königin nennt beim dritten Mal zuerst die Namen „Hinz“ oder
„Kunz“. Sie erhöht damit nicht nur die Spannung, sondern beleidigt das Männchen ein wenig in der
Beliebigkeit dieser Namen, denn es waren die üblichsten Namen des Mittelalters, die vielen Söhnen
gegeben wurden nach den Kaisernamen Heinrich (Hinz) und Konrad (Kunz). Erst danach spricht sie
den richtigen Namen aus. Nun verliert das Rumpelstilzchen seine Existenz, es stampft auf und
zerreißt sich. Es ist die Enttäuschung, die eine lebensbedrohliche Wut auslöst und zu einem Zorn
wird, der zerstört und zerreißt. Sein Geheimnis wurde gelüftet. Es wurde erkannt und verliert seine
Existenz. Die Macht der Namensnennung kommt hier zu einem zerstörerischen Ende, weil das
Rumpelstilzchen anscheinend nur selbst wissen soll, wie es „eigentlich“ heißt und wer es ist.

Mit diesem Schluss wird auf die bereits erwähnte gegenteilige christliche Vorstellung hingewiesen, in
der der Name eine große Bedeutung hat. Zwar wird jeder Person das Besondere zugesprochen, aber
gleichzeitig gehört sie sich nicht nur alleine, wenn sie auf den Namen Gottes getauft ist. Und so ist die
Gefahr nicht groß, das Geheimnis des eigenen Namens mit anderen zu teilen.

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Der Bezug zu der anderen, spirituellen Ebene erhärtet sich auch durch den letzten Satz, den
Rumpelstilzchen ausspricht. Es vermutet, dass die junge Königin den richtigen Namen vom Teufel
habe, der anscheinend alles weiß. Diese Vorstellung vom Teufel wird auch im Grimmschen Märchen
vom Teufel mit den drei goldenen Haaren vorausgesetzt. Die Teufelsgroßmutter fragt den Teufel nach
den „Geheimnissen“, während sie ihm einzelne Haare herausreißt, wohl wissend, dass der Teufel auf
alle Fragen dieser Welt eine Antwort hat. Nur mit seinem Wissen kann das Glückskind letztendlich
seine Lebensaufgaben lösen. In jenem Märchen ist merkwürdigerweise nicht der Teufel die
Gegenfigur zum Glückskind, noch nicht einmal sind es die Räuber im Wald, sondern einmal mehr ein
gieriger und böser König, der – und das zeigt dort der Schluss – sein Leben mit dieser Haltung
verfehlt.

Die selbstzerstörerische Wut Rumpelstilzchens ist beeindruckend. Viele sagen das als Erstes
nachdem sie das Märchen im Ganzen angehört haben. Der Name wurde sogar sprichwörtlich, denn
man nennt „Rumpelstilzchen“ eine Person, die sich sehr aufregt und rotgesichtig wild gestikuliert.
Aber das Thema von unkontrollierter Wut und Hass ist auch politisch aktuell und kann auf der
persönlichen Erfahrungsebene mit Patientinnen und Patienten besprochen werden.

Rumpelstilzchen – der Schluss

Mit wem haben wir es in diesem Märchen zu tun? Stilzchen könnte von Stelzen kommen, dann hätte
es einen Bezug zu „sich größer machen“ zu wollen, als man ist. Dahinter mag dann auch die
Einsamkeit stecken, alles im Leben alleine schaffen zu müssen – zu verbergen, wer man eigentlich ist.
Daraus folgt auch Angst, was passiert, wenn man erkannt wird, die der Wut zugrunde liegen kann. Der
erste Teil des Namens ist ein lautmalerisches Wort: Rumpel. Rumpeln ist ein dumpfes, polterndes
Geräusch. Wir kennen als gebräuchliches Wort die Rumpelkammer. Vielleicht ist also dieses Männlein
ein kleiner Poltergeist.

Aber dieses Rumpelstilzchen, vorher klar als kleiner Mann bezeichnet, ist noch mehr. Es macht sich
anscheinend an Frauenarbeiten wie das Backen und vor allem das Brauen von Bier, das
Jahrhunderte lang meist von Frauen praktiziert wurde. Wenn wir seine Fähigkeit zu spinnen noch
hinzunehmen wird deutlich, dass dieses Rumpelstilzchen eindeutig den Frauen zugeordnete
Kenntnisse hat. Da ist es fast folgerichtig, dass es sich auch noch daran macht, ein Kind zu
bekommen. Rumpelstilzchen erscheint so als androgyne Figur.

Das ist bemerkenswert und lässt uns weiter fragen nach verwandten Figuren im Märchen und in der
Mythologie. Das bereits erwähnte Märchen von den drei Spinnerinnen erzählt von dieser
frauenspezifischen Seite des Spinnens und lässt in den drei alten Frauen die Verwandten der drei
Nornen auftreten, die nicht auf unserer Welt wohnen und den Lebensfaden, das Seil des Geschickes,
spinnend in den Händen halten. Sie entsprechen den „Drei Ewigen“, den „Drei Bethen“ oder auch
den „Drei Schenkerinnen“ mit dem Füllhorn aus der keltischen, römischen und germanischen
Mythologie, die am Ende der Welt oder in der „Anderswelt“ wohnen – an einem ähnlichen Ort wie das
Rumpelstilzchen, der sich dort aufhält, wo „Fuchs und Has sich Gute Nacht sagen“. Rumpelstilzchen
gehört auch zu den übernatürlichen Wesen und bleibt bis zuletzt unbestimmt und geheimnisvoll.

Einige Anmerkungen zur Besprechung des Märchens

In der Methodik kann einem üblichen seelsorgerlichen Gruppengespräch gefolgt werden. Da die
Brüder Grimm auf die differenzierte Besonderheit des sprachlichen Ausdrucks Wert gelegt haben – sie
haben ja außer der Märchensammlung noch jeweils drei Bände über die deutsche Sprache und
Mythologie verfasst – ist die Originalfassung des Märchens zu bevorzugen. Auf die Wichtigkeit des

                  Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.   Seite 6/7
jeweiligen ersten Satzes, der die Ausgangslage und meist auch die Problematik anzeigt, wurde bereits
                                   hingewiesen. Aber auch in anderen Passagen sind die feinen sprachlichen Unterschiede bei
                                   Wiederholungen und Beschreibungen für die Erfassung des Inhalts von Bedeutung.

                                   Zum Schluss sollte den Teilnehmenden noch einmal Gelegenheit gegeben werden, das Gesagte
                                   Revue passieren zu lassen, um den eigenen Bezug zu finden und zu formulieren. Diese
                                   Schlussperspektive kann so wichtige Erkenntnisse beleuchten, die möglicherweise in Zukunft für das
                                   eigene Leben relevant werden können. Nicht selten entspinnt sich an dieser Stelle noch einmal ein
                                   intensives Gespräch, da im Rückblick die Dimensionen eine andere Zuordnung erfahren können und
                                   mittlerweile das Vertrauen gewachsen ist, eigene Erfahrungen anderen mitzuteilen.

                                   Literatur

                                   Angela Waiblinger (1989): Rumpelstilzchen – Gold statt Liebe (Weisheit im Märchen), Zürich: Kreuz
                                   Verlag

                                   Rumpelstilzchen in: Kinder und Hausmärchen – gesammelt durch die Brüder Grimm, Nr. 55 (1990),
                                   Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag (nach der Großen Ausgabe 7. Aufl. v. 1857, Göttingen: Dieterich)

                                   Eine schöne Ausgabe: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm in drei Bänden
                                   mit Zeichnungen von Otto Ubbelohde und einem Vorwort von Ingeborg Weber-Kellermann (1984),
                                   Baden-Baden: Insel Verlag (Rumpelstilzchen, Bd. 1, 318-321)

                                   Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771

                                   Herausgeber:
                                   Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V
                                   Heinrich-Wimmer-Straße 4
                                   34131 Kassel

                                                         Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.   Seite 7/7

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