Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey - Georg Solti

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Sonntag, 3. Oktober 2021
                                                                       15.03 – 17.00 Uhr

                  Franz Schubert
    Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

           Das Wandern: Schuberts Lebensmotiv (14/21)

Herzlich willkommen zu einer neuen Folge! Sie beginnt mit einem der schönsten Lieder
überhaupt, für mich jedenfalls:

1   EMI                 Franz Schubert                                                  1‘41
    LC 006646           „Der Wanderer an den Mond“ D 870
    7475492             Barbara Hendricks, Sopran
    Track 1             Radu Lupu, Klavier
                        (1986)

„Ich wandre fremd von Land zu Land,/ so heimatlos, so unbekannt“ - dichtet Johann
Gabriel Seidl, und Schubert vertont dessen „Wanderer an den Mond“ 1826. Wir hören ein
lyrisches Ich, das voller Sehnsucht, ja fast neidvoll der Bahn des Mondes folgt, am Himmel
„endlos ausgespannt“, in dessen „geliebtem Heimatland“. Es sang die US-amerikanische
Sopranistin Barbara Hendricks, sehr schnell, voller Unruhe und Nervosität. Sie wurde
begleitet von Radu Lupu.

Das Wandern, das Herumirren und In-Bewegung-Sein, ohne jemals anzukommen, die
Heimatlosigkeit – das ist eines der zentralen Lebens- und Schaffensmotive von Schubert
und soll heute mein Thema sein. Einsam sind diese Wanderer-Figuren, vom Müllergesellen
über den Winterreisenden bis zur jungen Mignon aus den „Wilhelm Meister“-Vertonungen.
Einsam und immer auf der Suche nach einem besseren Ort und einer besseren Zeit. Sicher
gibt es Berührungspunkte zwischen den Schubert-Figuren und dem Wanderer-Motiv als
romantischen Topos, wie er sich später etwa bei Eichendorff findet. Die eigene Lebenswelt
ist marode, politisch, gesellschaftlich, emotional – also rettet man sich in die Fantasie, in
die Kunst. Das Besondere an Schubert ist, dass er oftmals genau diesen Prozess kompo-
niert, das schöpferische Sich-Herausarbeiten aus der Wirklichkeit. Auch dafür steht bei ihm
das Wandern.

Zum Beispiel – der Name sagt es – in seiner „Wandererfantasie“. Sie entsteht im Herbst
1822 und bezieht sich auf ein anderes, früheres Wanderer-Lied, das Schubert bereits sechs
Jahre zuvor komponiert (nach Schmidt von Lübecks „Ich komme vom Gebirge her“). Diese
Fantasie ist der für Schubert seltene Fall eines Klavierwerks, das die poetische Notwendig-
keit der Musik mit pianistischer Virtuosität und Brillanz verbindet. Das Wanderer-Thema
trägt die Textzeilen „Die Sonne dünkt mich hier so kalt,/ die Blüte welk, das Leben alt,/ und
was sie reden, leerer Schall;/ ich bin ein Fremdling überall.“
Alexander Melnikov mit dem ersten Satz.
Franz Schubert – 14. Folge                Seite 2 von 11

2    HMM                  Franz Schubert                                                  5‘41
     LC 07045             Fantasie C-Dur D 760 „Wanderer Fantasie“
     902299               1. Allegro con fuoco ma non troppo
     Track 1              Alexander Melnikov, Klavier
                          - Alois Graff Piano 1828/1835
                          (2018)

Alexander Melnikov mit dem ersten Satz, Allegro con fuoco ma non troppo, aus der Fanta-
sie in C-Dur D 760, der so genannten „Wandererfantasie“. Stampfende Rhythmen, kaum
romantisches Klangfleisch – beschaulich ist dieses Wandern nicht. Wie Sie gerade gehört
haben, spielt Melnikov auf einem historischen Instrument, auf einem Piano von Alois Graff,
auf einem Instrument aus der Schubert-Zeit. Und das macht diese Musik in ihrer Ziel-
losigkeit nur noch entschiedener. Wandern, um des Wanderns willen.

Wer vom Wanderer spricht, vom Wandern und Kreisen als Schubertscher Grundfigur, der
denkt sofort an „Das Wandern ist des Müllers Lust“ – an das erste Lied aus der „Schönen
Müllerin“. Sie soll auch im Zentrum meiner heutigen Sendung stehen.

Schubert komponiert seinen ersten großen Liederzyklus im Oktober und November 1823,
frisch zurück in Wien nach seiner zweiten Reise mit dem Sänger Johann Michael Vogl und
gesundheitlich auf dem Weg der Besserung, nach einem ersten heftigen Syphilis-Schub. „Es
wird nicht lange dauern, so wird er wieder in seinen eigenen Haaren gehen, die wegen des
Ausschlags geschoren werden mussten“, schreibt der Maler Moritz von Schwind an
Schuberts Mentor Josef von Spaun. 20 Lieder umfasst dieser erste Zyklus, textlich geht er
zurück auf die „Sieben und siebzig nachgelassenen Gedichte eines reisenden Waldhornis-
ten“ von Wilhelm Müller. Müller ist Freiheitskämpfer gegen Napoleon, eifriger, gesell-
schaftskritischer Salon-Besucher in Berlin und Gegner der türkischen Besetzung Griechen-
lands, weswegen er auch „Griechen-Müller“ genannt wird. Schon der Titel seiner Gedicht-
sammlung sagt es: Müller meint nicht alles ernst, er arbeitet auch mit Ironie. Das wiederum
ist Schuberts Sache nicht, ist seine Sache nie. Und so vertont er von den 25 Gedichten der
„Schönen Müllerin“ auch nur 20.

Das Denkwürdige am ersten „Müllerinnen“-Lied: Es heißt zwar „Das Wandern“, ein originä-
rer Wander-Rhythmus aber will sich hier nicht einstellen. Eher fühlt man sich an eine Art
Walzerbegleitung erinnert, mit der führenden Harmonie im Bassregister. Der Müllerbur-
sche nimmt Abschied, es zieht ihn hinaus in die Welt.

3    Andromeda            Franz Schubert                                                  2‘23
     LC 10254             1. „Das Wandern“ aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
     5009                 Julius Patzak, Tenor
     Track 1              Michael Raucheisen, Klavier
                          (1943/44)

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Franz Schubert – 14. Folge                 Seite 3 von 11

Der Wiener Tenor Julius Patzak mit Schuberts „Schöner Müllerin“. Die Aufnahme ent-
stammt der berühmt-berüchtigten „Lied der Welt“-Edition des Pianisten Michael Rauchei-
sen, und entstand während des Zweiten Weltkriegs 1943/44 in Berlin. Gefeiert wurde Patz-
aks „Müllerin“ für ihre Modernität, für ihren Mut, alles Volkslied-selige zu verweigern und
den Zyklus in seinem Schmerz erblühen zu lassen. Das mag für heutige Ohren nicht mehr
recht nachvollziehbar sein, das Gespür für eine musikalische Wahrheit im Vordergrund und
eine im Hintergrund aber vermittelt sich schon.

Ich möchte jetzt einmal durch den ganzen Zyklus hindurchgehen mit verschiedenen Inter-
preten von Anfang bis Ende.

Welche Geschichte erzählt „Die schöne Müllerin“? Vordergründig die eines Müllergesellen,
der sich auf Wanderschaft in eine Müllerin verliebt, sich mit ihr im Liebesglück wähnt, als-
bald aber den Kürzeren zieht – weil ein Jäger auf den Plan tritt, den die Müllerin schlicht-
weg attraktiver findet als den sensiblen Müllersmann. Die Folge: Liebes-Aus, Enttäuschung,
große Krise, Rückzug und mutmaßlicher Selbstmord. Von all dem ist am Anfang noch nicht
die Rede, von der optimistischen Grundtonart B-Dur wechselt Schubert im zweiten Lied ins
nicht minder freundliche G-Dur. Gehende Achtel im Bass, wellenartige Sextolen darüber:
Der Müller trifft wandernd auf den Bach.

„Wohin?“: Christian Gerhaher und Gerold Huber.

4    Sony                    Franz Schubert                                                2‘31
     LC 06868                2. „Wohin?“ aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
     88985427402             Christian Gerhaher, Bariton
     Track 3                 Gerold Huber, Klavier
                             (2017)

Eine der jüngeren Aufnahmen der „Schönen Müllerin“ von 2017, Christian Gerhaher und
Gerold Huber mit „Wohin?“. Die Entscheidung ist gefallen, der Müller folgt dem Bachlauf,
was insofern auch logisch ist, als er ja Arbeit sucht und Mühlen immer Wasser brauchen.
Früher oder später wird er also auf eine Mühle treffen. Schubert zeigt – und das ist das
Interessante an diesem Lied –, wie stark hier irrationale Kräfte wirken. Das Rauschen des
Wassers, das Berauschtsein von der Idee, sich dem Element anzuvertrauen, ja hinzugeben,
der Gesang „der Nixen tief unten im Rhein“ – all das führt dazu, dass man weniger den
Strophen des Liedes folgt, als dessen freier innerer Ordnung. Der Müllerbursche bricht auf
ins Ungewisse, er gehorcht seinem Gefühl, und die musikalische Form tut es auch.

Das allerdings hat seinen Preis. „Halt!“, das dritte Lied.

5    DHM                       Franz Schubert                                              1‘28
     LC 00761                  3. „Halt!“ aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
     05472 77273 2             Christoph Prégardien, Tenor
     Track 3                   Andreas Staier, Hammerflügel
                               (1992)

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Franz Schubert – 14. Folge                  Seite 4 von 11

Harmonisch gerät das Geschehen hier deutlich in Bewegung. Ob sie nun malen oder pol-
tern, die Mühlenräder, dem Müllerburschen ist alles „süßer Mühlengesang“. Es drängt ihn
förmlich zur Mühle hin, seine Erwartungen sind halb ängstlich, halb euphorisch. Der Tenor
Christoph Prégardien, begleitet von Andreas Staier am Hammerflügel mit „Halt!“ aus der
„Schönen Müllerin“.

Und da ist sie, endlich, möchte man fast sagen, die Müllerin. Geschildert wird im folgenden
vierten Lied allerdings nicht die magische erste Begegnung mit ihr, sondern vielmehr die
Wirkung dieser Begegnung auf den Müller. Eine Wirkung, die sich im Zwiegespräch mit
dem Bach offenbart. Wir befinden uns wieder in der Grundtonart des Zyklus, in G-Dur, und
was tut Schubert? Er entlarvt die selbst gesetzte Stabilität als eine trügerische. Und er tut
das, indem er die vielen Fragen des Gedichts in G-Dur setzt – und die Antworten, die der
Bursche noch gar nicht kennen kann, ebenfalls. Die Frage „War es also gemeint,/ mein
rauschender Freund?“ wird ihm ebenso zur Gewissheit wie die Richtung, die der Bach ihm
weist: „zur Müllerin hin, zur Müllerin hin!“. Doch sagt der Bach das wirklich?

„Danksagung an den Bach“: Ian Bostridge und Mitsuko Uchida.

6    Warner                        Franz Schubert                                           2‘39
     LC 02822                      4. „Danksagung an den Bach“ aus:
     0825646204182                 „Die schöne Müllerin“ D 795
     Track 4                       Ian Bostridge, Tenor
                                   Mitsuko Uchida, Klavier
                                   (2005)

Ian Bostrigde und Mitsuko Uchida mit der „Danksagung an den Bach“. Es scheint, als sei
dieser Müllerbursche von Anfang an fein raus: Schuld an allem ist der Bach, als Projektions-
fläche und allegorisches alter ego, der Bach, dem er sich anvertraut und der ihn buchstäb-
lich zur Müllerin verführt. Der Bursche, der da so schicksalhaft liebt und bangt und hofft
und am Ende an sich und der Welt verzweifelt, ist keine Märchenbuchgestalt. Er ist nicht
einem zeittypischen Liederspiel entsprungen, das in geselliger Runde mit verteilten Rollen
gelesen wird; dieser Bursche ist vielmehr ein romantisch zerrissenes, sich im Poetischen
spiegelndes Künstler-Ich. Mehr als einmal nennt ihn der Dichter Wilhelm Müller einen
„armen weißen Mann“. Weiß wie ein Blatt Papier, weiß im Gegensatz zur Pracht der Natur
ringsherum und auch und im Gegensatz vor allem zum Saft des Jägergrüns. Dieser junge
Mann lebt im Konjunktiv, er ist einer von vielen, und wenn das Mädchen nach Feierabend
„allen“ eine gute Nacht sagt (und nicht nur ihm!), dann leidet er wie ein Hund, in d-Moll
und mit neapolitanischem Sextakkord, dem Leidensakkord an sich.

7    Capriccio            Franz Schubert                                                    2‘26
     LC 08748             5. „Am Feierabend“ aus:
     5044                 „Die schöne Müllerin“ D 795
     Track 5              Daniel Behle, Tenor
                          Sveinung Bjelland, Klavier
                          (2010)

Daniel Behle und Sveinung Bjelland mit „Am Feierabend“.

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Franz Schubert – 14. Folge                  Seite 5 von 11

Könnte „Die Schöne Müllerin“ nicht auch anders gehört und verstanden werden? Also nicht
als das Klischee einer unglücklichen Liebesgeschichte? Schuberts nächstes Lied, das
sechste, legt das nahe: Plötzlich scheint der Bursche, das Ich, der Künstler eine Perspektive
zu sehen, einen Lebenssinn: die Liebe, sei sie nun glücklich oder unglücklich, die Projektion
der eigenen Gefühle auf wen oder was auch immer, als Quelle der künstlerischen Inspirati-
on. Und mit einem Mal ist alles anders, ist alles H-Dur, sehr langsam, sehr gedehnt, sehr
exaltiert und „wunderlich“.

Pavol Breslik und Amir Katz mit dem „Neugierigen“.

8    Orfeo                Franz Schubert                                                    4‘30
     LC 08175             6. „Der Neugierige“ aus:
     C 737151 A           „Die schöne Müllerin“ D 795
     Track 8              Pavol Breslik, Tenor
                          Amir Katz, Klavier
                          (2009)

Was für ein Akkord, was für eine Dissonanz im vorvorletzten Takt dieses Klaviernachspiels.
Amir Katz spielt dieses, als würde er sich hier verspielen, als hätte man es wirklich mit
falschen Tönen zu tun. Schade, dass er in dieser Aufnahme mit dem slowakischen Tenor
Pavol Breslik nur leise zu hören ist und so weit im Hintergrund sitzt. Das jedenfalls ist
Schuberts Antwort auf die spätere Frage des Müllerburschen „Sag Bächlein, liebt sie mich?“
Nein, sie liebt ihn nicht. Von Anfang an nicht. Der Bach weiß das. Und er weiß auch, wie
sehr am Herzen des Burschen der Zweifel nagt. Ein Zweifel, der sich zunächst noch
übertönen lässt, durch drängende Achteltriolen im Klavier und auftaktige Verse in der
Singstimme – und in einer fast kindlich trotzigen Beschwörung des Liebesglücks in A-Dur.

„Ungeduld“.

9    DG                                 Franz Schubert                                      3‘06
     LC 00173                           7. „Ungeduld“ aus:
     445 863-2                          „Die schöne Müllerin“ D 795
     Track 9                            Brigitte Fassbaender, Mezzoropran
                                        Aribert Reimann, Klavier
                                        (1993)

Brigitte Fassbaender und Aribert Reimann 1993. Die weibliche Stimme leistet hier eine
Abstraktion, die gerade für die „Müllerin“ aufschlussreich sein kann. Die „Winterreise“
begreift man ja eher als abstrakt, als Introspektion; der „Müllerin“ hingegen haftet nach
wie vor etwas liederspielhaftes an, eine anschaulich zu erzählende Geschichte mit han-
delnden Personen. Zwischen diesen beiden Lesarten, der abstrakten und der anschauli-
chen, muss sich jede Interpretin, jeder Interpret entscheiden.

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Franz Schubert – 14. Folge                  Seite 6 von 11

Die große Sexte ist das Intervall des Müllergesellen, viele Lieder eröffnen mit solch
emphatischem Schwung. Auch das nächste, der „Morgengruß“. Doch hören Sie einmal, was
aus dieser Emphase in gut vier Minuten wird: eine Verstörung, ein „resigniertes Absinken“,
so nennt es der Musikwissenschaftler Trasybulos Georgiades.

10    Calliope            Franz Schubert                                                    4‘28
      LC 02930            8. „Morgengruß“ aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
      9379                Nathalie Stutzmann, Alt
      Track 8             Inger Södergren, Klavier
                          (2008)

Die Müllerin in verstörender Distanz: „Morgengruß“, das waren Nathalie Stutzmann und
Inger Södergren.

Noch immer lässt sich der Müller nicht entmutigen, noch gibt er die Hoffnung nicht auf.

Die nächsten Lieder, „Des Müllers Blumen“ und „Tränenregen“, fußen beide auf der Lie-
besglück-Tonart A-Dur. Das erste mit sanften harmonischen Nebenstufen und betont ein-
fach in seinem strophenseligen 6/8-Takt. Das zweite hingegen, „Tränenregen“, beginnt
gleich mit einer Dissonanz, als einziges Lied des Zyklus. Und in diesem Sinne geht es weiter.
Mollstimmung macht sich breit, die letzte Strophe steht sogar geschlossen in a-Moll. Der
Müller, sagt Schubert, ist in seiner Sehnsucht allein. Das trauliche Beisammensein mit der
Müllerin existiert nur in seiner Fantasie, und das weiß er. Auch wie hartherzig die Müllerin
sein kann, ist ihm klar. Ihr „ade! ich geh nach Haus“ im letzten Vers steht wiederum in A-
Dur. Sie hat keinen Grund, traurig zu sein.

Der junge Schweizer Tenor Mauro Peter mit „Des Müllers Blumen“ und „Tränenregen“.

11      WHLive                        Franz Schubert                                        7‘21
        LC 14458                      9. „Des Müllers Blumen“
        0075                          10. „Tränenregen“
        Track 9 + 10                  aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
                                      Mauro Peter, Tenor
                                      Helmut Deutsch, Klavier
                                      (2014)

Nicht nur in der Schweiz wird er als ein neuer Fritz Wunderlich gefeiert: der knapp 34-
jährige Tenor Mauro Peter, hier begleitet von Helmut Deutsch, mit „Des Müllers Blumen“
und „Tränenregen“.

Da machen wir doch gleich die Probe aufs Exempel und hören Wunderlich selbst. Er war
bei seiner ersten Aufnahme der „Schönen Müllerin“ gerade einmal 26. Und diese frühe
Einspielung mit Kurt Heinz Stolze am Klavier verströmt eine Jugendlichkeit, eine wissende
Naivität, die man so nirgends wiederfindet, auch nicht in der späteren Wunderlich-
Aufnahme mit Hubert Giesen. Lange galt Wunderlich als Inkarnation des jugendlich-
lyrischen Schubert-Helden. Zu Recht, immer noch.

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Franz Schubert – 14. Folge                   Seite 7 von 11

12      GD                            Franz Schubert                                         2‘34
        LC 00202                      11. „Mein!“ aus:
        69312                         „Die schöne Müllerin“ D 795
        Track 11                      Fritz Wunderlich, Tenor
                                      Kurt Heinz Stolze, Klavier
                                      (1957)

Siegesjubel, kein Zweifel weit und breit: Fritz Wunderlich 1957 mit „Mein!“, dem elften
Lied aus der „Schönen Müllerin“.

Es mag ein bisschen mühselig sein, hier immer wieder den Gang einzelner Modulationen zu
rekapitulieren, schließlich wollen wir Schubert hören und nicht Harmonielehre treiben.
Was harmonisch allerdings im nächsten Lied passiert, in „Pause“, ist regelrecht
schockierend. Der Müller allein, mit seiner „Laute“, mit seinem Gesang. Von B-Dur führt
hier der Weg über allerlei Ab- und Nebenwege nach Fes-Dur, einer Tonart mit acht „bs“ als
Vorzeichen! Exotischer, entlegener geht es nicht. „Ist es der Nachklang meiner Liebespein?/
Soll es das Vorspiel neuer Lieder sein?“, fragt hierzu das lyrische Ich. Es geht um alles oder
nichts. Um eine Liebe, die von Anfang an offenbar Illusion war, Einbildung, und um eine
Krisenbewältigungsstrategie, die sich ihrer selbst nicht sicher ist. Wenn das Leben nicht
gelingt, glückt dann die Kunst? Und: welche Kunst?

13      Decca                         Franz Schubert                                         4‘27
        LC 00171                      12. „Pause“ aus:
        478 1528                      „Die schöne Müllerin“ D 795
        Track 12                      Jonas Kaufmann, Tenor
                                      Helmut Deutsch, Klavier
                                      (2009)

Der Star-Tenor als Lied-Interpret: Jonas Kaufmann 2009 mit „Pause“ aus der „Schönen
Müllerin“. Helmut Deutsch war der Pianist. Und nur so viel vielleicht zu dieser Aufnahme:
Kaufmann begreift den Müllerburschen als Rolle und erfüllt sie im besten Sinn intuitiv. Das
Handgreifliche, Virile liegt ihm dabei mehr als alle doppelten Böden und Meta-Diskurse. Die
Arbeit in der Mühle, der Liebesjubel, die Eifersucht auf den Jäger, das wirkt glaubwürdig.

Und auch ich mache jetzt, da das Blatt im Zyklus sich wendet, eine Pause, eine
„Müllerinnen“-Pause. Es ist, wie wir sehen werden, das Nicht-Wandern und Stillstehen, das
den Burschen ins Elend stürzt. Solange er sich bewegt, hat er alle Möglichkeiten, selbst
wenn am Ende keine davon Wirklichkeit wird. Genau das sagt auch der langsame Satz aus
der großen C-Dur Sinfonie, das „Urbild des wandernden Gestus bei Schubert“, wie der
Musikwissenschaftler Dietmar Holland einmal schreibt. A-Moll, das Geschehen treibt auf
einen katastrophischen Höhepunkt zu, Zusammenbruch, Generalpause, unfassbare Stille.
Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, erheben die Celli ihre Stimmen, zögerlich,
tastend, als würden sie sagen: Es lässt sich trotzdem weitersingen, irgendwie.

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Franz Schubert – 14. Folge                     Seite 8 von 11

Andante con moto: Roger Norrington und das Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR.

14      SWR                           Franz Schubert                                         12‘19
        LC 10622                      Sinfonie Nr. 9 C-Dur D 944 „Die Große“
        19506                         2. Andante con moto
        Track 2                       Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
                                      Ltg.: Roger Norrington
                                      (2001)

Das Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Roger Norrington mit dem zweiten
Satz aus der Sinfonie Nr. 9 in C-Dur D 944.

Und damit zurück zur „Schönen Müllerin“. Verlassen haben wir den Müllerburschen und
Sänger in einem Moment des Innehaltens. Die Laute hing an der Wand, „Ich kann nicht
mehr singen, mein Herz ist zu voll,/ weiß nicht, wie ich‘s in Reime zwingen soll“, hieß es in
„Pause“. Noch einmal schöpft er jetzt neue Hoffnung, vertreibt er alle Moll-Gespinste, ganz
gleich, ob die Müllerin nun tatsächlich zu ihm spricht oder nur in seiner Einbildung, im
Traum.

„Mit dem grünen Lautenbande“.

15      Capriccio                     Franz Schubert                                           2‘02
        LC 08748                      13. „Mit dem grünen Lautenbande“ aus: „Die
        10 082                        schöne Müllerin“ D 795
        Track 13                      Josef Protschka, Tenor
                                      Helmut Deutsch, Klavier
                                      (1986)

Josef Protschka und wiederum Helmut Deutsch 1986.

Jetzt aber ändert sich alles, Personal, Welt, Tongeschlecht: c-Moll, große Hast, nicht die
kleinste Pause zwischendrin; dafür schnellen die Spitzentöne in der Melodie über eine
ganze Oktave hinweg nach oben. Das ist „Der Jäger“. Dann harmonische und emotionale
Zerrissenheit zwischen g-Moll und G-Dur, Hörnerfanfaren, der Jäger hat sich eingenistet in
der Idylle, der Müller will sich nichts anhaben lassen. Das ist „Eifersucht und Stolz“.

Es singt Jochen Kowalski, es spielt Markus Hinterhäuser.

16      Capriccio                     Franz Schubert                                           3‘10
        LC 08748                      14. „Der Jäger“
        10 774                        15. „Eifersucht und Stolz“
        Track 14 + 15                 aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
                                      Jochen Kowalski, Countertenor
                                      Markus Hinterhäuser, Klavier
                                      (1995)

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Franz Schubert – 14. Folge                Seite 9 von 11

Wunderbar, wie das Klavier hier Widerhaken setzt, wie es zornig ist und doch verstehen
will: der Pianist Markus Hinterhäuser und der Countertenor Jochen Kowalski, zuletzt mit
„Eifersucht und Stolz“.

Wie es um den Müllerburschen wirklich bestellt ist, zeigen die nächsten beiden Lieder, zum
ersten Mal überhaupt, kurz vor dem Ende des Zyklus. Bis hierher war vieles Idee, Illusion,
Täuschung, Selbsttäuschung, Spiel, Fassade. Jetzt fallen die Masken, irgendwo zwischen
h-Moll und H-Dur. Resignation greift um sich, Ambivalenzen klaffen, ein Zügenglöcklein
läutet wie vorzeitig zum Tod. Jagdhörner streuen Salz in die Wunden, und alle
Seelenmalerei ist nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Vor allem aber will der alte
Wandergestus nicht recht zünden, alle Bewegung, jeder Schritt ist ein Tritt auf der Stelle.

Florian Boesch und Malcolm Martineau mit „Die liebe Farbe“ und „Die böse Farbe“.

17      Onyx                          Franz Schubert                                      7‘14
        LC 19017                      16. „Die liebe Farbe“ aus:
        4112                          „Die schöne Müllerin“ D 795
        Track 14 + 15                 17. „Die böse Farbe“ aus:
                                      „Die schöne Müllerin“ D 795
                                      Florian Boesch, Bariton
                                      Malcolm Martineau, Klavier
                                      (2013)

Und wieder läutet von Ferne das Totenglöckchen: Wir hörten den Wiener Bariton Florian
Boesch und den Pianisten Malcolm Martineau mit einem der extremsten „Müllerinnen“-
Lieder überhaupt, der „Bösen Farbe“.
Aber es kommt noch schlimmer. „Trockne Blumen“ heißt das folgende, das 18. Lied, vom
Rhythmus her ein Trauermarsch. Die Natur ist verdorrt, die Liebe gestorben, und der
Müllerbursche wird schier verrückt vor Todessehnsüchten und Frühlingsträumen. Schubert
breitet hier eine Vision aus, die irrer nicht sein könnte: Die Müllerin, so geht dieser
Todesfiebertraum, wandelt am frisch aufgeschütteten Grabhügel des Burschen vorbei,
bereut, erkennt, wen sie da verschmäht hat – und plötzlich beginnen die Blumen, die er mit
unter die Erde genommen hat, wieder zu knospen und zu blühen. Großartig. Gespenstisch.

Noch einmal Brigitte Fassbaender und Aribert Reimann.

18      DG                            Franz Schubert                                      3‘42
        LC 00173                      18. „Trockne Blumen“
        445 863-2                     aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
        Track 22                      Brigitte Fassbaender, Mezzoropran
                                      Aribert Reimann, Klavier
                                      (1993)

Ein Lied wie auf Eis: stoisch im Klavier, tonlos und fahl im Gesang. Und doch: immer noch
sinnlich, immer noch da, das kleinste Fünkchen Hoffnung würde genügen. Es sang Brigitte
Fassbaender.

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Franz Schubert – 14. Folge                Seite 10 von 11

Spätestens jetzt ist der Freitod des Müllerburschen beschlossene Sache, die Müllerin hat
ihn verraten und selbst der Bach, sein alter Weggefährte, seine Projektionsfläche, kann ihn
nicht trösten. Das Schlimmste aber ist, dass das Wandern, die Suche nach einem neuen
Glück, keine Option mehr darstellt. Und damit auch: der Weg in die künstlerische Arbeit,
die Verwandlung des Lebensleids in Gesang.

Schubert weiß 1823, dass er unheilbar krank ist, und komponiert einen Lieder-Zyklus, der
eine unglückliche Liebesgeschichte erzählt, gewiss. Aber er erzählt hier eben auch von
Dingen zwischen Himmel und Erde, die sich nicht in Kunst aufheben lassen. Was für ein
Befund.

19      HMC                           Franz Schubert                                       4‘47
        LC 07045                      19. „Der Müller und der Bach“
        901995                        aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
        Track 19                      Matthias Goerne, Bariton
                                      Christoph Eschenbach, Klavier
                                      (2009)

Matthias Goerne und Christoph Eschenbach mit dem vorletzten Lied aus der „Schönen
Müllerin“ - „Der Müller und der Bach“.

Was jetzt noch kommt, im letzten Lied, ist abgrundtief traurig. Es spricht der Bach, er darf
den Burschen in seinen Fluten betten. Und er tut das mit einem Lied, das halb Wiegenlied
ist, halb Totentanz, das schreitet und fließt und bis zum Schluss das Horn des Jägers nicht
vergisst. Schwer zu sagen, wie Schubert das macht, aber bei aller Traurigkeit weht
trotzdem etwas Versöhnliches durch diese Musik, vielleicht der Rest jener romantischen
Utopie, jener Metaphysik der Schönheit und der Poesie, die der Mensch und Künstler nicht
verloren geben darf, ohne sich selbst zu verlieren.

Mark Padmore und Paul Lewis mit „Des Baches Wiegenlied“.

20      HMU                           Franz Schubert                                       6‘54
        LC 07045                      20. „Des Baches Wiegenlied“
        907519                        aus: „Die schöne Müllerin“ D 795
        Track 19                      Mark Padmore, Tenor
                                      Paul Lewis, Klavier
                                      (2010)

So klingt sie aus im 20. und letzten Lied, die „Schöne Müllerin“ – wiegend, wogend, piano,
pianissimo, piano, drei Takte Klaviernachspiel. Mark Padmore und Paul Lewis waren das
mit „Des Baches Wiegenlied“.

Der Müllerbursche ist also angekommen. So etwas wie Ankunft, sagt Schubert, gibt es nur
im Tod, und das ist sicher nicht nur eine menschliche, sondern auch eine autobiografische
Erkenntnis. Es klingt banal, aber das ganze Leben ist Bewegung, Unterwegssein, Suchen,
Irren, Wandern. Schubert hat die damit verbundenen Schmerzen in Töne gesetzt, und zur
Linderung trägt manchmal bei, sich an die Wegstrecke zu erinnern, die man bereits

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Franz Schubert – 14. Folge                 Seite 11 von 11

zurückgelegt hat. Wie der Wanderer in der „Wandererfantasie“, der mit hämmernden
Oktaven in beiden Händen das Finale einläutet, erst Fuge, dann freie Polyphonie, dann
Arpeggienrausch. So halsbrecherisch und unduldsam wie das Leben selbst.

21      HMM                           Franz Schubert                                        3‘44
        LC 07045                      Fantasie C-Dur D 760 „Wandererfantasie“
        902299                        4. Allegro
        Track 4                       Alexander Melnikov, Klavier
                                      - Alois Graff Piano 1828/1835
                                      (2018)

Der russische Pianist Alexander Melnikov mit dem Schluss-Allegro aus der „Wan-
dererfantasie“ in C-Dur D 760, gespielt an einem Alois Graff Piano aus den Jahren 1828 bis
‘35.

Das war die 14. Folge unserer Sendereihe über Franz Schubert, sie hatte das Wandern zum
Thema, eines von Schuberts großen Lebensmotiven. Nächsten Sonntag steht hier wieder
ein großer Liederzyklus im Fokus, Schuberts bedeutendster, die „Winterreise“ von 1827.
Was hat die Zukunft dem Komponisten noch zu bieten? Erstarrung, Erfrorensein? Die „24
schauerlichen Lieder“ dieses Zyklus machen da wenig Hoffnung, zwischen Krankheit, Armut
und politischer Depression. Oder vielleicht doch? Ich bin Christine Lemke-Matwey und
wünsche Ihnen noch einen guten Sonntagabend.

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