Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch
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Samstag, 14. August BILDER GLEB GARANICH/REUTERS; CHRISTOPH RUCKSTUHL/NZZ; IMAGO; VISUALISIERUNG PD Die inneren Werte werden überschätzt – nur die Schönheit zählt SEITE 38–41 Der TV-Kuppler von «Bauer, Weshalb ist Buchara, eine Elektromobile eröffnen ledig, sucht» über den alte Stadt des Islam, liberal den Tankstellen Stadt-Land-Graben SEITE 42, 43 und weltoffen? SEITE 46, 47 neue Geschäftsfelder SEITE 53
38 WOCHENENDE Samstag, 14. August 2021 An einer Tagung für Businessfrauen wurde die Schönheitschirurgin Colette Camenisch gefragt, ob sie die Frauen mit ihrer Arbeit nicht unter Druck setze. Camenisch war auf ein Podium zum Thema Ansprüche eingeladen. Die Frauen würden von der plastischen und ästhetischen Chirurgie Perfektion er- warten, sagte die Moderatorin weiter. Dabei bewirtschafte sie, Camenisch, die Unzufriedenheit ihrer Patientinnen. Ich bin nicht schön genug – das sei doch der Antrieb, sich bei ihr die Brüste vergrös- sern zu lassen oder die Falten wegzu- spritzen. Colette Camenisch schaute die Moderatorin an, die die Leute aus dem Fernsehen kannten, und sagte: «Haben Sie auch schon in den Spiegel geschaut? So kann man reden, wenn man wie Sie überdurchschnittlich gut aussieht.» Der Triumph Die Natur ist unfair Mit dieser Antwort hat die Schönheits- chirurgin drei Dinge ausgesprochen, die oft vergessen gehen, wenn der so- genannte Schönheitskult kritisiert wird. Sie hat erstens den Skandal benannt, der Schönheit der der Schönheit anhaftet. Schönheit ist ungleich verteilt. Nicht jeder sieht gleich gut aus. Sie hat zweitens ihr be- rufliches Selbstverständnis formuliert und zudem begründet, weshalb sie ihre Arbeit als sinnvoll erachtet: Die meis- ten Menschen wollen gut aussehen und einer Vorstellung von Schönheit nahe- Aufdringlich wird heute das normale kommen. Und jede und jeder sollte das Recht dazu haben. Drittens, das sagt Colette Came- nisch nun in ihrer Praxis, die nicht weit entfernt vom Hotel Park Hyatt in Aussehen beworben. Ist wirklich jeder Zürich liegt, wo die Women’s Business Conference im November 2014 statt- fand: «Meine Patientinnen sind selbst- Mensch schön, wie uns eine wachsende bestimmte Frauen. Sie kommen aus eigener Überzeugung zu mir.» Bewegung einreden will? Oder sollen alle Es gibt einen kulturkritischen Reflex, das Schönheitsstreben zu verurteilen. Während der monatliche Coiffeurbe- Differenzen einfach weggeschminkt werden? such oder eine ausgewählte Garderobe akzeptiert ist, hat das Verständnis für VON BIRGIT SCHMID Jede und jeder möchte gut aussehen: Models an der ukrainischen Fashion Week in Kiew. GLEB GARANICH / REUTERS
Samstag, 14. August 2021 WOCHENENDE 39 Glatte Haut gilt universell als schön, denn sie signalisiert Jugend und Fruchtbarkeit. GLEB GARANICH / REUTERS die Arbeit am Körper Grenzen, je inva- ter vor sich hätten, ist damit noch nicht dank Video-Konferenz vor Augen ge- gar nicht stark von den Wünschen ab- siver die Eingriffe in die Natur sind. Die geklärt. Die Antwort könnte eine Lüge führt, was in ihrem Gesicht ihrer Mei- weichen, mit denen die Patienten und Schönheitsmedizin gilt dabei als Fort- enthalten. nung nach einer Auffrischung bedarf. Patientinnen an Colette Camenisch ge- satz einer Entwicklung, die von der Wer- Hingegen kommt die Botschaft der Zu Hause sah nach erfolgtem Eingriff langen. Es gibt eine universelle, zeitlose bung, den Medien und heute besonders Body-Positivity-Bewegung an, denn sie dann auch niemand frische Wunden Sprache, was wir als schön empfinden. den sozialen Netzwerken gefördert wird. tönt gut und richtig: Du bist schön, wie oder blaue Flecken. Und wen. Angelina Jolie und Brad Pitt Dort würden ungesunde, da unrealisti- du bist.Was zählt, sind innere Werte. So- Die Schönheitschirurgin, hoch- entsprächen diesem klassischen Bild sche Körperbilder vermittelt. wieso liegt Schönheit im Auge des Be- gesteckte Haare, elegante Blässe, be- von Schönheit, sagt Camenisch. So geht eine Kritik, die so alt ist, wie trachters. schreibt die typische Frau, die ihr hier im Dieses Empfinden ist keine Genera- es die Schönheitsideale sind, die sie an- Immer öfter ziehen Firmen mit und Besprechungszimmer mit der goldenen tionenfrage. Das merkt sie, wenn sie ihre prangert. Schon immer beklagten Femi- lancieren Kampagnen mit normal aus- Tapete, dem Parkett und der stuckver- jungen Assistentinnen die Anti-Models nistinnen die Verdinglichung des weib- sehenden Models. Kosmetik- und Mode- zierten Decke gegenübersitzt, so: Sie ist kommentieren hört, mit denen Hoch- lichen Körpers, der geschmückt, ge- trimmt, entblösst werde, bloss um den unternehmen kommen der Forderung nach, Vielfalt abzubilden, und vergrös- Schönheit ist «fokussiert auf Schönheit, Jugend und Frische». Dass man heute auch Reife als glanzmagazine ihren Mut zum Häss- lichen beweisen. Männern zu gefallen und also das Patri- sern so das Identifikationsangebot für vergänglich, wie schon Schönheit des Alters anpreise, sei ein Colette Camenisch erkennt die per- archat zu bestätigen. Eine breitere Be- ihre Kundinnen. Das erklärte Ziel der wunderbarer Gedanke – «aber recht fekten Proportionen des Goldenen wegung ist aber erst in den vergangenen Kosmetik- und Modeunternehmen: Oscar Wilde erkannte. philosophisch». Schnitts, wie er in der Architektur, der Jahren entstanden: Unter dem spröden Frauen selbstbewusster zu machen. Dabei soll es möglichst natürlich aus- Kunst und sogar in der Natur vorkommt, Begriff Body-Positivity treten Frauen Hinter all diesen Bemühungen steht Wäre sein Dorian Gray sehen, denn anders als in Südkorea, wo in einem schönen Gesicht: im Verhältnis gegen die ästhetischen Normen an, die sie als diskriminierend erleben. der Kampf für mehr Gleichbehandlung. Denn das kommt hinzu: Schöne Leute ein realer Mensch, die Leute ihre einbandagierte,frisch ope- rierte Nase in der Öffentlichkeit vorzei- der Breite zur Länge, im Abstand der Augen oder der Lippen zur Nase. Natür- Auf Instagram zeigen sie sich in Unterwäsche der Grösse 54, präsen- haben es leichter im Leben. Plötzlich soll also niemand mehr Beachtung und würde er sich heute gen, redet man in unserer Kultur lieber nicht über das, was man an sich machen lich ist es nicht ihr Ziel, solche Gesich- ter in Serie herzustellen. Das wäre gar tieren ihre Hängebrüste oder richten Vorteile erhalten, bloss weil er von der unters Messer legen. lässt. Camenisch hat lange nach einer nicht möglich. Ihre Arbeit als Schön- die Kamera auf ihr ungeschminktes, Natur grosszügiger bedacht worden ist guten Lage für ihre Praxis in Zürich ge- heitschirurgin besteht zu einem guten manchmal von Pickeln übersätes Ge- mit langen Beinen, Porzellanhaut, gros- sucht, weil zwei Bedingungen erfüllt sein Teil darin, die Vorstellungen der Leute sicht. Unter dem Hashtag #BodyPositi- sen Augen. Die Gerechtigkeitsdebatte sollten: Sie sollte im Zentrum nahe bei zu korrigieren. Volle Lippen etwa pas- vity finden sich mittlerweile mehr als 8,5 hat den Schönheitsdiskurs erreicht. Banken,Geschäften und Luxushotels lie- sen nicht in ein feines Gesicht; sie ent- Millionen Fotos. Doch wie erfolgreich kann die gute gen. Denn aus dieser Welt kommen viele stellen es vielmehr. Absicht sein? Lässt sich das Schönheits- ihrer Patientinnen.Gleichzeitig sollte der Allerdings seien die meisten ihrer Lob der Hässlichkeit empfinden wirklich gerechter machen, Eingang nicht auf die Bahnhofstrasse Patientinnen realistisch, was mach- indem man den Blick erzieht und weg- hinausgehen, «denn niemand will frisch bar sei. Wenn sie einen Wunsch richtig Stars wie das Plus-Size-Model Ashley lenkt von etwas, mit dem nicht jeder ge- operiert und mit Bandagen von oben bis übersetzt – denn um diese Kunst geht es Graham schliessen sich an. Sie werden segnet ist? Ist alles nur eine Frage der unten erkannt werden». letztlich: zu verstehen, was sich jemand entsprechend gefeiert, sogar dann, wenn Gewohnheit und Schönheit tatsächlich Natürlichkeit bleibt in unserer Kultur vorstellt, und nicht um die Technik, die das Zur-Schau-Stellen ihrer Makel wie relativ? Muss man einfach häufiger das ein Wert. Die Natur ist gut, und wer die sie beherrscht –, ist auch sie glücklich. zufällig geschieht. Als sich Kate Wins- Unperfekte sehen, damit man dies für Spuren des Alters künstlich beseitigen Dann hat sie es getroffen. let in der Fernsehserie «Mare of East- genauso attraktiv hält wie das, was man will, gibt sich der Eitelkeit, dieser Tod- twon» in einer Sexszene mit schwabbli- bis anhin als perfekt empfand? sünde, hin. Denn Schönheit ist vergäng- Schönheit: keine Ansichtssache gem Bauch zeigte, erhielt sie weltweiten lich. Das musste schon Oscar Wilde er- Applaus. Endlich eine 45-Jährige, der Es soll natürlich aussehen kennen, dessen Sehnsucht nach ewiger Die Attraktivitätsforschung desillusio- man ihr Alter ansehen darf! Selbst ihre Jugend «Das Bildnis des Dorian Gray» niert die Trostversuche, dass jeder schön strähnigen Haare, aus denen die Farbe Colette Camenisch sieht nur eine Aus- hervorbrachte: die Geschichte des Jüng- sei. Schönheit ist keine reine Ansichts- herauswuchs, wurden gelobt. Dass dies wahl von Frauen. Es sind Frauen, bei lings, an dessen Stelle sein Selbstporträt sache. So schreibt Ulrich Renz in seinem eine Rolle war und die Schauspielerin denen der Appell, dass jeder Mensch altert. «Nur oberflächliche Menschen Buch «Schönheit: eine Wissenschaft für auf offiziellen Fotos wieder zur strahlen- schön sei, wirkungslos bleibt wie die urteilen nicht nach dem äusseren Er- sich»: «Quer durch alle Schichten der den, wie 35 aussehenden Frau wird, geht Anti-Aging-Creme, deren Hersteller scheinungsbild. Das wahre Geheimnis Gesellschaft, durch alle Kulturen und in der Begeisterung über die vorgezeigte zwar das Gegenteil behaupten. Klei- der Welt ist das Sichtbare», heisst es im Kontinente, unabhängig von Alter, Be- angebliche Selbstakzeptanz vergessen. ner ist die Nachfrage nach Schön- Roman. ruf oder Geschlecht – überall werden Auch die Frage, auf welchem Gesicht heitsbehandlungen in den letzten Jah- Wäre Dorian Gray ein realer Mensch, dieselben Gesichter als attraktiv wahr- von Kate Winslet die Augen länger ver- ren nicht geworden. Im Gegenteil: würde er sich heute auch unters Mes- genommen.» harren, wenn die Augen beide Gesich- Im Home-Office wurde den Leuten ser legen. Dabei dürften seine Wünsche Fortsetzung auf Seite 40
40 WOCHENENDE Samstag, 14. August 2021 Ein attraktives Model verkauft auch Träume – und Mode will sich verkaufen. GLEB GARANICH / REUTERS Zwar gibt es tatsächlich so viele gang zu den Verschönerungspraktiken. ven», «Jede Haut ist schön», «Schönheit es statt Body-Positivity besser Body- Schönheitsideale, wie es Menschen gibt. Dafür müssten die Leute aber die Vor- kennt kein Alter» hiessen weitere Kam- Neutrality heissen müsste – mit Fokus Aber sie enthalten einen gemeinsamen behalte gegenüber der Schönheitsmedi- pagnen. Wie erfolgreich waren sie und auf die inneren Werte. Das klingt nicht harten Kern. Anders gesagt: Überall auf zin aufgeben. wie wirksam? weniger verlogen. der Welt ist die Sprache der Schönheit Sofern sie sich das leisten können, Das Engagement für einen viel- Neutral betrachtet man die Gesichter dieselbe, nur ihre Dialekte unterschei- denn gratis ist das ja nicht. Nicht nur fältigen, inklusiven Schönheitsbegriff nicht, die in der Agentur Option Models den sich. gutes Aussehen ist ungleich verteilt, son- habe gezeigt, dass sich Schönheitsbil- am Zürichberg die Wände tapezieren. Ein universelles Schönheitsmerk- dern auch nicht alle haben die Mittel, der durchbrechen liessen, heisst es beim Sie sind jung und schön. Sie alle hat mal ist etwa glatte Haut. Sie signalisiert dieses zu verbessern. Die 4000 Franken Konzern Unilever, zu dem Dove gehört. Ursula Knecht schon unter Vertrag ge- Jugend, und Jugend bedeutet Fruchtbar- für das Absaugen des Doppelkinns oder Eine Marke, die erfolgreich sein wolle, habt. Knecht, seit dreissig Jahren im Ge- keit. Was wir als schön empfinden, hat die 12 000 Franken für die Begradigung müsse sich heute ihrer sozialen Ver- schäft, hat die bekanntesten Schweizer auch mit Biologie zu tun. Für diejeni- der Nase zahlt keine Krankenkasse. antwortung bewusst sein, tönt es wei- Models entdeckt, die auch international gen, die Schönheit für eine Erfindung der Männer halten, mag das reduktionis- Die 4000 Franken ter im PR-Duktus. Der Erfolg in Zah- len: Die erste Kampagne von 2004 ver- Karriere machten: Sarina Arnold, Patri- cia Schmid, Nadine Strittmatter, Ronja Auch die Schwedinnen tun es tisch klingen, sexistisch sogar. Aber die für das Absaugen half Dove in den folgenden zehn Jahren Furrer oder gegenwärtig Manuela Frey. vielen Studien dazu lügen kaum: Evo- Colette Camenisch hat lange in Stock- zu einer Umsatzsteigerung von 1,4 Mil- In einer Ecke steht ein Fotoschirm, an lutionsbiologische Faktoren bestimmen holm gearbeitet. Hier hat sie gesehen, des Doppelkinns oder liarden Dollar. Inzwischen stammen bei der Wand ist ein Messband fixiert. bis heute die Partnerwahl. Je attraktiver wie Selbstbewusstsein zu Schönheit bei- Unilever 75 Prozent des Unternehmens- Ursula Knecht selber nennt ihr Busi- ein Gesicht auf Tinder, desto häufiger trägt. Die Schwedinnen würden viel un- die 12 000 Franken wachstums von Marken, die die Welt ness gnadenlos: Ein paar Zentimeter wird nach rechts gewischt und so Inter- esse signalisiert. Je älter Männer werden, bekümmerter mit ihrem Aussehen um- gehen, sagt sie; auch dann, wenn sie für die Begradigung verbessern wollen. Dabei kommen weiterhin auch können darüber entscheiden, ob es je- mand schafft. desto grösser ist der Altersunterschied zu ihrer Traumfrau. künstlich nachhelfen. Sie stehen zu den ästhetischen Eingriffen. Und sie nehmen der Nase zahlt Laien-Models zum Einsatz. Zurzeit be- wirbt Dove seine Produkte mit dem Die Mode gibt sich moralisch Noch ein Experiment weist auf ein diese nicht etwa seltener vor als andere. keine Krankenkasse. Kampf gegen Body-Shaming. Damit ist angeborenes Schönheitsempfinden hin: Der Verbrauch von Hyaluronsäure sei das meist anonyme, beleidigende Kom- Will man es schon nur in der Schweiz Schon Babys schauen schöne Gesich- in Schweden viel höher gewesen als in mentieren des Körpers in den sozialen schaffen, muss man regelmässig gebucht ter länger an; manchmal länger als das der Schweiz bei fast gleich vielen Ein- Netzwerken gemeint. werden, um vom Modeln leben zu kön- ihrer Mutter. Evolutionsforscher vermu- wohnern, sagt Camenisch, die kurz- nen. Ein Model darf nicht kleiner als 1 ten, dass ein symmetrisches Gesicht Ge- zeitig auch für einen Lieferanten des Die sprachliche Kosmetik Meter 74 und nicht grösser als 1 Meter sundheit ausstrahlt. sogenannten Fillers tätig war. Mit Filler 80 sein. Idealerweise hat es einen schlan- Die guten oder schlechten Nach- werden Falten unter- und Lippen aufge- Doch der Body-Positivity-Trend wird ken Hals und schmale Hüften. BH- richten aus der Wissenschaft sind da- spritzt. von Aktivistinnen zunehmend auch Grösse höchstens 75 B. Auch die Füsse mit noch nicht zu Ende. Schöne Men- Ausgerechnet die schwedische Ge- kritisiert. Er sei zu sehr auf das Ausse- sollten nicht zu gross sein. schen haben so viele Vorteile im Alltag, sellschaft, die Gleichstellung zum Prin- hen fixiert, statt wirklich benachteiligte Würde ihre Agentur nur mit molligen als würde sich der Beschauer stets blen- zip erhoben hat und in der die Frauen Menschen sichtbar zu machen. Firmen oder kleinen Models arbeiten, könnte den lassen. Sie erhalten bessere Noten. besonders emanzipiert sind, kennt das biederten sich mit ihren Kampagnen an sie nicht überleben. Denn Kunden fra- Sie kriegen die Stelle. Sie verdienen angeblich so schädliche und ungerechte und wollten bloss ihre Produkte verkau- gen höchstens ein- oder zweimal im Jahr mehr. Sogar vor Gericht werden sie mil- Schönheitsstreben also auch. Offenbar fen, so ein Vorwurf. Natürlich wollen sie nach diesem Typ. Zwar wird Individuali- der beurteilt. In Gegenwart der Attrak- scheren sich Schönheitshandeln und das, denn sie müssen ja im Markt be- tät in der Modeindustrie höher gewich- tiven scheint etwas Gutes auf einen ab- Schönheitsempfinden nicht um poli- stehen. Selbst das Plus-Size-Model Ash- tet als noch in der Ära der Supermodels zustrahlen, das unbewusst das Handeln tische Korrektheit. Dies versucht die ley Graham erntet Kritik, da es dank sei- wie Linda Evangelista, Cindy Crawford, beeinflusst. Body-Positivity-Bewegung allerdings nem Übergewicht reich wurde – und Naomi Campbell oder Claudia Schif- Das Aussehen wirkt sich auf Lohn- zu ändern. wegen der schlanken Taille und des fer mit ihren klassisch-schönen Gesich- unterschiede sogar stärker aus als Rasse Als eine der ersten Firmen lan- schmalen Gesichts. Sängerin Adele gilt tern. Abstehende Ohren, Pigmentfle- oder Geschlecht, wie eine neulich im cierte die Kosmetik- und Pflegepro- gleich als Verräterin, seit sie abgenom- cken oder ungleich lange Beine können «American Journal of Sociology» ver- duktemarke Dove 2004 die Kampagne men hat. heute sogar zum Markenzeichen werden. öffentlichte Studie zeigt. Da die Präfe- «Wahre Schönheit» mit Laien-Models. Firmen wie Dove reagieren auf die Allerdings betonen solche «Makel» oft renz für die Schönen eindeutig zu Dis- Begründung: Viele Frauen könnten Anwürfe mit sprachlicher Kosmetik. gerade die Makellosigkeit eines Models. kriminierung führt und diese offenbar mit den perfekten Körpern in der Wer- Statt Anti-Age heisst es nun Pro-Age. Das mag ein Bekenntnis zu Diver- schwierig zu umgehen ist, schlägt der bung nichts anfangen und fühlten sich Man spricht nicht mehr von norma- sität sein – mehr nicht. Das Vorzeigen Philosoph Julian Săvulescu provoka- von gängigen Schönheitsidealen einge- len, sondern von echten Models. Auch moralischer Integrität hält das System tiv etwas anderes vor: Alle erhalten Zu- engt. «Keine Models, aber straffe Kur- die Bewegung diskutiert darüber, dass aufrecht. Ein 60-jähriges Model, das an
Samstag, 14. August 2021 WOCHENENDE 41 der Schau mitläuft, ist gut fürs Image, «Ein Kleid, das ein dickes Model prä- tern übergeben, aber an der Absicht hat Herbert Grönemeyer. Vielleicht ge- da es dem Zeitgeist entspricht. Zu einer sentiert, spricht mich als Käuferin viel sich nichts geändert: Bei einer Maniküre rade durch ihre Arbeit in Afrika sieht Revolution auf dem Laufsteg hat es bis- weniger an», sagt Ursula Knecht. «Ich oder Pediküre – den beiden beliebtesten sie manche Trends in der Wohlstands- her nicht geführt. frage mich dann: Sehe ich darin auch so Behandlungen – sollen die Leute sich schweiz kritisch. Die eingefrorenen In den letzten Jahren bewegte sich aus?» Sie empfindet es als bevormun- verwöhnen lassen, kurz zur Ruhe kom- Gesichter von denen, die den Zerfall am ehesten etwas bei der ethnischen dend, wie der gegenwärtige Diskurs men, auftanken. letztlich auch nicht aufhalten können. Durchmischung. So vertritt auch Ursula Schönheit problematisiert. Sie möchte Hinten im Raum strecken Frauen Die aufgespritzten Lippen von jungen Knecht mehr dunkelhäutige und asiati- sich nicht sagen lassen, was sie schön zu im Pensionsalter ihre frisch lackierten Frauen, die alle gleich aussehen, oft nach sche Frauen als früher. Sie legt die Bil- finden habe. Hände in die Luft, ein Geschäftsmann dem Vorbild von Influencerinnen. Täto- der von drei jungen Frauen nur in BH, badet seine Füsse in Lavendel oder San- wierte Brauen, künstliche Wimpern. Sie Slip und Highheels auf den Tisch. Zwei Der Körper als Statussymbol delholz.Vorne sitzt Bea Petri in der zum stört sich auch am Selbstdarstellungs- von ihnen nehmen im September am Konzept gehörenden Bar vor einem Ing- drang in den sozialen Netzwerken, wo diesjährigen Elite Model Look Schweiz Gerade am schlanken Körper lässt sich wertee und erzählt von Afrika. Auf ihre man mit retuschierenden Selfie-Apps teil. Die eine hat somalische Wurzeln, aufzeigen, wie ästhetische Vorlieben Das Plus-Size-Model Initiative geht die Schule Nas Mode in sich und andere belüge. die zweite ist Chinesin. Die dritte, eine Jus-Studentin, blonder natürlicher Typ, Moden unterliegen und von Zeit und Kultur abhängig sind. Jahrhundertelang Ashley Graham erntet Burkina Faso zurück, wo junge Frauen zu Schneiderinnen, Kosmetikerinnen Dennoch würde sie sich den For- derungen von Feministinnen, sich der kommt aus der Schweiz. galt kurvig als schön. Dann kam Twiggy. Twiggy hätte aber bis heute keine Kritik, da es dank und Coiffeusen ausgebildet werden. Wie oft bekam sie am Anfang zu hören: Arbeit am Körper zu verweigern, nur teilweise anschliessen. Die Autorin Die Kunst der Verführung Chance, Miss Mauretanien zu werden. seinem Übergewicht Wozu braucht es eine Schminkschule in Charlotte Roche hat einmal dazu auf- Der Geschmack wird weiter durch die Afrika? Und das in einem der ärmsten gerufen, sich nicht mehr zu schminken. Was sagt Knecht auf die Kritik, dass Lebenserfahrung geprägt: Auch heute reich wurde – Länder! Die haben dort doch ganz an- Denn durch diesen «Fake» fühle sich die Schönheitsideale in der Modebran- ziehen manche eine Frau mit Rundun- dere Probleme. eine Frau hässlicher: sobald sie sich ab- che Essstörungen förderten? Es sei wie gen, wie sie Botticellis Venus hat, dem und wegen Abgesehen davon, dass Nas Mode geschminkt habe nämlich.Auch Petri rät im Spitzensport, antwortet sie. Auch im Ballett oder Eiskunstlauf erbringe Twiggy-Typus vor. Dass die Venus alle verzaubert, die im Museum vor ihr ste- der schlanken Taille. keine Schminkschule ist, sondern jähr- lich 200 Frauen eine Ausbildung und von zu viel Schminke ab. Oft reiche Son- nenpuder verteilt übers Gesicht, etwas man nur mit einem gewissen Körper- hen, weist wiederum auf einen univer- damit den Ausweg aus der Armut er- Lippenstift – und schon sehe man fri- typus Spitzenleistungen. Sie sehe zudem sellen Schönheitssinn hin. möglicht: Die arrogante westliche Sicht scher aus. Aber ganz verzichten, nur schnell, ob jemand gesund und schlank Aber selbst die Venus mit ihren gol- verkennt, dass Alltagsverschönerungen weil es andere vorschreiben? «Das ist oder krankhaft dünn sei. Letzteres hat denen Locken ist nicht bloss ein Natur- natürlich sind und der gepflegte Körper Unsinn», sagt sie. «Jede Frau soll ma- bei ihr keine Chance. produkt. Der Körper ist ein Kunstwerk – ein Bedürfnis. Bea Petri scrollt durch die chen, was sie will und womit sie sich Überhaupt – Schönheit definiert sich eine kulturelle Inszenierung und ein Sta- Fotos auf ihrem Smartphone. Da sieht wohl fühlt.» für sie nicht nur über die Model-Masse tussymbol. Überall auf der Welt und seit man Frauen in buntgemusterten Ge- Und die Männer? Wo bleiben sie in 90-60-90. Die zwei Mädchen, die sich an immer investieren die Menschen viel wändern, die künstlich verlängerten und der ganzen Debatte? Auch junge Män- diesem Nachmittag in der Agentur vor- Zeit in ihre Verschönerung. Jugendliche eingenähten Haare kunstvoll geflochten ner tun heute vieles für einen perfek- stellen, erhöhen ihre Chancen bei der tätowieren sich, um einer Gruppe anzu- und aufgetürmt. Kräftiger Körperbau, ten Körper. Sie pumpen sich die Mus- Agenturchefin, wenn sie Charakter aus- gehören. Für eine Wespentaille rangen stolze Haltung. «Die Frauen zeigen sich keln auf, frisieren ihre Bärte, zupfen die strahlen und sich ausdrücken können. die Frauen im Korsett um Luft in der von ihrer schönsten Seite», sagt Petri. Augenbrauen. Die Älteren gehen gegen Ihr Gesicht muss leben und eine innere Renaissance. Afrikanische Krieger be- «Sie geben damit ein Statement ab: Wir Schlupflider und Zornesfalte vor. Damit Kraft spürbar sein. malen ihre Körper. Frauen tragen Lip- sind stark! Wir schaffen das!» verliert die feministische Kritik an Kraft, Knechts Models – ein Viertel von penstift auf. Verklären will sie das Erscheinungs- wonach die Frauen in ihrem unvollkom- ihnen sind Männer – sind natürlich «Kosmetik», die Kunst des Schmü- bild in Ouagadougou nicht, der Haupt- menen Körper gefangen blieben, wäh- schön. Da ist nichts gemacht, denn das ckens, ist ein altgriechisches Wort und stadt Burkina Fasos. Die Jungen tragen rend die Männer ihre Macht festigten würde ihren Wert vermindern. Man- bedeutet, dass man dank der Schön- hier auch T-Shirts und Jeans, Frauen dank ihren Positionen in Medien, Wer- che sehen es so: Die überdurchschnitt- heitspflege mit sich und der Welt in Ein- glätten sich die Haare. Westliche Schön- bung und Mode. lich gutaussehenden Models in den Mo- klang lebt. heitsideale lassen sich nicht aufhalten. Anders gesagt: Während die Frauen destrecken der Lifestyle-Magazine ver- Genau dies schwebte Bea Petri vor, dazu ermutigt werden, sich von toxi- kaufen Träume. So wie die Leserin weiss, als sie 2003 die «Schminkbar» in Zürich Feministin ohne Schminke? schen Schönheitsidealen zu befreien dass sie sich das Kleid von Chanel nie gründete. In den sieben Filialen in der und ihren Körper zu lieben, wie er ist, leisten kann, so weiss sie auch, dass sie Schweiz arbeiten heute über 120 Frauen Petri hat lange als Maskenbildnerin für streben die Männer wie nie zuvor nach nicht annähernd so attraktiv ist. Aber und ein männlicher Lehrling. Die Unter- Fernsehen, Film und Theater gearbei- Perfektion. Den Männern sagt niemand, der Stil inspiriert sie vielleicht. Sie will nehmerin des Jahres 2012 hat das Ge- tet. Hinter ihr an der Wand posiert sie ihr Bierbauch oder ihre mageren Waden verführt werden. schäft inzwischen ihren beiden Töch- auf Fotos mit Gerhard Schröder oder seien schön. Der Blick in den Spiegel: Bin ich schön? Zweimal Ja. GLEB GARANICH / REUTERS
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