Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch

Die Seite wird erstellt Fritz Rudolph
 
WEITER LESEN
Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch
Samstag, 14. August

                                                                                                 BILDER GLEB GARANICH/REUTERS; CHRISTOPH RUCKSTUHL/NZZ; IMAGO; VISUALISIERUNG PD

Die inneren Werte werden überschätzt – nur die Schönheit zählt     SEITE 38–41

Der TV-Kuppler von «Bauer,       Weshalb ist Buchara, eine       Elektromobile eröffnen
ledig, sucht» über den           alte Stadt des Islam, liberal   den Tankstellen
Stadt-Land-Graben SEITE 42, 43   und weltoffen? SEITE 46, 47     neue Geschäftsfelder SEITE 53
Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch
38 WOCHENENDE                                                                                                      Samstag, 14. August 2021

   An einer Tagung für Businessfrauen
   wurde die Schönheitschirurgin Colette
   Camenisch gefragt, ob sie die Frauen
   mit ihrer Arbeit nicht unter Druck
   setze. Camenisch war auf ein Podium
   zum Thema Ansprüche eingeladen. Die
   Frauen würden von der plastischen und
   ästhetischen Chirurgie Perfektion er-
   warten, sagte die Moderatorin weiter.
   Dabei bewirtschafte sie, Camenisch, die
   Unzufriedenheit ihrer Patientinnen. Ich
   bin nicht schön genug – das sei doch der
   Antrieb, sich bei ihr die Brüste vergrös-
   sern zu lassen oder die Falten wegzu-
   spritzen.
      Colette Camenisch schaute die
   Moderatorin an, die die Leute aus dem
   Fernsehen kannten, und sagte: «Haben
   Sie auch schon in den Spiegel geschaut?
   So kann man reden, wenn man wie Sie
   überdurchschnittlich gut aussieht.»

                                                                       Der Triumph
   Die Natur ist unfair
   Mit dieser Antwort hat die Schönheits-
   chirurgin drei Dinge ausgesprochen,
   die oft vergessen gehen, wenn der so-
   genannte Schönheitskult kritisiert wird.
   Sie hat erstens den Skandal benannt,

                                                                       der Schönheit
   der der Schönheit anhaftet. Schönheit
   ist ungleich verteilt. Nicht jeder sieht
   gleich gut aus. Sie hat zweitens ihr be-
   rufliches Selbstverständnis formuliert
   und zudem begründet, weshalb sie ihre
   Arbeit als sinnvoll erachtet: Die meis-
   ten Menschen wollen gut aussehen und
   einer Vorstellung von Schönheit nahe-

                                                                       Aufdringlich wird heute das normale
   kommen. Und jede und jeder sollte das
   Recht dazu haben.
       Drittens, das sagt Colette Came-
   nisch nun in ihrer Praxis, die nicht
   weit entfernt vom Hotel Park Hyatt in                               Aussehen beworben. Ist wirklich jeder
   Zürich liegt, wo die Women’s Business
   Conference im November 2014 statt-
   fand: «Meine Patientinnen sind selbst-
                                                                       Mensch schön, wie uns eine wachsende
   bestimmte Frauen. Sie kommen aus
   eigener Überzeugung zu mir.»                                        Bewegung einreden will? Oder sollen alle
       Es gibt einen kulturkritischen Reflex,
   das Schönheitsstreben zu verurteilen.
   Während der monatliche Coiffeurbe-
                                                                       Differenzen einfach weggeschminkt werden?
   such oder eine ausgewählte Garderobe
   akzeptiert ist, hat das Verständnis für                             VON BIRGIT SCHMID

   Jede und jeder möchte gut aussehen: Models an der ukrainischen Fashion Week in Kiew.                                GLEB GARANICH / REUTERS
Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch
Samstag, 14. August 2021                                                                                                                                 WOCHENENDE 39

           Glatte Haut gilt universell als schön, denn sie signalisiert Jugend und Fruchtbarkeit.                                                                              GLEB GARANICH / REUTERS

die Arbeit am Körper Grenzen, je inva-        ter vor sich hätten, ist damit noch nicht                            dank Video-Konferenz vor Augen ge-            gar nicht stark von den Wünschen ab-
siver die Eingriffe in die Natur sind. Die    geklärt. Die Antwort könnte eine Lüge                                führt, was in ihrem Gesicht ihrer Mei-        weichen, mit denen die Patienten und
Schönheitsmedizin gilt dabei als Fort-        enthalten.                                                           nung nach einer Auffrischung bedarf.          Patientinnen an Colette Camenisch ge-
satz einer Entwicklung, die von der Wer-         Hingegen kommt die Botschaft der                                  Zu Hause sah nach erfolgtem Eingriff          langen. Es gibt eine universelle, zeitlose
bung, den Medien und heute besonders          Body-Positivity-Bewegung an, denn sie                                dann auch niemand frische Wunden              Sprache, was wir als schön empfinden.
den sozialen Netzwerken gefördert wird.       tönt gut und richtig: Du bist schön, wie                             oder blaue Flecken.                           Und wen. Angelina Jolie und Brad Pitt
Dort würden ungesunde, da unrealisti-         du bist.Was zählt, sind innere Werte. So-                               Die Schönheitschirurgin, hoch-             entsprächen diesem klassischen Bild
sche Körperbilder vermittelt.                 wieso liegt Schönheit im Auge des Be-                                gesteckte Haare, elegante Blässe, be-         von Schönheit, sagt Camenisch.
   So geht eine Kritik, die so alt ist, wie   trachters.                                                           schreibt die typische Frau, die ihr hier im      Dieses Empfinden ist keine Genera-
es die Schönheitsideale sind, die sie an-        Immer öfter ziehen Firmen mit und                                 Besprechungszimmer mit der goldenen           tionenfrage. Das merkt sie, wenn sie ihre
prangert. Schon immer beklagten Femi-         lancieren Kampagnen mit normal aus-                                  Tapete, dem Parkett und der stuckver-         jungen Assistentinnen die Anti-Models
nistinnen die Verdinglichung des weib-        sehenden Models. Kosmetik- und Mode-                                 zierten Decke gegenübersitzt, so: Sie ist     kommentieren hört, mit denen Hoch-
lichen Körpers, der geschmückt, ge-
trimmt, entblösst werde, bloss um den
                                              unternehmen kommen der Forderung
                                              nach, Vielfalt abzubilden, und vergrös-
                                                                                          Schönheit ist            «fokussiert auf Schönheit, Jugend und
                                                                                                                   Frische». Dass man heute auch Reife als
                                                                                                                                                                 glanzmagazine ihren Mut zum Häss-
                                                                                                                                                                 lichen beweisen.
Männern zu gefallen und also das Patri-       sern so das Identifikationsangebot für      vergänglich, wie schon   Schönheit des Alters anpreise, sei ein           Colette Camenisch erkennt die per-
archat zu bestätigen. Eine breitere Be-       ihre Kundinnen. Das erklärte Ziel der                                wunderbarer Gedanke – «aber recht             fekten Proportionen des Goldenen
wegung ist aber erst in den vergangenen       Kosmetik- und Modeunternehmen:              Oscar Wilde erkannte.    philosophisch».                               Schnitts, wie er in der Architektur, der
Jahren entstanden: Unter dem spröden          Frauen selbstbewusster zu machen.                                       Dabei soll es möglichst natürlich aus-     Kunst und sogar in der Natur vorkommt,
Begriff Body-Positivity treten Frauen            Hinter all diesen Bemühungen steht       Wäre sein Dorian Gray    sehen, denn anders als in Südkorea, wo        in einem schönen Gesicht: im Verhältnis
gegen die ästhetischen Normen an, die
sie als diskriminierend erleben.
                                              der Kampf für mehr Gleichbehandlung.
                                              Denn das kommt hinzu: Schöne Leute
                                                                                          ein realer Mensch,       die Leute ihre einbandagierte,frisch ope-
                                                                                                                   rierte Nase in der Öffentlichkeit vorzei-
                                                                                                                                                                 der Breite zur Länge, im Abstand der
                                                                                                                                                                 Augen oder der Lippen zur Nase. Natür-
   Auf Instagram zeigen sie sich in
Unterwäsche der Grösse 54, präsen-
                                              haben es leichter im Leben. Plötzlich
                                              soll also niemand mehr Beachtung und
                                                                                          würde er sich heute      gen, redet man in unserer Kultur lieber
                                                                                                                   nicht über das, was man an sich machen
                                                                                                                                                                 lich ist es nicht ihr Ziel, solche Gesich-
                                                                                                                                                                 ter in Serie herzustellen. Das wäre gar
tieren ihre Hängebrüste oder richten          Vorteile erhalten, bloss weil er von der    unters Messer legen.     lässt. Camenisch hat lange nach einer         nicht möglich. Ihre Arbeit als Schön-
die Kamera auf ihr ungeschminktes,            Natur grosszügiger bedacht worden ist                                guten Lage für ihre Praxis in Zürich ge-      heitschirurgin besteht zu einem guten
manchmal von Pickeln übersätes Ge-            mit langen Beinen, Porzellanhaut, gros-                              sucht, weil zwei Bedingungen erfüllt sein     Teil darin, die Vorstellungen der Leute
sicht. Unter dem Hashtag #BodyPositi-         sen Augen. Die Gerechtigkeitsdebatte                                 sollten: Sie sollte im Zentrum nahe bei       zu korrigieren. Volle Lippen etwa pas-
vity finden sich mittlerweile mehr als 8,5    hat den Schönheitsdiskurs erreicht.                                  Banken,Geschäften und Luxushotels lie-        sen nicht in ein feines Gesicht; sie ent-
Millionen Fotos.                                 Doch wie erfolgreich kann die gute                                gen. Denn aus dieser Welt kommen viele        stellen es vielmehr.
                                              Absicht sein? Lässt sich das Schönheits-                             ihrer Patientinnen.Gleichzeitig sollte der       Allerdings seien die meisten ihrer
Lob der Hässlichkeit                          empfinden wirklich gerechter machen,                                 Eingang nicht auf die Bahnhofstrasse          Patientinnen realistisch, was mach-
                                              indem man den Blick erzieht und weg-                                 hinausgehen, «denn niemand will frisch        bar sei. Wenn sie einen Wunsch richtig
Stars wie das Plus-Size-Model Ashley          lenkt von etwas, mit dem nicht jeder ge-                             operiert und mit Bandagen von oben bis        übersetzt – denn um diese Kunst geht es
Graham schliessen sich an. Sie werden         segnet ist? Ist alles nur eine Frage der                             unten erkannt werden».                        letztlich: zu verstehen, was sich jemand
entsprechend gefeiert, sogar dann, wenn       Gewohnheit und Schönheit tatsächlich                                    Natürlichkeit bleibt in unserer Kultur     vorstellt, und nicht um die Technik, die
das Zur-Schau-Stellen ihrer Makel wie         relativ? Muss man einfach häufiger das                               ein Wert. Die Natur ist gut, und wer die      sie beherrscht –, ist auch sie glücklich.
zufällig geschieht. Als sich Kate Wins-       Unperfekte sehen, damit man dies für                                 Spuren des Alters künstlich beseitigen        Dann hat sie es getroffen.
let in der Fernsehserie «Mare of East-        genauso attraktiv hält wie das, was man                              will, gibt sich der Eitelkeit, dieser Tod-
twon» in einer Sexszene mit schwabbli-        bis anhin als perfekt empfand?                                       sünde, hin. Denn Schönheit ist vergäng-       Schönheit: keine Ansichtssache
gem Bauch zeigte, erhielt sie weltweiten                                                                           lich. Das musste schon Oscar Wilde er-
Applaus. Endlich eine 45-Jährige, der         Es soll natürlich aussehen                                           kennen, dessen Sehnsucht nach ewiger          Die Attraktivitätsforschung desillusio-
man ihr Alter ansehen darf! Selbst ihre                                                                            Jugend «Das Bildnis des Dorian Gray»          niert die Trostversuche, dass jeder schön
strähnigen Haare, aus denen die Farbe         Colette Camenisch sieht nur eine Aus-                                hervorbrachte: die Geschichte des Jüng-       sei. Schönheit ist keine reine Ansichts-
herauswuchs, wurden gelobt. Dass dies         wahl von Frauen. Es sind Frauen, bei                                 lings, an dessen Stelle sein Selbstporträt    sache. So schreibt Ulrich Renz in seinem
eine Rolle war und die Schauspielerin         denen der Appell, dass jeder Mensch                                  altert. «Nur oberflächliche Menschen          Buch «Schönheit: eine Wissenschaft für
auf offiziellen Fotos wieder zur strahlen-    schön sei, wirkungslos bleibt wie die                                urteilen nicht nach dem äusseren Er-          sich»: «Quer durch alle Schichten der
den, wie 35 aussehenden Frau wird, geht       Anti-Aging-Creme, deren Hersteller                                   scheinungsbild. Das wahre Geheimnis           Gesellschaft, durch alle Kulturen und
in der Begeisterung über die vorgezeigte      zwar das Gegenteil behaupten. Klei-                                  der Welt ist das Sichtbare», heisst es im     Kontinente, unabhängig von Alter, Be-
angebliche Selbstakzeptanz vergessen.         ner ist die Nachfrage nach Schön-                                    Roman.                                        ruf oder Geschlecht – überall werden
   Auch die Frage, auf welchem Gesicht        heitsbehandlungen in den letzten Jah-                                   Wäre Dorian Gray ein realer Mensch,        dieselben Gesichter als attraktiv wahr-
von Kate Winslet die Augen länger ver-        ren nicht geworden. Im Gegenteil:                                    würde er sich heute auch unters Mes-          genommen.»
harren, wenn die Augen beide Gesich-          Im Home-Office wurde den Leuten                                      ser legen. Dabei dürften seine Wünsche                         Fortsetzung auf Seite 40
Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch
40 WOCHENENDE                                                                                                                                                         Samstag, 14. August 2021

           Ein attraktives Model verkauft auch Träume – und Mode will sich verkaufen.                                                                                       GLEB GARANICH / REUTERS

    Zwar gibt es tatsächlich so viele        gang zu den Verschönerungspraktiken.                                ven», «Jede Haut ist schön», «Schönheit      es statt Body-Positivity besser Body-
Schönheitsideale, wie es Menschen gibt.      Dafür müssten die Leute aber die Vor-                               kennt kein Alter» hiessen weitere Kam-       Neutrality heissen müsste – mit Fokus
Aber sie enthalten einen gemeinsamen         behalte gegenüber der Schönheitsmedi-                               pagnen. Wie erfolgreich waren sie und        auf die inneren Werte. Das klingt nicht
harten Kern. Anders gesagt: Überall auf      zin aufgeben.                                                       wie wirksam?                                 weniger verlogen.
der Welt ist die Sprache der Schönheit          Sofern sie sich das leisten können,                                  Das Engagement für einen viel-              Neutral betrachtet man die Gesichter
dieselbe, nur ihre Dialekte unterschei-      denn gratis ist das ja nicht. Nicht nur                             fältigen, inklusiven Schönheitsbegriff       nicht, die in der Agentur Option Models
den sich.                                    gutes Aussehen ist ungleich verteilt, son-                          habe gezeigt, dass sich Schönheitsbil-       am Zürichberg die Wände tapezieren.
    Ein universelles Schönheitsmerk-         dern auch nicht alle haben die Mittel,                              der durchbrechen liessen, heisst es beim     Sie sind jung und schön. Sie alle hat
mal ist etwa glatte Haut. Sie signalisiert   dieses zu verbessern. Die 4000 Franken                              Konzern Unilever, zu dem Dove gehört.        Ursula Knecht schon unter Vertrag ge-
Jugend, und Jugend bedeutet Fruchtbar-       für das Absaugen des Doppelkinns oder                               Eine Marke, die erfolgreich sein wolle,      habt. Knecht, seit dreissig Jahren im Ge-
keit. Was wir als schön empfinden, hat       die 12 000 Franken für die Begradigung                              müsse sich heute ihrer sozialen Ver-         schäft, hat die bekanntesten Schweizer
auch mit Biologie zu tun. Für diejeni-       der Nase zahlt keine Krankenkasse.                                  antwortung bewusst sein, tönt es wei-        Models entdeckt, die auch international
gen, die Schönheit für eine Erfindung
der Männer halten, mag das reduktionis-
                                                                                          Die 4000 Franken       ter im PR-Duktus. Der Erfolg in Zah-
                                                                                                                 len: Die erste Kampagne von 2004 ver-
                                                                                                                                                              Karriere machten: Sarina Arnold, Patri-
                                                                                                                                                              cia Schmid, Nadine Strittmatter, Ronja
                                             Auch die Schwedinnen tun es
tisch klingen, sexistisch sogar. Aber die                                                 für das Absaugen       half Dove in den folgenden zehn Jahren       Furrer oder gegenwärtig Manuela Frey.
vielen Studien dazu lügen kaum: Evo-         Colette Camenisch hat lange in Stock-                               zu einer Umsatzsteigerung von 1,4 Mil-       In einer Ecke steht ein Fotoschirm, an
lutionsbiologische Faktoren bestimmen        holm gearbeitet. Hier hat sie gesehen,       des Doppelkinns oder   liarden Dollar. Inzwischen stammen bei       der Wand ist ein Messband fixiert.
bis heute die Partnerwahl. Je attraktiver    wie Selbstbewusstsein zu Schönheit bei-                             Unilever 75 Prozent des Unternehmens-           Ursula Knecht selber nennt ihr Busi-
ein Gesicht auf Tinder, desto häufiger       trägt. Die Schwedinnen würden viel un-       die 12 000 Franken     wachstums von Marken, die die Welt           ness gnadenlos: Ein paar Zentimeter
wird nach rechts gewischt und so Inter-
esse signalisiert. Je älter Männer werden,
                                             bekümmerter mit ihrem Aussehen um-
                                             gehen, sagt sie; auch dann, wenn sie
                                                                                          für die Begradigung    verbessern wollen.
                                                                                                                     Dabei kommen weiterhin auch
                                                                                                                                                              können darüber entscheiden, ob es je-
                                                                                                                                                              mand schafft.
desto grösser ist der Altersunterschied
zu ihrer Traumfrau.
                                             künstlich nachhelfen. Sie stehen zu den
                                             ästhetischen Eingriffen. Und sie nehmen
                                                                                          der Nase zahlt         Laien-Models zum Einsatz. Zurzeit be-
                                                                                                                 wirbt Dove seine Produkte mit dem            Die Mode gibt sich moralisch
    Noch ein Experiment weist auf ein        diese nicht etwa seltener vor als andere.    keine Krankenkasse.    Kampf gegen Body-Shaming. Damit ist
angeborenes Schönheitsempfinden hin:         Der Verbrauch von Hyaluronsäure sei                                 das meist anonyme, beleidigende Kom-         Will man es schon nur in der Schweiz
Schon Babys schauen schöne Gesich-           in Schweden viel höher gewesen als in                               mentieren des Körpers in den sozialen        schaffen, muss man regelmässig gebucht
ter länger an; manchmal länger als das       der Schweiz bei fast gleich vielen Ein-                             Netzwerken gemeint.                          werden, um vom Modeln leben zu kön-
ihrer Mutter. Evolutionsforscher vermu-      wohnern, sagt Camenisch, die kurz-                                                                               nen. Ein Model darf nicht kleiner als 1
ten, dass ein symmetrisches Gesicht Ge-      zeitig auch für einen Lieferanten des                               Die sprachliche Kosmetik                     Meter 74 und nicht grösser als 1 Meter
sundheit ausstrahlt.                         sogenannten Fillers tätig war. Mit Filler                                                                        80 sein. Idealerweise hat es einen schlan-
    Die guten oder schlechten Nach-          werden Falten unter- und Lippen aufge-                              Doch der Body-Positivity-Trend wird          ken Hals und schmale Hüften. BH-
richten aus der Wissenschaft sind da-        spritzt.                                                            von Aktivistinnen zunehmend auch             Grösse höchstens 75 B. Auch die Füsse
mit noch nicht zu Ende. Schöne Men-              Ausgerechnet die schwedische Ge-                                kritisiert. Er sei zu sehr auf das Ausse-    sollten nicht zu gross sein.
schen haben so viele Vorteile im Alltag,     sellschaft, die Gleichstellung zum Prin-                            hen fixiert, statt wirklich benachteiligte       Würde ihre Agentur nur mit molligen
als würde sich der Beschauer stets blen-     zip erhoben hat und in der die Frauen                               Menschen sichtbar zu machen. Firmen          oder kleinen Models arbeiten, könnte
den lassen. Sie erhalten bessere Noten.      besonders emanzipiert sind, kennt das                               biederten sich mit ihren Kampagnen an        sie nicht überleben. Denn Kunden fra-
Sie kriegen die Stelle. Sie verdienen        angeblich so schädliche und ungerechte                              und wollten bloss ihre Produkte verkau-      gen höchstens ein- oder zweimal im Jahr
mehr. Sogar vor Gericht werden sie mil-      Schönheitsstreben also auch. Offenbar                               fen, so ein Vorwurf. Natürlich wollen sie    nach diesem Typ. Zwar wird Individuali-
der beurteilt. In Gegenwart der Attrak-      scheren sich Schönheitshandeln und                                  das, denn sie müssen ja im Markt be-         tät in der Modeindustrie höher gewich-
tiven scheint etwas Gutes auf einen ab-      Schönheitsempfinden nicht um poli-                                  stehen. Selbst das Plus-Size-Model Ash-      tet als noch in der Ära der Supermodels
zustrahlen, das unbewusst das Handeln        tische Korrektheit. Dies versucht die                               ley Graham erntet Kritik, da es dank sei-    wie Linda Evangelista, Cindy Crawford,
beeinflusst.                                 Body-Positivity-Bewegung allerdings                                 nem Übergewicht reich wurde – und            Naomi Campbell oder Claudia Schif-
    Das Aussehen wirkt sich auf Lohn-        zu ändern.                                                          wegen der schlanken Taille und des           fer mit ihren klassisch-schönen Gesich-
unterschiede sogar stärker aus als Rasse         Als eine der ersten Firmen lan-                                 schmalen Gesichts. Sängerin Adele gilt       tern. Abstehende Ohren, Pigmentfle-
oder Geschlecht, wie eine neulich im         cierte die Kosmetik- und Pflegepro-                                 gleich als Verräterin, seit sie abgenom-     cken oder ungleich lange Beine können
«American Journal of Sociology» ver-         duktemarke Dove 2004 die Kampagne                                   men hat.                                     heute sogar zum Markenzeichen werden.
öffentlichte Studie zeigt. Da die Präfe-     «Wahre Schönheit» mit Laien-Models.                                    Firmen wie Dove reagieren auf die         Allerdings betonen solche «Makel» oft
renz für die Schönen eindeutig zu Dis-       Begründung: Viele Frauen könnten                                    Anwürfe mit sprachlicher Kosmetik.           gerade die Makellosigkeit eines Models.
kriminierung führt und diese offenbar        mit den perfekten Körpern in der Wer-                               Statt Anti-Age heisst es nun Pro-Age.            Das mag ein Bekenntnis zu Diver-
schwierig zu umgehen ist, schlägt der        bung nichts anfangen und fühlten sich                               Man spricht nicht mehr von norma-            sität sein – mehr nicht. Das Vorzeigen
Philosoph Julian Săvulescu provoka-          von gängigen Schönheitsidealen einge-                               len, sondern von echten Models. Auch         moralischer Integrität hält das System
tiv etwas anderes vor: Alle erhalten Zu-     engt. «Keine Models, aber straffe Kur-                              die Bewegung diskutiert darüber, dass        aufrecht. Ein 60-jähriges Model, das an
Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch
Samstag, 14. August 2021                                                                                                                                 WOCHENENDE 41

der Schau mitläuft, ist gut fürs Image,           «Ein Kleid, das ein dickes Model prä-                            tern übergeben, aber an der Absicht hat      Herbert Grönemeyer. Vielleicht ge-
da es dem Zeitgeist entspricht. Zu einer       sentiert, spricht mich als Käuferin viel                            sich nichts geändert: Bei einer Maniküre     rade durch ihre Arbeit in Afrika sieht
Revolution auf dem Laufsteg hat es bis-        weniger an», sagt Ursula Knecht. «Ich                               oder Pediküre – den beiden beliebtesten      sie manche Trends in der Wohlstands-
her nicht geführt.                             frage mich dann: Sehe ich darin auch so                             Behandlungen – sollen die Leute sich         schweiz kritisch. Die eingefrorenen
   In den letzten Jahren bewegte sich          aus?» Sie empfindet es als bevormun-                                verwöhnen lassen, kurz zur Ruhe kom-         Gesichter von denen, die den Zerfall
am ehesten etwas bei der ethnischen            dend, wie der gegenwärtige Diskurs                                  men, auftanken.                              letztlich auch nicht aufhalten können.
Durchmischung. So vertritt auch Ursula         Schönheit problematisiert. Sie möchte                                  Hinten im Raum strecken Frauen            Die aufgespritzten Lippen von jungen
Knecht mehr dunkelhäutige und asiati-          sich nicht sagen lassen, was sie schön zu                           im Pensionsalter ihre frisch lackierten      Frauen, die alle gleich aussehen, oft nach
sche Frauen als früher. Sie legt die Bil-      finden habe.                                                        Hände in die Luft, ein Geschäftsmann         dem Vorbild von Influencerinnen. Täto-
der von drei jungen Frauen nur in BH,                                                                              badet seine Füsse in Lavendel oder San-      wierte Brauen, künstliche Wimpern. Sie
Slip und Highheels auf den Tisch. Zwei         Der Körper als Statussymbol                                         delholz.Vorne sitzt Bea Petri in der zum     stört sich auch am Selbstdarstellungs-
von ihnen nehmen im September am                                                                                   Konzept gehörenden Bar vor einem Ing-        drang in den sozialen Netzwerken, wo
diesjährigen Elite Model Look Schweiz          Gerade am schlanken Körper lässt sich                               wertee und erzählt von Afrika. Auf ihre      man mit retuschierenden Selfie-Apps
teil. Die eine hat somalische Wurzeln,         aufzeigen, wie ästhetische Vorlieben        Das Plus-Size-Model     Initiative geht die Schule Nas Mode in       sich und andere belüge.
die zweite ist Chinesin. Die dritte, eine
Jus-Studentin, blonder natürlicher Typ,
                                               Moden unterliegen und von Zeit und
                                               Kultur abhängig sind. Jahrhundertelang
                                                                                           Ashley Graham erntet    Burkina Faso zurück, wo junge Frauen
                                                                                                                   zu Schneiderinnen, Kosmetikerinnen
                                                                                                                                                                   Dennoch würde sie sich den For-
                                                                                                                                                                derungen von Feministinnen, sich der
kommt aus der Schweiz.                         galt kurvig als schön. Dann kam Twiggy.
                                               Twiggy hätte aber bis heute keine
                                                                                           Kritik, da es dank      und Coiffeusen ausgebildet werden.
                                                                                                                   Wie oft bekam sie am Anfang zu hören:
                                                                                                                                                                Arbeit am Körper zu verweigern, nur
                                                                                                                                                                teilweise anschliessen. Die Autorin
Die Kunst der Verführung                       Chance, Miss Mauretanien zu werden.         seinem Übergewicht      Wozu braucht es eine Schminkschule in        Charlotte Roche hat einmal dazu auf-
                                               Der Geschmack wird weiter durch die                                 Afrika? Und das in einem der ärmsten         gerufen, sich nicht mehr zu schminken.
Was sagt Knecht auf die Kritik, dass           Lebenserfahrung geprägt: Auch heute         reich wurde –           Länder! Die haben dort doch ganz an-         Denn durch diesen «Fake» fühle sich
die Schönheitsideale in der Modebran-          ziehen manche eine Frau mit Rundun-                                 dere Probleme.                               eine Frau hässlicher: sobald sie sich ab-
che Essstörungen förderten? Es sei wie         gen, wie sie Botticellis Venus hat, dem     und wegen                  Abgesehen davon, dass Nas Mode            geschminkt habe nämlich.Auch Petri rät
im Spitzensport, antwortet sie. Auch
im Ballett oder Eiskunstlauf erbringe
                                               Twiggy-Typus vor. Dass die Venus alle
                                               verzaubert, die im Museum vor ihr ste-
                                                                                           der schlanken Taille.   keine Schminkschule ist, sondern jähr-
                                                                                                                   lich 200 Frauen eine Ausbildung und
                                                                                                                                                                von zu viel Schminke ab. Oft reiche Son-
                                                                                                                                                                nenpuder verteilt übers Gesicht, etwas
man nur mit einem gewissen Körper-             hen, weist wiederum auf einen univer-                               damit den Ausweg aus der Armut er-           Lippenstift – und schon sehe man fri-
typus Spitzenleistungen. Sie sehe zudem        sellen Schönheitssinn hin.                                          möglicht: Die arrogante westliche Sicht      scher aus. Aber ganz verzichten, nur
schnell, ob jemand gesund und schlank             Aber selbst die Venus mit ihren gol-                             verkennt, dass Alltagsverschönerungen        weil es andere vorschreiben? «Das ist
oder krankhaft dünn sei. Letzteres hat         denen Locken ist nicht bloss ein Natur-                             natürlich sind und der gepflegte Körper      Unsinn», sagt sie. «Jede Frau soll ma-
bei ihr keine Chance.                          produkt. Der Körper ist ein Kunstwerk –                             ein Bedürfnis. Bea Petri scrollt durch die   chen, was sie will und womit sie sich
    Überhaupt – Schönheit definiert sich       eine kulturelle Inszenierung und ein Sta-                           Fotos auf ihrem Smartphone. Da sieht         wohl fühlt.»
für sie nicht nur über die Model-Masse         tussymbol. Überall auf der Welt und seit                            man Frauen in buntgemusterten Ge-               Und die Männer? Wo bleiben sie in
90-60-90. Die zwei Mädchen, die sich an        immer investieren die Menschen viel                                 wändern, die künstlich verlängerten und      der ganzen Debatte? Auch junge Män-
diesem Nachmittag in der Agentur vor-          Zeit in ihre Verschönerung. Jugendliche                             eingenähten Haare kunstvoll geflochten       ner tun heute vieles für einen perfek-
stellen, erhöhen ihre Chancen bei der          tätowieren sich, um einer Gruppe anzu-                              und aufgetürmt. Kräftiger Körperbau,         ten Körper. Sie pumpen sich die Mus-
Agenturchefin, wenn sie Charakter aus-         gehören. Für eine Wespentaille rangen                               stolze Haltung. «Die Frauen zeigen sich      keln auf, frisieren ihre Bärte, zupfen die
strahlen und sich ausdrücken können.           die Frauen im Korsett um Luft in der                                von ihrer schönsten Seite», sagt Petri.      Augenbrauen. Die Älteren gehen gegen
Ihr Gesicht muss leben und eine innere         Renaissance. Afrikanische Krieger be-                               «Sie geben damit ein Statement ab: Wir       Schlupflider und Zornesfalte vor. Damit
Kraft spürbar sein.                            malen ihre Körper. Frauen tragen Lip-                               sind stark! Wir schaffen das!»               verliert die feministische Kritik an Kraft,
    Knechts Models – ein Viertel von           penstift auf.                                                          Verklären will sie das Erscheinungs-      wonach die Frauen in ihrem unvollkom-
ihnen sind Männer – sind natürlich                «Kosmetik», die Kunst des Schmü-                                 bild in Ouagadougou nicht, der Haupt-        menen Körper gefangen blieben, wäh-
schön. Da ist nichts gemacht, denn das         ckens, ist ein altgriechisches Wort und                             stadt Burkina Fasos. Die Jungen tragen       rend die Männer ihre Macht festigten
würde ihren Wert vermindern. Man-              bedeutet, dass man dank der Schön-                                  hier auch T-Shirts und Jeans, Frauen         dank ihren Positionen in Medien, Wer-
che sehen es so: Die überdurchschnitt-         heitspflege mit sich und der Welt in Ein-                           glätten sich die Haare. Westliche Schön-     bung und Mode.
lich gutaussehenden Models in den Mo-          klang lebt.                                                         heitsideale lassen sich nicht aufhalten.        Anders gesagt: Während die Frauen
destrecken der Lifestyle-Magazine ver-            Genau dies schwebte Bea Petri vor,                                                                            dazu ermutigt werden, sich von toxi-
kaufen Träume. So wie die Leserin weiss,       als sie 2003 die «Schminkbar» in Zürich                             Feministin ohne Schminke?                    schen Schönheitsidealen zu befreien
dass sie sich das Kleid von Chanel nie         gründete. In den sieben Filialen in der                                                                          und ihren Körper zu lieben, wie er ist,
leisten kann, so weiss sie auch, dass sie      Schweiz arbeiten heute über 120 Frauen                              Petri hat lange als Maskenbildnerin für      streben die Männer wie nie zuvor nach
nicht annähernd so attraktiv ist. Aber         und ein männlicher Lehrling. Die Unter-                             Fernsehen, Film und Theater gearbei-         Perfektion. Den Männern sagt niemand,
der Stil inspiriert sie vielleicht. Sie will   nehmerin des Jahres 2012 hat das Ge-                                tet. Hinter ihr an der Wand posiert sie      ihr Bierbauch oder ihre mageren Waden
verführt werden.                               schäft inzwischen ihren beiden Töch-                                auf Fotos mit Gerhard Schröder oder          seien schön.

            Der Blick in den Spiegel: Bin ich schön? Zweimal Ja.                                                                                                               GLEB GARANICH / REUTERS
Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch Weshalb ist Buchara, eine alte Stadt des Islam, liberal - Dr. Colette Camenisch
Sie können auch lesen