Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus

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Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
Wider das Leugnen
Wider das Vergessen

25 Jahre
Arbeitskreis Justiz
und Geschichte des
Nationalsozialismus
in Mannheim e.V.
Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
Editoral
25 Jahre ist es her, dass sich eine über-   Ab Mitte der 2000er Jahre pflegen wir
schaubare Gruppe antifaschistisch Ge-       unsere Webseite mit bescheidenen IT-
sinnter – es waren nie über zehn Per-       Mitteln. Eine übersichtliche Zusammen-
sonen – daran macht, die in Verges-         stellung der Aktivitäten des AK-Justiz
senheit geratene oder verdrängte Ge-        im zeitlichen Ablauf gibt es bisher al-
schichte aus der Mannheimer NS-Zeit         lerdings nicht. Und die wollen wir im
– wir nennen sie blinde Flecken – auf-      Rahmen dieser Broschüre liefern.
zuarbeiten. Durch die Auseinanderset-
zung mit Richter Orlet und dem NPD-         Als kleine politische Gruppe wollten
Vorsitzenden Deckert am Landgericht         und wollen wir dazu beitragen, die di-
geben wir uns den Namen „Arbeitskreis       versen Facetten der Mannheimer NS-
Justiz“, weil eine Gruppe eben einen        Vergangenheit aufzuarbeiten. Dies war
Namen braucht. Und als wir zur Ein-         von Beginn an – Mitte der 90er Jahre
werbung von Spendengeldern später           des letzten Jahrhunderts – überhaupt
einen gemeinnützigen Verein gründen,        nicht einfach und diese Aufarbeitung
wird aus dem kurzen Namen ein langer:       ist bis heute noch nicht abgeschlossen.
„Arbeitskreis Justiz und Geschichte des     In der Archivarbeit hat sich sachlich
Nationalsozialismus in Mannheim“. Das       und personell in den letzten 25 Jahren
Kürzel AK-Justiz war dem Registerge-        viel getan. Vom anfänglichen Misstrau-
richt suspekt, denn es war ja niemand       en, insbesondere von Historiker*innen
in unserer Gruppe Jurist*in oder His-       und Expert*innen vorsichtig beäugt,
toriker*in.                                 konnten wir eine Zusammenarbeit auf
                                            Augenhöhe erreichen.
Nicht alle, die heute Mitglied im AK-
Justiz sind, waren das von Anfang an.       Vieles ist auch für Mannheim über die
Und natürlich sind auch nicht alle, die     NS-Zeit noch nicht aufgearbeitet, so
anfangs mitarbeiteten, die ganze Zeit       beispielsweise die Rolle der Kriminal-
dabei geblieben, einige aber schon.         und Schutzpolizei, des Militärgerichts
                                            oder das Thema „Asoziale“ und der
Was unsere Arbeit besonders auszeich-       Vernichtungswille der Nationalsozia-
net ist, dass wir uns neben den unter-      listen diesen Menschen gegenüber.
schiedlichen „vergessenen“ Opfergrup-
pen von Anfang an um die Täterseite         Unsere Arbeit wäre in der vorliegenden
kümmern. Wie von uns vermutet stellen       Form, auf die wir zurückschauen, nicht
wir fest, dass viele „kleinen Leute“        möglich gewesen, wenn wir nicht im-
auch Mitläufer*innen im NS-System           mer wieder auf breite Unterstützung
waren, die ihren Vorteil suchten und        vieler Menschen getroffen wären. Das
sich rasch arrangierten.                    große Interesse an unseren Veranstal-
                                            tungen hat uns ermutigt, an verschie-
                                            denen „Baustellen“ weiter zu arbeiten.
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Soweit es uns möglich ist – alle aktuel-                       Wir bleiben zuversichtlich, dass die
len Mitglieder des AK-Justiz sind mitt-                        blinden Flecken weiter ausgeleuchtet
lerweile im Rentenalter – werden wir                           werden und die jüngere Generation
weiterhin aktiv bleiben und uns in den                         ihre eigene Art der Aufarbeitung und
aktuellen Auseinandersetzungen gegen                           des Gedenkens an die NS-Zeit und de-
Rechts – wie bisher auch – einbringen.                         ren Gräuel finden muss und wird.

                                                                                       AK-Justiz, Februar 2020

                                                                      Karin Berndt, Siglinde Bohrke,
                                                                  Anna Barbara Dell, Ernst Gramberg,
                                                                        Jette Nevesely, Klaus Penner,
                                                                        Barbara Ritter, Heiner Ritter,
                                                                              Veronika Wallis-Violet,
                                                                                   Ruth Weidenauer

                            2003 wurde der Arbeitskreis Justiz für sein bürgerschaftliches Engagement
                         beim Neujahrsempfang mit diesem Silberdukaten ausgezeichnet.

                                                     Inhalt
Editoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Die Anfänge – das Deckert-Urteil und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Das Mannheimer NS-Sondergericht –
„Panzertruppe der Rechtspflege“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

„Arisierung“ – legalisierter Raub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Provenienzforschung – „Raubkunst auf der Spur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Heinrich Vetter: Arisierer, Ehrenbürger und Mäzen                                      . . . . . . . . . . . . . . . 21

Zwangssterilisationen und Erbgesundheitsgericht
in Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

… und zahlreiche Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
                                                                                                                      3
Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
Die Anfänge –
                das Deckert-Urteil und die Folgen
Am 31. Januar 1995 findet aus Anlass                        Resnais projiziert. Außen am Land-
des 50. Jahrestages der Befreiung des                       gericht hängen Transparente „Wider
Konzentrationslagers Auschwitz durch                        das Leugnen – wider das Vergessen“
die Rote Armee eine außergewöhnliche                        gegen den Weinheimer Nazi Günter
Gedenkveranstaltung in Mannheim                             Deckert und seinen Richter Orlet.
statt.

Vor dem Landgericht in A1 versammeln
sich um 19 Uhr etwa 700 Menschen.
Die Polizei sperrt die Zufahrtsstraßen,
die Straßenbahnen werden umgeleitet,
die Straßenbeleuchtung vor dem Land-
gericht abgeschaltet. In dieser Ruhe
und Finsternis rezitieren die Schau-
spieler*innen Bettina Franke, Friderike
Frerichs und Manfred Trabant Texte
von Überlebenden aus den KZ sowie
die Todesfuge von Paul Celan. Auf
eine große Leinwand am Eingang zum
Landgericht werden dazu Szenen aus
dem Film „Nacht und Nebel“ von Alain

                                                            Viele erinnern sich noch heute an die ergreifende
                                                            Veranstaltung im großen Bürgersaal in N1; Fotos: Roos
                                                            oben: Vertonung der Todesfuge, unten: der vollbesetzte Saal

                                                            Gegen 19.30 Uhr zieht die Menschen-
                                                            menge in den Bürgersaal in N1. Über
                                                            700 Menschen füllen den Saal und die
                                                            Empore. Dort spricht die Schillerpreis-
                                                            trägerin der Stadt Mannheim, Lea
                                                            Rosh, zum Thema „Der Tod ist ein
                                                            Meister aus Deutschland“, eine Doku-
                                                            mentation der Jüdinnen und Juden
                                                            aus Europa durch das nationalsozialis-
                                                            tische Deutschland. Der Stuttgarter
                                                            Richter und Vertreter der Neuen Rich-
                                                            tervereinigung Fritz Endemann berich-
                                                            tet über die NS-Sondergerichte, deren
                                                            Opfer und den Kampf um deren An-
Bettina Franke am 31.1.95 vor dem Mannheimer Landgericht,
Foto: Roos                                                  erkennung.

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Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
Eine Musikergruppe um Hans Reffert                     Landgerichtspräsident Weber sah sich
trägt die eindrucksvolle Vertonung der                 allerdings nicht bereit, das Landgericht
Todesfuge vor.                                         hierfür zu öffnen. Die Konsequenz ist
                                                       das geschilderte Gedenken vor den
Zu dieser Gedenkveranstaltung lädt                     Türen des Landgerichts.
eine Gruppe antifaschistisch gesinnter
Leute ein, die sich den Namen „Ar-                     Warum so gedenken?
beitskreis Justiz“ gibt. Über 40 Orga-
nisationen und Einzelpersonen unter-                   Bei der 6. Strafkammer dieses Land-
stützen diese Gedenkveranstaltung.                     gerichts findet im Sommer 1994 der
1995, am 50. Jahrestag der Befreiung                   Prozess gegen den bundesweit be-
von Auschwitz, ist dieser Tag noch                     kannten Neonazi Günter Deckert statt:
kein offizieller Holocaust-Gedenktag.                  Er ist angeklagt wegen Volksverhet-
In Deutschland ist der 27. Januar erst                 zung und Leugnung des Holocausts.
seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich                 Die milde Strafe und insbesondere die
verankerter Gedenktag. 2005 beschließt                 Urteilsbegründung durch Richter Orlet
ihn die UNO als internationalen Ge-                    machen das Urteil im August 1994 zu
denktag.                                               einem Skandalurteil mit weltweiter
                                                       medialer Berichterstattung. Lediglich
                                                       auf Bewährung auf ein Jahr urteilt die
                                                       Strafkammer für Deckert, der schon
                                                       etliche ähnliche Vorstrafen hat und zu
                                                       dieser Zeit NPD-Vorsitzender ist. Die
                                                       Kammer attestiert Deckert Charakter-
                                                       stärke und Verantwortungsbewusstsein
                                                       und es müsse ja auch „endlich einmal
                                                       ein Schlussstrich“ gezogen werden.

                                                       Direkt nach dem Urteil gibt es Forde-
                                                       rungen aus Politik und Zivilgesellschaft,
                                                       dieses Urteil wieder aufzuheben und
                                                       die Diskussion darüber, welche Kon-
                                                       sequenzen dies für die Richter der
                                                       Strafkammer haben sollte. Während
                                                       Richter Wolfgang Müller und die Rich-
                                                       terin Elke Folkerts sich zurückhalten
                                                       und aus dem Blickfeld der Öffentlich-
                                                       keit geraten, versteigt sich Richter Rai-
                                                       ner Orlet als Berichterstatter der Kam-
Lea Rosh bei Ihrem Vortrag am 31.1.95 im Bürgersaal,   mer und damit Verfasser der Urteils-
Foto: Roos
                                                       begründung in mehreren Verteidigun-
Das ursprüngliche Ziel des sich grün-                  gen seiner Auffassungen in den Medien
denden Arbeitskreises war es, die Ge-                  immer weiter in Rechtfertigungen. Er
denkveranstaltung im Foyer des Land-                   outet sich dabei zwangsläufig als Per-
gerichts in A1 durchzuführen. Der                      son mit reaktionärsten Auffassungen.
                                                                                              5
Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
Mit Rückendeckung der Leitung des          Richteranklage
Amtsgerichts wird Orlet (er)krank(t).
Er kommt im November 1994 wieder           Richter Orlet muss sich mit einem stär-
zurück ans Gericht und alles sollte so     ker werdenden Druck auseinanderset-
weiter gehen.                              zen. Mittlerweile haben Mitglieder des
                                           AK-Justiz ausgegraben, dass in der
Proteste verstummen nicht –                Landesverfassung         von     Baden-
                                           Württemberg eine Möglichkeit be-
Schöffenstreik                             schrieben ist, einen Richter trotz seiner
Aber es gibt erneut Proteste, mit Mahn-    Unabhängigkeit zu belangen: die so-
wachen direkt vor dem Landgericht.         genannte Richteranklage durch den
Schließlich weigern sich Schöffen mit      Landtag. Nach vielem Hin und Her,
dieser Strafkammer, die auch weiterhin     Gutachten und politischem Streit soll
in der gleichen Besetzung belassen         auf Antrag der SPD im Landtag die
wurde, zu Gericht zu sitzen. Andere        Richteranklage zur Beschlussfassung
Schöffen am Landgericht unterstützen       kommen. Ein Tag vor der Abstimmung
die Schöffenverweigerung und so geht       am 11. Mai 1995 beantragt Orlet selbst
dieser erste und bisher bundesweit         seine krankheitsbedingte vorzeitige
einmalige Schöffenstreik in die Ge-        Pensionierung. Noch am gleichen Tag
schichte ein. Schöffen können und dür-     stimmt der Landesjustizminister Stefan
fen qua gesetzlicher Bestimmung sich       Schäuble dem Antrag zu. Damit fällt
nicht verweigern und machten es trotz-     die Schlussklappe dieses schäbigen
dem! In der Folge sollte dies mit Ord-     Schauspiels.
nungsgeld bestraft werden.
                                           Was bleibt ist der gestärkte Wille von
Noch im Dezember 1994 kassiert der         einigen Antifaschist*innen, die sich im
Bundesgerichtshof das Deckert-Urteil       AK-Justiz zusammengefunden haben,
und verweist es zur erneuten Verhand-      um sich intensiver mit der NS-Justiz
lung nach Karlsruhe. Ergebnis: zwei        auseinanderzusetzen.
Jahre Haft für Deckert.

Ausschnitte aus überregionalen Zeitungen
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Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
Am 14.11.1994 kehrt Richter Orlet nach drei Monaten wieder ans Landgericht zurück. Ca. 200 Demonstrant*innen bereiten einen
angemessenen Empfang: Das Grundgesetz vor der Drehtür.

Zur Kundgebung ruft u.a. der Bundesverband jüdischer Studieserender auf.
Es spricht Michel Friedmann (Zentralrat der Juden).

Ein halbes Jahr nach der Rückkehr durch die Hintertür ist Richter Orlet draußen und der NPD-Vorsitzende
 für zwei Jahre im Gefängnis (Fotos Kamillus Wolf).
                                                                                                                              7
Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
Das Mannheimer NS-Sondergericht –
         „Panzertruppe der Rechtspflege“
Der Anstoß                                  ter*innen des GLA sehr entgegenkom-
Im August 1994 laden einige politisch       mend.
aktive Mannheimer*innen zur Ver-
anstaltung „Deckerturteil – ein Be-         Da wir die Besuche im GLA neben un-
triebsunfall? Deutsche Justiz und die       serer Berufstätigkeit arrangieren müs-
Nazis“ mit Dr. Helmut Kramer ein. Er        sen, konzentrieren wir uns auf die
ist seit 1980 Landesbeauftragter zur        Sichtung der über 80 Prozesse mit To-
Erforschung der NS-Justiz in Nieder-        desurteilen. Wir wollen wissen, wer
sachsen. Er weist auf die Existenz eines    diese angeblichen „Schwerverbrecher“
Sondergerichts in Mannheim hin, das         tatsächlich waren.
zahlreiche Todesurteile gefällt hat und
er berichtet konkret von der personel-      Alle Todesurteile sind zu Beginn der
len Fortführung der NS-Justiz nach          Recherchearbeit noch rechtskräftig.
1945. Bekannt waren in Mannheim             Der Bundestag hat bei der Aufhebung
bis dahin vor allem die Todesurteile        von NS-Unrechtsurteilen die Entschei-
des Volksgerichtshofs gegen die Män-        dungen der Sondergerichte nicht „ver-
ner und Frauen des politischen Arbei-       gessen“ sondern bewusst ausgespart.
terwiderstandes. Vom NS-Sondergericht       Begründung: es habe sich dort meist
– soweit es in der lokalen Literatur
überhaupt erwähnt war – heißt es,
dass dort im Krieg Kriminelle abge-
urteilt worden seien.

Nachforschungen im GLA
Daraufhin forschen seit Herbst 1995
vier Mitglieder des Arbeitskreises eh-
renamtlich im Karlsruher Generallan-
desarchiv. Dort lagern die Akten der
über 3000 Prozesse des Sondergerichts
Mannheim. Zu diesem Zeitpunkt sind
die Akten noch nicht digital aufbereitet.
Allein bei den Findmitteln handelt es
um sechs Aktenordner. Die meisten
der Akten müssen nach dem Archiv-
gesetz erst entsperrt werden. Nach
anfänglicher Skepsis gegenüber unserer
Gruppe – alle keine Jurist*innen oder
Historiker*innen – sind die Mitarbei-
                                            Deckblatt einer Gerichtsakte des Mannheimer NS-
                                            Sondergerichts

8
Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
um „allgemeine Schwerkriminalität“          Zum Tode verurteilt
gehandelt. Eine Schutzbehauptung,
mit der sich auch schon die beteiligten     Die meisten der über 80 zum Tode
NS-Richter und NS-Staatsanwälte nach        Verurteilten sind Leute aus einfachen
dem Krieg reinwaschen – wider bes-          Verhältnissen. Junge Männer, Mütter
seres Wissen, aber ausgesprochen nach-      kleiner Kinder, ein älteres Ehepaar, Fa-
haltig.                                     milienväter. Viele sind ausgebombt,
                                            obdachlos, Gelegenheitsarbeiter*innen.
NS-Sondergericht                            Auch Ausländer*innen sog. „Fremd-
                                            arbeiter“ sind unter ihnen. Manche
Das Sondergericht wird bereits am           sind bereits als „schwachsinnig“ oder
27. 3. 1933 als Spezialkammer am Land-      als „Zigeuner“ abgestempelt und er-
gericht Mannheim eingerichtet. Das          fasst; einige auch schon zwangssterili-
Landgericht ist damals im Westflügel        siert.
des Schlosses untergebracht, u.a. wird
dort das Studium der Anglistik ange-
boten. Wo heute die juristische Fakultät
ist, war in der NS-Zeit die Staatsanwalt-
schaft ansässig. Das Sondergericht hält
seine Sitzungen meist im jetzigen Amts-
gericht ab, im Saal 2. Dort tagt auch
der Volksgerichtshof, wenn er zu Sit-
zungen nach Mannheim anreist, z.B.
zum Prozess gegen die Lechleiter-Grup-
pe.

Ab 1938 und besonders unmittelbar
bei Kriegsbeginn wird die Zuständigkeit     Szenenbild von der Lesung 2015 im Landgericht Heidelberg.
der Sondergerichte durch mehrere Ge-
setze und Verordnungen drastisch aus-       Und ihre Taten? Der eine nimmt ein
geweitet. Beispiele sind die „Kriegs-       paar Wurstdosen oder Kleidung aus
wirtschaftsverordnung“ (darunter fal-       einem zerstörten Keller mit, die andere
len Schwarzschlachten und Handel mit        ein Radio aus Ruinen, ein vermeintlich
Lebensmittelmarken), die „Volksschäd-       herrenloses Möbelstück im Hof. Oder
lingsverordnung“ (Straftaten während        sie kauft mit gefälschten Brotmarken
der Verdunklung, Diebstahl bei Luft-        ein. Über die Hälfte der Betroffenen
angriffen, Plündern, Feldpostunter-         haben solche – heute würde man sagen
schlagung). Praktisch alles, „was in der    „Bagatelldelikte“ – begangen, zum ei-
Öffentlichkeit Erregung hervorruft”,        genen unmittelbaren Verbrauch. Das
kann vor dem Sondergericht angeklagt        hat damals ihre Aburteilung und Hin-
werden. Gleichzeitig wird für viele De-     richtung zur Folge: als „Volksschädling“
likte die Todesstrafe eingeführt.           und „Plünderer“ oder – wenn schon
                                            vorbestraft – als „Gewohnheitsverbre-
                                            cher“.

                                                                                                        9
Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
anten, menschenverachtende Diktion
                                            der Anklageschriften, vernichtende
  Die Verurteilten
                                            medizinische Gutachten und Urteile,
  In der Zeit zwischen 1938 und             sowie akribisch verfasste Hinrichtungs-
  März 1945 wurden 84 Menschen              protokolle. Sogar die Fahrtkosten-
  zum Tode verurteilt. Fünf wurden          abrechnung des Scharfrichters und die
  begnadigt, zwei starben kurz vor          Rechnung der Mannheimer Stadtrekla-
  ihrer Hinrichtung, für vier Ver-          me für das Aufhängen der roten Hin-
  urteilte verhinderte das Kriegsende       richtungs-Plakate werden in den Akten
  die Vollstreckung des Todesurteils.       abgelegt.
  73 Menschen wurden aufgrund
  eines Urteils des Sondergerichts          Das Durcharbeiten der Dokumente
  Mannheim hingerichtet.                    war sehr bedrückend: Wir finden in
                                            den Akten auch Abschiedsbriefe aus
                                            den Todeszellen. Originale, die abge-
Die anderen Verurteilten haben grö-         heftet waren, statt sie an Angehörige
ßeren Betrug, Unterschlagung oder           weiterzugeben. Wir lesen Gnadenge-
Gewalttaten begangen, die auch heute        suche von Verwandten und Freunden,
noch bestraft würden. Doch auch sie         die kein Gehör fanden.
sind Opfer der NS-Justiz. Auch sie
waren dem politischen Ziel der Nazis        Auch nach dem Ende der Naziherrschaft
unterworfen, die „Volksgemeinschaft         werden die Akten des Sondergerichts
zu reinigen“ und während des Krieges        weitergeführt. Selbst nach dem Krieg
die Herrschaft an der „inneren Front“       noch müssen Mitangeklagte ihre Haft-
aufrecht zu erhalten.                       und Geldstrafen absitzen und abbe-
                                            zahlen. Hinterbliebene müssen nach
Die Akten offenbaren deutsche Gründ-        1945 noch Strafen und sogar die Kosten
lichkeit und Vernichtungswillen: ge-        für die Hinrichtung zahlen – in einem
hässige Schmier-Zettel der Denunzi-         uns bekannten Fall bis in die 60er Jah-
                                            re.

                                            NS-Richter und Staatsanwälte
                                            dienen dem System mit Eifer
                                            Als „Panzertruppe der Rechtspflege“
                                            so hat Freisler die Sondergerichte selbst
                                            bezeichnet. Mit einer Flut von Gesetzen
                                            und Verordnungen gelingt es dem NS-
                                            Staat, sich innerhalb von wenigen Mo-
                                            naten ein reibungslos funktionierendes
                                            Justizsystem zu schaffen. Auch rück-
                                            wirkende Anwendung von Gesetzen
                                            wird üblich, sowie Bestrafung ohne
                                            Gesetz nach „gesundem Volksempfin-
Denunziantentum. Szene aus der Aufführung
in Heidelberg 2015                          den“. Die Angeklagten haben kaum
10
eine Chance zur Verteidigung, das Ur-
teil des Sondergerichts ist sofort rechts-
                                                Die Juristen
kräftig, für die Angeklagten besteht
keine Revisionsmöglichkeit.                     45 Richter und 28 Staatsanwälte
                                                waren am Sondergericht Mann-
Richter und Staatsanwälte dienen dem            heim tätig. Von 38 Juristen wissen
System mit Eifer, persönlichem Enga-            wir um ihre Beteiligung an To-
gement und juristischer Kompetenz.              desurteilen. Von diesen haben
Selbst unter Kriegsbedingungen – das            nach 1945 die meisten ihre Kar-
Gericht in Mannheim war ausgebombt              riere fortgesetzt. 9 waren zu alt,
– gibt es keine Nachlässigkeit, seiten-         21 blieben im Amt, von 8 ehema-
lange Berichte und Abschriften belegen          ligen Richtern konnten wir keine
das.                                            Spuren mehr finden.

Keiner der beteiligten Juristen ist nach
1945 je strafrechtlich belangt worden.         Die meisten Mannheimer NS-Juristen
Nur vor den Spruchkammern müssen               setzen ihre Karriere nach 1945 fort
sie sich rechtfertigen. Die Entnazifi-         oder beziehen ihre Pension. Viele ha-
zierungsakten sind inzwischen zugäng-          ben bis weit in die 70er Jahre hinein
lich. Es ist unglaublich, mit welchen          maßgeblichen Einfluss auf die Justiz
juristischen Winkelzügen und auch              und Verwaltung z.B. als Generalstaats-
Tricks sich die Juristen gegenseitig rein      anwalt, als Richter am Bundesgerichts-
waschen, sich zu „Mitläufern“ erklären.        hof, am Bundesarbeitsgericht oder als
In notdürftig umformulierter NS-Dik-           Regierungspräsident.
tion bekräftigen sie ihre Terrorurteile.
Oder sie verschweigen schlichtweg ihre         Die vom NS-Sondergericht Verurteilten
Mitarbeit am Sondergericht.                    gelten jedoch auch in der BRD als „Kri-
                                               minelle“, deren Bestrafung im Krieg
                                               "hart aber gerecht" gewesen sei, als
                                               „Täter“, die keine NS-Opfer seien. De-
                                               ren Angehörige leben noch Jahrzehnte
                                               in Scham und Demütigung.

                                               Dann doch:
                                               Aufhebung der Urteile
                                               Im November 1996 gehen wir mit un-
                                               seren ersten Ergebnissen in einer sehr
                                               gut besuchten Veranstaltungsreihe im
                                               Rahmen der Abendakademie an die
                                               Öffentlichkeit. Die Frankfurter Rund-
                                               schau und die Stuttgarter Zeitung be-
                                               richten in ausführlichen Artikeln; im
                                               „Mannheimer Morgen“ keine Zeile.
Juristen nach 1945. Szene aus der Aufführung
in Heidelberg 2015

                                                                                   11
Wir wollen eine moralische und auch        Bei der szenischen Lesung wirken ne-
die juristische Rehabilitierung der NS-    ben Freunden und Mitgliedern des
Justiz-Opfer erreichen. Wir hatten in      AK-Justiz auch bekannte Schauspiele-
dieser Frage allerdings bereits ernüch-    rinnen und Schauspieler aus Mannheim
ternde Gespräche mit der Neuen Rich-       mit. Die Uraufführung findet im No-
tervereinigung und der Grünen Land-        vember 1998 im Westflügel des Schlos-
tagsfraktion geführt und uns an die        ses statt, im großen Hörsaal der juris-
Mannheimer Staatsanwaltschaft ge-          tischen Fakultät mit Unterstützung der
wandt. Erfolglos: Ein juristisch kom-      Fachschaft Jura. Sie wird noch weitere
plizierter Weg, teuer, aussichtslos, und   sechs Mal in der Region gespielt.
es seien halt auch heute Straftaten.
Und dann doch: Im Mai 1998 ringt
sich der Deutsche Bundestag endlich
dazu durch, auch die strafrechtlichen
Entscheidungen der Sondergerichte
als politische Urteile anzuerkennen.
Sie dienten der „Durchsetzung oder
Aufrechterhaltung des nationalsozia-
listischen Unrechtsregimes und versto-
ßen gegen die elementaren Gedanken
der Gerechtigkeit“. Die Urteile werden
damit pauschal aufgehoben.

Dokumentarstück:
Todesurteile des
                                           Szenenbild von der Lesung 2015 im Landgericht Heidelberg.
NS-Sondergerichts
                                           Das Anliegen des Arbeitskreises Justiz
Als symbolische Geste fordern wir von      war und ist es, die Opfer der NS-Justiz
Anfang an eine Gedenktafel im heuti-       noch einmal zu Wort kommen zu las-
gen Amtsgericht oder im Mannheimer         sen. Wir wollen sie persönlich, moralisch
Schloss in den Räumen der juristischen     und öffentlich rehabilitieren. Die
Fakultät. Mit der Regisseurin Eva Mar-     Schreibtisch-Täter in der Justiz vor Ort
tin-Schneider stellten wir eine bewe-      sollen nicht weiter verschwiegen wer-
gende szenische Lesung aus Prozess-        den.
Akten des NS-Sondergerichts und den
Spruchkammerverfahren der beteilig-        Mahnmal für die Opfer der
ten Juristen zusammen. Im ersten Teil
wird ein Prozess gegen zwei Pros-
                                           NS-Justiz
tituierte aus der Neckarstadt rekon-       Unsere Forderung nach einer Erinne-
struiert. Im zweiten Teil des Stückes      rungstafel für die NS-Justiz-Opfer stößt
geht es um die involvierten Richter        drei Jahre lang auf beharrliches Igno-
und ihre Strategie, nach 1945 die Ver-     rieren und vielfältigen Widerstand von
antwortung von sich zu weisen.             Seiten der Mannheimer Justiz und der
                                           juristischen Fakultät der Universität.
                                           Wir entwerfen einen Text für die Tafel,
12
der explizit Unterstützung von enga-                     „Mannheimer Morgen“. Ebenso er-
gierten Persönlichkeiten, von allen Par-                 schien kein einziger der 200 persönlich
teien des Gemeinderats, vom Ober-                        eingeladenen Mannheimer Richter.
bürgermeister, von Institutionen und
Opferverbänden findet. Bei der öffent-                   Für uns damals überraschend, erklärt
lichen Präsentation am 22. September                     im September 1999 der Präsident
1999 sind zahlreiche Vertreter der Me-                   des Oberlandesgerichtes Karlsruhe,
dien anwesend, allerdings nicht der                      Dr. Münchbach, „er greife die dan-

                    Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus
                                  zum Gedenken.
   Im Westflügel des Schlosses, in dem sich heute die juristische Fakultät der
   Universität befindet, und in den Sälen des Amtsgerichts und Landgerichtes
   haben von 1933-1945 das Sondergericht, der Volksgerichtshof sowie Straf-
   und Zivilgerichte Unrechts- und Terrorurteile gefällt.

   Viele Richter und Staatsanwälte verbreiteten in zahllosen Prozessen Angst
   und Schrecken und dienten damit der Aufrechterhaltung der nationalso-
   zialistischen Diktatur.

   Keiner wurde dafür jemals bestraft. Die meisten amtierten in den ersten
   Jahrzehnten der Bundesrepublik wieder an Gerichten und anderen Justiz-
   behörden.

   73 Menschen wurden allein aufgrund der Urteile des NS-Sondergerichts
   Mannheim hingerichtet.

   Hans H. (19 J.), Herbert R. (18 J.), Kurt K. (22 J.), Otto B. , Emil B. (23 J.), Friedrich D. (30 J.),
   Walter W. (37 J.), Michael M. (32 J.), Ludwig (25 J.), Paul H., Eugen B. (37 J.), Josef K. (20 J.),
   Heinrich H. (32 J.), Josef D. (37 J.), Karl M. (20 J.), Alois K. (19 J.), Felix L. (29 J.), Bernhard L.
   (52 J.), Ferdinand H. (21 J.), Drahoslav S. (21 J.), Roman M. (18 J.), Peter B. (33 J.), Willi H.
   (32 J.), Stefan Z. (48 J.), Erich S. (31 J.), Karl Friedrich D. (61 J.), Martin K. (58 J.), Stanislaus P.
   (39 J.), Willi M. (29 J.), Gottfried S. (55 J.), Otto R. (38J.), Anton Georg G. (37 J.), Franz E. (42
   J.), Anton G. (54 J.), Willy I. (34 J.), Fritz L. (47 J.), Erich F. (23 J.), Wilhelmine W. (25 J.),
   Ernst K. (28 J.), Bernhard O. (63 J.), Heinrich K. (20 J.), Leon D. (32 J.), Maria B. (27 J.), Johann
   T., Mateusz T. (22 J.), Rosa E. (30 J.), Margarethe S. (29 J.), Georg L. (48 J.), Sofie Sch. (44 J.),
   Georg G. (27 J.), Friedrich M. (52 J.), Josef M. (41 J.), Georg E. (45 J.), Richard H. (28 J.), Sylvain
   A. (25 J.), Pantelino K. (50 J.), Wolfgang Z. (20 J.), Gustav Z. (27 J.), Vinzenz F. (28 J.), Willi H.
   (30 J.), Willi S. (40 J.), Heinrich B. (34 J.), Wilhelm R. (29 J.), Franz R. (21 J.), Anrdreas G. (61
   J.), Emilie G. (51 J.), Margarethe B. (53 J.), Maurice L. (21 J.), Theodor G. (39 J.),
   Johann R. (22 J.), Ignatz H. (37 J.), Roger V. (18 J.), Wilhelm F. (33 J.)

Text des Mahnmals

                                                                                                               13
kenswerte Initiative als ei-
gene Angelegenheit der Jus-
tiz gerne auf.“ Doch wir las-
sen uns nicht aus der Dis-
kussion um den Text und
die Inhalte des Gedenkens
verdrängen. Noch einmal
dauert es drei Jahre inten-
siver Auseinandersetzungen
vor allem mit der Leitung
der Universität (Prof. Fran-
kenberg) und der juristi-
schen Fakultät (Prof. Arndt) Von der Veranstaltung 2015 in der Aula der Uni Mannheim gibt es eine
                               Filmaufzeichnung, die Prof. Puhl in seiner juristischen Lehrveranstaltung
um den Wortlaut des Textes, einsetzt.
um die Namensnennungen,
den Aufstellungsort und letzten Endes           Am 12. September 2002 wird das Mahn-
um die Gestaltung nicht nur einer Tafel         mal als ein Denkmal des Justizministe-
sondern eines Mahnmals.                         riums Baden Württemberg in Anwe-
                                                senheit des Justizministers Ulrich Goll
Die sehr ernsthaften inhaltlichen Kon- der Öffentlichkeit übergeben. Unseres
troversen entwickeln sich zu einer Wissens gibt es damals in der Bundes-
fruchtbaren Zusammenarbeit mit Herrn            republik keine weitere Gedenktafel,
Dr. Münchbach und dessen Mitarbeiter            die die NS-Täter in der Justiz und ihre
Herrn Lotz, sowie mit Herrn Professor Nachkriegsgeschichte in dieser Deut-
Schwarz von der Mannheimer Hoch- lichkeit benennt.
schule für Gestaltung, der das Mahnmal
künstlerisch umsetzt.                           2015 „Verpflichtung
                                                                  der Universität“
                                                                               Unsere szenische Lesung,
                                                                               die aus Anlass der Einwei-
                                                                               hung des Mahnmals 2002
                                                                               noch einmal im großen Saal
                                                                               des Landgerichts aufgeführt
                                                                               worden war, wird im Jahr
                                                                               2015 noch zwei Mal wieder
                                                                               aufgenommen: im Land-
                                                                               gericht in Heidelberg an-
                                                                               lässlich einer Ausstellung zu
                                                                               Fritz Bauer und wenige Wo-
                                                                               chen später an der Univer-
                                                                               sität Mannheim. Für die Auf-
                                                                               führung des Stückes in der
Bei der Mahnmalenthüllung: v.l. Baden-Württembergs Justizminister Goll, die    großen Aula der Universität
Vorsitzende des AK-Justiz, der Künstler des Mahnmals Prof. Schwarz sowie der
Oberlandesgerichtspräsident Dr. Münchbach                                      hatte sich Prof. Dr. Thomas
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Puhl, Rechtswissenschaftler und damals                    junge Juristen in den Räumen aus, in
Prorektor der Universität, spontan stark                  denen verheerendes Unrecht gespro-
eingesetzt, nachdem er die restlos aus-                   chen wurde. Die Universität ist insofern
verkaufte Vorstellung im Landgericht                      Erbe dieser Vergangenheit und damit
Heidelberg gesehen hatte. Er sagte:                       verpflichtet, sich mit dem Unrecht aus-
„Die Geschehnisse damals sind uns                         einander zu setzen und die Erinnerung
heute räumlich so nah. Wir bilden                         daran wach zu halten.“

                                                            Treppenwitz? 1983:
                                                           „Verunglimpfung der BRD”
                                                             Aus einem Urteil des Mannheimer
                                                             Landgerichts, 1983

                                                             „Der Angeklagte hat im Wesent-
                                                             lichen behauptet, alle Nazi-Richter
                                                             seien nach 1945 im Justizdienst
                                                             belassen worden und sogar u.a.
                                                             zum Oberstaatsanwalt und Bun-
                                                             desrichter befördert worden. ...
                                                             Jeder Bürger, der gewillt und auch
                                                             in der Lage ist, sich im Alltag nicht
                                                             mit ideologisch verblendeten Au-
                                                             gen umzuschauen, weiß heut zu-
                                                             tage, dass die BRD und ihre ver-
                                                             fassungsmäßigen Organe ein-
                                                             schließlich der Justiz keinerlei Ge-
                                                             meinsamkeiten mit dem NS-Re-
                                                             gime haben, und dass diese an-
                                                             geblichen Gemeinsamkeiten, nur
                                                             von kommunistenfreundlichen Lin-
                                                             ken immer wieder ausgestreut
                                                             werden, in der Absicht, die BRD
                                                             zu beschimpfen.“

                                                             Angeklagt war der Redakteur ei-
                                                             ner lokalen Alternativzeitung, spä-
                                                             ter Gründungsmitglied des AK-
Mehrmals organisiert der AK-Justiz Arbeitseinsätze,          Justiz.
um den Zugang zum Mahnmal von Unkraut frei zu halten,
denn über die Angelegenheit sollte „kein Gras wachsen”.

                                                                                                     15
„Arisierung“ – legalisierter Raub
1998 erscheint das Buch „Betrifft: ‚Ak-                          Umsetzung eines Ausstellungsprojektes
tion 3‘. Deutsche verwerten jüdische                             erwachsen. Mitgliedern des AK-Justiz
Nachbarn“. Es handelt sich um die Do-                            war es wichtig, dass mit diesem Thema
kumentation einer Ausstellung in Düs-                            wieder einmal ein blinder Fleck nicht
seldorf. Der Autor ist Wolfgang Dreßen,                          aufgearbeiteter Nazi-Untaten in Mann-
zur damaligen Zeit Leiter der Arbeits-                           heim sichtbar wird.
stelle Neonazismus an der Fachhoch-
schule Düsseldorf – Wider das Vergessen                          Vorbereitung der Ausstellung
e.V. Er hat eine textlastige Ausstellung
von Kopien aus dem Archiv der Ober-                              Für eine Ausstellung bedarf es Räume
finanzdirektion Köln erarbeitet. Es                              und Partner*innen, die wir bei der
geht um die „Arisierung“ von Gegen-                              Abendakademie in Mannheim finden;
ständen aus Wohnungsinventar und                                 es bedarf eines Unterstützerkreises,
Umzugsgut von Jüdinnen und Juden                                 Spenden und finanzieller Zuwendun-
im Rahmen ihrer Deportationen oder                               gen aus Gerichtsurteilen. Wir brauchen
Flucht.                                                          ein attraktives Begleitprogramm, lo-
                                                                 kalhistorische Forschungsansätze zum
Unser Interesse ist geweckt                                      Thema und Interesse bei Schulen. Zur
                                                                 Auflockerung der vielen Texttafeln
1999 stellt Wolfgang Dreßen seine For-                           trägt das Secondhand-Kaufhaus Markt-
schungen in der mittlerweile leider                              haus mit zeitgenössischen Gegenstän-
nicht mehr existierenden Buchhandlung                            den des täglichen Gebrauchs bei.
„Der Andere Buchladen“ vor und stößt                             Schließlich holen wir die Ausstellung
bei der überschaubaren Zahl von An-                              ab und bauen sie Anfang November
wesenden auf großes Interesse. Es                                2004 auf der Podiumsebene des Stadt-
braucht noch ein paar Jahre, bis aus                             hauses in N1 auf. Sie steht dort bis
diesem Interesse konkrete Ideen zur                              zum 27. 1. 2005.

                                                                            Ein entscheidender Punkt
                                                                            für die Realisierung des
                                                                            Projektes ist die Bildung
                                                                            einer studentischen Ar-
                                                                            beitsgruppe. Mit Unter-
                                                                            stützung von Professor
                                                                            Niedhard vom Fachbereich
                                                                            Neuere Geschichte an der
                                                                            Universität Mannheim wird
                                                                            Student*innen ein Ge-
                                                                            schichtspraktikum angebo-
Blick auf einen Teil einer Ausstellungsvitrine im Stadthaus N1              ten und im Frühjahr 2004
16
beginnen die Organisation und Vor-       pel, eine Unterschrift des zuständigen
 arbeiten für das Ausstellungsprojekt.    Beamten und einen neuen Nutznießer.
 Am nachhaltigsten erweisen sich die      „Aktion 3“ war der Deckname für die
 Archivforschungen einiger Studieren-     Deportation, „Aktion M“ für die Über-
 den im Mannheimer Stadtarchiv, dem       führung der „Beutemöbel“ aus dem
 Generallandesarchiv in Karlsruhe sowie   besetzten Europa ins Reich.
 in Unterlagen aus einem Nachlass der
 Jüdischen Gemeinde Mannheims.            Alles ordnungsgemäß.
„Arisierung” von                          Die Enteignung und Vertreibung der
                                          jüdischen Bevölkerung sollte keines-
 Gegenständen des täglichen               wegs der Straße überlassen bleiben.
 Gebrauchs                                Gesetze und Verordnungen anstelle
 Unmittelbar nach der Deportation der     eingetretener Schaufenster und roher
 Juden – im Oktober 1940 von Mann-        Gewalt führten zur systematischen Ent-
 heim in das Konzentrationslager          rechtung und fiskalischen Ausplün-
 Gurs/Südfrankreich –, wur-
 de deren zurückbleibendes
 Eigentum vom NS-Staat
 enteignet, versteigert und
 verkauft.

 Unter den Hammer kamen
 dabei nicht nur Schmuck
 und Kunstgegenstände der
 jüdischen Bevölkerung,
 sondern auch alltägliche
 Gebrauchsgüter wie Kü-
 chenstühle, Geschirr und
 Kleidung. Zu den neuen
 Besitzern zählten neben Führung einer Besuchergruppe durch die Ausstellung
 NS-Parteiorganisationen vor allem Pri- derung der jüdischen Bevölkerung. Ge-
 vatleute. Nahezu jede ausgebombte setzestreue Handlanger in Ämtern und
 Familie saß gegen Kriegsende an einem Behörden, nicht brutale Schläger, führ-
 Tisch, der aus dem Besitz ehemaliger ten den Raubzug durch. Wer beteiligt
 jüdischer Nachbarn stammte oder aus war, sollte das Gefühl haben, dass er
 Wohnungen von Juden im besetzten dafür keine Verantwortung zu tragen
 Europa herangeschafft worden war.          brauche. Penibel wurde der Anschein
                                            von Rechtmäßigkeit aufrechterhalten,
 Die Ausstellung zeigt in aller Deut- auf den Pfennig genau. Jedes Detail
 lichkeit den Aspekt der Beteiligung        war per Vorschrift geregelt.
 und des Mitwissens großer Teile der
 deutschen Bevölkerung. Für jeden ge- Diese Ausplünderung war ein wichtiger
 raubten Gegenstand gab es eine Quit- Teil der Vernichtungsmaschinerie und
 tung mit Herkunftsvermerk und Stem- zugleich Bestandteil der NS-Kriegswirt-
                                                                             17
schaft. Hinter der stufenweisen Ent-      Fragen stellen!
rechtung stand der Plan: Nach dem
Raub kommt der Mord. Das Geheimnis        Auch in Mannheim wird nach der Be-
war kein Geheimnis, sondern Legalität.    freiung 1945 vieles unter den Teppich
Alles geschah „ordnungsgemäß“.            gekehrt und der Mantel des Schweigens
                                          über die Mitschuld gelegt. Es wird von
Nach 1945: Schweigen                      den (Mit-)Tätern alles unternommen,
                                          um eine Vielzahl von NS-Unterstützer-
Der Unrechtsstaat ist besiegt, die        und „Mitläufer“-Karrieren in Verges-
NSDAP und ihre Organisationen zer-        senheit geraten zu lassen. Es gab durch-
schlagen, doch die (Finanz-)Beamten       aus große Arisierungsgewinnler. Aber
arbeiten weiter. Wiedergutmachungs-       was ist mit den netten Nachbarn, die
ansprüche überlebender Juden wurden       die Wäsche der deportierten Juden le-
oft von denselben Finanzbeamten ge-       gal ersteigerten? „Wir haben doch da-
                                                      von nichts gewusst“ und
                                                      der „Überlebenskampf in
                                                      den zerbombten Städten“
                                                      ist über Jahre hinweg ent-
                                                      schuldigend entgegnet
                                                      worden. Dass sich die Mit-
                                                      macher und Zuschauer dies
                                                      nach dem Krieg nicht ein-
                                                      mal eingestehen wollen
                                                      oder können, dass sie ihre
                                                      individuelle Schuld leug-
                                                      nen, dieses gesellschaftli-
                                                      che Versagen hat Ralf Gior-
                                                      dano mit dem Stichwort
                                                      von „der zweiten Schuld“
                                                      oder „dem großen Frieden
                                                      mit den Tätern“ treffend
                                                      beschrieben.

                                                      Neben der Ausstellung stel-
Besucher in der Ausstellung
                                                      len wir über einen Zeit-
                                                      zeugenaufruf Kontakt zu
regelt, die vorher ihre Ausplünderung     Personen her, welche die Schnäpp-
geleitet hatten. Die wenigen zurück-      chenjagd bezeugen können. Vor und
gekehrten Opfer mussten erneut in         während der Ausstellung gibt es ein
langen und entwürdigenden Prozessen       lebhaftes Presseecho. Aus dem Begleit-
nachweisen, dass dies und jenes ihr Ei-   programm sollen zwei Aktionen her-
gentum gewesen war oder dass sie          vorgehoben werden: Mitte Januar 2005
tatsächlich die Erben seien.              präsentiert der AK-Justiz zusammen
                                          mit Studenten, die in den Archiven
                                          gearbeitet haben, die für Mannheim
18
neuen, bisher nicht bekannten Fakten.                         • Während der letzten Kriegsjahre
Mit diesen Erkenntnissen gehen wir                              war die VVV im Kaufhaus Vetter
im November 2004 in der Mannheimer                              untergebracht. Erste Erkenntnisse
Innenstadt auf einen Rundgang mit                               kommen ans Licht, dass Heinrich
dem Thema „Auf den Spuren staatlich                             Vetter, der Ehrenbürger der Stadt
organisierter Schnäppchenjagd im Na-                            Mannheim, zusammen mit seiner
tionalsozialismus“.                                             Familie vom Ausplünderungssys-
                                                                tem an der jüdischen Bevölkerung
Neue Erkenntnisse für                                           auch profitiert hat, was jedoch zu
                                                                diesem Zeitpunkt von der Hein-
Mannheim                                                        rich-Vetter-Stiftung vehement be-
• Die Besonderheit sehr früher Ver-                             stritten wird;
  steigerungsaktionen – angekün-
  digt in Zeitungsanzeigen – durch                            • Weitere lokale „Arisierungs-
  die im Oktober 1940 frühe, noch                               gewinnler“ werden recherchiert.
  ungeregelte Deportation von Jü-
  dinnen und Juden nach Gurs,                                 Es wird greifbar, was man als Mann-
  nördlich der Pyrenäen;                                      heimer*in in der NS-Zeit wissen und
                                                              mitbekommen konnte und was nach
• Die Rückholaktion von Umzugsgut                             1945 tief „vergraben“ wurde. Aber:
  aus Rotterdam nach Mannheim                                 um welche Vermögenswerte ging es?
  und dessen Verhökern an „Flieger-                           Was ist mit Geschäften, Fabriken,
  geschädigte“ und staatliche Stel-                           Grundstücken? Wie wurde die Aus-
  len sowie NS-Parteiorganisationen.                          plünderung bei der Arisierung genau
  Hierfür wurde die „Verwertungs-                             organisiert? Welche städtischen bzw.
  stelle Volksfeindliches Vermögens                           staatliche Stellen und NS-Parteiorga-
  (VVV)“ geschaffen;                                          nisationen wirkten dabei mit? Klar
                                                              wird, dass die „Arisierung“ und Wie-
                                                                          dergutmachung mit all ih-
                                                                          ren Facetten dringend wis-
                                                                          senschaftlich aufzuarbeiten
                                                                          ist.

                                                                             So zeigt diese erfolgreiche
                                                                             Ausstellung auch danach
                                                                             Früchte – wenn auch sehr
                                                                             mühsam, langwierig und
                                                                             holprig , wie einem kurzen
                                                                             Auszug einer Bespre-
                                                                             chungsniederschrift bei ei-
                                                                             nem Treffen im Stadtarchiv
                                                                             Mitte Mai 2005 zu entneh-
                                                                             men ist: „Es wird eine Ko-
Vor den lokalhistorischen Ergänzungen der Ausstellung stehen besonders oft
                                                                             operation zwischen Uni-
Besuchergruppen                                                              versität Mannheim und
                                                                                                     19
dem Stadtarchiv Mannheim – Institut                   fasste im Rahmen eines universitären
für Stadtgeschichte vereinbart mit dem                Forschungsprojektes ein 1000-seitiges
Ziel, die durch den AK-Justiz und die                 Werk mit dem Titel „Ausgeplündert,
von ihm durchgeführte Ausstellung                     zurückerstattet und entschädigt. Ari-
angeregte Beschäftigung mit der Ver-                  sierung und Wiedergutmachung in
wertung jüdischen Vermögens in Mann-                  Mannheim“.
heim wissenschaftlich zu vertiefen und
wenn möglich in ein größeres For-                     Im Zusammenhang mit der Ausstellung
schungsprojekt münden zu lassen.“                     entwickelte der AK-Justiz seine Web-
                                                      seite – www.akjustiz-mannheim.de –,
Dies sollte dann einige Jahre später                  auf der auch viele Mannheimer Doku-
durch die wissenschaftliche Ausarbei-                 mente zur Ausstellung bereitgestellt
tung zum Thema Arisierung und Wie-                    sind.
dergutmachung in Mannheim durch
Christiane Fritsche geschehen. Sie ver-

Ein Teil der Ausstellungsvitrinen im Podiums von N1

                 2015: Veranstaltung zum Thema "Raubkunst"
Seit 2001 forscht die Kunsthalle Mann-                verständiger und Schätzer für die „Ver-
heim nach Werken, die NS-Verfolgten                   wertungsstelle Volksfeindliches Ver-
entweder geraubt oder deren Verkauf                   mögen VVV“ tätig und sonderte im
erzwungen worden sein könnte. Die                     Auftrag des Finanzamtes Kunstgegen-
Forderung des AK-Justiz bei der Ver-                  stände jüdischer Emigrant*innen aus.
anstaltung im Mai 2015 in der Kunst-
halle war es, auch die Rolle von Walter
Passarge, von 1936 bis 1958 Direktor
der Kunsthalle, noch aufzuarbeiten.
Denn ab 1942 war er als Kunstsach-
20
Heinrich Vetter:
        Arisierer, Ehrenbürger und Mäzen
Bei der Ausstellung „Betrifft: Aktion 3“       Geschäftsführer Esser – schäumt und
im Jahr 2005 benennen wir eher am              beschuldigt den AK-Justiz, das Ansehen
Rande einige Fakten zur Familie Vetter         Heinrich Vetters in den Dreck zu zie-
und ihrer Beteiligung am Arisierungs-          hen.
geschehen – z.B. als Vermieter der
                                                                  Zu beobachten ist nun ein
                                                                  klassisches Lehrstück vom
                                                                  Verschweigen und Verdre-
                                                                  hen von Nazivergangen-
                                                                  heit, kombiniert mit einer
                                                                  Fülle von nicht unerhebli-
                                                                  chen Geldzuwendungen
                                                                  des Mäzens Heinrich Vet-
                                                                  ter, der mit diversen Aus-
                                                                  zeichnungen überhäuft
                                                                  wird. Niemand fragt, wo
                                                                  sein Reichtum herkommt.
                                                                  Das Buch der Heinrich-Vet-
                                                                  ter-Stiftung, die Hof-
                                                                  berichterstattung      des
                                                                  Mannheimer Morgens so-
                                                                  wie die Ausarbeitungen
Aufmacher der Bildzeitung direkt nach dem Ende der Ausstellung im des Stadtarchivs zeichnen
Januar 2005
                                                                  ein angenehmes Bild des
VVV (Verwertungsstelle für Volksfeind- Mäzens. Der AK-Justiz lanciere über-
liches Vermögen) –, ohne dass diese triebene Behauptungen. Es müsse erst
Erwähnung Aufsehen erregte. Heinrich die gesamte Arisierung wissenschaftlich
Vetter, seit 1999 Mannheimer Ehren-                  untersucht werden, um die Causa Vet-
bürger, ist bis zu diesem Zeitpunkt in ter einzuordnen.
Mannheim als der spendabelste Mäzen
und Förderer bekannt, die Vetterstif- Arisierungen durch Heinrich
tung setzt dies nach seinem Tod im
Jahr 2003 fort.
                                                     Vetter und seine Familie
                                                     Schon allein wegen dieser Vorwürfe
Nach dem Ende der Ausstellung ver-                   forschen wir weiter zum Thema „Hein-
sucht die Bildzeitung (Regionalausgabe) rich Vetter“ und „Arisierungen in
mit Heinrich Vetters verschwiegener Mannheim“. Durch die Recherchen des
Vergangenheit in der NS-Zeit Schlag- AK-Justiz verdichtet sich immer weiter,
zeilen zu machen. Die Vetterstiftung dass die Familie Vetter insgesamt acht
– zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Arisierungen von Geschäften und
                                                                                         21
Grundstücken in Mannheim und Karls-                 Geschäftsführer des arisierten Unter-
ruhe betrieben hat. Wir dokumentieren               nehmens „Samt und Seide“ in N7. Er
die recherchierten Informationen Zug                war also an den Arisierungen auch
um Zug auf unserer Webseite.                        persönlich beteiligt.

Eine Anfrage beim Berliner Bundes-                  Und jetzt noch eine
archiv ergibt: Heinrich Vetter trat am
1. 5. 1933 in die NSDAP ein. Über die
                                                   „Vetter-Straße“?
Spruchkammerakten wird später noch                  Trotz weiterer Enthüllungen soll im
bekannt, dass er auch Mitglied im NS-               März 2009 eine Ringstraße nach Hein-
Studentenbund und zeitweise in der                  rich Vetter benannt werden. Dies
SA war. Er arisiert mit seiner Schwester            nimmt der AK-Justiz zum Anlass, den
Geschäfte in Mannheim und Karlsruhe                 Hauptausschuss des Gemeinderats mit
und er war noch vor dem 2. Weltkrieg                den bislang bekannten Fakten zu Vet-
                                                    ters NS-Verstrickungen zu konfrontie-
                                                    ren und fordert dazu auf, eine Stra-
                                                    ßenbenennung nicht zu beschließen.
                                                    Und wieder beginnt das gleiche „Spiel“:
                                                    die Verwaltung inklusive des Oberbür-
                                                    germeisters zeigen sich zunächst un-
                                                    beeindruckt; wissenschaftlich Erforsch-
                                                    tes liege ja bislang noch nichts vor –
                                                    aus heutiger Sicht eine zynische Reak-
                                                    tion. Jedoch gibt es Druck und Erklä-
                                                    rungsbedarf aus den Reihen verschie-
                                                    dener Gemeinderatsparteien auf die
                                                    Verwaltung mit dem Ergebnis, dass
                                                    alles zunächst mal ruht. Und nach ei-
                                                    nigen Monaten verschwindet der Vor-
                                                    gang sang- und klanglos in einer Ver-
                                                    waltungsschublade. Eine öffentliche
                                                    Auseinandersetzung darum findet wie-
                                                    der einmal nicht statt.

                                                    Das öffentliche Bild wird
                                                    korrigiert.
                                                    Mitte des Jahres 2009 beginnt die His-
                                                    torikerin Christiane Fritsche ihre For-
                                                    schung zur Aufarbeitung der Arisierung
                                                    und Wiedergutmachung in Mannheim.
                                                    Die Vetterstiftung beteiligt sich de-
                                                    monstrativ mit 30 000 Euro an dem
                                                    Forschungsprojekt, man sei überzeugt,
Einladungs-Flyer zur Veranstaltung „Wortwechsel“    alle Vorwürfe seien „haltlos“.
22
Versagen bei der Aufarbei-
                                                                 tung der NS-Vergangen-
                                                                 heit.

                                                                       Allerdings: Heinrich Vetter
                                                                       ist Ehrenbürger der Stadt
                                                                       Mannheim. Einige städti-
                                                                       sche Örtlichkeiten sind
                                                                       nach ihm benannt. Daher
                                                                       ist eine Neubewertung sei-
                                                                       ner Rolle und Person drin-
                                                                       gend erforderlich. Der Bei-
                                                                       trag des AK-Justiz hierzu
Szene aus der Veranstaltung „Wortwechsel“ im Forum der Jugend          ist die Erarbeitung eines
                                                                       inszenierten und bebilder-
In einer Veranstaltung am 9. November                      ten Wortwechsels mit dem Titel „ari-
2009 berichtet der AK-Justiz zusammen                      sieren – verschweigen – stiften. Der
mit einem angehenden Historiker über rechtschaffene Kaufmann Heinrich Vet-
die bis zu diesem Zeitpunkt recher-                        ter – ein öffentliches Bild wird korri-
chierten Fakten zu Vetter sowie zur giert.“ Dies wird am 9. Mai 2012 im
Verstrickung des Mannheimer Finanz- Forum der Jugend in Mannheim auf-
amtes in die Ausplünderung der jüdi- geführt. Im völlig überfüllten Großen
schen Bevölkerung. Unter dem Stich- Saal des Forums findet es breite Reso-
wort „das Mannheimer System“ wur-                          nanz.
den alle „Ausreisewilligen“ schon im
Vorfeld erfasst. Dieses Ausspähungs- Info-Tafeln sollen es richten
system dachten sich ganz normale Fi-
nanzbeamte freiwillig und vorauseilend 2013 veröffentlich Christiane Fritsche
aus.                                                       ihre Forschungsergebnisse zur Arisie-
                                                           rung in Mannheim: insgesamt gab es
Vetters Ehrenbürgerschaft                                  2805 Arisierungsfälle, bei denen 1600
                                                           Betriebe und 1250 Grundstücke unter
wankt                                                      Druck und deutlich unter Wert in „ari-
Schließlich untermauert Frau Fritsche sche“ Hände gingen. Die Stadt Mann-
in einem Zwischenbericht 2012 auch heim ist hierbei der größten Nutznießer,
wissenschaftlich, was schon längst nicht gefolgt von der Familie Vetter, ziel-
mehr zu leugnen war: Vetters diverse strebige Kaufleute, die sich durch güns-
Verstrickungen ins NS-System und des- tige Besitzübernahmen vormals jüdi-
sen Profitieren von Arisierungen. Mit schen Eigentums in der NS-Zeit mit
den Wiedergutmachungen nach dem acht Arisierungen bereicherten.
Krieg gelingt das rasche Verschütten
von Schuld und Aufarbeitung. In dieser                     Nach mühsamen Diskussionen zwischen
Hinsicht ist Heinrich Vetter lediglich Oberbürgermeister, Stadtarchiv, Wis-
ein Beispiel unter vielen im Zusam- senschaft, Vetterstiftung, Jüdischer Ge-
menhang mit dem gesellschaftlichen meinde und AK-Justiz gibt es die Ver-
                                                                                               23
ständigung: Die Ehrenbürgerschaft soll                     Die Jüdische Gemeinde hat die 1998
bleiben, städtische nach Vetter be-                        an Heinrich Vetter verliehene Ehren-
nannte Orte sollen mit einem Hinweis                       medaille wieder aberkannt. Die Uni-
auf die Herkunft des Vermögens aus                         versität zieht Teilkonsequenzen: in
Arisierungen verbunden werden. Der                         aller Stille wird das Bild ihres Mäzen
Ältestenrat beschließt einen Text, mit                     im Rektoratsflügel abgehängt.
dem der AK-Justiz jedoch nicht zufrie-
den war und es auch immer noch nicht                       Unter neuer Leitung durch Prof. Fran-
ist. Wir hätten eine klarere Stellung-                     kenberg betont die Stiftung, man wolle
                                                                      einen neuen Schwerpunkt
                                                                      setzen und mehr Projekte
                                                                      gegen Ausgrenzung von
                                                                      Minderheiten und Anti-
                                                                      semitismus fördern. Auf
                                                                      der Webseite der Vetter-
                                                                      stiftung findet man jetzt
                                                                      – ziemlich unvermittelt
                                                                      aber immerhin – das Wort
                                                                      „Arisierung“, in Klammern
                                                                      gesetzt, mit einem Link zu
                                                                      einer separaten Ausarbei-
                                                                      tung von Frau Fritsche.

                                                                      Aber auch die Erinnerung
Szene aus der Veranstaltung „Wortwechsel“ im Forum der Jugend         an den Streit von 2010 ver-
                                                                      blasst. Der Kunstbetrieb
nahme zum lange vertuschten legali-                        braucht Sponsorengelder und da schaut
sierten Raub erwartet. Doch neben                          man dann gerne nicht mehr so genau
Lob für den Stifter enthält der Tafel-                     hin.
Text sublime Rechtfertigungen, Ab-
schwächungen und Auslassungen. Es                          Das spannend zu lesende Buch von
fehlt die Benennung des nationalso-                        Christiane Fritsche umfasst fast 1000
zialistischen Unrechts.                                    Seiten. Sie konnte allerdings „nur“ ei-
                                                           nen Bruchteil von den etwa 500 Re-
Was bleibt?                                                galmetern an Akten in den Archiven
                                                           sichten. Ohne Zweifel hat sie das System
Einige Institutionen nehmen kein Geld                      der Arisierung und Wiedergutmachung
mehr von der Vetter-Stiftung an. So                        gründlich und wegweisend wissen-
schaffte der Fachbereich Sozialwesen                       schaftlich aufgearbeitet. Damit hat
der Hochschule Mannheim den Vet-                           endlich ein weiterer blinder Fleck der
ter-Preis samt Preisgeld ab, auch aus                      Forschung zur NS-Zeit Farbe bekom-
den Erwägungen heraus, dass die Grün-                      men. Und das ist die Hauptsache.
dung des Bereichs Sozialwesen auf
eine Jüdin zurückgeht.

24
Zwangssterilisationen und
         Erbgesundheitsgericht in Mannheim
Mehr als 1900 Menschen aus Mannheim                    gesunden, Familien durch Steuern aller
werden in der Zeit des Nationalsozia-                  Art entzogen werden. „Diese Argu-
lismus gegen ihren Willen und unter                    mentation fällt auf fruchtbaren Boden.
Androhung von Gewalt unfruchtbar                       So werden in der Folge eugenische
gemacht. Es betrifft Menschen, die                     Beratungsstellen eingerichtet. 1923
von Geburt an blind, taub, körper-                     wird an der Universität München der
behindert sind oder die angeblich an                   erste Lehrstuhl für Rassenhygiene mit
Schizophrenie oder Epilepsie leiden.                   dem Sozialdarwinisten Fritz Lenz be-
Die Scheindiagnose „moralischer                        setzt, der auch in der NS-Zeit als füh-
Schwachsinn“ dient der sozialen Aus-                   render Rassehygieniker wirkt.
lese und wird von den Schreibtisch-
tätern häufig bei unangepassten oder                   Der eugenische Gedanke findet sich
sogenannten „asozialen“ Menschen                       in allen politischen Strömungen wieder.
angewendet. Grundlage der zwangs-                      Die Vorstellung einer besseren Gesell-
weisen Unfruchtbarmachung ist das                      schaft mit ausschließlich gesunden,
bereits im Juli 1933 erlassene „Gesetz                 glücklichen Menschen ist die Grundlage
zur Verhütung erbkranken Nachwuch-                     der sogenannten „positiven Eugenik“,
ses“, das erste Rassegesetz des NS-                    die auch in den damaligen sozialisti-
Staates.                                               schen Kreisen weit verbreitet ist.

Vorgeschichte der Eugenik                              Dem preußischen Landtag werden
                                                       mehrere Gesetzesvorschläge zur Steri-
Die Geschichte der Eugenik als theo-                   lisierung aus eugenischen Gründen
retische Grundlage der Zwangssterili-                  vorgelegt. Der letzte, 1932 eingebracht,
sation beginnt und
endet nicht mit
dem Nationalsozia-
lismus. Ihre Wur-
zeln reichen bis ins
19. Jahrhundert zu-
rück und sind nicht
auf Deutschland
beschränkt.
                       Ausriss aus Reichsgesetzblatt
Begriffe wie „wert-
los“ oder „Ballastexistenzen“ werden                   wird zwar noch abgelehnt, stimmt
im wissenschaftlichen Diskurs ein-                     aber mit dem 1933 verabschiedeten
geführt und gipfeln in Aussagen wie                    „Gesetz zur Verhütung erbkranken
„für Geistesschwache, Hilfsschüler, Geis-              Nachwuchses“ faktisch überein. Die
teskranke und Asoziale werden jährlich                 Nationalsozialisten streichen lediglich
Millionenwerte verbraucht, die den                     die Einwilligung der Betroffenen.
                                                                                            25
Den Vordenkern der Eugenik bietet
sich so endlich ein Staat an, von dem
sie hoffen, all ihre Vorstellungen um-
setzen zu können.

Die Umsetzung des Gesetzes
Neben den Diagnosen wird im „Gesetz
zur Verhütung erbkranken Nachwuch-
ses“ der organisatorische Ablauf ge-
regelt wie z.B. die Antragstellung, die
Arbeit der Erbgesundheitsgerichte, die
Anzeigepflicht für alle, die beruflich
mit den betroffenen Menschen zu tun
haben, aber auch die Anwendung un-
mittelbaren Zwangs. Um das Verbre-
chen der Zwangssterilisation flächen-
deckend ausüben zu können, werden
vom NS-Staat

• die Gesundheitsämter eingerichtet       Sonderakte aus Anlass einer NS-Zwangssterilisierung
  bzw. ausgebaut

• die Erbgesundheitsgerichte ins Le-      reichsweit ca. 400 000 Menschen un-
  ben gerufen                             fruchtbar gemacht, etwa 5000 sterben
                                          durch den Eingriff.
• Ärzte und Schulämter zur Mel-
  dung verpflichtet, um so eine sys-      Die Rehabilitation der Opfer
  tematische Erfassung sogenannter
  „Erbkranker“ zu erzielen
                                          dauert lang und ist zäh
                                          Kein einziger Arzt oder Richter wird
• mit der pseudomedizinischen Di-         nach 1945 wegen seiner Beteiligung
  agnosen wie „moralischer                an der Zwangssterilisation zur Rechen-
  Schwachsinn“ die soziale Auslese        schaft gezogen – sie bleiben meist
  durchgesetzt                            nahtlos in Amt und Würden.

Auf dieser Grundlage bestimmt im Fe-      Die Opfer dagegen leiden nicht nur
bruar 1934 der badische Innenminister     unter der Zerstörung ihrer Fruchtbar-
die Städtischen Krankenanstalten sowie    keit, sie sind auch in ihrer Menschen-
das evangelische Diakonissenkranken-      würde angegriffen durch die Bezeich-
haus und später auch das Lanz-Kran-       nung als „erblich Minderwertige“.
kenhaus, die Unfruchtbarmachung in        Scham und die Tatsache, im Vergleich
Mannheim umzusetzen. Dem fallen in        zu anderen Opfergruppen nicht aner-
Mannheim ca. 1900 Menschen zum            kannt zu sein, begleitet sie häufig ein
Opfer. Bis zum Ende der NS-Zeit werden    Leben lang. Sie werden bis 1980 aktiv
26
und bewusst von jeglicher Wiedergut-              Wahrnehmung noch in der Gedenk-
machung ausgegrenzt und weiter ver-               kultur. Allerdings gibt es eine ein-
höhnt.                                            drucksvolle wissenschaftliche Arbeit
                                                  von Stefan Berninger bereits aus dem
Die Zwangssterilisierten treffen bei ih-          Jahr 1992 mit dem Titel „Zwangssteri-
ren Bemühungen um Entschädigung                   lisation im Nationalsozialismus – Eine
oder Anerkennung oftmals auf genau                Beschreibung der Praxis der Zwangs-
dieselben Personen in den Behörden,               sterilisationen im Nationalsozialismus
die schon in der NS-Zeit über sie ent-            mit Auswertung der Quellen zu Mann-
schieden haben.                                   heim“.

Das „Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses“
besteht in der Bundesrepu-
blik weiter fort, nur die
Erbgesundheitsgerichte
sind geschlossen. Der Bun-
destag setzt das Gesetz
erst 1974 außer Kraft, an-
nulliert es aber damit kei-
neswegs vollständig.

Die Beschlüsse der NS-Erb-
gesundheitsgerichte gelten
bis 1998 als rechtskräftig     Ausschnitt aus einem Aktendeckel für eine Anlage auf Zwangssterilisierung am
und legitim.                   NS-Erbgesundheitsgericht in Mannheim

Erst 2007 ächtet der Bundestag das                Auch bundesweit war damals die Aus-
„Gesetz zur Verhütung erbkranken                  einandersetzung mit dem Thema spär-
Nachwuchses“. Damit sind Zwangsste-               lich und uns war zu diesem Zeitpunkt
rilisierte gesellschaftlich rehabilitiert,        lediglich ein einziges Mahnmal für die
nachdem sie jahrzehntelang nicht als              Opfer der Zwangssterilisation bekannt.
Verfolgte des NS-Regimes galten.
                                                  Es gab jedoch Bemühungen, auch die
Im Januar 2018 leben noch 103 ent-                Zwangssterilisation als verbrecherischen
schädigungsberechtigte Zwangssteri-               Eingriff in die menschliche Selbstbestim-
lisierte. Ab 1. Januar 2019 erhalten sie          mung in der öffentlichen Wahrneh-
monatlich 415 € Entschädigung.                    mung zu verankern. Sie gehen unter
                                                  anderem aus von der Arbeitsgemein-
Die Aufarbeitung                                  schaft Bund der „Euthanasie“-Geschä-
                                                  digten und Zwangssterilisierten, einer
Als wir vom AK-Justiz 2003 beginnen,              Organisation aus, die sich für das Ge-
uns mit der Zwangssterilisation in                denken an die Opfer einsetzt und auch
Mannheim zu befassen, ist das Thema               deren Rehabilitation durch den Bun-
nicht präsent, weder in der öffentlichen          destag erreicht hat.
                                                                                                        27
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