Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz - und Geschichte des Nationalsozialismus
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Wider das Leugnen Wider das Vergessen 25 Jahre Arbeitskreis Justiz und Geschichte des Nationalsozialismus in Mannheim e.V.
Editoral 25 Jahre ist es her, dass sich eine über- Ab Mitte der 2000er Jahre pflegen wir schaubare Gruppe antifaschistisch Ge- unsere Webseite mit bescheidenen IT- sinnter – es waren nie über zehn Per- Mitteln. Eine übersichtliche Zusammen- sonen – daran macht, die in Verges- stellung der Aktivitäten des AK-Justiz senheit geratene oder verdrängte Ge- im zeitlichen Ablauf gibt es bisher al- schichte aus der Mannheimer NS-Zeit lerdings nicht. Und die wollen wir im – wir nennen sie blinde Flecken – auf- Rahmen dieser Broschüre liefern. zuarbeiten. Durch die Auseinanderset- zung mit Richter Orlet und dem NPD- Als kleine politische Gruppe wollten Vorsitzenden Deckert am Landgericht und wollen wir dazu beitragen, die di- geben wir uns den Namen „Arbeitskreis versen Facetten der Mannheimer NS- Justiz“, weil eine Gruppe eben einen Vergangenheit aufzuarbeiten. Dies war Namen braucht. Und als wir zur Ein- von Beginn an – Mitte der 90er Jahre werbung von Spendengeldern später des letzten Jahrhunderts – überhaupt einen gemeinnützigen Verein gründen, nicht einfach und diese Aufarbeitung wird aus dem kurzen Namen ein langer: ist bis heute noch nicht abgeschlossen. „Arbeitskreis Justiz und Geschichte des In der Archivarbeit hat sich sachlich Nationalsozialismus in Mannheim“. Das und personell in den letzten 25 Jahren Kürzel AK-Justiz war dem Registerge- viel getan. Vom anfänglichen Misstrau- richt suspekt, denn es war ja niemand en, insbesondere von Historiker*innen in unserer Gruppe Jurist*in oder His- und Expert*innen vorsichtig beäugt, toriker*in. konnten wir eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe erreichen. Nicht alle, die heute Mitglied im AK- Justiz sind, waren das von Anfang an. Vieles ist auch für Mannheim über die Und natürlich sind auch nicht alle, die NS-Zeit noch nicht aufgearbeitet, so anfangs mitarbeiteten, die ganze Zeit beispielsweise die Rolle der Kriminal- dabei geblieben, einige aber schon. und Schutzpolizei, des Militärgerichts oder das Thema „Asoziale“ und der Was unsere Arbeit besonders auszeich- Vernichtungswille der Nationalsozia- net ist, dass wir uns neben den unter- listen diesen Menschen gegenüber. schiedlichen „vergessenen“ Opfergrup- pen von Anfang an um die Täterseite Unsere Arbeit wäre in der vorliegenden kümmern. Wie von uns vermutet stellen Form, auf die wir zurückschauen, nicht wir fest, dass viele „kleinen Leute“ möglich gewesen, wenn wir nicht im- auch Mitläufer*innen im NS-System mer wieder auf breite Unterstützung waren, die ihren Vorteil suchten und vieler Menschen getroffen wären. Das sich rasch arrangierten. große Interesse an unseren Veranstal- tungen hat uns ermutigt, an verschie- denen „Baustellen“ weiter zu arbeiten. 2
Soweit es uns möglich ist – alle aktuel- Wir bleiben zuversichtlich, dass die len Mitglieder des AK-Justiz sind mitt- blinden Flecken weiter ausgeleuchtet lerweile im Rentenalter – werden wir werden und die jüngere Generation weiterhin aktiv bleiben und uns in den ihre eigene Art der Aufarbeitung und aktuellen Auseinandersetzungen gegen des Gedenkens an die NS-Zeit und de- Rechts – wie bisher auch – einbringen. ren Gräuel finden muss und wird. AK-Justiz, Februar 2020 Karin Berndt, Siglinde Bohrke, Anna Barbara Dell, Ernst Gramberg, Jette Nevesely, Klaus Penner, Barbara Ritter, Heiner Ritter, Veronika Wallis-Violet, Ruth Weidenauer 2003 wurde der Arbeitskreis Justiz für sein bürgerschaftliches Engagement beim Neujahrsempfang mit diesem Silberdukaten ausgezeichnet. Inhalt Editoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Anfänge – das Deckert-Urteil und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Mannheimer NS-Sondergericht – „Panzertruppe der Rechtspflege“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 „Arisierung“ – legalisierter Raub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Provenienzforschung – „Raubkunst auf der Spur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Heinrich Vetter: Arisierer, Ehrenbürger und Mäzen . . . . . . . . . . . . . . . 21 Zwangssterilisationen und Erbgesundheitsgericht in Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 … und zahlreiche Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3
Die Anfänge – das Deckert-Urteil und die Folgen Am 31. Januar 1995 findet aus Anlass Resnais projiziert. Außen am Land- des 50. Jahrestages der Befreiung des gericht hängen Transparente „Wider Konzentrationslagers Auschwitz durch das Leugnen – wider das Vergessen“ die Rote Armee eine außergewöhnliche gegen den Weinheimer Nazi Günter Gedenkveranstaltung in Mannheim Deckert und seinen Richter Orlet. statt. Vor dem Landgericht in A1 versammeln sich um 19 Uhr etwa 700 Menschen. Die Polizei sperrt die Zufahrtsstraßen, die Straßenbahnen werden umgeleitet, die Straßenbeleuchtung vor dem Land- gericht abgeschaltet. In dieser Ruhe und Finsternis rezitieren die Schau- spieler*innen Bettina Franke, Friderike Frerichs und Manfred Trabant Texte von Überlebenden aus den KZ sowie die Todesfuge von Paul Celan. Auf eine große Leinwand am Eingang zum Landgericht werden dazu Szenen aus dem Film „Nacht und Nebel“ von Alain Viele erinnern sich noch heute an die ergreifende Veranstaltung im großen Bürgersaal in N1; Fotos: Roos oben: Vertonung der Todesfuge, unten: der vollbesetzte Saal Gegen 19.30 Uhr zieht die Menschen- menge in den Bürgersaal in N1. Über 700 Menschen füllen den Saal und die Empore. Dort spricht die Schillerpreis- trägerin der Stadt Mannheim, Lea Rosh, zum Thema „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, eine Doku- mentation der Jüdinnen und Juden aus Europa durch das nationalsozialis- tische Deutschland. Der Stuttgarter Richter und Vertreter der Neuen Rich- tervereinigung Fritz Endemann berich- tet über die NS-Sondergerichte, deren Opfer und den Kampf um deren An- Bettina Franke am 31.1.95 vor dem Mannheimer Landgericht, Foto: Roos erkennung. 4
Eine Musikergruppe um Hans Reffert Landgerichtspräsident Weber sah sich trägt die eindrucksvolle Vertonung der allerdings nicht bereit, das Landgericht Todesfuge vor. hierfür zu öffnen. Die Konsequenz ist das geschilderte Gedenken vor den Zu dieser Gedenkveranstaltung lädt Türen des Landgerichts. eine Gruppe antifaschistisch gesinnter Leute ein, die sich den Namen „Ar- Warum so gedenken? beitskreis Justiz“ gibt. Über 40 Orga- nisationen und Einzelpersonen unter- Bei der 6. Strafkammer dieses Land- stützen diese Gedenkveranstaltung. gerichts findet im Sommer 1994 der 1995, am 50. Jahrestag der Befreiung Prozess gegen den bundesweit be- von Auschwitz, ist dieser Tag noch kannten Neonazi Günter Deckert statt: kein offizieller Holocaust-Gedenktag. Er ist angeklagt wegen Volksverhet- In Deutschland ist der 27. Januar erst zung und Leugnung des Holocausts. seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich Die milde Strafe und insbesondere die verankerter Gedenktag. 2005 beschließt Urteilsbegründung durch Richter Orlet ihn die UNO als internationalen Ge- machen das Urteil im August 1994 zu denktag. einem Skandalurteil mit weltweiter medialer Berichterstattung. Lediglich auf Bewährung auf ein Jahr urteilt die Strafkammer für Deckert, der schon etliche ähnliche Vorstrafen hat und zu dieser Zeit NPD-Vorsitzender ist. Die Kammer attestiert Deckert Charakter- stärke und Verantwortungsbewusstsein und es müsse ja auch „endlich einmal ein Schlussstrich“ gezogen werden. Direkt nach dem Urteil gibt es Forde- rungen aus Politik und Zivilgesellschaft, dieses Urteil wieder aufzuheben und die Diskussion darüber, welche Kon- sequenzen dies für die Richter der Strafkammer haben sollte. Während Richter Wolfgang Müller und die Rich- terin Elke Folkerts sich zurückhalten und aus dem Blickfeld der Öffentlich- keit geraten, versteigt sich Richter Rai- ner Orlet als Berichterstatter der Kam- Lea Rosh bei Ihrem Vortrag am 31.1.95 im Bürgersaal, mer und damit Verfasser der Urteils- Foto: Roos begründung in mehreren Verteidigun- Das ursprüngliche Ziel des sich grün- gen seiner Auffassungen in den Medien denden Arbeitskreises war es, die Ge- immer weiter in Rechtfertigungen. Er denkveranstaltung im Foyer des Land- outet sich dabei zwangsläufig als Per- gerichts in A1 durchzuführen. Der son mit reaktionärsten Auffassungen. 5
Mit Rückendeckung der Leitung des Richteranklage Amtsgerichts wird Orlet (er)krank(t). Er kommt im November 1994 wieder Richter Orlet muss sich mit einem stär- zurück ans Gericht und alles sollte so ker werdenden Druck auseinanderset- weiter gehen. zen. Mittlerweile haben Mitglieder des AK-Justiz ausgegraben, dass in der Proteste verstummen nicht – Landesverfassung von Baden- Württemberg eine Möglichkeit be- Schöffenstreik schrieben ist, einen Richter trotz seiner Aber es gibt erneut Proteste, mit Mahn- Unabhängigkeit zu belangen: die so- wachen direkt vor dem Landgericht. genannte Richteranklage durch den Schließlich weigern sich Schöffen mit Landtag. Nach vielem Hin und Her, dieser Strafkammer, die auch weiterhin Gutachten und politischem Streit soll in der gleichen Besetzung belassen auf Antrag der SPD im Landtag die wurde, zu Gericht zu sitzen. Andere Richteranklage zur Beschlussfassung Schöffen am Landgericht unterstützen kommen. Ein Tag vor der Abstimmung die Schöffenverweigerung und so geht am 11. Mai 1995 beantragt Orlet selbst dieser erste und bisher bundesweit seine krankheitsbedingte vorzeitige einmalige Schöffenstreik in die Ge- Pensionierung. Noch am gleichen Tag schichte ein. Schöffen können und dür- stimmt der Landesjustizminister Stefan fen qua gesetzlicher Bestimmung sich Schäuble dem Antrag zu. Damit fällt nicht verweigern und machten es trotz- die Schlussklappe dieses schäbigen dem! In der Folge sollte dies mit Ord- Schauspiels. nungsgeld bestraft werden. Was bleibt ist der gestärkte Wille von Noch im Dezember 1994 kassiert der einigen Antifaschist*innen, die sich im Bundesgerichtshof das Deckert-Urteil AK-Justiz zusammengefunden haben, und verweist es zur erneuten Verhand- um sich intensiver mit der NS-Justiz lung nach Karlsruhe. Ergebnis: zwei auseinanderzusetzen. Jahre Haft für Deckert. Ausschnitte aus überregionalen Zeitungen 6
Am 14.11.1994 kehrt Richter Orlet nach drei Monaten wieder ans Landgericht zurück. Ca. 200 Demonstrant*innen bereiten einen angemessenen Empfang: Das Grundgesetz vor der Drehtür. Zur Kundgebung ruft u.a. der Bundesverband jüdischer Studieserender auf. Es spricht Michel Friedmann (Zentralrat der Juden). Ein halbes Jahr nach der Rückkehr durch die Hintertür ist Richter Orlet draußen und der NPD-Vorsitzende für zwei Jahre im Gefängnis (Fotos Kamillus Wolf). 7
Das Mannheimer NS-Sondergericht – „Panzertruppe der Rechtspflege“ Der Anstoß ter*innen des GLA sehr entgegenkom- Im August 1994 laden einige politisch mend. aktive Mannheimer*innen zur Ver- anstaltung „Deckerturteil – ein Be- Da wir die Besuche im GLA neben un- triebsunfall? Deutsche Justiz und die serer Berufstätigkeit arrangieren müs- Nazis“ mit Dr. Helmut Kramer ein. Er sen, konzentrieren wir uns auf die ist seit 1980 Landesbeauftragter zur Sichtung der über 80 Prozesse mit To- Erforschung der NS-Justiz in Nieder- desurteilen. Wir wollen wissen, wer sachsen. Er weist auf die Existenz eines diese angeblichen „Schwerverbrecher“ Sondergerichts in Mannheim hin, das tatsächlich waren. zahlreiche Todesurteile gefällt hat und er berichtet konkret von der personel- Alle Todesurteile sind zu Beginn der len Fortführung der NS-Justiz nach Recherchearbeit noch rechtskräftig. 1945. Bekannt waren in Mannheim Der Bundestag hat bei der Aufhebung bis dahin vor allem die Todesurteile von NS-Unrechtsurteilen die Entschei- des Volksgerichtshofs gegen die Män- dungen der Sondergerichte nicht „ver- ner und Frauen des politischen Arbei- gessen“ sondern bewusst ausgespart. terwiderstandes. Vom NS-Sondergericht Begründung: es habe sich dort meist – soweit es in der lokalen Literatur überhaupt erwähnt war – heißt es, dass dort im Krieg Kriminelle abge- urteilt worden seien. Nachforschungen im GLA Daraufhin forschen seit Herbst 1995 vier Mitglieder des Arbeitskreises eh- renamtlich im Karlsruher Generallan- desarchiv. Dort lagern die Akten der über 3000 Prozesse des Sondergerichts Mannheim. Zu diesem Zeitpunkt sind die Akten noch nicht digital aufbereitet. Allein bei den Findmitteln handelt es um sechs Aktenordner. Die meisten der Akten müssen nach dem Archiv- gesetz erst entsperrt werden. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber unserer Gruppe – alle keine Jurist*innen oder Historiker*innen – sind die Mitarbei- Deckblatt einer Gerichtsakte des Mannheimer NS- Sondergerichts 8
um „allgemeine Schwerkriminalität“ Zum Tode verurteilt gehandelt. Eine Schutzbehauptung, mit der sich auch schon die beteiligten Die meisten der über 80 zum Tode NS-Richter und NS-Staatsanwälte nach Verurteilten sind Leute aus einfachen dem Krieg reinwaschen – wider bes- Verhältnissen. Junge Männer, Mütter seres Wissen, aber ausgesprochen nach- kleiner Kinder, ein älteres Ehepaar, Fa- haltig. milienväter. Viele sind ausgebombt, obdachlos, Gelegenheitsarbeiter*innen. NS-Sondergericht Auch Ausländer*innen sog. „Fremd- arbeiter“ sind unter ihnen. Manche Das Sondergericht wird bereits am sind bereits als „schwachsinnig“ oder 27. 3. 1933 als Spezialkammer am Land- als „Zigeuner“ abgestempelt und er- gericht Mannheim eingerichtet. Das fasst; einige auch schon zwangssterili- Landgericht ist damals im Westflügel siert. des Schlosses untergebracht, u.a. wird dort das Studium der Anglistik ange- boten. Wo heute die juristische Fakultät ist, war in der NS-Zeit die Staatsanwalt- schaft ansässig. Das Sondergericht hält seine Sitzungen meist im jetzigen Amts- gericht ab, im Saal 2. Dort tagt auch der Volksgerichtshof, wenn er zu Sit- zungen nach Mannheim anreist, z.B. zum Prozess gegen die Lechleiter-Grup- pe. Ab 1938 und besonders unmittelbar bei Kriegsbeginn wird die Zuständigkeit Szenenbild von der Lesung 2015 im Landgericht Heidelberg. der Sondergerichte durch mehrere Ge- setze und Verordnungen drastisch aus- Und ihre Taten? Der eine nimmt ein geweitet. Beispiele sind die „Kriegs- paar Wurstdosen oder Kleidung aus wirtschaftsverordnung“ (darunter fal- einem zerstörten Keller mit, die andere len Schwarzschlachten und Handel mit ein Radio aus Ruinen, ein vermeintlich Lebensmittelmarken), die „Volksschäd- herrenloses Möbelstück im Hof. Oder lingsverordnung“ (Straftaten während sie kauft mit gefälschten Brotmarken der Verdunklung, Diebstahl bei Luft- ein. Über die Hälfte der Betroffenen angriffen, Plündern, Feldpostunter- haben solche – heute würde man sagen schlagung). Praktisch alles, „was in der „Bagatelldelikte“ – begangen, zum ei- Öffentlichkeit Erregung hervorruft”, genen unmittelbaren Verbrauch. Das kann vor dem Sondergericht angeklagt hat damals ihre Aburteilung und Hin- werden. Gleichzeitig wird für viele De- richtung zur Folge: als „Volksschädling“ likte die Todesstrafe eingeführt. und „Plünderer“ oder – wenn schon vorbestraft – als „Gewohnheitsverbre- cher“. 9
anten, menschenverachtende Diktion der Anklageschriften, vernichtende Die Verurteilten medizinische Gutachten und Urteile, In der Zeit zwischen 1938 und sowie akribisch verfasste Hinrichtungs- März 1945 wurden 84 Menschen protokolle. Sogar die Fahrtkosten- zum Tode verurteilt. Fünf wurden abrechnung des Scharfrichters und die begnadigt, zwei starben kurz vor Rechnung der Mannheimer Stadtrekla- ihrer Hinrichtung, für vier Ver- me für das Aufhängen der roten Hin- urteilte verhinderte das Kriegsende richtungs-Plakate werden in den Akten die Vollstreckung des Todesurteils. abgelegt. 73 Menschen wurden aufgrund eines Urteils des Sondergerichts Das Durcharbeiten der Dokumente Mannheim hingerichtet. war sehr bedrückend: Wir finden in den Akten auch Abschiedsbriefe aus den Todeszellen. Originale, die abge- Die anderen Verurteilten haben grö- heftet waren, statt sie an Angehörige ßeren Betrug, Unterschlagung oder weiterzugeben. Wir lesen Gnadenge- Gewalttaten begangen, die auch heute suche von Verwandten und Freunden, noch bestraft würden. Doch auch sie die kein Gehör fanden. sind Opfer der NS-Justiz. Auch sie waren dem politischen Ziel der Nazis Auch nach dem Ende der Naziherrschaft unterworfen, die „Volksgemeinschaft werden die Akten des Sondergerichts zu reinigen“ und während des Krieges weitergeführt. Selbst nach dem Krieg die Herrschaft an der „inneren Front“ noch müssen Mitangeklagte ihre Haft- aufrecht zu erhalten. und Geldstrafen absitzen und abbe- zahlen. Hinterbliebene müssen nach Die Akten offenbaren deutsche Gründ- 1945 noch Strafen und sogar die Kosten lichkeit und Vernichtungswillen: ge- für die Hinrichtung zahlen – in einem hässige Schmier-Zettel der Denunzi- uns bekannten Fall bis in die 60er Jah- re. NS-Richter und Staatsanwälte dienen dem System mit Eifer Als „Panzertruppe der Rechtspflege“ so hat Freisler die Sondergerichte selbst bezeichnet. Mit einer Flut von Gesetzen und Verordnungen gelingt es dem NS- Staat, sich innerhalb von wenigen Mo- naten ein reibungslos funktionierendes Justizsystem zu schaffen. Auch rück- wirkende Anwendung von Gesetzen wird üblich, sowie Bestrafung ohne Gesetz nach „gesundem Volksempfin- Denunziantentum. Szene aus der Aufführung in Heidelberg 2015 den“. Die Angeklagten haben kaum 10
eine Chance zur Verteidigung, das Ur- teil des Sondergerichts ist sofort rechts- Die Juristen kräftig, für die Angeklagten besteht keine Revisionsmöglichkeit. 45 Richter und 28 Staatsanwälte waren am Sondergericht Mann- Richter und Staatsanwälte dienen dem heim tätig. Von 38 Juristen wissen System mit Eifer, persönlichem Enga- wir um ihre Beteiligung an To- gement und juristischer Kompetenz. desurteilen. Von diesen haben Selbst unter Kriegsbedingungen – das nach 1945 die meisten ihre Kar- Gericht in Mannheim war ausgebombt riere fortgesetzt. 9 waren zu alt, – gibt es keine Nachlässigkeit, seiten- 21 blieben im Amt, von 8 ehema- lange Berichte und Abschriften belegen ligen Richtern konnten wir keine das. Spuren mehr finden. Keiner der beteiligten Juristen ist nach 1945 je strafrechtlich belangt worden. Die meisten Mannheimer NS-Juristen Nur vor den Spruchkammern müssen setzen ihre Karriere nach 1945 fort sie sich rechtfertigen. Die Entnazifi- oder beziehen ihre Pension. Viele ha- zierungsakten sind inzwischen zugäng- ben bis weit in die 70er Jahre hinein lich. Es ist unglaublich, mit welchen maßgeblichen Einfluss auf die Justiz juristischen Winkelzügen und auch und Verwaltung z.B. als Generalstaats- Tricks sich die Juristen gegenseitig rein anwalt, als Richter am Bundesgerichts- waschen, sich zu „Mitläufern“ erklären. hof, am Bundesarbeitsgericht oder als In notdürftig umformulierter NS-Dik- Regierungspräsident. tion bekräftigen sie ihre Terrorurteile. Oder sie verschweigen schlichtweg ihre Die vom NS-Sondergericht Verurteilten Mitarbeit am Sondergericht. gelten jedoch auch in der BRD als „Kri- minelle“, deren Bestrafung im Krieg "hart aber gerecht" gewesen sei, als „Täter“, die keine NS-Opfer seien. De- ren Angehörige leben noch Jahrzehnte in Scham und Demütigung. Dann doch: Aufhebung der Urteile Im November 1996 gehen wir mit un- seren ersten Ergebnissen in einer sehr gut besuchten Veranstaltungsreihe im Rahmen der Abendakademie an die Öffentlichkeit. Die Frankfurter Rund- schau und die Stuttgarter Zeitung be- richten in ausführlichen Artikeln; im „Mannheimer Morgen“ keine Zeile. Juristen nach 1945. Szene aus der Aufführung in Heidelberg 2015 11
Wir wollen eine moralische und auch Bei der szenischen Lesung wirken ne- die juristische Rehabilitierung der NS- ben Freunden und Mitgliedern des Justiz-Opfer erreichen. Wir hatten in AK-Justiz auch bekannte Schauspiele- dieser Frage allerdings bereits ernüch- rinnen und Schauspieler aus Mannheim ternde Gespräche mit der Neuen Rich- mit. Die Uraufführung findet im No- tervereinigung und der Grünen Land- vember 1998 im Westflügel des Schlos- tagsfraktion geführt und uns an die ses statt, im großen Hörsaal der juris- Mannheimer Staatsanwaltschaft ge- tischen Fakultät mit Unterstützung der wandt. Erfolglos: Ein juristisch kom- Fachschaft Jura. Sie wird noch weitere plizierter Weg, teuer, aussichtslos, und sechs Mal in der Region gespielt. es seien halt auch heute Straftaten. Und dann doch: Im Mai 1998 ringt sich der Deutsche Bundestag endlich dazu durch, auch die strafrechtlichen Entscheidungen der Sondergerichte als politische Urteile anzuerkennen. Sie dienten der „Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozia- listischen Unrechtsregimes und versto- ßen gegen die elementaren Gedanken der Gerechtigkeit“. Die Urteile werden damit pauschal aufgehoben. Dokumentarstück: Todesurteile des Szenenbild von der Lesung 2015 im Landgericht Heidelberg. NS-Sondergerichts Das Anliegen des Arbeitskreises Justiz Als symbolische Geste fordern wir von war und ist es, die Opfer der NS-Justiz Anfang an eine Gedenktafel im heuti- noch einmal zu Wort kommen zu las- gen Amtsgericht oder im Mannheimer sen. Wir wollen sie persönlich, moralisch Schloss in den Räumen der juristischen und öffentlich rehabilitieren. Die Fakultät. Mit der Regisseurin Eva Mar- Schreibtisch-Täter in der Justiz vor Ort tin-Schneider stellten wir eine bewe- sollen nicht weiter verschwiegen wer- gende szenische Lesung aus Prozess- den. Akten des NS-Sondergerichts und den Spruchkammerverfahren der beteilig- Mahnmal für die Opfer der ten Juristen zusammen. Im ersten Teil wird ein Prozess gegen zwei Pros- NS-Justiz tituierte aus der Neckarstadt rekon- Unsere Forderung nach einer Erinne- struiert. Im zweiten Teil des Stückes rungstafel für die NS-Justiz-Opfer stößt geht es um die involvierten Richter drei Jahre lang auf beharrliches Igno- und ihre Strategie, nach 1945 die Ver- rieren und vielfältigen Widerstand von antwortung von sich zu weisen. Seiten der Mannheimer Justiz und der juristischen Fakultät der Universität. Wir entwerfen einen Text für die Tafel, 12
der explizit Unterstützung von enga- „Mannheimer Morgen“. Ebenso er- gierten Persönlichkeiten, von allen Par- schien kein einziger der 200 persönlich teien des Gemeinderats, vom Ober- eingeladenen Mannheimer Richter. bürgermeister, von Institutionen und Opferverbänden findet. Bei der öffent- Für uns damals überraschend, erklärt lichen Präsentation am 22. September im September 1999 der Präsident 1999 sind zahlreiche Vertreter der Me- des Oberlandesgerichtes Karlsruhe, dien anwesend, allerdings nicht der Dr. Münchbach, „er greife die dan- Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken. Im Westflügel des Schlosses, in dem sich heute die juristische Fakultät der Universität befindet, und in den Sälen des Amtsgerichts und Landgerichtes haben von 1933-1945 das Sondergericht, der Volksgerichtshof sowie Straf- und Zivilgerichte Unrechts- und Terrorurteile gefällt. Viele Richter und Staatsanwälte verbreiteten in zahllosen Prozessen Angst und Schrecken und dienten damit der Aufrechterhaltung der nationalso- zialistischen Diktatur. Keiner wurde dafür jemals bestraft. Die meisten amtierten in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik wieder an Gerichten und anderen Justiz- behörden. 73 Menschen wurden allein aufgrund der Urteile des NS-Sondergerichts Mannheim hingerichtet. Hans H. (19 J.), Herbert R. (18 J.), Kurt K. (22 J.), Otto B. , Emil B. (23 J.), Friedrich D. (30 J.), Walter W. (37 J.), Michael M. (32 J.), Ludwig (25 J.), Paul H., Eugen B. (37 J.), Josef K. (20 J.), Heinrich H. (32 J.), Josef D. (37 J.), Karl M. (20 J.), Alois K. (19 J.), Felix L. (29 J.), Bernhard L. (52 J.), Ferdinand H. (21 J.), Drahoslav S. (21 J.), Roman M. (18 J.), Peter B. (33 J.), Willi H. (32 J.), Stefan Z. (48 J.), Erich S. (31 J.), Karl Friedrich D. (61 J.), Martin K. (58 J.), Stanislaus P. (39 J.), Willi M. (29 J.), Gottfried S. (55 J.), Otto R. (38J.), Anton Georg G. (37 J.), Franz E. (42 J.), Anton G. (54 J.), Willy I. (34 J.), Fritz L. (47 J.), Erich F. (23 J.), Wilhelmine W. (25 J.), Ernst K. (28 J.), Bernhard O. (63 J.), Heinrich K. (20 J.), Leon D. (32 J.), Maria B. (27 J.), Johann T., Mateusz T. (22 J.), Rosa E. (30 J.), Margarethe S. (29 J.), Georg L. (48 J.), Sofie Sch. (44 J.), Georg G. (27 J.), Friedrich M. (52 J.), Josef M. (41 J.), Georg E. (45 J.), Richard H. (28 J.), Sylvain A. (25 J.), Pantelino K. (50 J.), Wolfgang Z. (20 J.), Gustav Z. (27 J.), Vinzenz F. (28 J.), Willi H. (30 J.), Willi S. (40 J.), Heinrich B. (34 J.), Wilhelm R. (29 J.), Franz R. (21 J.), Anrdreas G. (61 J.), Emilie G. (51 J.), Margarethe B. (53 J.), Maurice L. (21 J.), Theodor G. (39 J.), Johann R. (22 J.), Ignatz H. (37 J.), Roger V. (18 J.), Wilhelm F. (33 J.) Text des Mahnmals 13
kenswerte Initiative als ei- gene Angelegenheit der Jus- tiz gerne auf.“ Doch wir las- sen uns nicht aus der Dis- kussion um den Text und die Inhalte des Gedenkens verdrängen. Noch einmal dauert es drei Jahre inten- siver Auseinandersetzungen vor allem mit der Leitung der Universität (Prof. Fran- kenberg) und der juristi- schen Fakultät (Prof. Arndt) Von der Veranstaltung 2015 in der Aula der Uni Mannheim gibt es eine Filmaufzeichnung, die Prof. Puhl in seiner juristischen Lehrveranstaltung um den Wortlaut des Textes, einsetzt. um die Namensnennungen, den Aufstellungsort und letzten Endes Am 12. September 2002 wird das Mahn- um die Gestaltung nicht nur einer Tafel mal als ein Denkmal des Justizministe- sondern eines Mahnmals. riums Baden Württemberg in Anwe- senheit des Justizministers Ulrich Goll Die sehr ernsthaften inhaltlichen Kon- der Öffentlichkeit übergeben. Unseres troversen entwickeln sich zu einer Wissens gibt es damals in der Bundes- fruchtbaren Zusammenarbeit mit Herrn republik keine weitere Gedenktafel, Dr. Münchbach und dessen Mitarbeiter die die NS-Täter in der Justiz und ihre Herrn Lotz, sowie mit Herrn Professor Nachkriegsgeschichte in dieser Deut- Schwarz von der Mannheimer Hoch- lichkeit benennt. schule für Gestaltung, der das Mahnmal künstlerisch umsetzt. 2015 „Verpflichtung der Universität“ Unsere szenische Lesung, die aus Anlass der Einwei- hung des Mahnmals 2002 noch einmal im großen Saal des Landgerichts aufgeführt worden war, wird im Jahr 2015 noch zwei Mal wieder aufgenommen: im Land- gericht in Heidelberg an- lässlich einer Ausstellung zu Fritz Bauer und wenige Wo- chen später an der Univer- sität Mannheim. Für die Auf- führung des Stückes in der Bei der Mahnmalenthüllung: v.l. Baden-Württembergs Justizminister Goll, die großen Aula der Universität Vorsitzende des AK-Justiz, der Künstler des Mahnmals Prof. Schwarz sowie der Oberlandesgerichtspräsident Dr. Münchbach hatte sich Prof. Dr. Thomas 14
Puhl, Rechtswissenschaftler und damals junge Juristen in den Räumen aus, in Prorektor der Universität, spontan stark denen verheerendes Unrecht gespro- eingesetzt, nachdem er die restlos aus- chen wurde. Die Universität ist insofern verkaufte Vorstellung im Landgericht Erbe dieser Vergangenheit und damit Heidelberg gesehen hatte. Er sagte: verpflichtet, sich mit dem Unrecht aus- „Die Geschehnisse damals sind uns einander zu setzen und die Erinnerung heute räumlich so nah. Wir bilden daran wach zu halten.“ Treppenwitz? 1983: „Verunglimpfung der BRD” Aus einem Urteil des Mannheimer Landgerichts, 1983 „Der Angeklagte hat im Wesent- lichen behauptet, alle Nazi-Richter seien nach 1945 im Justizdienst belassen worden und sogar u.a. zum Oberstaatsanwalt und Bun- desrichter befördert worden. ... Jeder Bürger, der gewillt und auch in der Lage ist, sich im Alltag nicht mit ideologisch verblendeten Au- gen umzuschauen, weiß heut zu- tage, dass die BRD und ihre ver- fassungsmäßigen Organe ein- schließlich der Justiz keinerlei Ge- meinsamkeiten mit dem NS-Re- gime haben, und dass diese an- geblichen Gemeinsamkeiten, nur von kommunistenfreundlichen Lin- ken immer wieder ausgestreut werden, in der Absicht, die BRD zu beschimpfen.“ Angeklagt war der Redakteur ei- ner lokalen Alternativzeitung, spä- ter Gründungsmitglied des AK- Mehrmals organisiert der AK-Justiz Arbeitseinsätze, Justiz. um den Zugang zum Mahnmal von Unkraut frei zu halten, denn über die Angelegenheit sollte „kein Gras wachsen”. 15
„Arisierung“ – legalisierter Raub 1998 erscheint das Buch „Betrifft: ‚Ak- Umsetzung eines Ausstellungsprojektes tion 3‘. Deutsche verwerten jüdische erwachsen. Mitgliedern des AK-Justiz Nachbarn“. Es handelt sich um die Do- war es wichtig, dass mit diesem Thema kumentation einer Ausstellung in Düs- wieder einmal ein blinder Fleck nicht seldorf. Der Autor ist Wolfgang Dreßen, aufgearbeiteter Nazi-Untaten in Mann- zur damaligen Zeit Leiter der Arbeits- heim sichtbar wird. stelle Neonazismus an der Fachhoch- schule Düsseldorf – Wider das Vergessen Vorbereitung der Ausstellung e.V. Er hat eine textlastige Ausstellung von Kopien aus dem Archiv der Ober- Für eine Ausstellung bedarf es Räume finanzdirektion Köln erarbeitet. Es und Partner*innen, die wir bei der geht um die „Arisierung“ von Gegen- Abendakademie in Mannheim finden; ständen aus Wohnungsinventar und es bedarf eines Unterstützerkreises, Umzugsgut von Jüdinnen und Juden Spenden und finanzieller Zuwendun- im Rahmen ihrer Deportationen oder gen aus Gerichtsurteilen. Wir brauchen Flucht. ein attraktives Begleitprogramm, lo- kalhistorische Forschungsansätze zum Unser Interesse ist geweckt Thema und Interesse bei Schulen. Zur Auflockerung der vielen Texttafeln 1999 stellt Wolfgang Dreßen seine For- trägt das Secondhand-Kaufhaus Markt- schungen in der mittlerweile leider haus mit zeitgenössischen Gegenstän- nicht mehr existierenden Buchhandlung den des täglichen Gebrauchs bei. „Der Andere Buchladen“ vor und stößt Schließlich holen wir die Ausstellung bei der überschaubaren Zahl von An- ab und bauen sie Anfang November wesenden auf großes Interesse. Es 2004 auf der Podiumsebene des Stadt- braucht noch ein paar Jahre, bis aus hauses in N1 auf. Sie steht dort bis diesem Interesse konkrete Ideen zur zum 27. 1. 2005. Ein entscheidender Punkt für die Realisierung des Projektes ist die Bildung einer studentischen Ar- beitsgruppe. Mit Unter- stützung von Professor Niedhard vom Fachbereich Neuere Geschichte an der Universität Mannheim wird Student*innen ein Ge- schichtspraktikum angebo- Blick auf einen Teil einer Ausstellungsvitrine im Stadthaus N1 ten und im Frühjahr 2004 16
beginnen die Organisation und Vor- pel, eine Unterschrift des zuständigen arbeiten für das Ausstellungsprojekt. Beamten und einen neuen Nutznießer. Am nachhaltigsten erweisen sich die „Aktion 3“ war der Deckname für die Archivforschungen einiger Studieren- Deportation, „Aktion M“ für die Über- den im Mannheimer Stadtarchiv, dem führung der „Beutemöbel“ aus dem Generallandesarchiv in Karlsruhe sowie besetzten Europa ins Reich. in Unterlagen aus einem Nachlass der Jüdischen Gemeinde Mannheims. Alles ordnungsgemäß. „Arisierung” von Die Enteignung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung sollte keines- Gegenständen des täglichen wegs der Straße überlassen bleiben. Gebrauchs Gesetze und Verordnungen anstelle Unmittelbar nach der Deportation der eingetretener Schaufenster und roher Juden – im Oktober 1940 von Mann- Gewalt führten zur systematischen Ent- heim in das Konzentrationslager rechtung und fiskalischen Ausplün- Gurs/Südfrankreich –, wur- de deren zurückbleibendes Eigentum vom NS-Staat enteignet, versteigert und verkauft. Unter den Hammer kamen dabei nicht nur Schmuck und Kunstgegenstände der jüdischen Bevölkerung, sondern auch alltägliche Gebrauchsgüter wie Kü- chenstühle, Geschirr und Kleidung. Zu den neuen Besitzern zählten neben Führung einer Besuchergruppe durch die Ausstellung NS-Parteiorganisationen vor allem Pri- derung der jüdischen Bevölkerung. Ge- vatleute. Nahezu jede ausgebombte setzestreue Handlanger in Ämtern und Familie saß gegen Kriegsende an einem Behörden, nicht brutale Schläger, führ- Tisch, der aus dem Besitz ehemaliger ten den Raubzug durch. Wer beteiligt jüdischer Nachbarn stammte oder aus war, sollte das Gefühl haben, dass er Wohnungen von Juden im besetzten dafür keine Verantwortung zu tragen Europa herangeschafft worden war. brauche. Penibel wurde der Anschein von Rechtmäßigkeit aufrechterhalten, Die Ausstellung zeigt in aller Deut- auf den Pfennig genau. Jedes Detail lichkeit den Aspekt der Beteiligung war per Vorschrift geregelt. und des Mitwissens großer Teile der deutschen Bevölkerung. Für jeden ge- Diese Ausplünderung war ein wichtiger raubten Gegenstand gab es eine Quit- Teil der Vernichtungsmaschinerie und tung mit Herkunftsvermerk und Stem- zugleich Bestandteil der NS-Kriegswirt- 17
schaft. Hinter der stufenweisen Ent- Fragen stellen! rechtung stand der Plan: Nach dem Raub kommt der Mord. Das Geheimnis Auch in Mannheim wird nach der Be- war kein Geheimnis, sondern Legalität. freiung 1945 vieles unter den Teppich Alles geschah „ordnungsgemäß“. gekehrt und der Mantel des Schweigens über die Mitschuld gelegt. Es wird von Nach 1945: Schweigen den (Mit-)Tätern alles unternommen, um eine Vielzahl von NS-Unterstützer- Der Unrechtsstaat ist besiegt, die und „Mitläufer“-Karrieren in Verges- NSDAP und ihre Organisationen zer- senheit geraten zu lassen. Es gab durch- schlagen, doch die (Finanz-)Beamten aus große Arisierungsgewinnler. Aber arbeiten weiter. Wiedergutmachungs- was ist mit den netten Nachbarn, die ansprüche überlebender Juden wurden die Wäsche der deportierten Juden le- oft von denselben Finanzbeamten ge- gal ersteigerten? „Wir haben doch da- von nichts gewusst“ und der „Überlebenskampf in den zerbombten Städten“ ist über Jahre hinweg ent- schuldigend entgegnet worden. Dass sich die Mit- macher und Zuschauer dies nach dem Krieg nicht ein- mal eingestehen wollen oder können, dass sie ihre individuelle Schuld leug- nen, dieses gesellschaftli- che Versagen hat Ralf Gior- dano mit dem Stichwort von „der zweiten Schuld“ oder „dem großen Frieden mit den Tätern“ treffend beschrieben. Neben der Ausstellung stel- Besucher in der Ausstellung len wir über einen Zeit- zeugenaufruf Kontakt zu regelt, die vorher ihre Ausplünderung Personen her, welche die Schnäpp- geleitet hatten. Die wenigen zurück- chenjagd bezeugen können. Vor und gekehrten Opfer mussten erneut in während der Ausstellung gibt es ein langen und entwürdigenden Prozessen lebhaftes Presseecho. Aus dem Begleit- nachweisen, dass dies und jenes ihr Ei- programm sollen zwei Aktionen her- gentum gewesen war oder dass sie vorgehoben werden: Mitte Januar 2005 tatsächlich die Erben seien. präsentiert der AK-Justiz zusammen mit Studenten, die in den Archiven gearbeitet haben, die für Mannheim 18
neuen, bisher nicht bekannten Fakten. • Während der letzten Kriegsjahre Mit diesen Erkenntnissen gehen wir war die VVV im Kaufhaus Vetter im November 2004 in der Mannheimer untergebracht. Erste Erkenntnisse Innenstadt auf einen Rundgang mit kommen ans Licht, dass Heinrich dem Thema „Auf den Spuren staatlich Vetter, der Ehrenbürger der Stadt organisierter Schnäppchenjagd im Na- Mannheim, zusammen mit seiner tionalsozialismus“. Familie vom Ausplünderungssys- tem an der jüdischen Bevölkerung Neue Erkenntnisse für auch profitiert hat, was jedoch zu diesem Zeitpunkt von der Hein- Mannheim rich-Vetter-Stiftung vehement be- • Die Besonderheit sehr früher Ver- stritten wird; steigerungsaktionen – angekün- digt in Zeitungsanzeigen – durch • Weitere lokale „Arisierungs- die im Oktober 1940 frühe, noch gewinnler“ werden recherchiert. ungeregelte Deportation von Jü- dinnen und Juden nach Gurs, Es wird greifbar, was man als Mann- nördlich der Pyrenäen; heimer*in in der NS-Zeit wissen und mitbekommen konnte und was nach • Die Rückholaktion von Umzugsgut 1945 tief „vergraben“ wurde. Aber: aus Rotterdam nach Mannheim um welche Vermögenswerte ging es? und dessen Verhökern an „Flieger- Was ist mit Geschäften, Fabriken, geschädigte“ und staatliche Stel- Grundstücken? Wie wurde die Aus- len sowie NS-Parteiorganisationen. plünderung bei der Arisierung genau Hierfür wurde die „Verwertungs- organisiert? Welche städtischen bzw. stelle Volksfeindliches Vermögens staatliche Stellen und NS-Parteiorga- (VVV)“ geschaffen; nisationen wirkten dabei mit? Klar wird, dass die „Arisierung“ und Wie- dergutmachung mit all ih- ren Facetten dringend wis- senschaftlich aufzuarbeiten ist. So zeigt diese erfolgreiche Ausstellung auch danach Früchte – wenn auch sehr mühsam, langwierig und holprig , wie einem kurzen Auszug einer Bespre- chungsniederschrift bei ei- nem Treffen im Stadtarchiv Mitte Mai 2005 zu entneh- men ist: „Es wird eine Ko- Vor den lokalhistorischen Ergänzungen der Ausstellung stehen besonders oft operation zwischen Uni- Besuchergruppen versität Mannheim und 19
dem Stadtarchiv Mannheim – Institut fasste im Rahmen eines universitären für Stadtgeschichte vereinbart mit dem Forschungsprojektes ein 1000-seitiges Ziel, die durch den AK-Justiz und die Werk mit dem Titel „Ausgeplündert, von ihm durchgeführte Ausstellung zurückerstattet und entschädigt. Ari- angeregte Beschäftigung mit der Ver- sierung und Wiedergutmachung in wertung jüdischen Vermögens in Mann- Mannheim“. heim wissenschaftlich zu vertiefen und wenn möglich in ein größeres For- Im Zusammenhang mit der Ausstellung schungsprojekt münden zu lassen.“ entwickelte der AK-Justiz seine Web- seite – www.akjustiz-mannheim.de –, Dies sollte dann einige Jahre später auf der auch viele Mannheimer Doku- durch die wissenschaftliche Ausarbei- mente zur Ausstellung bereitgestellt tung zum Thema Arisierung und Wie- sind. dergutmachung in Mannheim durch Christiane Fritsche geschehen. Sie ver- Ein Teil der Ausstellungsvitrinen im Podiums von N1 2015: Veranstaltung zum Thema "Raubkunst" Seit 2001 forscht die Kunsthalle Mann- verständiger und Schätzer für die „Ver- heim nach Werken, die NS-Verfolgten wertungsstelle Volksfeindliches Ver- entweder geraubt oder deren Verkauf mögen VVV“ tätig und sonderte im erzwungen worden sein könnte. Die Auftrag des Finanzamtes Kunstgegen- Forderung des AK-Justiz bei der Ver- stände jüdischer Emigrant*innen aus. anstaltung im Mai 2015 in der Kunst- halle war es, auch die Rolle von Walter Passarge, von 1936 bis 1958 Direktor der Kunsthalle, noch aufzuarbeiten. Denn ab 1942 war er als Kunstsach- 20
Heinrich Vetter: Arisierer, Ehrenbürger und Mäzen Bei der Ausstellung „Betrifft: Aktion 3“ Geschäftsführer Esser – schäumt und im Jahr 2005 benennen wir eher am beschuldigt den AK-Justiz, das Ansehen Rande einige Fakten zur Familie Vetter Heinrich Vetters in den Dreck zu zie- und ihrer Beteiligung am Arisierungs- hen. geschehen – z.B. als Vermieter der Zu beobachten ist nun ein klassisches Lehrstück vom Verschweigen und Verdre- hen von Nazivergangen- heit, kombiniert mit einer Fülle von nicht unerhebli- chen Geldzuwendungen des Mäzens Heinrich Vet- ter, der mit diversen Aus- zeichnungen überhäuft wird. Niemand fragt, wo sein Reichtum herkommt. Das Buch der Heinrich-Vet- ter-Stiftung, die Hof- berichterstattung des Mannheimer Morgens so- wie die Ausarbeitungen Aufmacher der Bildzeitung direkt nach dem Ende der Ausstellung im des Stadtarchivs zeichnen Januar 2005 ein angenehmes Bild des VVV (Verwertungsstelle für Volksfeind- Mäzens. Der AK-Justiz lanciere über- liches Vermögen) –, ohne dass diese triebene Behauptungen. Es müsse erst Erwähnung Aufsehen erregte. Heinrich die gesamte Arisierung wissenschaftlich Vetter, seit 1999 Mannheimer Ehren- untersucht werden, um die Causa Vet- bürger, ist bis zu diesem Zeitpunkt in ter einzuordnen. Mannheim als der spendabelste Mäzen und Förderer bekannt, die Vetterstif- Arisierungen durch Heinrich tung setzt dies nach seinem Tod im Jahr 2003 fort. Vetter und seine Familie Schon allein wegen dieser Vorwürfe Nach dem Ende der Ausstellung ver- forschen wir weiter zum Thema „Hein- sucht die Bildzeitung (Regionalausgabe) rich Vetter“ und „Arisierungen in mit Heinrich Vetters verschwiegener Mannheim“. Durch die Recherchen des Vergangenheit in der NS-Zeit Schlag- AK-Justiz verdichtet sich immer weiter, zeilen zu machen. Die Vetterstiftung dass die Familie Vetter insgesamt acht – zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Arisierungen von Geschäften und 21
Grundstücken in Mannheim und Karls- Geschäftsführer des arisierten Unter- ruhe betrieben hat. Wir dokumentieren nehmens „Samt und Seide“ in N7. Er die recherchierten Informationen Zug war also an den Arisierungen auch um Zug auf unserer Webseite. persönlich beteiligt. Eine Anfrage beim Berliner Bundes- Und jetzt noch eine archiv ergibt: Heinrich Vetter trat am 1. 5. 1933 in die NSDAP ein. Über die „Vetter-Straße“? Spruchkammerakten wird später noch Trotz weiterer Enthüllungen soll im bekannt, dass er auch Mitglied im NS- März 2009 eine Ringstraße nach Hein- Studentenbund und zeitweise in der rich Vetter benannt werden. Dies SA war. Er arisiert mit seiner Schwester nimmt der AK-Justiz zum Anlass, den Geschäfte in Mannheim und Karlsruhe Hauptausschuss des Gemeinderats mit und er war noch vor dem 2. Weltkrieg den bislang bekannten Fakten zu Vet- ters NS-Verstrickungen zu konfrontie- ren und fordert dazu auf, eine Stra- ßenbenennung nicht zu beschließen. Und wieder beginnt das gleiche „Spiel“: die Verwaltung inklusive des Oberbür- germeisters zeigen sich zunächst un- beeindruckt; wissenschaftlich Erforsch- tes liege ja bislang noch nichts vor – aus heutiger Sicht eine zynische Reak- tion. Jedoch gibt es Druck und Erklä- rungsbedarf aus den Reihen verschie- dener Gemeinderatsparteien auf die Verwaltung mit dem Ergebnis, dass alles zunächst mal ruht. Und nach ei- nigen Monaten verschwindet der Vor- gang sang- und klanglos in einer Ver- waltungsschublade. Eine öffentliche Auseinandersetzung darum findet wie- der einmal nicht statt. Das öffentliche Bild wird korrigiert. Mitte des Jahres 2009 beginnt die His- torikerin Christiane Fritsche ihre For- schung zur Aufarbeitung der Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim. Die Vetterstiftung beteiligt sich de- monstrativ mit 30 000 Euro an dem Forschungsprojekt, man sei überzeugt, Einladungs-Flyer zur Veranstaltung „Wortwechsel“ alle Vorwürfe seien „haltlos“. 22
Versagen bei der Aufarbei- tung der NS-Vergangen- heit. Allerdings: Heinrich Vetter ist Ehrenbürger der Stadt Mannheim. Einige städti- sche Örtlichkeiten sind nach ihm benannt. Daher ist eine Neubewertung sei- ner Rolle und Person drin- gend erforderlich. Der Bei- trag des AK-Justiz hierzu Szene aus der Veranstaltung „Wortwechsel“ im Forum der Jugend ist die Erarbeitung eines inszenierten und bebilder- In einer Veranstaltung am 9. November ten Wortwechsels mit dem Titel „ari- 2009 berichtet der AK-Justiz zusammen sieren – verschweigen – stiften. Der mit einem angehenden Historiker über rechtschaffene Kaufmann Heinrich Vet- die bis zu diesem Zeitpunkt recher- ter – ein öffentliches Bild wird korri- chierten Fakten zu Vetter sowie zur giert.“ Dies wird am 9. Mai 2012 im Verstrickung des Mannheimer Finanz- Forum der Jugend in Mannheim auf- amtes in die Ausplünderung der jüdi- geführt. Im völlig überfüllten Großen schen Bevölkerung. Unter dem Stich- Saal des Forums findet es breite Reso- wort „das Mannheimer System“ wur- nanz. den alle „Ausreisewilligen“ schon im Vorfeld erfasst. Dieses Ausspähungs- Info-Tafeln sollen es richten system dachten sich ganz normale Fi- nanzbeamte freiwillig und vorauseilend 2013 veröffentlich Christiane Fritsche aus. ihre Forschungsergebnisse zur Arisie- rung in Mannheim: insgesamt gab es Vetters Ehrenbürgerschaft 2805 Arisierungsfälle, bei denen 1600 Betriebe und 1250 Grundstücke unter wankt Druck und deutlich unter Wert in „ari- Schließlich untermauert Frau Fritsche sche“ Hände gingen. Die Stadt Mann- in einem Zwischenbericht 2012 auch heim ist hierbei der größten Nutznießer, wissenschaftlich, was schon längst nicht gefolgt von der Familie Vetter, ziel- mehr zu leugnen war: Vetters diverse strebige Kaufleute, die sich durch güns- Verstrickungen ins NS-System und des- tige Besitzübernahmen vormals jüdi- sen Profitieren von Arisierungen. Mit schen Eigentums in der NS-Zeit mit den Wiedergutmachungen nach dem acht Arisierungen bereicherten. Krieg gelingt das rasche Verschütten von Schuld und Aufarbeitung. In dieser Nach mühsamen Diskussionen zwischen Hinsicht ist Heinrich Vetter lediglich Oberbürgermeister, Stadtarchiv, Wis- ein Beispiel unter vielen im Zusam- senschaft, Vetterstiftung, Jüdischer Ge- menhang mit dem gesellschaftlichen meinde und AK-Justiz gibt es die Ver- 23
ständigung: Die Ehrenbürgerschaft soll Die Jüdische Gemeinde hat die 1998 bleiben, städtische nach Vetter be- an Heinrich Vetter verliehene Ehren- nannte Orte sollen mit einem Hinweis medaille wieder aberkannt. Die Uni- auf die Herkunft des Vermögens aus versität zieht Teilkonsequenzen: in Arisierungen verbunden werden. Der aller Stille wird das Bild ihres Mäzen Ältestenrat beschließt einen Text, mit im Rektoratsflügel abgehängt. dem der AK-Justiz jedoch nicht zufrie- den war und es auch immer noch nicht Unter neuer Leitung durch Prof. Fran- ist. Wir hätten eine klarere Stellung- kenberg betont die Stiftung, man wolle einen neuen Schwerpunkt setzen und mehr Projekte gegen Ausgrenzung von Minderheiten und Anti- semitismus fördern. Auf der Webseite der Vetter- stiftung findet man jetzt – ziemlich unvermittelt aber immerhin – das Wort „Arisierung“, in Klammern gesetzt, mit einem Link zu einer separaten Ausarbei- tung von Frau Fritsche. Aber auch die Erinnerung Szene aus der Veranstaltung „Wortwechsel“ im Forum der Jugend an den Streit von 2010 ver- blasst. Der Kunstbetrieb nahme zum lange vertuschten legali- braucht Sponsorengelder und da schaut sierten Raub erwartet. Doch neben man dann gerne nicht mehr so genau Lob für den Stifter enthält der Tafel- hin. Text sublime Rechtfertigungen, Ab- schwächungen und Auslassungen. Es Das spannend zu lesende Buch von fehlt die Benennung des nationalso- Christiane Fritsche umfasst fast 1000 zialistischen Unrechts. Seiten. Sie konnte allerdings „nur“ ei- nen Bruchteil von den etwa 500 Re- Was bleibt? galmetern an Akten in den Archiven sichten. Ohne Zweifel hat sie das System Einige Institutionen nehmen kein Geld der Arisierung und Wiedergutmachung mehr von der Vetter-Stiftung an. So gründlich und wegweisend wissen- schaffte der Fachbereich Sozialwesen schaftlich aufgearbeitet. Damit hat der Hochschule Mannheim den Vet- endlich ein weiterer blinder Fleck der ter-Preis samt Preisgeld ab, auch aus Forschung zur NS-Zeit Farbe bekom- den Erwägungen heraus, dass die Grün- men. Und das ist die Hauptsache. dung des Bereichs Sozialwesen auf eine Jüdin zurückgeht. 24
Zwangssterilisationen und Erbgesundheitsgericht in Mannheim Mehr als 1900 Menschen aus Mannheim gesunden, Familien durch Steuern aller werden in der Zeit des Nationalsozia- Art entzogen werden. „Diese Argu- lismus gegen ihren Willen und unter mentation fällt auf fruchtbaren Boden. Androhung von Gewalt unfruchtbar So werden in der Folge eugenische gemacht. Es betrifft Menschen, die Beratungsstellen eingerichtet. 1923 von Geburt an blind, taub, körper- wird an der Universität München der behindert sind oder die angeblich an erste Lehrstuhl für Rassenhygiene mit Schizophrenie oder Epilepsie leiden. dem Sozialdarwinisten Fritz Lenz be- Die Scheindiagnose „moralischer setzt, der auch in der NS-Zeit als füh- Schwachsinn“ dient der sozialen Aus- render Rassehygieniker wirkt. lese und wird von den Schreibtisch- tätern häufig bei unangepassten oder Der eugenische Gedanke findet sich sogenannten „asozialen“ Menschen in allen politischen Strömungen wieder. angewendet. Grundlage der zwangs- Die Vorstellung einer besseren Gesell- weisen Unfruchtbarmachung ist das schaft mit ausschließlich gesunden, bereits im Juli 1933 erlassene „Gesetz glücklichen Menschen ist die Grundlage zur Verhütung erbkranken Nachwuch- der sogenannten „positiven Eugenik“, ses“, das erste Rassegesetz des NS- die auch in den damaligen sozialisti- Staates. schen Kreisen weit verbreitet ist. Vorgeschichte der Eugenik Dem preußischen Landtag werden mehrere Gesetzesvorschläge zur Steri- Die Geschichte der Eugenik als theo- lisierung aus eugenischen Gründen retische Grundlage der Zwangssterili- vorgelegt. Der letzte, 1932 eingebracht, sation beginnt und endet nicht mit dem Nationalsozia- lismus. Ihre Wur- zeln reichen bis ins 19. Jahrhundert zu- rück und sind nicht auf Deutschland beschränkt. Ausriss aus Reichsgesetzblatt Begriffe wie „wert- los“ oder „Ballastexistenzen“ werden wird zwar noch abgelehnt, stimmt im wissenschaftlichen Diskurs ein- aber mit dem 1933 verabschiedeten geführt und gipfeln in Aussagen wie „Gesetz zur Verhütung erbkranken „für Geistesschwache, Hilfsschüler, Geis- Nachwuchses“ faktisch überein. Die teskranke und Asoziale werden jährlich Nationalsozialisten streichen lediglich Millionenwerte verbraucht, die den die Einwilligung der Betroffenen. 25
Den Vordenkern der Eugenik bietet sich so endlich ein Staat an, von dem sie hoffen, all ihre Vorstellungen um- setzen zu können. Die Umsetzung des Gesetzes Neben den Diagnosen wird im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuch- ses“ der organisatorische Ablauf ge- regelt wie z.B. die Antragstellung, die Arbeit der Erbgesundheitsgerichte, die Anzeigepflicht für alle, die beruflich mit den betroffenen Menschen zu tun haben, aber auch die Anwendung un- mittelbaren Zwangs. Um das Verbre- chen der Zwangssterilisation flächen- deckend ausüben zu können, werden vom NS-Staat • die Gesundheitsämter eingerichtet Sonderakte aus Anlass einer NS-Zwangssterilisierung bzw. ausgebaut • die Erbgesundheitsgerichte ins Le- reichsweit ca. 400 000 Menschen un- ben gerufen fruchtbar gemacht, etwa 5000 sterben durch den Eingriff. • Ärzte und Schulämter zur Mel- dung verpflichtet, um so eine sys- Die Rehabilitation der Opfer tematische Erfassung sogenannter „Erbkranker“ zu erzielen dauert lang und ist zäh Kein einziger Arzt oder Richter wird • mit der pseudomedizinischen Di- nach 1945 wegen seiner Beteiligung agnosen wie „moralischer an der Zwangssterilisation zur Rechen- Schwachsinn“ die soziale Auslese schaft gezogen – sie bleiben meist durchgesetzt nahtlos in Amt und Würden. Auf dieser Grundlage bestimmt im Fe- Die Opfer dagegen leiden nicht nur bruar 1934 der badische Innenminister unter der Zerstörung ihrer Fruchtbar- die Städtischen Krankenanstalten sowie keit, sie sind auch in ihrer Menschen- das evangelische Diakonissenkranken- würde angegriffen durch die Bezeich- haus und später auch das Lanz-Kran- nung als „erblich Minderwertige“. kenhaus, die Unfruchtbarmachung in Scham und die Tatsache, im Vergleich Mannheim umzusetzen. Dem fallen in zu anderen Opfergruppen nicht aner- Mannheim ca. 1900 Menschen zum kannt zu sein, begleitet sie häufig ein Opfer. Bis zum Ende der NS-Zeit werden Leben lang. Sie werden bis 1980 aktiv 26
und bewusst von jeglicher Wiedergut- Wahrnehmung noch in der Gedenk- machung ausgegrenzt und weiter ver- kultur. Allerdings gibt es eine ein- höhnt. drucksvolle wissenschaftliche Arbeit von Stefan Berninger bereits aus dem Die Zwangssterilisierten treffen bei ih- Jahr 1992 mit dem Titel „Zwangssteri- ren Bemühungen um Entschädigung lisation im Nationalsozialismus – Eine oder Anerkennung oftmals auf genau Beschreibung der Praxis der Zwangs- dieselben Personen in den Behörden, sterilisationen im Nationalsozialismus die schon in der NS-Zeit über sie ent- mit Auswertung der Quellen zu Mann- schieden haben. heim“. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ besteht in der Bundesrepu- blik weiter fort, nur die Erbgesundheitsgerichte sind geschlossen. Der Bun- destag setzt das Gesetz erst 1974 außer Kraft, an- nulliert es aber damit kei- neswegs vollständig. Die Beschlüsse der NS-Erb- gesundheitsgerichte gelten bis 1998 als rechtskräftig Ausschnitt aus einem Aktendeckel für eine Anlage auf Zwangssterilisierung am und legitim. NS-Erbgesundheitsgericht in Mannheim Erst 2007 ächtet der Bundestag das Auch bundesweit war damals die Aus- „Gesetz zur Verhütung erbkranken einandersetzung mit dem Thema spär- Nachwuchses“. Damit sind Zwangsste- lich und uns war zu diesem Zeitpunkt rilisierte gesellschaftlich rehabilitiert, lediglich ein einziges Mahnmal für die nachdem sie jahrzehntelang nicht als Opfer der Zwangssterilisation bekannt. Verfolgte des NS-Regimes galten. Es gab jedoch Bemühungen, auch die Im Januar 2018 leben noch 103 ent- Zwangssterilisation als verbrecherischen schädigungsberechtigte Zwangssteri- Eingriff in die menschliche Selbstbestim- lisierte. Ab 1. Januar 2019 erhalten sie mung in der öffentlichen Wahrneh- monatlich 415 € Entschädigung. mung zu verankern. Sie gehen unter anderem aus von der Arbeitsgemein- Die Aufarbeitung schaft Bund der „Euthanasie“-Geschä- digten und Zwangssterilisierten, einer Als wir vom AK-Justiz 2003 beginnen, Organisation aus, die sich für das Ge- uns mit der Zwangssterilisation in denken an die Opfer einsetzt und auch Mannheim zu befassen, ist das Thema deren Rehabilitation durch den Bun- nicht präsent, weder in der öffentlichen destag erreicht hat. 27
Sie können auch lesen