"Kulturell sind wir Ungarn, in der Mentalität Serben" - ungarische Migranten aus der Vojvodina und die Jugopartysi - Universität ...

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"Kulturell sind wir Ungarn, in der Mentalität Serben" - ungarische Migranten aus der Vojvodina und die Jugopartysi - Universität ...
Klagenfurter Geographische Schriften 29 (2013) 78-95

                                    Klagenfurter Geographische Schriften

                                                    www.geo.aau.at/KGS

„Kulturell sind wir Ungarn, in der Mentalität Serben“ – ungarische
Migranten aus der Vojvodina und die Jugopartysi
Ágnes Erőss1, Monika Mária Váradi2
1
 Geographisches Forschungsinstitut, Ungarische Akademie der Wissenschaften (agnes.eross@gmail.com), 2Institut
für Regionalforschung, Ungarische Akademie der Wissenschaften (varadim@mta-rkk-tko.hu)

Abstract
Dieser Beitrag befasst sich mit einer Veranstaltung der ungarischen Migranten aus der Vojvodina, den Jugopartys; auf
Basis der Erzählungen von Organisatoren und Teilnehmenden werden die auch in der Fachliteratur diskutierten Zusam-
menhänge von Migration, Musik und Identität erklärt. Die Musik, welche die Migranten mit dem Herkunftsland verbin-
det, kann die mit der Migration erfahrenen Verluste reduzieren, die zurückgelassene Jugend und Welt aufleben lassen,
und gleichzeitig Identität stiften. Die Jugopartys lassen die musikalische und kulturelle Welt des ehemaligen Jugoslawi-
ens aufleben, deshalb gehen wir der Frage nach, ob diese Veranstaltung sowie die Erzählungen um sie herum im Rahmen
der sogenannten Jugonostalgie als politisches und kulturelles Phänomen interpretiert werden können. Die Party wird von
Vojvodina-Ungarn organisiert, ursprünglich konzipiert als Treffpunkt und Vergnügungsmöglichkeit für ungarische Mig-
ranten aus der Vojvodina. Musik und Tanz, die Stimmung und das Essen lassen die kulturelle Welt des Balkans aufle-
ben. Die Jugoparty schafft zumindest für einen Teil der Vojvodina-Ungarn einen Raum, in dem sie die „südliche“ oder
balkanische Seite ihrer Identität ausleben und zeigen können, und der gleichzeitig die Möglichkeit bietet, sich von den
Ungarn in Ungarn zu unterscheiden. Die Jugoparty kann daher auch als symbolische Grenzziehung verstanden werden.
Keywords: Migration, Musik, Identität, Nostalgie, Jugonostalgie, Vojvodina-Identität

“Culturally we are Hungarians, in mentality Serbians” –Hungarian migrants from Vojvo-
dina and the Yugoparties
This article deals with a particular event of the Hungarian migrants from Vojvodina, the Yugoparties; on the basis of
narratives of organizers and participants, we explain the connections between migration, music and identity. The music
that connects the migrants with their country of origin can reduce the losses of migration; it can revive the left-behind
youth and world, and at the same time establish identity. The Yugoparties revive the musical and cultural world of the
former Yugoslavia; therefore, we ask in what way this event and the narratives surrounding it can be interpreted as a
political and cultural phenomenon in the framework of the so-called Yugo-nostalgia. The party is organized by Vojvodi-
na Hungarians, and was originally designed as a meeting point and opportunity for enjoyment for Hungarian migrants
from Vojvodina. Music and dance, the atmosphere and the food revive the cultural world of the Balkans. The Yugoparty
produces at least for one part of the Vojvodina Hungarians a space, in which the can live out and show the “Southern” or
Balkan side of their identity; at the same time, the party offers them an opportunity to distinguish themselves from Hun-
garians in Hungary. Therefore, the Yugoparty can also be understood as a symbolic demarcation.
Keywords: migration, music, identity, nostalgia, Yugo-nostalgia, Vojvodina identity

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Klagenf. Geogr. Schr.
ISSN 2308-9849
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Auftakt                                                           wenigen Interviews stellte sich heraus, dass einige von
                                                                  ihnen mehr oder weniger regelmäßig an den Balkan-
Die auf die Bühne tretenden Leute, in der Hand ein Mik-
                                                                  Partys teilnehmen (teilnahmen) – welche sie gemeinhin
rofon, bereiten sich erst vor für das Singen, doch als der
                                                                  Jugopartys nennen, weshalb auch wir diesen Begriff
DJ die Aufnahme startet und die ersten Takte ertönen,
                                                                  brauchen. Im Besitz dieses Wissens, waren wir bei den
beginnt das Publikum zu toben. Einige schreien, andere
                                                                  nächsten Gesprächen schon neugierig, ob unsere Ge-
kreischen vor Freude, die Zuschauer klatschen, die Hän-
                                                                  sprächspartner von diesen Partys wussten, an diesen
de schiessen in die Höhe, und der ganze Saal singt be-
                                                                  teilnehmen; wenn ja, was sie für sie bedeuten, wenn
geistert die Lieder zusammen mit den Leuten auf der
                                                                  nicht, wie erklären sie ihr Fernbleiben.ii
Bühne. Die Mehrheit kennt die Nummern auswendig, sie
haben es nicht nötig, dem Text auf der Leinwand zu                Warum ist es wichtig, die Jugoparty zu verstehen oder zu
folgen. Es spielt keine Rolle, wenn der Sänger auf der            analysieren? Forschungserfahrungen bestätigen die Be-
Bühne etwas falsch singt, denn seine Stimme vermischt             ziehung von Migration und Musik, die wichtige Rolle der
sich ohnehin mit jener des Publikums. Die Wettbewerbs-            Musik des Herkunftslandes im Leben der Migranten.
regeln scheinen auch nicht unantastbar zu sein; eine auf          Musik hat die Fähigkeit, voneinander weit entfernte
ihren Auftritt wartende Frau gesellt sich zum Mann auf            Räume, verschiedene historische Epochen, persönliche
der Bühne und singt gemeinsam mit ihrem „Konkurren-               Lebensabschnitte symbolisch zu verbinden, damit sie uns
ten“; einige der Jugendlichen, die vor der Bühne tanzen,          „in einen anderen Raum oder eine andere Zeit versetzt“
singen, springen auf die Bühne und tanzen im Kreis um             (Valentine, 1995: 481.). Die Musik ist dazu fähig, eigene
die temperamentvolle Sängerin herum den „Kolo“ (Rei-              und kollektive Erinnerungen zu wecken, und durch das
gen). Andere singen mit den Wettbewerbsteilnehmern                Hören, Spielen, Schaffen und Neuerschaffen von Musik
auf der Bühne, manche klammern sich mit Bierflasche               können wir unsere Verbundenheit zu einem Raum, einem
und Zigarette in der Hand an ihre Freunde und schreien            Ort, zu einer Gesellschaft, einer Gruppe von Menschen
sich die Kehle aus dem Hals.                                      bzw. zu einem Abschnitt unseres Lebens ausdrücken. Mit
                                                                  anderen Worten, die Musik schafft Identität oder drückt
Der Schauplatz ist ein Budapester Lokal, die Veranstal-
                                                                  Identität aus (Baily & Collyer, 2006; Cohen, 1995; Le-
tung heisst Balkan Party, in dessen Rahmen der „Ex-
                                                                  onard, 2005; Margolies, 2009; Martiniello & Lafleur,
Yu“-Karaoke-Wettbewerb stattfindet. Die Kandidaten
                                                                  2008).
werden vom Initiator und Organisator der Party auf die
Bühne gerufen, er schaltet von Ungarisch auf Serbisch,            Musik und Tanz können unter Migrantengemeinschaften
von Serbisch auf Ungarisch, die Sänger sprechen mit den           auf unterschiedliche Weise als Mittel der Identitätsmani-
Zuschauern entweder Serbisch oder Ungarisch, sie sind             festation und Identitätsstiftung funktionieren. Die in den
mehrheitlich Ungarn aus der Vojvodina, die in Ungarn              USA oder in Westeuropa in zweiter oder dritter Genera-
leben – wie auch die einköpfige Jury, Magdi Rúzsa –, die          tion lebenden Migranten aus Südamerika, Afrika oder
Lieder sind die im ehemaligen Jugoslawien populären               Asien haben aus den von zuhause mitgebrachten Musik-
Schlager. Hier kann man nur auf Serbisch (Serbokroa-              traditionen, mit westlichen Rhythmen und Klängen ver-
tisch) singen. Auch auf der „Yu-Party“, die auf den Ka-           mischt, neue Musikstile (wie zum Beispiel Rap oder Raï)
raoke-Wettbewerb folgt, tanzen die Leute zu der Num-              und gleichzeitig Identität geschaffen. Während die musi-
mern der im ehemaligen Jugoslawien geborenen Popmu-               kalische Sprache das Dasein zwischen zwei Kulturen und
sik und zu „Balkan-Partymusik“.                                   Traditionen reflektiert, erscheinen in den Songtexten die
                                                                  sich aus dem Schicksal der Migranten ergebenden
                                                                  Schwierigkeiten – das Erleben von Diskriminierung,
Einleitung: Zusammenhänge von Migration,
                                                                  Vorurteilen und Rassismus (Bailly & Collier 2006; Mar-
Musik, Identität und Erinnerung
                                                                  golies, 2009; Simonett, 2007). Um ein ungarisches Bei-
Wir wussten nichts über diese Partys, als wir in Ungarn           spiel zu nennen: die ungarische Volksmusik und der
mit Vojvodina-Ungarn zu sprechen begannen. Nach nur               ungarische Volkstanz sind für die ungarische Diaspora in

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Buenos Aires wichtige Mittel der Gemeinschaftsbildung              Die Pop- und Rockmusik der jugoslawischen Zeiten,
und zur Bewahrung der Identität.iii                                welche sich durch die Verbindung von Balkan-
                                                                   Volksmusik und westlicher Rockmusik sowie durch den
Nóra Kovács weist bei der Analyse der identitätsstiften-           Widerstand gegen das bestehende politische System
den Praktiken der Ungarn in Buenos Aires auf jene in               charakterisierte (Debeljak, 1998iv; Volčič, 2007), wurde
Migrantengemeinschaften durchgeführten Forschungen                 Mittel zum Ausdruck für Widerstand und Nostalgie in
hin, welche auf das Phänomen des Folklorismus auf-                 der Zeit, welche zum Zerfall Jugoslawiens führte wie
merksam gemacht haben, „auf jenen Prozess, in welchem              auch in der postjugoslawischen Zeit. Anfang der 1990er-
die Elemente der Volkskultur zum Verknüpfungspunkt                 Jahre drückten Jugendliche an Balkanpartys in der Alter-
der ethnischen Identität werden – unabhängig von der               nativszene von Ljubljana durch das Singen von jugosla-
räumlichen und gesellschaftlichen Herkunft der Gemein-             wischen Rockschlagern und Partisanenliedern ihren Wi-
schaft“ (Kovács, 2009: 145).                                       derstand gegen die erstarkenden, diese Musik verteufeln-
Die durch Musik und Tanz gezeigte, geschaffene Identi-             den und verbietenden nationalistischen Regime und Ideo-
tät ist die Formulierung des „Wir“ und gleichzeitig Ab-            logien aus (Lindstrom, 2006: 241). Im postjugoslawi-
grenzung, symbolische Grenzziehung zum „Anderen“.                  schen transnationalen Kulturraum konnten die Vertreter
Die aus Äthiopien nach Israel eingewanderten jüdischen             der davor im Untergrund und Raubdruck verbreiteten
Jugendlichen schaffen durch den Reggae und den Rap                 Musik in den Nachfolgestaaten mittlerweile ungestraft
eine afro-israelische Identität, durch die sie sich von der        Konzerte geben, es begann die Zeit der grenzüberschrei-
weißen israelischen Gesellschaft abgrenzen (Shabtay,               tenden, transnationalen Verbreitung von Musikprodukten
2003). Die Pflege der irischen Volksmusik und des Tan-             (Baker, 2006). Das Wiederaufleben der jugoslawischen
zes ist für die in England lebenden Nachfahren der iri-            Musik, des „Jugorock“ ging mit dem Bedürfnis nach
schen Einwanderer nicht nur eine Form der Beschwörung              einer Art jugoslawischer Identität, dem Erleben und der
und Bewahrung ihrer ursprünglichen Kultur, sondern                 Äußerung eines jugoslawischen oder balkanischen Le-
zugleich auch ein Mittel, um sich von den Engländern               bensgefühls einher (Volčič, 2007). In unserem Beitrag
abzugrenzen und eine eigene irisch-englische Identität zu          suchen wir auch Antworten auf die Frage, wie die Erin-
schaffen (Leonard, 2005).                                          nerung Jugoslawiens in den Erzählungen der an der Party
                                                                   teilnehmenden ungarischen Migranten aus der Vojvodina
Das Wesen der Musik, die Raum und Zeit schafft und                 erscheint, außerdem inwiefern die durch die Party ange-
diese zugleich heraufbeschwört (Cohen, 1995), zeigt sich           sprochene und geweckte Nostalgie im Zusammenhang
offensichtlich auch im Falle der Jugopartys. Das von den           mit der durch die politischen Meldungen durchtränkten
Organisatoren bestimmte Programm, die ausschließlich               Jugonostalgie genannten persönlichen und kollektiven
südslawische, respektive ex-jugoslawische Musik, die               Erinnerung interpretiert werden kann.
gespielten Lieder in serbischer (serbokroatischer) Spra-
                                                                   Die Raum und Vergangenheit heraufbeschwörende Kraft
che strukturieren den Raum der Jugopartys ebenso wie
                                                                   der Musik konnten wir auch bei anderen Migrantenge-
die Art und Weise, wie sich die Besucher amüsieren. Der
                                                                   meinschaften aus der Vojvodina beobachten. An den
eigene Raum und die Zeit der Jugoparty ist untrennbar
                                                                   Bällen der Szegediner Sektion der von Migranten aus der
vom Raum und der Zeit, die sie heraufbeschwört: das
                                                                   Vojvodina gegründeten Demokratischen Gemeinschaft
ehemalige Jugoslawien.
                                                                   der Vojvodina-Ungarn tanzen und amüsieren sich die
Die Rolle, welche die Musik bei der Schaffung und Neu-             Teilnehmer zu ungarischer Musik. Zu diesen Anlässen
erschaffung der (post)jugoslawischen Identität, bei der            werden Musiker aus der Vojvodina eingeladen oder auch
Bewahrung der Erinnerung und der Heraufbeschwörung                 Formationen, welche authentische Hochzeitsmusik spie-
Jugoslawiens gespielt hat, wurde nicht zufällig eine,              len. Neben dem „Csárdás“, den ungarischen Liedern
teilweise im Zusammenhang mit der sogenannten Jugo-                ertönen auch „Lieder vom Heimweh“ oder nach Trianon
nostalgie diskutierte, Forschungsfrage (Lindstrom, 2006;           entstandene Lieder, welche in den Migranten die Erinne-
Volčič, 2007; 2011).                                               rung an die zurückgelassene, vojvodinische Heimat we-

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cken. Diese Bälle bieten mit ihrer eigenen Musikwelt              zwei weitere, aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens
Raum für das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter                 eingeladene DJs zuständig. Zur authentischen Balkan-
den ungarischen Migranten aus der Vojvodina, zudem                Atmosphäre gehört neben dem Film und der Musik auch
davon untrennbar Raum für die Äußerung der tiefen –               die balkanische Küche. Fürs Essen (Ćevapčići, Pljeskavi-
und wehmütigen – emotionalen Verbundenheit zum                    ca, Burek) sorgen serbische Unternehmer, welche belieb-
Herkunftsland, für das Erleben und Wiedererleben der              te Restaurants in der Budapester Innenstadt betreiben.
Vojvodina-ungarischen Identität.v
                                                                  István ist der Initiator und Hauptorganisator, in dessen
Aus den Erzählungen unserer Gesprächspartner wird
                                                                  Händen „alle Fäden zusammenlaufen“. Der Anfang
klar, dass die Jugopartys selbst eine Gelegenheit zum
                                                                  Dreißig stehende Unidozent, Ingenieur und Eventmana-
Erleben und Ausleben der Vojvodina-ungarischen Identi-
                                                                  ger wuchs in Novi Sad (Újvidék, Neusatz) auf. Sein
tät bieten, wobei sie deren „südliche“, balkanische Ele-
                                                                  Vater, Uniprofessor, stammt aus einer ethnisch gemisch-
mente hervorheben und zeigen. Die Partys schaffen für
                                                                  ten (ungarisch, serbisch, deutsch), gutsituierten bürgerli-
die ungarischen Migranten aus der Vojvodina – jeden-
                                                                  chen Familie; seine Mutter, Pädagogin, entstammt einer
falls für einen Teil – die Möglichkeit, sich durch das
                                                                  ungarischen Bauernfamilie, und machte sich einen Na-
Erleben und Leben ihrer eigenen Vojvodina-ungarischen
                                                                  men als innovative Leiterin des städtischen Kindergar-
Identität von den Ungarn in Ungarn unterscheiden zu
                                                                  tenwesens. Von ihr erbte István sein Organisationstalent.
können.
                                                                  Die Familie bezeichnete sich immer und selbstverständ-
                                                                  lich als Ungarisch, mit einer starken kulturellen Bindung
Die Jugoparty                                                     zum „Mutterland“. In der Lebensgeschichte von István
Die Geschichte und die Hauptdarsteller                            ist neben der ungarischen Identität auch die Erfahrung
                                                                  der Multikulturalität, die Vertrautheit verschiedener Kul-
Die Geschichte der Balkan-Party respektive Jugoparty
                                                                  turen, besonders wichtig. Er ist stolz darauf, dass er die
begann nach dem Jahr 2000. István, der Initiator, wollte
                                                                  serbische Sprache sehr gut beherrscht. Er bezeichnet sich
die nach Ungarn übersiedelten Vojvodina-Ungarn zu-
                                                                  als Kosmopoliten, der sich überall wohl fühlt. In seiner
sammenbringen und mietete dazu einen kleinen Pub, wo
                                                                  Kindheit reiste er mit seinen Eltern oft durch Europa und
die erste Party stattfand: „Damals kamen um die 100, 150
                                                                  in die Vereinigten Staaten; er hat Verwandte in Brasilien
Personen. Es war ein gutes Gefühl, und so begann al-
                                                                  und ist begeistert von Indien, wo er öfters war. István
les...“ Seither wird die Party fünfmal pro Jahr an ver-
                                                                  kam 1998 nach Ungarn; obwohl er an der Universität von
schiedenen Orten in Budapest organisiert. Zu István
                                                                  Novi Sad aufgenommen wurde, entschied er sich für ein
gesellte sich bald Sándor, der selbst bei der Organisation
                                                                  Studium in Ungarn, er erachtete die intolerante, einge-
mithilft und außerdem der fixe DJ der Partys ist. Das
                                                                  sperrte, minderheitenfeindliche und einengende Atmo-
Programm widerspiegelt die Vorstellungen der beiden
                                                                  sphäre, die ihn umgab, als beklemmend. Ein Jahr später
Hauptpersonen.
                                                                  folgten ihm seine Eltern und seither wohnt die Familie in
Die Balkan-Party beginnt mit einem kulturellen Teil, in           Ungarn. István verbinden freundschaftliche, verwandt-
dem die Präsentation eines Films aus den Nachfolgestaa-           schaftliche, berufliche, sowie geschäftliche Bande mit
ten Jugoslawiens oder das neue Buch eines ungarischen             der Vojvodina. Er rief mit Geschäftspartnern eine unga-
Autors aus der Vojvodina gleichermaßen Platz findet.              risch- und serbischsprachige Gemeinschaftsseite ins
Gegen 22 Uhr folgt ein Live-Konzert (oder ein Karaoke-            Leben und betrieb sie bis zu deren Verkauf. Die Kom-
Wettbewerb), dessen Protagonisten in der Regel Bands              munikationstechnologien interessieren ihn auch als For-
aus Serbien oder aus anderen Nachfolgestaaten Jugosla-            scher und sie sind ihm bei der Organisation der Partys
wiens sind.vi Die Stimmung erreicht nach Mitternacht              sehr hilfreich. Er schätzt die Adressliste, auf die er sich
ihren Höhepunkt, wenn laut Programm die bis zur Mor-              bei der Organisation der Partys stützt, auf mehr als Tau-
gendämmerung dauernde Jugoparty beginnt. Für die                  send Einträge – DJ Sándor nennt eine drei-bis viermal
Musik sind Sándor, der fixe DJ, und in der Regel ein oder         größere Zahl.vii

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Istváns ständiger Partner bei der Organisation der Partys           István initiierte nach der Jahrtausendwende auch andere,
ist der aus Subotica (Szabadka) stammende Sándor. Er ist            übersiedelte Vojvodina-Ungarn ansprechende Veranstal-
zehn Jahre älter als István, begann Ende der 1980er-Jahre           tungen. Das „Südländer-Treffen“ (Délvidéki Találkozás),
sein Ingenieurstudium in Budapest. Nach den Jahren an               welches auf Familien mit Kindern ausgerichtet und mit
der Uni wollte er nach Subotica (Szabadka) zurückkeh-               kulinarischen und kulturellen Genüssen, Spielen und
ren, jedoch brach der Krieg aus. Da sein Vater, der Arzt            Wettbewerben gewürzt war, wurde nach fünf, sechs
war, und bereits an der Front in Vukovar gewesen war,               Jahren nicht mehr durchgeführt, die ursprüngliche Loka-
per Zufall die Einberufung von Sándor übernahm und sie              lität konnte nicht mehr gemietet werden und eine neue
unterschrieb, fuhr Sándor, der gerade zu Hause war, mit             fand man nicht. Das „Vojvodiner Rendezvous“ war ein
dem Auto über die Grenze und blieb endgültig in Un-                 Ball mit ungarischen Musikgruppen aus der Vojvodina
garn. Hier gründete er eine Familie, seine aus Subotica             und einem Abendessen,ix der eher die älteren Generatio-
(Szabadka) stammende Frau lernte er in Budapest ken-                nen ansprach; nach neun Jahren gab es auch diese Veran-
nen. Seine Ingenieur- und technischen Kenntnisse bringt             staltung nicht mehr, das Interesse nahm ab, die Älteren
er in sein Unternehmen ein: er beschäftigt sich mit tech-           erschienen in immer geringerer Zahl und die Jungen
nischen – als DJ auch mit musikalischen – Abwicklungen              „interessieren sich eher für coolere Sachen“. Die Namen
verschiedenster Anlässe. Bereits in den 1980er-Jahren               der Veranstaltungen sind nicht zufällig gewählt, laut
hatte er zuhause eine Disco (er ist DJ seit seinem 12.              István markieren die geographischen Namen gleichzeitig
Lebensjahr), seine fachlichen Erfahrungen bereicherte er            eine Identitätskategorie:
in den USA und auf Ibiza. Auch die Geschwister von
                                                                       „Ich denke, dass wir am ehesten mögen, wenn man
Sándor studierten in Ungarn, während seine ältere                      uns ‚Vojvodiner’ nennt, ‚Vojvodina-Ungarn’. Im Be-
Schwester ebenfalls in Ungarn eine Familie gründete,                   griff ‚Südländer’ sind alle Gebiete enthalten, der kroa-
kehrte sein Bruder in seinen Geburtsort zurück, heiratete              tische Teil, Baranja, Slowenien, die Murinsel, was
und ist nun berufstätig, nebenbei ist er aktives Mitglied in           weiß ich noch. Das ist ein breiter Begriff, ‚Südländer’.
Sándors „internationalem“ Unternehmen. Gemeinsam                       Wenn Du ‚Südländer’ sagst, dann bist Du nicht ganz
                                                                       präzise. Zu einem ‚Vojvodina-Treffen’ kann natürlich
organisieren sie Partys in Discos in der Vojvodina, an
                                                                       auch ein Ungar aus Slowenien kommen, das will ich
denen sich ungarische und serbische Jugendliche amüsie-                damit nicht sagen, aber die Veranstaltung gilt nicht
ren. Sándor, der die Jugopartys in Ungarn als „Nostalgie-              ihm, es ist nicht seine Veranstaltung. [Frage: und die
zweig“ seines Unternehmens betrachtet, lädt regelmäßig                 Jugopartys?] Dort sind alle. Dort sind alle; dort gibt
DJs aus Zagreb und Subotica nach Budapest ein, er ver-                 es eine Vermischung“.
folgt die Musikszene jenseits der Grenze aufmerksam. Er
                                                                    Das „Wir“ bedeutet die Ungarn aus der Vojvodina –
ist es, der für das musikalische Gesicht der Partys zeich-
                                                                    unabhängig davon, wo sie leben –, die geographischen
net: die Mehrheit der gespielten Nummern ist Rock- und
                                                                    und ethnischen Dimensionen ihrer Identität sind unzer-
Popmusik aus dem ehemaligen Jugoslawienviii, doch es
                                                                    trennbar. An „Vojvodina-Treffen“ – „Treffen“ bedeutet
gibt auch immer neue Lieder aus Serbien oder anderen
                                                                    für die Migranten eine organisierte Veranstaltung –
Nachfolgestaaten zu hören.
                                                                    können zwar auch Ungarn aus dem erweiterten „Süd-
Zwar sind István und Sándor Unternehmer, und auch die               land“ teilnehmen, obwohl diese nicht ihnen gelten, sagt
Jugoparty ist ein Geschäft – dessen Einnahmen aus dem               István, auch unausgesprochen auf die eigenen kollektiven
Verkauf der Eintrittskarten und von Sponsoren stammen               Erfahrungen, Erlebnisse, die Verbundenheit und Identität
–, doch sie betonen, dass die Veranstaltung keinen Profit           der Vojvodina-Ungarn verweisend. Die mit dem Attribut
generiert, und sie behaupten einstimmig, „dass es bei               des geographischen und historischen Begriffs Jugoslawi-
diesen Partys wirklich nicht um den Profit geht“. Ganz              ens versehene Veranstaltung ist jene, an der jeder teil-
am Anfang hätten sie vereinbart: „Sobald die ganze Party            nehmen kann, egal woher er oder sie stammt, dahin
auf irgendeine Art zur Last wird, oder – Gott behüte –              kommen nicht nur Ungarn. Die Musik spielt eine wesent-
wir beginnen, das nur des Geldes wegen zu machen,                   liche Rolle dabei, dass die Jugoparty das bunteste Publi-
dann hören wir auf. Denn darum geht es hier nicht“.                 kum ansprechen und anziehen kann, damit verbunden ist

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die besondere Art der Unterhaltung.                               gen (Gemeinschaft) und Wendungen, welche das Beson-
                                                                  dere ausdrücken (so was hab ich noch nicht gesehen; so
Die Musik ist „südliche Musik“ und wenn er die Stim-
                                                                  was sieht man nicht oft), dass das Publikum der Jugopar-
mung der Party wiedergeben will, dann spricht István
                                                                  ty nicht ein zufällig zusammengewürfelter Haufen Unbe-
von „ Wahnsinn“, von einer bis fünf Uhr morgens dau-
                                                                  kannter ist, der sich nur amüsieren will, sondern eine
ernden „Toberei“; Sándor, der sich an die erste Karaoke-
                                                                  durch den Zusammenhalt und das einzigartige Erlebnis
Party erinnerte, sagte, dass „die Partie Kopf stand“ und
                                                                  der Unterhaltung zusammengeschmiedete Gemeinschaft.
„die Hölle los war“. Die Wendungen, Metaphern zeugen
von einem zügellosen, begeisterten Vergnügen – auf
diese Zügellosigkeit weist auch die in den Texten der             Über das Publikum
Einladungen wiederkehrende Wendung „Tanzen auf den
                                                                  Die wichtigste Gruppe, den ursprünglichen Kern des
Tischen“ hin. Wenn István über die Anziehungskraft der
                                                                  Publikums bilden die in den 1990er-Jahren, zur Zeit der
Jugoparty spricht, betont er die gemeinschaftsbildende
                                                                  Balkankriege und NATO-Bombardierungen nach Ungarn
Kraft. Er vergleicht Budapest mit dem Ort seiner Kind-
                                                                  übersiedelten Vojvodina-Ungarn; aus dieser Gruppe
heit und Jugend, Novi Sad (Újvidék): während in Novi
                                                                  stammen die Organisatoren, für sie entstand die Party.
Sad die Leute auf der Straße stehen blieben und sich
                                                                  Der Gruppe gehören verschiedene Generationen an, die
miteinander unterhielten, so ist dieses Gemeinschaftsle-
                                                                  Älteren wuchsen in Jugoslawien auf und begannen dort
ben in Budapest, dem Ort der Jugopartys, unbekannt.
                                                                  ihr Erwachsenenleben. Daphne Berdahl zitiert einen
   „Es ist möglich, dass sie [die Jugoparty] für viele            Teilnehmer der sogenannten Ost-Discosxi, welche die
   Leute eine Identität bedeutete. Ich würde eher sagen,          ostdeutsche Vergangenheit heraufbeschworen: „Nicht
   dass sie für sie Gemeinschaft bedeutet. Deswegen               nur die Musik, sondern auch die gemeinsamen Erinne-
   kommen sie her, denn natürlich kannst du hier in ir-
                                                                  rungen. Wenn die Musik erklingt, sehen sich die Leute an
   gendein Lokal gehen; Budapest ist ein Dschungel.
   Man tritt auf deine Füsse, stößt dich um, schlägt dich         und schon wissen sie, ohne sich etwas zu sagen“
   nieder, nimmt deine Brieftasche weg. Es ist nicht              (Berdahl 2012, 56). Über diese auch ohne Worte wieder-
   leicht, jemanden kennenzulernen. Man kann Leute                erlebbare gemeinsame Erinnerung und Erfahrung, zeugen
   kennenlernen, aber du weißt nicht, wer das ist, wie er         die Worte von DJ Sándor:
   oder sie dorthin kam. Bei uns kannst du die Person
   sogleich einordnen. Denn dies ist eine Gemeinschaft,              „ (…) unter den Leuten über dreißig gibt es etwas, so
   und wenn du eintrittst, bist Du in Sicherheit, und fin-           stelle ich an den Partys fest, bei dem man mit der Mu-
   dest viele Bekannte. Eine Gemeinschaft – das ist ein              sik die Nostalgie aufflammen lassen kann. Sie sind die,
   anderes Gefühl. Deswegen mögen die Leute die Par-                 die noch in Jugoslawien gelebt haben (…), unsere Ge-
   tys. Hier gibt es ein Gemeinschaftsgefühl. Manchmal               neration, sogar in der Mittelschule, und überall amü-
   singen hier 500 Leute zusammen, so was hab ich noch               sierten wir uns zu diesen Songs. (…) und wenn ich ir-
   nie gesehen. Entweder sie tanzen oder singen zusam-               gendeine Nummer auflege und ihnen Zwei sage, dann
   men. Kurz und gut, so was sieht man nicht oft. Ich je-            schmeissen alle ihre Gläser auf den Boden, die Hände
   denfalls habe so was noch nicht gesehen“.x                        hoch, und die Nostalgie beginnt. Das ist ein so gutes
                                                                     Gefühl, und das schmiedet alle zusammen“.
Die Metapher für Budapest, für die Budapester Ausgeh-
                                                                  Sándor sieht an den Partys immer seltener bekannte Ge-
lokale ist der Dschungel, mit welchem Bilder und Gefüh-
                                                                  sichter, die Leute seiner Generation haben Familie ge-
le wie Ungemütlichkeit, Gedränge oder Gefahr verbun-
                                                                  gründet, und kommen aufgrund ihrer Arbeit, ihrer Be-
den werden – durch den Gebrauch von immer stärkeren,
                                                                  schäftigung seltener oder überhaupt nicht mehr an die
vom zufälligen Zusammenstoßen bis zur bewussten Ge-
                                                                  Partys.
walt reichenden, Brutalität ausdrückenden Verben. Im
Gegensatz dazu ist die Jugoparty eine Insel der Sicher-           Die Mitglieder der jüngeren Migrantengeneration wurden
heit. Wer hierher kommt, kann damit rechnen, Bekannte             in den 1980er-Jahren geboren, ihre Kindheit und Jugend
zu treffen, doch auch ohne persönliche Kontakte weiß              verbrachten sie im post-titoistischen, dann im durch den
man, wer hierher kommt. István betont mit Wiederholun-            Krieg zerfallenden Jugoslawien, Ende der 1990er-Jahre

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kamen sie nach Ungarn, um zu studieren. Zu ihnen ge-               kind, ihr Vater war an der Front, er erzählt nicht, was er
hört Noémi mit ihrer doppelten Verbundenheit und Iden-             dort erlebt hatte, Zoé weiß nur so viel, dass er auf nie-
tität. Ihre Mutter ist Ungarin aus der Vojvodina, ihr Vater        manden die Waffe richtete. Sie wuchs in einer hinsicht-
ist Serbe aus Bosnien. Noémi und ihr Bruder sprachen               lich Sprache und Identität ungarischen Familie auf, je-
mit der Mutter und den auf dem Land lebenden Großel-               doch in einer gemischt-ethnischen Umgebung. Ihr Vater
tern mütterlicherseits Ungarisch, mit ihrem Vater Ser-             schloss all seine Schulen in serbischer Sprache ab, ihre
bisch, Serbisch war die gemeinsame Sprache der Familie.            Eltern kommunizierten am Arbeitsplatz Serbisch und
„...ich wuchs noch so auf, dass alle Jugoslawen sind (…).          auch sie freundete sich mit serbischen Kindern an. Die
Es war eine multikulturelle Umgebung, die uns prägte“.             mangelnden Kenntnisse des Serbischen wären für sie
Noémis Muttersprache ist Serbisch, sie besuchte eine               kein Hindernis für ihr Wohlergehen, doch Zoé will nicht
serbische Schule und ihre besten Freunde sind bis heute            mehr in die Vojvodina zurückkehren, sie plant ihre Zu-
Serben. Sie sprach nur ein „Küchen-Ungarisch“, als sie             kunft mit ihrem ungarischen Freund entweder in Ungarn
mit ihrer Mutter entschied, dass sie sich beim Budapester          oder irgendwo im Ausland. Als sie in Budapest am Inter-
Internationalen Vorbereitungsinstitut (fürs Studium)               nationalen Vorbereitungsinstitut studierte, war sie öfters
anmeldet, damit sie später in Ungarn studieren kann. Sie           an Jugopartys und erinnert sich gerne an die Stimmung,
lernte in drei Monaten so gut Ungarisch lesen und schrei-          das gemeinschaftliche Erlebnis.
ben, dass sie am Institut aufgenommen wurde. In der
Zwischenzeit hat Noémi ihr Studium abgeschlossen, im                  „Oh, diese Partys sind so gut! Hier inmitten von Bu-
Studentenwohnheim lernte sie ihren ungarischen Mann                   dapest gab es einen Ort, wo wir Bijelo Dugme gehört
                                                                      haben. Das war echt toll (…) Vor zwei Jahren ging ich
aus Transkarpatien kennen, mit dem sie in Budapest eine
                                                                      hin, da war es auf dem Schiff A38, das war die beste
Familie gründete. Mit ihrem Sohn spricht sie Serbisch,                Party meines Lebens (…) die Stimmung auf diesen
wenn sie nur zu zweit sind. Ungarisch kann sie mittler-               Partys ist großartig. Ich glaube, dass die Stimmung
weile so gut, dass sie es war, die an ihrem letzten Ar-               auch deswegen so gut ist, weil man so ein Gefühl hat,
beitsplatz gebeten wurde, den Text ihrer ungarischen                  dass uns etwas zusammenhält... Und das ist gut so...“.
Kollegen zu korrigieren. Neben ihrer Verwurzelung in
Ungarn, dem harmonischen Familienleben, quält Noémi                Es gibt nicht Wenige, die nur wegen einer Jugoparty aus
ihr starkes Heimweh: ihr fehlt die Mutter, die besten              den Nachfolgestaaten Jugoslawiens nach Budapest rei-
Freunde, ihr Zuhause. Bis zur Geburt ihres Sohnes ging             sen, und nicht nur Vojvodina-Ungarn. DJ Sándor organi-
sie regelmäßig an die Jugopartys, weil sie dort zu Musik           sierte einmal ein Wunschprogramm: wer von weit herge-
tanzen konnte, die sie von ihrer Teenagerzeit kannte.              reist war, durfte ein, zwei Songs wünschen; es stellte sich
„Manchmal befällt es mich, doch ich erledige das Heim-             heraus, dass es im Publikum auch Gäste aus Zagreb,
weh damit, dass ich hier [in der Wohnung] ein Konzert              Ljubljana und sogar Sarajevo gab. Dazu kommen auch
veranstalte“. Dann hört Noémi „jugoslawische Musik“.               viele in Westeuropa lebende Ex-Jugoslawen – das ausge-
                                                                   dehnte Kontakt- und Mailsystem von István funktioniert
Auf den Partys trifft man auch Jugendliche aus der
                                                                   als wahres transnationales Netzwerk.
Vojvodina an, die für ihr Studium nach Ungarn kamen,
sie wurden in den 1990er Jahren geboren und verfügen               An der Party nehmen auch viele Ungarn aus Ungarn teil,
über keine eigenen Erlebnisse oder Erfahrungen in Bezug            Interessierte, sich nach Unterhaltung Sehnende, jene, die
auf Jugoslawien. Sie kennen aber die Jugoschlager, wel-            sich von der balkanischen Musik und Stimmung angezo-
che ihre Eltern hörten. Die Party zieht sie nicht wegen            gen fühlen, oder die Schüler (manchmal mit ihren Leh-
ihrer Erinnerungen an die Jugend oder an das Zuhause               rern) des serbischen und kroatischen Gymnasiums in
an, sondern wegen der Stimmung und der Gemeinschaft,               Budapest. Letztere fühlen sich als Angehörige der Min-
der vielfältigen und trotzdem heimischen Atmosphäre.               derheitengemeinschaften in Ungarn der südslawischen
Zoé aus Szabadka (Subotica) ist eine Studentin Mitte               Kultur verbunden, Erstere kommen oft aufgrund einer
zwanzig, sie studiert Pharmazie an einer Provinz-                  Einladung von Bekannten, dann gefällt ihnen die Stim-
Universität. Während der Kriege war sie noch ein Klein-            mung und sie werden zu regelmäßigen Teilnehmern.

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Unsere Gesprächspartner sprechen mit einigem Unver-               wegen des Publikums; jene, die sich hier treffen und sich
ständnis über die Ausländer, über den rumänischen und             gemeinsam amüsieren, würden zuhause, in der Vojvodi-
bulgarischen Jungen, über die französischen, holländi-            na, nicht unbedingt zusammenkommen. Der Verfasser
schen, venezolanischen, indonesischen und Neger (sic!)-           nennt als typisches Merkmal der Jugopartys die eigene
Gäste.                                                            Zusammensetzung des Publikums (Übersiedelte, Studen-
                                                                  ten, Gastarbeiter, Deserteure aus verschiedenen ex-
   „Da war auch ein holländischer Bursche, niemand
   weiss, warum er kam, aber er hat sich so wohl gefühlt!         jugoslawischen Staaten; alle sprechen „Serbokroatisch“)
   (…) Da waren auch Venezolaner, und es war ganz gut             und die ex-jugoslawische Nostalgiexii (Szabó, 2006).
   für sie, denn die serbische Musik hat eine gute Melo-
   die, einen guten Rhythmus und sie ist dynamisch. Es ist
   kein Problem, wenn du den Text nicht verstehst...!“            Die Gesichter der Nostalgie
   (Zoé)
                                                                  Nicht nur DJ Sándor, sondern auch einige Teilnehmer
Es gibt aber auch Leute, die es beunruhigt, dass es lang-         benutzten den Begriff der „Nostalgie“, „nostalgieren“,
sam mehr „Fremde“ gibt als Vojvodiner.                            wenn sie über die Jugopartys sprachen: „man macht sich
                                                                  daran, ein bisschen zu nostalgieren“; „es gibt da diese
   „...zum Beispiel war voriges Jahr auch so eine Party
                                                                  Jugopartys, wir nennen sie, mit Nostalgie, Ex-
   im Merlin ... da waren viele Nicht-Vojvodiner, was bis
   zu einem bestimmten Punkt ok, sehr gut ist, aber ab            Jugoslawien“.
   einem bestimmten Punkt war es so, so, lala... Also es          Der Boom der Nostalgie in den postkommunistischen
   war keine vojvodinische Party mehr, sondern ich weiß
                                                                  Ländern hängt eng mit der radikalen Diskontinuität der
   nicht... Das Lokal war voll mit Deutschen und Englän-
   dern, was, wie gesagt, kein Problem ist, aber von da
                                                                  Vergangenheit, mit der Desintegration und dem Ver-
   an hatte die Party keine hundertprozentige Balkan-             schwinden von Ländern wie der DDR, der Sowjetunion
   stimmung mehr“. (Edit)                                         oder Jugoslawien zusammen. Mit dem Wandel kam auch
                                                                  die Erkenntnis, dass die Vergangenheit nicht zurückge-
Ein aus der Vojvodina stammende Soziologe, der in                 holt werden kann und dass die ehemaligen Diskurse ihre
seiner 2006 verfassten Diplomarbeit die nach Budapest             Geltung verloren (Todorova, 2010; Volčič, 2011). Durch
gerichtete Migration der „westbalkanischen kreativen              die Auflösung Jugoslawiens löste der in den Nachfolge-
Arbeitnehmer“ analysierte, betrachtet die „Ex-Yu-                 staaten aufstrebende Nationalismus die Idee von „Bru-
Gesellschaft“ als eine Art Freizeitgemeinschaft, deren            derschaft, Einheit“ ab. Dieser strebte an, durch die Beto-
gemeinsame Räume die südslawischen Kneipen und die                nung der ethnischen, sprachlichen, konfessionellen, zivi-
Jugopartys sind. Für jene Migranten, die alleine in die           lisatorischen und wirtschaftlichen Unterschiede, dass
Hauptstadt kommen und keine Freunde oder Bekannten                man sich so scharf als möglich von den anderen Nachfol-
haben, bieten die Partys eine gute Gelegenheit, um Kon-           gestaaten und der gemeinsamen Vergangenheit distan-
takte zu knüpfen oder Freundschaften zu schließen. Laut           zierte. In den nationalen, nationalistischen Diskursen
der Interpretation des Verfassers funktioniert in dieser          erschien Jugoslawien als lebensunfähiges, künstliches
„Ex-Yu“-Gemeinschaft „das imaginäre und heutzutage                Staatsgebilde, welches die Erlangung der nationalstaatli-
schon mythische Bewusstsein der Abstammung vom                    chen Unabhängigkeit nur verhinderte (Bakić-Hayden &
gleichen Ort, und deswegen existiert in diesem Netzwerk           Hayden 1992).
eine gegenseitige Solidarität und Hilfe zwischen den
                                                                  Die in den Dienst der nationalen Geschichte und des
Individuen“. Die Funktion des gemeinschaftlichen Netz-
                                                                  nationalen Unrechts, der Nationalstaatsbildung gestellte
werks geht in der Regel aber nicht über den Austausch
                                                                  Erinnerung überschrieb nicht nur die Erinnerung der
von für die Übersiedlung notwendigen Informationen
                                                                  jugoslawischen Vergangenheit, sondern erklärte sie für
hinaus. Die Gesellschaft oder Gemeinschaft, abgesehen
                                                                  ungültig.
von einem engen Kern, charakterisiert die Bewegung.
Die neu in Budapest Ankommenden finden sie schnell,               Svetlana Boym, eine oft zitierte Forscherin in der Frage
doch viele verlassen sie auch bald wieder, ausgerechnet           der postsozialistischen Nostalgie, unterscheidet die resto-

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rative und die reflexive Nostalgie. Die sogenannte resto-           letztlich als Wunsch nach Kontinuität, nach der Bewah-
rative Nostalgie kann die Basis für religiöse und nationa-          rung der individuellen und kollektiven Erinnerung zu
listische Ideologien sein; sie zielt ab auf die Wiederher-          verstehen (Ugrešić, 1996; Volčič, 2007, 2011).
stellung der Goldenen Ära des verlorenen oder nie real
                                                                    Voličič interpretiert die Jugonostalgie als eine einseitige
existierenden Zuhauses; und identifiziert sich selbst mit
                                                                    Antwort auf die ebenfalls einseitige nationalistische Kri-
der Tradition und der Gerechtigkeit. Die reflexive Nos-
                                                                    tik des jugoslawischen Kommunismus. Im Lichte der
talgie und der reflexive Nostalgiker möchten nicht unbe-
                                                                    aufeinander folgenden Kriege, des Leidens und der Prob-
dingt irgendwohin zurückkehren, die Betonung liegt
                                                                    leme in den auf die Kriege folgenden Jahren idealisiert
einzig auf der Sehnsucht, und da sie (oder er) sich der
                                                                    und verschönert die Jugonostalgie die Erfahrungen der
ambivalenten Natur dieser Sehnsucht bewusst ist, ist sie
                                                                    Menschen, die in den jugoslawischen Zeiten gelebt haben
(oder er) oft distanziert, ironisch. Die reflexive nostalgi-
                                                                    (Volčič, 2011: 194).xv Voličič macht auch auf das Para-
sche Erinnerung wird nicht zur Ideologie, zur gemeinsa-
                                                                    doxon der Jugonostalgie aufmerksam: es sei, als ob man
men großen Erzählung, sie charakterisiert sich eher durch
                                                                    der Person nachtrauern würde, die man selbst umge-
Fragmentierung (Boym, 2001; siehe noch Lindstrom,
                                                                    bracht habe. Für jene, die an der Reproduktion und Auf-
2006; Volčič, 2007).                                                rechterhaltung der Jugonostalgie interessiert sind, bietet
Die markanteste sich entfaltende Form der restorativen              sie einen Ausweg aus der Verantwortung an den Kriegen
Jugonostalgie, der Sehnsucht nach der jugoslawischen                und deren Folgen, außerdem macht sie eine aufrichtige
Vergangenheit, ist der in den Nachfolgestaaten mit dem              Abrechnung mit der sozialistischen Vergangenheit und
verstorbenen Marschall Tito verbundene Persönlichkeits-             deren Rolle beim Ausbruch der Kriege unmöglich
kult (siehe Lindstrom, 2006; Volčič, 2011).xiii Die refle-          (Volčič, 2007: 34-35).
xive Jugonostalgie entstand entgegen der nationalisti-              In den mit den Budapester Jugopartys verbundenen Er-
schen Nostalgie und entgegen der politischen Brandmar-              zählungen äußert sich kein direkt politischer Inhalt, die
kung der jugoslawischen Erinnerung und des jugoslawi-               Vojvodina-Ungarn teilen weder die Tito-Nostalgie, noch
schen Diskurses, doch sie verhält sich ironisch und kri-            die Jugonostalgie, welche in den Nachfolgestaaten in
tisch zur jugoslawischen Vergangenheit, im Bewusstsein,             politischen Diskursen zu beobachten ist. In den Erzäh-
dass die persönlichen Erinnerungen immer variabel,                  lungen der Vojvodina-Ungarn gleicht die Erinnerung an
fragmentiert und inkonsequent sind. Ein oft erwähntes               die Zeit Jugoslawiens jenen Schilderungen, die andere
Beispiel der Jugonostalgie ist das Lexikon für jugoslawi-           Wissenschaftler in den Nachfolgestaaten von ehemaligen
sche Mythologie, eine Sammlung jugoslawischer Kultur                Landsleuten der Vojvodina-Ungarn zitieren. Diese erzäh-
und alltäglicher Gegenstände und Produkte aus der Zeit.             len vom im Vergleich mit den anderen sozialistischen
Das Lexikon entstand während 15 Jahren, die Artikel                 Staaten hohen Wohlstand, der Reise- und Konsumfrei-
konnte jedermann schreiben.xiv Die Initiatorin des Lexi-            heitxvi, der landschaftlichen Schönheit, der kulturellen
kons, die nach Westeuropa emigrierte Schriftstellerin               und der von den Männern im Militärdienst erfahrenen
Dubravka Ugrešić argumentiert damit, dass die Jugonos-              ethnischen Vielfalt (siehe Petrović, 2010; Burić, 2010;
talgie ein grundlegendes Instrument in der Bewahrung                Debeljak, 1998).
der kulturellen Erinnerung und der Geschichte des Staa-
                                                                    Die Budapester Jugoparty lässt die Erinnerungen an die
tes respektive der Idee Jugoslawiens ist (Volčič, 2011:
                                                                    jugoslawische Vergangenheit in einer Art aufleben, dass
194). In der Auslegung von Ugrešić ist die Jugonostalgie
                                                                    die Kriege und Nationalismen, die zum Zerfall des Lan-
ein Produkt der nationalistischen Diskurse, ein Produkt
                                                                    des geführt haben, und der Wandel der ethnischen Struk-
der Kriege, denn es war die nationalistische Politik, wel-
                                                                    tur in den Nachfolgestaaten ausgeklammert werden. Die
che den als Brandmarker gedachten Begriff auf all jene
                                                                    Party schafft die ethnische Vielfalt und die Einheit der
klebte, welche die Politik der „Konfiszierung“ der Erin-
                                                                    jugoslawischen Zeiten neu. In den Worten von István:
nerung, „den Terror des Vergessens“ nicht akzeptierten.
Die Jugonostalgie stammt aus der Zeit der Kriege und                   „Wir wollten nicht einschränken, weil wir so viele In-
des Nationalismus, der alles zu besiegen schien, und ist               teressierte von überallher hatten. Es kamen Mazedoni-

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   er, die fragten, ob sie kommen könnten. Dann kam ein           tung nicht, selten kommt es vor, dass er an der Party den
   Kroate, ob auch er kommen könnte. Hätte ich ihnen              einen oder anderen Ceca-Song spielt. In diesem Fall kann
   etwa sagen sollen, dass nicht kommen können? Ich
                                                                  es aber sein, dass die ästhetischen Gesichtspunkte von
   glaube, dass wäre so nicht korrekt, deshalb haben wir
                                                                  der traumatischen historischen Zeit überzeichnet werden,
   uns die Party so ausgedacht, dass sie die Leute zu-
   sammenhält, dass jeder dabei ist“.                             in welcher der Stil und die Sängerin ihre Blütezeit erlebt
                                                                  haben. Einer unserer Gesprächspartner, József geht des-
Die Partys finden aus ethnischer, nationalpolitischer             halb nicht auf die Jugoparty, weil er schockiert war, als
Sicht auf fremdem, neutralem Terrain statt, wo sich mög-          bei der einzigen Veranstaltung, an der er teilnahm, die
liche (ethnischer, nationalistischer Erregung entspringen-        Leute zur Musik von Ceca tanzten.
de) Spannungen auflösen, hier geraten sich die Söhne der
                                                                     „...diese Art Turbofolk ist etwas Abscheuliches. (…)
verschiedenen Nationen nicht in die Haare. Laut DJ
                                                                     Und die Leute haben dazu getanzt. Es ist eine Sache,
Sándor äußert sich das „friedliche Miteinander“ auch in              dass der Musikgeschmack von Person zu Person un-
der Auswahl der Musik und der Musikgruppen:                          terschiedlich ist, und gut, nach x Getränken ist es egal,
                                                                     und es ist ein balkanischer Rhythmus. Aber dass diese
   „Und das ist, was ich nicht verstehe. Wir sind hier in
                                                                     Ceca, die Witwe Arkans, sich hier in Budapest zu ihrer
   Budapest, quasi im großen Nichts, denn wir könnten
                                                                     Musik zu amüsieren und ungarisch... das war für mich
   diese Party überall in Serbien oder in der Vojvodina
                                                                     ein Symbol der totalen Identitätskonfusion. Selbst
   organisieren, und alle kommen sie hierher, aus der
                                                                     wenn die Musik mir gefallen würde, würde ich mich
   Vojvodina, aus Kroatien, Slowenien, um sich hier zu
                                                                     schämen, mich zur Musik von Ceca zu amüsieren.
   amüsieren, und nicht dort. (…) Hier können sie besser
                                                                     Auch zuhause [in der Vojvodina] sagen meine Freun-
   loslassen, weil der Ort neutral ist. Sie haben nicht
                                                                     de, Ceca, die ist gut. Dann hör es dir an! Aber weißt
   Angst davor, dass es Zwischenfälle oder ethnische
                                                                     du, wer sie ist, was sie bedeutet hat für unser...? Eben
   Probleme geben wird (…). Ich beschäftige mich abso-
                                                                     deswegen mussten wir hierherkommen, weil dort sol-
   lut nicht damit, was für Musik wir nun spielen, ob das
                                                                     che Leute und eine solche Kultur herrschten!“
   nun eine Band, ein Musiker aus Kroatien, Bosnien,
   Serbien oder sonst woher ist. Gute Musik und ein gu-
   ter Text sind die Hauptsache. Und wir hatten Gott sein         Józsefs Worte verweisen auf den Zweifel, ob denn be-
   Dank noch nie einen Zwischenfall aufgrund von natio-           geistertes Vergnügen im Lichte der nicht aufgearbeiteten
   nalistischen Problemen. Alle stehen zusammen und               Traumata der jüngsten Vergangenheit unschuldig sein
   amüsieren sich“.                                               kann, beziehungsweise ob man sich an Jugoslawien erin-
                                                                  nern darf, ohne zu vergessen, auf Kosten welcher Leiden
Nimmt man die Worte der Organisatoren als Referenz, so
                                                                  das Land zerfiel. Ein anderer Gesprächspartner, Ádám,
scheint es, als ob sich hier in Budapest die Hoffnung
                                                                  äußerte außerordentlich scharfe Kritik an der Jugoparty.
bewahrheitet, dass die Populärkultur, und in deren Rah-
                                                                  Der Grundstein seiner Identität ist sein Ungarnsein: „die
men die Musik zur Normalisierung der Beziehungen
                                                                  größte Tatsache meines Lebens, eine wichtige Sache, was
zwischen den Nachfolgestaaten und den in den Nachfol-
                                                                  ein Wert ist, den es zu bewahren gilt“. Minderheiten-
gestaaten lebenden Menschen sowie zur Entfaltung des
                                                                  Ungar zu bleiben, bedeutet die Treue zu einer festen
Versöhnungsdiskurses beitragen kann (Pauker, 2006).
                                                                  moralischen Weltordnung. Aus Sicht von Ádám ist die
Trotz größter Umsichtigkeit und einer ausschließlich auf
                                                                  Jugoparty ein psychologischer Ersatz für all jene, die in
die Qualität der Musik ausgerichteten Auswahl, schlägt
                                                                  Ungarn nicht glücklich werden, die dem titoistischen
sich die jüngste Vergangenheit im Apolitischen der Ver-
                                                                  Jugoslawien entgegengebrachte Nostalgie sei ein Versa-
anstaltung nieder. Der in den Nachfolgestaaten ausge-
                                                                  gen, Selbstbetrug.
sprochen populäre, die öffentliche Meinung aber spalten-
de Star des „Turbofolk“xvii ist Ceca Ražnatović, die Wit-         „Ich mag es nicht, wenn etwas nicht an seinem Platz ist,
we des bei einem Attentat getöteten Paramilitär-                  es ist aus vielen Gesichtspunkten irgendein Symptom,
Anführers Arkan, deren Gestalt und Musik unzertrennbar            dass die Ungarn aus der Vojvodina oder von überallher
sind vom nationalistischen, kriegerischen Milosević-              gekommenen Ungarn, und die von überallher zusam-
Regime (Baker, 2007). DJ Sándor selbst mag diese Gat-             mengekommenen Ex-Jugoslawen hier bereuen, warum

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Jugoslawien nicht mehr existiert. Warum habt ihr es denn          wieder, dass es sich nicht lohne nach Ungarn umzuzie-
zerschossen?!“                                                    hen, Budapest sei eine unbewohnbare Stadt und er plane
                                                                  nur solange zu bleiben, bis sich die Lage zu Hause end-
Der Krieg und die serbische, nationalistische Politik
                                                                  lich normalisiere. Der anhaltende Übergangszustand
haben die massenhafte Auswanderung von Vojvodina-
                                                                  besteht auch seit der Übersiedlung der Familie: Edits
Ungarn erzwungen. Einer der Gründer der Demokrati-
                                                                  Eltern beeilten sich nicht, die für die Legalisierung ihres
schen Gemeinschaft der Vojvodina-Ungarn sprach dar-
                                                                  Aufenthaltes benötigten Papiere zu besorgen, sie wohnen
über, dass die Vojvodina-Ungarn auf ihren Bällen den
                                                                  in einer Mietwohnung, der Wunsch des Vaters ist es, dass
Kolo „boykottierten“. Anders formuliert, waren sie nicht
                                                                  sie zumindest auf die Rentenjahre hin in ihr Zuhause in
bereit auf „südländische Art“ zu tanzen, „obwohl wir
                                                                  der Vojvodina zurückziehen zu können, wohin sie –
nicht auf das serbische Volk böse sind, sondern auf Mi-
                                                                  wenn immer möglich – reisen. Edit nähert sich dem Ende
lošević, auf die serbische Macht“.xviii Der Krieg, das
                                                                  ihres Studiums, sie fühlt sich – im Gegensatz zu ihrem
Erlebnis der als Minderheitenangehörigen erlittenen
                                                                  Vater – in Budapest zuhause, kann sich ihre Zukunft aber
Zwangsmigration verunmöglicht für sie die nostalgische
                                                                  auch in einem anderen Land vorstellen. Edit nimmt re-
Erinnerung an die jugoslawische Vergangenheit.
                                                                  gelmäßig an den Jugopartys teil; hier hat sie die Mög-
Aufgrund unserer Interviews denken wir, dass – wenn               lichkeit, sich mit ihren Bekannten aus der Vojvodina zu
man die Natur der „Nostalgie“, die in den Erzählungen             treffen, die in Budapest leben oder auf Besuch sind; man
der Teilnehmer der Budapester Jugopartys erscheint,               erfährt, wie es wem geht. Sie mag auch die Musik der
verstehen will – es sinnvoll ist, sich der allgemeinsten          Partys. Im Leben von Edit ist die Balkan-Musik stets
und neutralsten Bedeutung des Begriffes zuzuwenden.               präsent, ihre Bedeutung ist allerdings wechselhaft. Sie
Der im 18. Jahrhundert aufgetauchte Begriff ist aus den           war sehr wichtig, als Edit sich als Kind von ihrem Zu-
griechischen Wörtern nostos (Heimkehr) und algos                  hause, ihren Freunden trennen musste – in dieser Zeit
(Schmerz) zusammengesetzt. Ein Schweizer Medizinstu-              half die Musik, die Verluste, das Heimweh und die
dent hat sie als eine heilbare Krankheit definiert, die er        Schwierigkeiten bei der Integration in Ungarn erträglich
bei fern von ihrer Heimat lebenden Personen (Soldaten,            zu machen.
Seeleute) diagnostizierte. Das Heimweh ist daher vom
                                                                     „Bei mir war das Hören dieser Musik in der Zeit am
Begriff der Nostalgie untrennbar. Und obgleich das                   intensivsten, als es mich wirklich schmerzte, nicht dort
Heimweh als Sehnsucht nach einem bestimmten, verlo-                  zu sein. (…) Das heisst, so lange ich hier meine
renen Ort verstanden werden kann, bedeutet Nostalgie                 Grundschule nicht leiden konnte, so lange suchte ich
zugleich die Sehnsucht nach einer anderen Zeit, der                  dort umso mehr alle möglichen Bezugspunkte. (…) Wir
Kindheit, der Jugend oder einer anderen Ära (Boym,                   waren regelmäßig zuhause, und wir freuten uns mit
                                                                     meinem Bruder immer sehr, wenn wir eine neue serbi-
2001; 2007). In Falle der ungarischen Migranten aus der
                                                                     sche Kassette oder CD kaufen konnten. Ja, damals
Vojvodina, ist die Zwangsmigration selbst Quelle der                 war das ein sehr starkes Gefühl, und ich denke, wenn
Nostalgie.                                                           ich heute Musik höre, höre ich nicht jeden Tag serbi-
                                                                     sche Musik. (...) Jetzt hat es eine andere Seite, ein Go-
                                                                     ran Bregović und Boban Marković wurde für mich zu
Migration, Musik, Identität – Geschichten und                        meiner Studienzeit interessant, damals begann ich, ih-
                                                                     re Musik zu hören. Na ja, dabei spielte auch ein biss-
Interpretationen
                                                                     chen Zigeunerei eine Rolle – ‚Oh, wie gut, alle an der
Edit war 6 Jahre alt, als ihr Vater 1993 vor der Einberu-            Uni hören diese Musik; ich aber habe einen zusätzli-
fung nach Ungarn floh. Er fand auch Arbeit, doch seine               chen Bezug dazu...’ Das ist wieder etwas anderes...
                                                                     Doch wenn ich diese sehr schnulzigen Balladen höre,
Frau und die Kinder folgten ihm erst 1999, als die Gefahr
                                                                     dann ist das für mich Nostalgie, denke ich, nach den
bestand, dass auch Edits Bruder einberufen werden wür-               damaligen Zeiten...“.
de. Edits Vater spielte eine entscheidende Rolle dabei,
dass die Familie über sechs Jahre hinweg getrennt lebte.          Der durch die Musik gelinderte Schmerz aufgrund der
Bei seinen allwöchentlichen Besuchen betonte er immer             mit der Migration erfolgten Verluste wurde zur Vergan-

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genheit, die Nostalgie ist heute nicht mehr das Heimweh,          Sprache als eine Gegebenheit, die sie von den Ungarn in
sondern die Erinnerung an das Heimweh. Der Entstehung             Ungarn unterscheidet beziehungsweise auf deren Basis
des Musikgeschmacks von Edit ist auch interpretierbar             auch ihre Identität für andere Personen erkennbar und
als die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen             identifizierbar ist. Im Falle des Schulereignisses wurde
Gleichheit/Identifikation und Unterschied/Abgrenzung.             diese Identität abgewertet. Ihr Mitschüler bezeichnete
Die von ihr gerne gehörte Balkan-Musik ist auch unter             Edit aufgrund ihres Tonfalls, der Lautstärke und – das
ihren Budapester Kommilitonen beliebt, daher weicht sie           wurde offensichtlich durch die Gesten, welche Edits
mit ihrem Geschmack, ihren Musikgewohnheiten nicht                Erzählung begleiteten – der heftigen Gestikulation als
von ihrer Umgebung ab. Mehr noch, wenn auch nicht                 „Bauer“, was gleichermaßen Provinzialismus und Unkul-
durch ihre Herkunft, so durch die geographischen Gren-            tiviertheit bedeutet. Dieses demütigende Erlebnis bewog
zen ihres Herkunftslandes und ihre Kultur steht sie in            sie nicht nur dazu, im Sinne der Anpassung an ihr neues
einem vertrauten Verhältnis zur Tradition der balkani-            Umfeld leiser und zurückhaltender zu sprechen, sondern
schen Zigeunermusik. Das ist das Fundament ihrer Iden-            auch ihren durch geschlossene Vokale charakterisierten
tität: in Ungarn (wenn auch nur ein bisschen) anders zu           Akzent aufzugeben. Sie übernahm die „Budapester“
bleiben, als Vojvodinerin.                                        Sprechweise, die als Gegensatz zum „Bauer“ und mit
Für Edit stellt ihre vojvodinische Herkunft, ihr gemischt-        „Affektiertheit“ oder Künstelei gleichgesetzt wird. Für
ethnischer – ungarisch, kroatisch, deutscher – Hinter-            ihren Freundeskreis in der Vojvodina ist diese Budapes-
grund ein Plus, einen Wert dar, der in Ungarn im Allge-           ter Sprechweise allerdings ein deutliches Zeichen der
meinen – wenn auch nur bei einem einfachen Gespräch –             Distanzierung vom heimischen, zurück gelassenen Um-
Interesse gegenüber dem Besonderen auslösen kann. Edit            feld, oder schärfer formuliert, ein Zeichen der Lossagung
nennt ein Schulereignis, aufgrund dessen sie gemäß ihrer          von diesem beziehungsweise der Geringschätzung dieses
heutigen Meinung ein Stück ihrer vojvodinischen Identi-           Umfelds. Edit empfindet es als Verlust, dass sie ihren
tät aufgab.                                                       Akzent aufgegeben hat und die serbische Sprache nicht
                                                                  mehr spricht. Dadurch wurde ihre vojvodinische Identität
   „Nun, damals sprach ich noch ganz anders [Unga-
                                                                  für andere unbemerkbar (unhörbar) – und dadurch sank
   risch], und eine konkrete Situation habe ich auch im
   Kopf, als, ich glaube, wir haben irgendwie lauter, oder        auch das Besondere, die Anziehungskraft der vojvodini-
   auf jeden Fall irgendwie anders gesprochen, und                schen Identität. Edit amüsiert sich auf den Jugopartys wie
   dann, na egal, ich wollte jemandem nachrufen, und es           eine Vojvodinerin, so wie es Ungarn aus Ungarn nicht
   war für mich damals ganz normal, so ein „Hőőőőő!“              könnten:
   zu sagen, so einen Laut habe ich von mir gegeben, und
   dann hat mich diese Person angefahren – was für ein               „..zuhause, zum Beispiel, laufen auch die ungarischen
   Bauer ich sei [lacht]. Damals habe ich mich dafür na-             Partys so ab, dass eine Zeit lang, was weiss ich, ver-
   türlich sehr geschämt, was ich nun im Nachhinein                  schiedene bekannte Nummern gespielt werden, und
   aber als negativ erlebe ist, dass ich damals klein bei-           dann gegen Schluss oder nicht am Schluss, sondern
   gegeben habe... Nun gut, ich denke, dass ich schon an             sagen wir um circa zwei Uhr, beginnt man, diese ser-
   meiner Sprache feilen musste, aber ich mag nicht, dass            bischen Balladen zu spielen, und dann geht das Ganze
   ich mittlerweile eine sehr Budapester Sprechweise an-             über in ein, ich weiss nicht, gemeinsames Umarmen,
   genommen habe, und sehr oft merke ich auch, dass ich              in eine halb weinerliche, brüllende, lächelnde, singen-
   mich ziere. Es wäre sehr gut, wenn ich noch immer mit             de Sache“.
   diesen geschlossenen Vokalen sprechen könnte. Oder
   dass gerade, auch das würde diese Besonderheit ge-             Robert ist gegen Ende 40, er flüchtete im Sommer 1991
   ben, denke ich, die während eines Gespräches, sagen            vor der Einberufung nach Ungarn. Er arbeitet als Ange-
   wir, hervorkommen könnte. Ich sage, woher ich kom-             stellter bei einer Fluggesellschaft, daneben ist er Ama-
   me, aber ich spreche nicht mehr Serbisch und ich kann          teurmusiker. In Robert ist die „ungarische nationale
   auch nicht so sprechen, wie eine echte Vojvodina-              Identität“ sehr stark, er spricht über Ungarn als „Mutter-
   Ungarin...“
                                                                  land“, wohin er allerdings, wenn kein Krieg gewesen
Edits vojvodinische Identität ist unzertrennbar von der           wäre, nie gekommen wäre und wo er sich auch nicht

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