Gemeindebrief Nr. 3/2021 - Juni - August 2021 - Jerusalem-Kirche

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Gemeindebrief Nr. 3/2021 - Juni - August 2021 - Jerusalem-Kirche
Gemeindebrief Nr. 3/2021
      Juni – August 2021
Gemeindebrief Nr. 3/2021 - Juni - August 2021 - Jerusalem-Kirche
Inhaltsverzeichnis

Editorial                                                                       Seite    1
Hans-Christoph Goßmann, Predigt über Rut 1, 1-19a                               Seite    2
Michael Arretz, Baubeginn der Jerusalem-Kirche vor 110 Jahren                   Seite    6
Helga Kießling, Post aus Kibakwe                                                Seite    7
   - Padré Celestines Brief vom 22. Dezember 2020                               Seite    7
   - Padré Celestines Osterkarte vom 19. März 2021                              Seite    9
Gedanken zu Monatssprüchen:
   - Oliver Haupt, Apostelgeschichte 5, 29 (Juni)                               Seite   10
   - Hans-Christoph Goßmann, Apostelgeschichte 17, 27 (Juli)                    Seite   12
   - Dorothea Pape, 2. Könige 19, 16 (August)                                   Seite   14
Johannes Rehm, Streitbarkeit und Versöhnungsbereitschaft
– Erinnerungen an Hans Küng                                                     Seite   17
Matthias Tolsdorf, Interreligiöse Begegnung Online – geht das überhaupt?        Seite   19
Drei Statements zum interreligiösen Dialog:
   - Landesrabbiner Yuriy Kadnykov                                              Seite   21
   - Pastorin Nora Steen                                                        Seite   22
   - Imam Dr. Ali-Özgür Özdil                                                   Seite   22
Aus dem Programm der Jerusalem-Akademie                                         Seite   22
Veranstaltungskalender                                                          Seite   24

Spenden für die Gemeinde erbitten wir auf folgende Konten:
Haspa:     IBAN - DE33 2005 0550 1211 1292 16 BIC - HASPDEHHXXX
Evangelische Bank eG: IBAN – DE25520604106306446019 BIC – GENO DEF1 EK1
Konto des Fördervereins Jerusalem-Kirchengemeinde Hamburg e.V.:
Haspa: IBAN - DE40 2005 0550 1211 1237 55 BIC - HASPDEHHXXX
Unsere Internet-Seiten finden Sie unter: Jerusalem-Kirche = www.jerusalem-kirche.de
Bestellungen und andere Anfragen richten Sie bitte an die Jerusalem-Gemeinde
Sekretariat: Frau Birthe Henkel, Schäferkampsallee 36, 20357 Hamburg, Öffnungszei-
ten:
Di. und Do. von 9.00 bis 12.00 Uhr und Mi. von 14.30 bis 17.30 Uhr, Telefon: 040/202 28
136, Fax: 040/202 28 138, E-Mail: buero@jerusalem-kirche.de
Pastor: Dr. Hans-Christoph Goßmann, E-Mail: jerusalem-pastor@gmx.de

Impressum:
Herausgeber ist die ev.-luth. Jerusalem-Gemeinde zu Hamburg. Auflage: 600 Stück
Redaktion: Dr. Hans-Christoph Goßmann, Druck: H.-D. Dietrich Druckerei, Beeksfelde 18, 25482
Appen/Pi. Für namentlich gekennzeichnete Artikel zeichnen die Autoren verantwortlich.
Der Brief erscheint viermal im Jahr und wird auf Spendenbasis an Mitglieder und Freunde der
Gemeinde verschickt. Redaktionsschluss für den Jerusalem-Brief 4-2021 ist der 2. August 2021.
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                                          Editorial

                           Liebe Leserin,          In diesem Jahr wurde die jüdisch-
                           lieber Leser,           christlich-islamische Seminarveranstaltung
                           am Beginn die-          „Zu Gast in Abrahams Zelt“ aufgrund der
                           ser Ausgabe des         Corona-bedingten Einschränkungen in
                                 Jerusalem-        digitaler Form durchgeführt. Matthias
                           Briefes     steht       Tolsdorf, Theologischer Referent für
                           eine      Predigt       Ökumenisch-Missionarische Bildungsar-
                           über Rut 1, 1-          beit im ‚Zentrum für Mission und Ökume-
                           19a – ein bibli-        ne‘, berichtet von diesem gelungenen Ex-
                           scher Text, der         periment, eine Online-Begegnung zwi-
                           dazu auffordert,        schen Vertreter*innen der drei abrahami-
                           Menschen mit            tischen Religionen durchzuführen. An-
                           anderem kultu-          schließend können Sie Statements zum
rellen und religiösen Hintergrund mit Res-         interreligiösen Dialog von drei Theo-
pekt und Wertschätzung zu begegnen.                log*innen lesen, die an dieser Tagung mit-
                                                   gewirkt haben: Landesrabbiner Yuriy
Daran schließt sich ein Beitrag an, in dem         Kadnykov, Imam Dr. Ali-Özgür Özdil und
Dr. Michael Arretz an den Baubeginn der            Pastorin Nora Steen, der Theologischen
Jerusalem-Kirche vor 110 Jahren erinnert           Leiterin des Christian Jensen Kollegs.
und zu der Jubiläumsfeier am 8. August
2021 einlädt.                                      In dieser Ausgabe des Jerusalem-Briefes
                                                   finden Sie auch Ankündigungen einiger
Auf den darauf folgenden Seiten finden Sie         Veranstaltungen der Jerusalem-Akademie:
einen Brief sowie eine Osterkarte von              eine Vorankündigung des Konzertes
Padré Celestine, die Helga Kießling für uns        ‚Haschiwenu: Bringe uns zurück. Eine
übersetzt hat.                                     Reise zu den Traditionen des Chorgesangs
                                                   in den deutschen Synagogen‘ am 13. Sep-
In dieser Ausgabe des Jerusalem-Briefes            tember 2021 sowie Hinweise auf die je-
können Sie Gedanken zu den Monatssprü-             weils einmal pro Monat stattfinden Lektü-
chen für die Monate Juni bis August lesen:         rekreise: den Martin Buber-Lektürekreis
für Juni („Man muss Gott mehr gehorchen            sowie den Reinhard von Kirchbach-
als den Menschen“ [Apostelgeschichte 5,            Lektürekreis.
29]) von Oliver Haupt, für Juli („Gott ist
nicht ferne von einem jeden unter uns.             Wann die nächsten Gottesdienste und Bi-
Denn in ihm leben, weben und sind wir“             belstunden stattfinden werden, können Sie
[Apostelgeschichte 17, 27]) von mir und            dieser Ausgabe des Jerusalem-Briefes na-
für August („Neige, HERR, Dein Ohr und             türlich wie gewohnt auch entnehmen.
höre! Öffne, HERR, Deine Augen und sieh
her!“ [2. Könige 19, 16]) von Dorothea             Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen Ihr
Pape.                                                              Hans-Christoph Goßmann
Am 6. April 2021 ist Hans Küng im Alter
von 93 Jahren verstorben. Prof. Dr. Johan-
nes Rehm, der Direktor des Kirchlichen
Dienstes in der Arbeitswelt der Evange-                             * * *
lisch-Lutherischen Kirche in Bayern, erin-
nert an diesen bedeutenden katholischen
Theologen.
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                              Predigt über Rut 1, 1-19a
                        von Pastor Dr. Hans-Christoph Goßmann

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus            tät der nachexilischen Gemeinde zu be-
und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft         wahren. Dies ist nachvollziehbar – zumal
des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.          in der damaligen historischen Situation –,
Amen.                                             hat jedoch auch den Beigeschmack von
                                                  Fremdenfeindlichkeit. Ist die Hebräische
Liebe Jerusalem-Gemeinde,                         Bibel somit ein fremdenfeindliches Buch –
heute möchte ich gemeinsam mit Ihnen              zumindest      in    diesen    Teilen     aus
und Euch einen Blick in die Geschichte des        nachexilischer Zeit? Diese bedrückende
Volkes Israel werfen und beginne mit der          Frage werden wir mit einem klaren „Nein“
Zeit des Babylonischen Exils. Das Ende            beantworten können, denn es gibt aus die-
dieser Zeit wurde sehnlich herbeige-              ser Zeit eine biblische Schrift, in der völlig
wünscht. Ich lese den berühmten ersten            andere Akzente gesetzt werden: das Buch
Vers des 137. Psalms: „An den Strömen             Rut. Der erste Teil dieses Buches ist der
Babels – dort saßen wir und weinten, wenn         Predigttext für den heutigen Sonntag. Ich
wir uns an Zion erinnerten.“ Die Exilszeit        lese ihn in der Übersetzung der ‚Bibel in
dauerte länger, als die Exilierten erwartet       gerechter Sprache‘ vor:
hatten, viel länger. Aber sie kam zu ihrem
Ende und eines Tages war die so lang er-          Und es geschah: in den Tagen, als die
sehnte Rückkehr in das verheißene Land            Richterinnen und die Richter für Recht
wieder möglich. Das Exil war zu Ende.             sorgten, da war eine Hungersnot im Land.
Ende gut – alles gut? Nein, keineswegs.           Deshalb brach ein Mann aus Betlehem, das
Auf die Rückkehrer*innen warteten viele           heißt ›Haus des Brotes‹, in Juda auf, um
Probleme. In dieser schwierigen Zeit wirk-        als Fremder in den Feldern Moabs, das
te Nehemia, der im Jahr 444 v. Chr. zum           heißt ›vom Vater‹, zu wohnen, er, seine
Statthalter der persischen Provinz Jehud          Frau und seine beiden Söhne. Der Name
ernannt worden war. Es war sein Ver-              des Mannes war Elimelech, das heißt
dienst, dass die Jerusalemer Stadtmauern          ›Mein Gott ist König‹, der Name seiner
wieder aufgebaut wurden, und er entwarf           Frau Noomi, das heißt die ›Liebliche‹, und
eine Reform religiöser Vorschriften, für          die Namen seiner beiden Söhne waren
deren Durchsetzung der Priester Esra sorg-        Machlon, das heißt ›der Schwächliche‹,
te. Zu diesen Reformen gehörte neben der          und Kiljon, das heißt ›der Gebrechliche‹.
Einhaltung des Schabbats auch das Verbot,         Sie waren efratitische Leute aus Betlehem
so genannte „fremde“ Frauen zu heiraten,          in Juda. Und sie kamen in die Felder
ja mehr noch: das Gebot, sich von ihnen zu        Moabs und sie lebten dort. Da starb
trennen. Diese Maßnahmen hatten ihren             Noomis Mann Elimelech, so dass sie zu-
Grund darin, dass die Ehen mit Frauen aus         rückblieb, sie und ihre beiden Söhne. Diese
anderen Völkern zur Folge hatten, dass            nahmen sich moabitische Frauen. Der Na-
Götzendienst praktiziert wurde – eben jene        me der einen war Orpa, das heißt ›die den
Sünde, die zum Untergang Israels geführt          Rücken Kehrende‹, der Name der anderen
hatte. Das hat seinen Niederschlag in der         Rut, das heißt ›die Freundin‹. Und sie
Hebräischen Bibel gefunden: In den Kapi-          wohnten dort etwa zehn Jahre. Da starben
teln neun und zehn des Esra-Buches wird           auch die beiden, Machlon und Kiljon. Die
geschildert, dass Esra sich im Gebet an           Frau blieb zurück, ohne ihre beiden Söhne
Gott wendet und durch sein Gebet die ge-          und ohne ihren Mann. Da machte sie sich
samte Gemeinde dazu bringt, zu trauern            mit ihren Schwiegertöchtern auf, um aus
und zu schwören, sämtliche Mischehen              den Feldern Moabs zurückzukehren, denn
aufzulösen, um auf diese Weise die Identi-        sie hatte in den Feldern Moabs gehört, dass
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sich Gott des Gottesvolkes angenommen              Hier begegnet ein anderer Umgang mit
habe und ihm Brot gebe. Gemeinsam mit              dem Fremden und dementsprechend auch
ihren beiden Schwiegertöchtern zog sie             mit den Fremden – ein völlig anderer. Der
weg von dem Ort, an dem sie gelebt hatte.          Inhalt dieser Geschichte ist in vielerlei
Als sie sich auf den Weg machten, um in            Hinsicht paradox, und das im ursprüngli-
das Land Juda zurückzukehren, sagte                chen Sinne des Wortes: Er entspricht nicht
Noomi zu ihren beiden Schwiegertöchtern:           den Erwartungen der Leserinnen und Le-
»Geht! Kehrt zurück, eine jede in das Haus         ser. Bereits im ersten Vers unseres nicht so
ihrer Mutter. Möge Gott euch Wohltaten             ganz kurzen Predigttextes, der ja zugleich
erweisen, wie ihr sie den Toten und mir            der erste Vers des Buches Rut ist, begeg-
erwiesen habt. Gott möge euch geben, dass          nen zwei Paradoxien. Die erste: Es gab
ihr Ruhe findet, eine jede im Haus ihres           eine Hungernot, mit anderen Worten: Es
Mannes.« Und sie küsste sie. Da erhoben            gab nicht genug Brot. Und das ausgerech-
sie ihre Stimmen einstimmig und weinten.           net im ‚Haus des Brotes‘! Das ist nämlich
Sie sprachen zu ihr: »Nein, mit dir wollen         die Bedeutung des Ortsnamens Betlehem,
wir zu deinem Volk zurückkehren.« Und              wie in diesem Vers gesagt wird. Das ist in
Noomi entgegnete: »Kehrt doch zurück,              der Tat paradox. Und die zweite Paradoxie
meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir             folgt unmittelbar: Elimelech, der daraufhin
gehen? Habe ich etwa noch Söhne in mei-            Betlehem verlässt, geht mit seiner Familie
nem Mutterleib, die eure Männer werden             nicht etwa nach Ägypten, das für seine
könnten? Kehrt zurück, meine Töchter!              reichen Ernten bekannt ist, sondern nach
Geht, denn ich bin zu alt für einen Mann.          Moab, das nicht gerade ein ideales Ziel für
Selbst wenn ich dächte, ich hätte Hoff-            efratitische Wirtschaftsflüchtlinge zu sein
nung, gar in dieser Nacht mit einem Mann           scheint. Denn die Moabiter gehen gemäß
zusammen zu sein und Söhne zu gebären,             biblischer Darstellung auf Moab zurück,
wollt ihr deshalb warten, bis sie groß sind?       den Lot mit einer seiner beiden Töchter
Wollt ihr deshalb euren Schoß verschlie-           gezeugt hatte, nachdem diese ihm so viel
ßen und mit keinem Mann zusammen sein?             Wein zu trinken gegeben hatte, dass er
Nicht doch, meine Töchter. Es ist mir bitter       nicht mehr wahrnahm, dass die Frau, die
Leid um euch, da die Hand Gottes sich              ihn verführte, seine eigene Tochter war
gegen mich gerichtet hat.« Da erhoben sie          (vgl. Genesis 19, 30-38). Das ist mit dem
ihre Stimmen einstimmig und weinten er-            kurzen Hinweis zu dem Namen Moab „das
neut, dann küsste Orpa ihre Schwiegermut-          heißt ›vom Vater‹“ im ersten Vers unseres
ter zum letzten Mal, Rut jedoch hängte             Predigttextes gemeint. Die Abstammung
sich an sie. Noomi entgegnete: »Sieh doch,         Moabs galt als unehrenhaft; die Moabiter
deine Schwägerin kehrt zu ihrem Volk und           hatten dementsprechend keinen allzu guten
zu ihrem Gott zurück. Folge deiner                 Ruf im jüdischen Volk. In den eingangs
Schwägerin.« Darauf sagte Rut: »Bedränge           genannten Kapiteln neun und zehn des
mich doch nicht, dich zu verlassen, mich           Esra-Buches werden auch die Moabiter
von dir abzuwenden. Denn wo auch immer             namentlich unter den Fremdvölkern ge-
du hingehst, da gehe ich hin, und wo auch          nannt, von denen sich das Volk Israel fern-
immer du übernachtest, da übernachte auch          halten soll (vgl. Esra 9, 1) und mit deren
ich. Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist        Angehörigen keine Ehen geschlossen wer-
mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich,           den sollen (vgl. Esra 9, 12 und 14). Aber
dort will ich begraben werden. Gott tue mir        zu eben diesen Moabitern zog Elimelech
alles Mögliche an, denn nur der Tod wird           angesichts der Hungersnot, um dort sich
dich und mich trennen!« Als Noomi sah,             und seine Familie zu ernähren. Ist es ein
dass sie darauf beharrte, mit ihr zu gehen,        Zufall, dass die biblische Rut-Geschichte
hörte sie auf, ihr zuzureden. So gingen die        zu den Aussagen des ebenfalls biblischen
beiden, bis sie nach Betlehem kamen.               Ersa-Buches in solch einem Widerspruch
                                Rut 1, 1-19a       steht oder ist dies womöglich bewusst in-
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tendiert? Ich halte es für nicht unwahr-            Heimat zu machen. Das ist nicht verwun-
scheinlich, dass letzteres der Fall ist. Denn       derlich, hat sie doch dort noch ein Stück
die Geschichte spielt zwar zur Zeit der             Land ihres verstorbenen Ehemannes (vgl.
Richterinnen und Richter, wie dem ersten            Rut 4, 3). Das kann ihr den Lebensunter-
Vers zu entnehmen ist, ist jedoch in                halt sichern, wenn einer ihrer Verwandten
nachexilischer Zeit verfasst worden – also          dies kauft, wozu er gemäß der Tora ver-
in der Zeit, als Nehemia und Esra wirkten.          pflichtet ist. Dass Noomi Moab verlässt, ist
Ist die Rut-Geschichte ein Gegenentwurf             somit naheliegend und keineswegs para-
zu deren Reformen, insbesondere deren               dox. Paradox ist hingegen, dass ihre beiden
Ablehnung und Ausgrenzung von Angehö-               Schwiegertöchter mitkommen möchten.
rigen anderer Völker?                               Noomi versucht, die beiden davon abzu-
Die beiden Söhne haben erst dann                    bringen. Bei Orpa hat sie schließlich Er-
moabitische Frauen geheiratet, als ihr Va-          folg; die macht ihrem Namen alle Ehre,
ter, dessen Name Elimelech die Bedeutung            kehrt Noomi den Rücken und macht sich
‚Mein Gott ist König‘ hat und somit als             auf den Rückweg in ihre Heimat Moab.
Bekenntnis zum Gott Israels verstanden              Allerdings fällt ihr diese Entscheidung
werden kann, gestorben ist. Erst dann über-         schwer und Noomi muss viele Argumente
traten sie das Verbot der Mischehe, wie es          ins Feld führen, bis Orpa sich entschließt,
im Esra-Buch überliefert ist. Dass es kei-          tränenreich von ihrer Schwiegermutter
neswegs selbstverständlich und unumstrit-           Abschied zu nehmen und zurückzukehren.
ten war, als efratitischer Mann eine                Dies ist nicht nur ein Abschied von ihrer
moabitische Frau zu heiraten, war den bei-          Schwiegermutter, sondern auch von ihrer
den Söhnen offenbar bewusst. Im weiteren            Schwägerin, denn Rut lässt sich trotz aller
Verlauf der Geschichte starben die beiden           gewichtigen Einwände Noomis nicht da-
Söhne. Es ist keineswegs zwingend, ihren            von abhalten, bei ihrer Schwiegermutter zu
Tod als Strafe für die Übertretung des Ver-         bleiben, und bringt dies in aller Deutlich-
botes der Mischehe zu verstehen, denn ihre          keit zum Ausdruck. Ich lese ihre – wie ich
beiden Namen Machlon, zu Deutsch: der               persönlich finde – bewegenden Worte noch
Schwächliche, und Kiljon, zu Deutsch: der           einmal: »Bedränge mich doch nicht, dich
Gebrechliche, können durchaus als Hin-              zu verlassen, mich von dir abzuwenden.
weise darauf verstanden werden, dass sie            Denn wo auch immer du hingehst, da gehe
nicht das sprichwörtliche biblische Alter           ich hin, und wo auch immer du übernach-
erreichen werden. Und diese Namen trugen            test, da übernachte auch ich. Dein Volk ist
sie ja bereits von Geburt an, also lange vor        mein Volk, dein Gott ist mein Gott. Wo du
ihren jeweiligen Eheschließungen. Die               stirbst, da sterbe ich, dort will ich begraben
anderen Namen, die in der Rut-Geschichte            werden. Gott tue mir alles Mögliche an,
begegnen, sind nicht weniger bedeutungs-            denn nur der Tod wird dich und mich tren-
voll. So hat der Name Noomi die Bedeu-              nen!« Diese Worte werden als Konversion
tung die ‚Liebliche‘, der Name Rut die              zum Judentum gedeutet. Somit verstößt
Bedeutung ‚die Freundin‘ und der Name               Boas nicht gegen das eingangs genannte
Orpa die Bedeutung ‚die den Rücken Keh-             Verbot der Mischehe aus dem Esra-Buch,
rende‘. Jeder dieser Namen ist somit ein            als er später Rut heiratet. Aber jetzt greife
deutlicher Hinweis auf die Rolle der jewei-         ich der Geschichte vor. Soweit sind wir
ligen Figur in dieser Geschichte.                   noch nicht. Genauer gesagt: Soweit sind
Die Geschichte der drei Witwen ist noch             Noomi und Rut noch nicht. Erst mussten
lange nicht an ihrem Ende angekommen.               sie den Weg nach Bethlehem zurücklegen.
Denn jetzt gibt es eine Wendung: In Betle-          Im letzten Vers unseres heutigen Predigt-
hem, dem Haus des Brotes, gibt es wieder            textes wird dies mit den wenigen Worten
Brot. Noomi, deren Mann und deren beide             beschrieben: „So gingen die beiden, bis sie
Söhne in Moab gestorben sind, nimmt dies            nach Betlehem kamen“ – ein Satz, der
zum Anlass, sich auf den Rückweg in ihre            dem, was die beiden Frauen geleistet ha-
Gemeindebrief Nr. 3/2021 - Juni - August 2021 - Jerusalem-Kirche
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ben, nicht so ganz gerecht wird. Denn es                  Schwägerin, die diese Konversion nicht
erforderte von den beiden Frauen viel Mut,                vollzog, sondern nach Moab zurückkehrte,
diesen Weg ohne weitere Begleitung zu-                    nicht negativ gesehen. Ihre Entscheidung,
rückzulegen. Insbesondere Rut zeigt sich                  der Aufforderung Noomis zur Rückkehr zu
hier als überaus mutig, verzichtet sie doch               folgen, wird im biblischen Text nicht kriti-
auf die familiäre Absicherung in ihrer                    siert. Und als Noomi ihren beiden Schwie-
Heimat, gibt ihre Religion auf und schließt               gertöchtern sagte: »Möge Gott euch Wohl-
sich ohne eine wie auch immer gegebene                    taten erweisen, wie ihr sie den Toten und
Absicherung Noomi an. Ein spannender                      mir erwiesen habt«, da sagte sie es beiden
Predigttext, der Lust macht, die Geschichte               – nicht nur Rut, sondern auch Orpa. Auch
von Rut und Noomi weiterzulesen – auch                    ihr, die nicht zum Judentum konvertiert,
dann, wenn man sie bereits kennt. Wirklich                wird attestiert, dass sie ihrem verstorbenen
gute Geschichten kann man gerne mehr-                     Ehemann und ihrer Schwiegermutter
mals lesen. Die Rut-Geschichte ist eine                   „Wohltaten erwiesen“ und sich somit vor-
von ihnen.                                                bildlich verhalten hat. Im hebräischen Text
Was sagt sie uns, diese Geschichte, die wir               steht an dieser Stelle das Nomen ‫חסד‬, das
in einer ganz anderen Zeit leben, in einer                die Bedeutungen „Barmherzigkeit“, „Lie-
ganz anderen Kultur unter ganz anderen                    be“, „Gunst“, „Güte“ und „Huld“ hat. Die-
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen?                     ses Nomen wird hier verwendet, um das
Ich komme auf die Frage zurück, ob die                    Verhalten einer Nichtjüdin, ja mehr noch:
Hebräische Bibel ein fremdenfeindliches                   einer moabitischen Frau, zu charakterisie-
Buch ist – zumindest in den eingangs ge-                  ren. Eine solche Darstellung ist das Gegen-
nannten Teilen aus nachexilischer Zeit.                   teil von fremdenfeindlich. Dass Orpa eine
Und mit Blick auf unseren heutigen Pre-                   Fremde ist, eine Frau aus einem fremden
digttext aus dem Buch Rut bleibe ich bei                  Volk, das keinen guten Ruf hat, ist kein
meinem klaren „Nein“ als Antwort. Denn                    Grund, sie abzuqualifizieren. Es wird deut-
in diesem biblischen Text wird gezeigt,                   lich zur Sprache gebracht, dass sie keine
dass es möglich ist, die Identität der nach-              Jüdin ist und auch keine werden wird, und
exilischen Gemeinde zu bewahren, ohne                     dass sie als eine solche Frau Respekt und
Menschen, die nicht zum jüdischen Volk                    Wertschätzung erfährt.
gehören, dabei abzuqualifizieren. Wenn                    Diese Botschaft der Rut-Geschichte ist
wir der Deutung folgen, dass Rut eine                     eine implizite Aufforderung, Fremden,
Konversion vollzogen hatte, dann steht                    Menschen mit anderem kulturellen und
außer Frage, dass sie – die künftige Ur-                  religiösen Hintergrund, mit Respekt und
großmutter von König David – damit eine                   Wertschätzung zu begegnen. Diese Auf-
Jüdin geworden war. Sie hatte aus freien                  forderung ist in unserer gegenwärtigen
Stücken die Tora angenommen. Dem ent-                     Gesellschaft nicht weniger aktuell als in
spricht, dass das Buch Rut im synagogalen                 der nachexilischen Zeit, in der das Buch
Gottesdienst zu Schawuot gelesen wird, im                 Rut verfasst wurde. Nehmen wir sie uns zu
Rahmen des jüdischen Festes, über das der                 Herzen und tragen wir auf diese Weise
liberale Rabbiner Max Dienemann schrieb,                  unseren Teil dazu bei, das Miteinander in
es sei „der Festtag der Tora schlechthin“                 unserer Gesellschaft so zu gestalten, wie es
(Max Dienemann, Schawuot, in: Friedrich                   der Tora entspricht!
Thieberger [Hg.], Jüdisches Fest – Jüdischer
                                                          Amen.
Brauch. Nachdruck der im Jahre 1937 von den
nationalsozialistischen Behörden beschlagnahmten
und vernichteten Erstauflage, Königstein/Ts. 31985,
S. 280-287, hier S. 283). Zugleich wird ihre                                * * *
Gemeindebrief Nr. 3/2021 - Juni - August 2021 - Jerusalem-Kirche
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                Baubeginn der Jerusalem-Kirche vor 110 Jahren
                                   von Dr. Michael Arretz

In der letzten Ausgabe des Jerusalem-              sen, was wir tun werden und mit welchen
Briefes hatten wir beschrieben, wie auf            Partnern wir was unternehmen werden.
Initiative von Pastor Arnold Frank in              Angesichts der Haushaltslage und der an-
Hamburg Eimsbüttel das Jerusalem-                  stehenden Sanierungsmaßnahmen werden
Ensemble aus Kirche, Krankenhaus und               die uns bislang angebotenen Pachterträge
Diakonissenhaus entstanden ist. Hierbei            bei weitem nicht ausreichend sein. So müs-
kam es nicht nur auf den großen Traum              sen wir weiter an Ideen und Konzepten
von Arnold Frank an, sondern auch auf              arbeiten und das tun wir in einer Arbeits-
einen genialen Architekten wie Johannes            gruppe aus Mitgliedern des Kirchenge-
Grotjan und Gönner wie Hermann Fölsch.             meinderates. Denn es gilt zu bedenken und
Nunmehr jährt sich zum 110. Male der               abzuwägen, wie sich die Vielzahl der Ideen
Spatenstich mit Grundsteinlegung für un-           in einem architektonischen Konzept um-
sere Kirche. Am 8. August 1911 war der             setzen lässt und wie sich dann möglicher-
feierliche Akt und dies ist Grund genug für        weise ein Betrieb realisieren lassen würde.
uns, dies zu fei-                                                            Aktuell machen
ern. Zumal der 8.                                                            wir das mit der
August 2021 ein                                                              Verpachtung der
Sonntag ist und                                                              Parkplätze    und
dazu noch der                                                                der Vermietung
Israel-Sonn-tag.                                                             der Wohnungen
Mehr geht nicht                                                              in dem ehemali-
und wir werden                                                               gen Schwestern-
alles für eine                                                               wohnheim. Und
schöne feierliche                                                            wie schon unsere
Stunde vorberei-                                                             Altvorderen das
ten. Wie sich das                                                                Diakoniewerk
dann realisieren                                                             gegründet haben,
lässt, wird sich                                                             um den Betrieb
zeigen. Wir sind                                                             im Krankenhaus
auf jeden Fall jetzt schon frohen Mutes und        sicherzustellen, so wäre die Gründung ei-
freuen uns, alle Glieder und Freunde der           ner Stiftung auch eine Möglichkeit, um den
Gemeinde hiermit einzuladen. Dann kön-             Betrieb von verschiedenen Konzepten zu
nen wir sicher auch mehr über den Fort-            gewährleisten. Natürlich werden wir nach
gang der Planungen für die Nutzung des             den weiteren Gesprächen Sie als Gemein-
Grundstücks berichten. Seit Herbst letzten         deglieder einbeziehen und später Nachbarn
Jahres haben wir viele Gespräche geführt           und eben die Interessenten für die Nutzung
mit Architekten und Investoren, mit Inte-          von Flächen. Wir gehen heute im Mai
ressenten, Nachbarn, Behörden und der              2021 davon aus, dass wir bei der Feier zum
Vertreter*innen der Politik. Fazit ist, dass       110. Jahrestag der Grundsteinlegung unse-
unser Grundstück in dieser Lage für alle           rer Jerusalem Kirche mehr wissen und
Gesprächspartner sehr interessant ist und          schon was planen können.
wir uns als Gemeinde nun überlegen müs-

                                           * * *
Gemeindebrief Nr. 3/2021 - Juni - August 2021 - Jerusalem-Kirche
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                                    Post aus Kibakwe
                                     von Helga Kießling

Zweimal Post aus Kibakwe: ein Neujahrs-            ist, in wenigen Wochen einmal wieder
brief und eine Osterkarte, dazwischen viele        nach Dodoma reisen zu können. Aber diese
Telefongespräche. Worüber haben wir ge-            sich abschwächende zweite Coronawelle
sprochen? Über Coro-                                                  hat Trauer über Tan-
na natürlich. Wir sind                                                sania gebracht, denn
am Telefon gemein-                                                    am 17. März ist Präsi-
sam den Weg durch                                                     dent Magufuli gestor-
diese, wie Padré Ce-                                                  ben. Die Men-schen
lestine sie in seinem                                                 weinten um ihn und
Brief nennt, „wirre“                                                  beteten, dass sein Weg
Zeit gegangen. Wir                                                    fortgesetzt    wer-den
teilten diese eine Sor-                                               möge, sagte mir Padré
ge und erlebten ge-                                                   Celestine am Telefon.
meinsam die Freude,                                                   Und das hat die Nach-
auf die Frage: „Wie                                                   folgerin im Amt, Sa-
geht es euch?“ „Uns geht es gut.“ zu hören         mia Suluhu Hassan, versprochen.
und das gleiche auch sagen zu können.
Die Infektionen nehmen in Tansania weiter          Von hier an soll nur noch Padré Celestine
ab, sodass Padré Celestine zuversichtlich          sprechen:

                   Padr Celestines Brief vom 22. Dezember 2020
        In Dodoma gestempelt am 21. Januar 2021, erhalten am 2. Februar 2021

Wir alle zusammen, die Familie, die                kann nicht über das Jahr 2020 sprechen,
Freunde in Hamburg, die in Kurio und               ohne Corona zu erwähnen. Es fing vor
Kibakwe, wir alle danken Gott dafür, dass          2020 an und erfasste Schritt für Schritt fast
wir bald das neue Jahr 2021 erblicken wer-         die ganze Welt und ist bis heute ihre Be-
den. Viele hätten es auch gern erblickt,           drohung. Bei vielen Menschen führte die
können es aber wegen der vielen Heraus-            Ansteckung zum Tode, manche erkrank-
forderungen nicht.                                 ten, starben aber nicht. Tansania war, wie
Vor ein paar Tagen erhielt ich Eure Päck-          andere Länder auch, davon nicht ausge-
chen und auch das Geld, das Ihr geschickt          schlossen. Allerdings starben nicht viele
habt. Es ist eine große Hilfe für viele Men-       Menschen, aber sie machten eine furchtba-
schen hier in Kibakwe und auch in Kurio,           re Erfahrung.
ganz besonders in dieser wirren Zeit. Am           Corona-Überblick: Corona fing in China
meisten freut es mich, dass die ganze Fa-          an und breitete sich von dort sehr schnell
milie und alle Freunde gesund sind.                von Land zu Land aus, von einem Konti-
Das Jahr 2020 war auf seine ganz eigene            nent zum anderen. Diese Schnelligkeit
Weise ein unvergessliches, von seinem              verunsicherte viele Menschen und sogar
Anfang bis zu seinem Ende. Corona ist es,          die WHO. Verunsicherung also, wie ich
und es hat die ganze Welt erfasst. Obwohl          schon sagte, nicht nur bei den großen Or-
wir in verschiedenen Kontinenten leben,            ganisationen, sondern auch bei einzelnen
weit entfernt voneinander, so fühlen wir           Menschen. Im April gab die WHO be-
uns trotz der geographischen Ferne einan-          kannt, dass es in kurzer Zeit in den Län-
der ganz nah. Aber Corona hat auf seine            dern der Dritten Welt zu einem Massen-
ganz eigene Art Grenzen gezogen. Man               sterben kommen werde. Diese Bekanntma-
Gemeindebrief Nr. 3/2021 - Juni - August 2021 - Jerusalem-Kirche
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chung verstärkte die Spannungen zwischen           Stadtratswahl. Alles verlief gut. Dr. John
den Ländern und sogar zwischen den Men-            Magufuli wurde für weitere fünf Jahre
schen in den Ländern der Dritten Welt.             wieder gewählt. Die CCM wird gegenüber
Tansania, als eines dieser Länder, hörte           den Oppositionsparteien immer stärker.
nicht darauf, ging seinen eigenen Weg und          Magufuli hat in den fünf Jahren seiner Prä-
unterschied sich somit von den anderen.            sidentschaft Tansania von der Armutsstufe
Aber dabei erlebten wir so Schreckliches,          auf die mittlerer wirtschaftlicher Entwick-
wie es das im ganzen Leben noch nicht              lung angehoben. Das wurde in der ganzen
gegeben hatte. Nachdem weltweit der                Welt wahrgenommen. Allerdings leben die
Lockdown bekannt gegeben worden war,               Menschen immer noch in Armut. Er hat
traute keiner mehr dem anderen, ob Mann            noch vieles andere Gutes getan, das wir
oder Frau, und keiner ging aus, um das             Tansanier als ein Zeichen der Hoffnung
Lebensnotwendige zu besorgen. Corona               und Ermutigung für die Zukunft nicht ver-
befiel besonders die Städte, die von Men-          gessen sollten. Wir haben einen sehr star-
schen aus aller Welt aus verschiedenen             ken Präsidenten, einen mutigen, nie verza-
Gründen besucht werden, z.B. Dar es                genden Mann. Tansania bzw. der gesamte
Salaam, Arusha, Tanga und andere große             afrikanische Kontinent braucht starke
Städte. In Dodoma erkrankten wenige                Männer wie Magufuli, um die Menschen
Menschen, einige starben, unter ihnen auch         erkennen zu lassen, dass wir mutig sein
einer unserer Priester. Obwohl es nur in           können, dass wir überhaupt etwas können.
wenigen Städten Corona gab, stand das              Die negative Seite: Sie bewegt mich zu-
ganze Land in großer Unruhe. Viele Men-            tiefst, denn etwas hat die ganze Welt ge-
schen flohen aus den Städten in ihre Dör-          troffen und führte zu einer großen Verän-
fer. Wie Ihr Euch vorstellen könnt, waren          derung im Leben der Menschen und ihrem
in allen Dörfern Menschen aus den Städ-            Verhalten. Es war, und es ist, ist immer
ten. Es waren viele Jugendliche, die, um           noch schwer, etwas darüber zu sagen. Was
besser leben zu können, ihr Heimatdorf             darüber denken! Was dazu sagen! Was
verlassen hatten, um in der Stadt Arbeit zu        sich vorstellen! Aber es hat unvergessliche
suchen. 2020 kehrte sich alles um, von der         Geschichte geschrieben. – COVID 19 –
Stadt ins Dorf. Stellt Euch nun die Situati-       Die ganze Welt ist in Sorge. Ich möchte
on in den Dörfern vor. Dort wussten die            etwas darüber sagen, wie Covid 19 die
Menschen von dem tödlichen Coronavirus             Lebensweise der Tansanier beeinflusst.
in den Städten und dass von dort die Men-
schen in die Dörfer flüchteten.                    9.1.2021
                                                   In ganz Afrika gibt es viele Krankheiten,
6.1.2021                                           die die Menschen hier durchmachen.
Das Jahr 2020 kann wegen der vielen Er-            Durchfall zum Beispiel und andere Krank-
eignisse nicht vergessen werden. Manche            heiten, die sie befallen. Für gewöhnlich
waren schlecht und manche gut. Ich begin-          treten sie in kleinen Bereichen auf, und die
ne mit den guten. 2020 war ein Jahr, das           Menschen sind nicht sehr besorgt, weil es
vielversprechend anfing, das heißt, es reg-        ihnen nicht schwer fällt, sie wieder loszu-
nete im ganzen Land. Und das ist wichtig           werden. Corona ist eine neue Erfahrung für
für die Tansanier, weil die meisten von            die gesamte Welt, für alle Kontinente, für
ihnen von der Landwirtschaft abhängen:             alle Menschen, arme und reiche, hoch ge-
kein Regen, keine Landwirtschaft. Zum              lehrte und weniger gelehrte, gebildete und
Teil hat es zu viel geregnet. Das hat viele        ungebildete. Alle sitzen im selben Boot.
Felder zerstört.                                   Als das Virus noch auf China begrenzt
                                                   war, gab es besonders in den technologisch
Seite 2                                            entwickelten Ländern Überlegungen, wie
Das Jahr 2020 war auch ein Wahljahr: Par-          seine Ausbreitung verhindert werden kön-
lamentswahl, Präsidentschaftswahl und              ne. Es wurde angenommen, dass Covid 19
9

besonders in den Ländern der Dritten Welt          Andererseits hat Corona, trotz seiner Be-
die meisten Opfer fordern werde. Das Vi-           drohung für alle Kontinente, einen positi-
rus verbreitete sich im Nu. Es erfasste jede       ven Effekt. Es hat die ganze Welt dazu
Nation, brachte die Welt zu einem gemein-          gebracht, eins zu werden. Alle Menschen
samen Schrei, stellte alle auf dieselbe Ebe-       haben einen gemeinsamen Feind und ver-
ne, egal ob reich oder arm. Jeder bemühte          suchen einen Weg zu finden, um ihn los-
sich ums Überleben, wo und wie er sein             zuwerden. – Dann haben
Leben retten konnte. WHO sagte im letzten
Jahr voraus, dass in Afrika viele Menschen         Seite 3
an Covid 19 sterben würden, und die Afri-          sich viele Menschen Gott zugewandt. So-
kaner hätten keine Möglichkeit, die Toten          gar diejenigen, die nicht an Gott gedacht
zu begraben, weil es überall zu viele wä-          haben, fingen an, zu ihm zu beten. – Auch
ren. Das brachte Afrika in große Sorge,            haben Menschen durch diesen Feind ange-
auch Tansania als einen Teil davon. Aber           fangen, darüber nachzudenken, dass nur
unser Präsident dachte anders darüber. Er          Einer, und das ist Gott, die Antwort auf
sagte erstens: „Niemand wird ewig leben.           dieses Problem sein könne, denn alle Men-
Wird einer geboren, muss er auch sterben,          schen sitzen in einem Boot. Keiner steht
auf welche Weise, das ist gleich. Darum            über Gott.
hört auf, euch zu fürchten.“ Zweitens: „Al-        Die negative Seite: Corona hat die mensch-
le müssen den Anweisungen der                      liche Entwicklung zerstört: Wirtschaft,
Gesundheitsorganisa-tionen Folge leisten.“         Bildung, Gesellschaft, Zukunftspläne,
Drittens: „Jeder muss hart arbeiten, denn          Hoffnung etc. – Die FAO hat einen Nah-
wenn wir nicht arbeiten, könnte das zu             rungsmangel vorausgesagt, der in der gan-
mehr Toten führen, als vorausgesagt wor-           zen Welt zu weiteren Toten führen werde.
den sind.“ Viertens: „Die ganze Nation             Lasst uns alle zu Gott beten, damit die
muss sich Gott zuwenden, denn nur Gott             Hoffnung besteht, eine Lösung für dieses
kann seine Menschen retten oder ihnen den          Problem zu finden.
Himmel verschließen. Darum überlasst               Ich wünsche Euch allen das Beste, und
alles dem allmächtigen Gott und lasst uns          viele Grüße an die ganze Familie, an alle
weiterma-chen in unserem täglichen Tun.“           Freunde und alle Menschen, die mich ken-
Man kann es nicht glauben, aber die Ge-            nen, in Hamburg, Kiel und anderen Orten
danken unseres Präsidenten Dr. John                in Deutschland. Lasst uns nicht aufhören,
Pombe Magufuli berührten jeden. Jeder              füreinander zu beten.
beruhigte sich, setzte seine Hoffnung auf
Gott und lebte wie zuvor. – Bis jetzt gab es       gez. Celestine Lipambile
in den Städten Tansanias sehr wenige Tote,         Übersetzt von Helga Kießling
und die Menschen leben ihr Leben wie
gewohnt. Das ist Tansania.

       Padré Celestines Osterkarte
           vom 19. März 2021
     Poststempel: Dodoma 29. März 2021
          Zustellung: 13. April 2021
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Es ist eine schwere Zeit wegen Coro-
na. Corona fordert Menschenleben in
der ganzen Welt. Jeder ist voller
Zweifel, jeder fürchtet sich und,
schlimmer noch, jeder fürchtet sich
vor jedem. Keiner kann vertrauensvoll
neben einem anderen stehen, sitzen
oder ihm die Hand geben. Corona hat
Familien getrennt, Freunde, Nachbarn
und andere. Corona hat alles schwer
gemacht. Wir können nirgendwohin
fahren, um das täglich Notwendige zu
besorgen. Wir hier in Kibakwe, wie in
anderen Dörfern, Kurio z.B., müssen
für unsere Bedürfnisse in die Stadt
fahren. Für uns ist es schwer gewor-
den, auch nur Salz und dergleichen zu
bekommen.                                           dieser Osterzeit für Euch und für die ganze
Corona ist für jeden eine Bedrohung ge-             Welt.
worden, aber glücklicherweise nehmen in             Ich wünsche Euch frohe Ostern.
diesem Monat März, im Vergleich zu Ja-              (Die Unterschrift fehlt. Es war für sie kein
nuar und Februar, die Infektionen immer             Platz mehr auf der Karte.)
weiter ab. Wir beten darum, dass es weiter
besser werden möge. Auch beten wir in               Übersetzt von Helga Kießling.

                                              * * *

                       Gedanken zum Monatsspruch im Juni 2021
             „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
                        (Apostelgeschichte 5, 29)
                                     von Oliver Haupt

Vor rund 2000 Jahren in Jerusalem, in der           Aber die Apostel haben weiterhin offen
ersten Phase der noch jungen christlichen           und mit ungebrochenem Sendungsbe-
Glaubensgemeinschaft, werden die Apos-              wusstsein auf den Plätzen und in den Säu-
tel zu einer behördlichen Befragung vorge-          lenhallen des Tempels ihren Glauben in
laden. Sie hatten gegen staatliche Auflagen         Rede und Gespräch vertreten und damit
verstoßen. Zum Schutz der öffentlichen              für Menschenansammlungen und geistige
Ordnung und im allgemeinen Interesse                Unruhe gesorgt. Doch jetzt wollen die
hatten die staatlichen Institutionen der            Behörden das nicht weiter durchgehen
neuen Glaubensgemeinschaft die freie                lassen und sie laden die Apostel polizeilich
Entfaltung verweigert. Das Team Vorsicht            vor. „Wie kommt ihr dazu, gegen die Auf-
hatte sich durchgesetzt. Die Regierung              lagen zu verstoßen? Die verhängten Maß-
erließ gegenüber den Aposteln eine Ver-             nahmen waren unmissverständlich, mit
ordnung: Ihr unterlasst das öffentliche             besten Gründen und im allgemeinen Inte-
Predigen im Namen Jesu von Nazareth,                resse, außerdem absolut notwendig und
ansonsten drohen euch Konsequenzen.                 verhältnismäßig!“, entrüsten sich die Ver-
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antwortlichen angesichts des zivilen Un-            Tatkraft und ihres Lebensmutes. Und so
gehorsams der Überzeugungstäter. Die                mussten sie nicht lange abwägen und grü-
Antwort, die von Petrus und den anderen             beln, um sich klar zu sein: Nein, wir sind
Aposteln überliefert ist, hat es in sich:           eben nicht die Gefährder, die man auf Ab-
„Man muss Gott mehr gehorchen als den               stand halten und einsperren muss, so wie
Menschen“. Und das ist nun auch noch                es die Verantwortlichen gerne darstellen
unser biblischer Leitspruch für den Monat           würden. Nein, wir bringen im Gegenteil
Juni. Ach du meine Güte! Wo kämen wir               mit unserer Verkündigung ein Stück Hei-
denn da hin, wenn somit jeder Sektenfüh-            lung in eine gespaltene, ängstliche, aggres-
rer mit dem schlichten Verweis auf Gott             sive Welt, in eine Gesellschaft, in der der
nach Gutdünken staatliche Anordnungen               Zündstoff immer mehr wird und in der
ignorieren dürfte? In der Tat: Den Willen           dringend neue Hoffnung gebraucht wird.
Gottes gegen den Willen des Staates aus-            In einer gefährlichen Welt finden sich im-
spielen, das wirft weitreichende Fragen             mer Gründe, um das Leben einzuschrän-
auf: Wer stellt den Willen Gottes fest?             ken. Das Evangelium aber dient der Be-
Und was ist, wenn dieje-                                              freiung des Einzelnen
nigen sich gar nicht einig                                            von der Lebens-Angst.
werden, weil sie unter-                                               Die Welt mag gefährlich
schiedlichen Glaubens-                                                sein; das war sie immer
gemeinschaften angehö-                                                und wird sie immer blei-
ren? Und wie ernst dürfte                                             ben. Doch als Christ be-
eine    staatliche    Ord-                                            kommst du den Geist,
nungsmacht solch einen                                                der dir Freimut gibt.
vermeintlichen göttlichen                                             Menschen mit dem Geist
Willen nehmen, ohne                                                   Gottes ziehen sich nicht
sich selbst auszuhöhlen?                                              aus Angst und Unsicher-
Welche Einschränkungen                                                heit zurück, und sie las-
aber wären andererseits                                               sen sich auch nicht durch
eine ungerechte Schika-                                               Angst und Unsicherheit
ne? All das wird dann zur                                             einsperren. Das christli-
Frage. Für Juristen. Für                                              che Zeugnis stellt eine
Kirchliche Räte. Für lei-                                             letztgültige Zuversicht in
tende Beamte der Exeku-                                               den Raum, es atmet eine
tive. Aber nicht für die Apostel damals.            ultimative Hoffnung, aus der eine heilende
Ihnen stellen sich all diese Fragen nach            Kraft freigesetzt wird. Diese Heilkraft
Prinzipien und Präzedenzfällen nicht. Sie           schafft Distanz zu Angst und Lähmung.
stehen als kleine Gruppe, sogar nur als             Die Freiheit des Heiligen Geistes immuni-
einige wenige Einzelpersonen, in einer              siert gegen die Enge falscher Sicherheiten,
sehr persönlichen, sehr individuellen Ge-           die zu Gefängnissen werden. Nein, ein
wissensentscheidung. Sie hatten keine               Mensch, der den lebendigen Geist Jesu am
allgemeine, politisch, juristisch und theo-         eigenen Leibe und in der eigenen Seele
logisch abgesicherte Position, auch keine           erlebt, darf sich nicht bereitwillig unter-
rhetorisch und diplomatisch ausgefeilte             ordnen unter verordnete Angst und Enge.
Handreichung zum Nachschlagen. Was sie              Er ist der Hoffnung verpflichtet, und der
hatten, das war so schlicht wie faszinie-           heilenden Botschaft von Jesus, dem Hei-
rend: Sie hatten den Freimut des Heiligen           land, die von Mensch zu Mensch muss und
Geistes (vgl. Apg. 4,29.31); und diesen             nicht still zurückbehalten werden darf. Sie
Geist, den Geist Gottes, den kannten sie            muss geteilt werden, immer weiter geteilt
persönlich und sehr gut aus ihrem Leben             und mitgeteilt, im Wort, im Brot, im Lä-
und ihren Erfahrungen mit Gott. Er war ihr          cheln, im Segen, in der Begegnung, von
täglicher Begleiter, er war die Quelle ihrer        Angesicht zu Angesicht, von Hand zu
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Hand. Ja, wir müssen Gott mehr gehor-               Apostel haben es schon damals richtig
chen als den Menschen. Petrus und die               erkannt.

                                           * * *

                        Gedanken zum Monatsspruch im Juli 2021
     „Gott ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben,
               weben und sind wir.“ (Apostelgeschichte 17, 27)
                            von Dr. Hans-Christoph Goßmann

„… in ihm leben, weben und sind wir“ –              Bedeutung dieser Stadt zur Zeit des Apos-
eine solche Aussage über Gott aus dem               tels Paulus keineswegs mehr so groß wie in
Mund des Paulus? Dies ist eine bemer-               der Antike. Diese Stadt war zu seiner Zeit
kenswerte Formulierung, die die Frage               weder Metropole noch philosophisches
aufwirft: Wo hat sich der Apostel so geäu-          Zentrum, sondern eher Provinzstadt. In
ßert? Die Antwort auf diese Frage: in               diesem Abschnitt aus der Apostelgeschich-
Athen. Dort wartete er auf Silas und Timo-          te wird jedoch auf die frühere Bedeutung
theus. Während er dies tat, lernte er die           Athens zurückgegriffen und somit eine
Stadt näher kennen und vor allem deren              Kulisse für eine idealtypische Auseinan-
Religiosität. Was er dabei sah, entsetzte           dersetzung zwischen Philosophie und
ihn. Es „ergrimmte sein Geist in ihm, als er        Christentum geschaffen.
die Stadt voller Götzenbilder sah“ (Apos-           Diese Auseinandersetzung findet auf dem
telgeschichte 17, Vers 16b). Da konnte er           Areopag statt. Dort hält Paulus die Rede,
nicht schweigen. Und das tat er auch nicht;         der der Monatsspruch für den Monat Juli
„er redete zu den Juden und den Gottes-             entnommen ist. In ihr verkündigt er den
fürchtigen in der Synagoge und täglich auf          Athenern seinen christlichen Glauben. Dies
dem Markt zu denen, die sich einfanden“             tut er, indem er versucht, Brücken zwi-
(Vers 17). Das wurde zwar gehört, löste             schen christlichem Glauben und griechi-
aber keineswegs Begeisterung aus, sondern           scher Philosophie zu bauen: „Ich bin um-
vielmehr Streit: „Einige Philosophen aber,          hergegangen und habe eure Heiligtümer
Epikureer und Stoiker, stritten mit ihm.            angesehen und fand einen Altar, auf dem
Und einige von ihnen sprachen: Was will             stand geschrieben: Dem unbekannten
dieser Schwätzer sagen?“ (Vers 18a). Das            Gott“ (Vers 23a). Ob es einen Altar mit der
griechische Substantiv σπερμολόγος, das             Aufschrift „Dem unbekannten Gott“ gege-
Luther an dieser Stelle als „Schwätzer“             ben hat, ist unklar. Epigraphisch und litera-
übersetzt, heißt wörtlich: „Körnerpicker“.          risch belegt sind derartige Aufschriften
Hinter dieser Bezeichnung steht der durch-          lediglich im Plural: den unbekannten Göt-
aus berechtigte Vorwurf, dass Paulus mit            tern. In jedem Fall ist die Lutherüberset-
der griechischen Philosophie sehr eklek-            zung an dieser Stelle nicht ganz korrekt, da
tisch umgeht; er pickt sich einzelne philo-         es an dieser Stelle wörtlich heißt: „einem
sophische Aussagen wie Körner heraus.               unbekannten Gott“ und nicht: „dem unbe-
Es drängt sich die Frage auf: Paulus und            kannten Gott“.
Athen – passt das zusammen? Denn hier               Paulus fährt fort, indem er Gott als den
treffen gleichsam zwei Welten aufeinander           Schöpfer der Welt bezeichnet: „Gott, der
– die philosophische Tradition der Grie-            die Welt gemacht hat und alles, was darin
chen und das noch junge Christentum.                ist“ (Vers 24a). Das ist ein Anknüpfungs-
Athen repräsentiert hier gleichsam die              punkt an die griechische Philosophie, denn
griechische Philosophie. Dabei war die              in ihr wird durchaus auch vom „Schöpfer
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des Kosmos“ gesprochen. Auch seine Aus-                Interpretationsmöglichkeiten vor Augen
sage, dass Gott nicht darauf angewiesen                hatten, als sie das Zitat aus dem Munde des
ist, von Menschen bedient zu werden (Vers              Paulus hörten. Diese kritische Anfrage gilt
25: „Auch lässt er sich nicht von Men-                 auch für das weitere Zitat in diesem Vers:
schenhänden dienen wie einer, der etwas                „Wir sind seines Geschlechts“. Dies ist das
nötig hätte, da er doch selber jedermann               einzige explizite Klassikerzitat im gesam-
Leben und Odem und alles gibt.“), hat ihre             ten Neuen Testament. Hier zitiert der luka-
Entsprechung im aufgeklärten griechischen              nische Paulus den fünften Vers aus dem
Denken. Paulus verknüpft hier biblische                Lehrgedicht ‚Phainomena‘ des Stoikers
Sprache mit der Begrifflichkeit dieses                 Aratus von Soloi (3. Jahrhundert v.Chr.),
Denkens.                                               der aus der kilikischen Heimat des Paulus
Im zweiten Teil seiner Rede thematisiert er            stammte und am Hof der Ptolemäer in
die Beziehung von Gott und Mensch. In                  Ägypten lebte. In diesem Lehrgedicht wird
diesem Zusammenhang steht der Monats-                  Zeus für seine Fürsorge für den Menschen
spruch für den Monat Juli: „Gott ist nicht             gelobt, die darin ihren Ausdruck findet,
ferne von einem jeden unter uns. Denn in               dass er den Menschen die Kenntnis der
ihm leben, weben und sind wir.“ Die Aus-               richtigen Zeiten für Aussaat und Ernte gibt.
sage in dessen erstem Satz, dass Gott                  Diese Worte, bei denen es sich um die
„nicht ferne von einem jeden unter uns“                zweite Hälfte eines Hexameters handelt,
ist, ist wieder ein Brückenschlag zwischen             standen in ähnlicher Form auch in einem
biblischen Aussagen, die die Nähe Gottes               Zeus-Hymnus des Stoikers Kleanthes. Mit
betonen, und entsprechenden philosophi-                der Aussage, dass die Menschen vom Ge-
schen Aussagen. So lesen wir etwa bei                  schlecht des Zeus und somit göttlichen
Seneca: „Gott ist dir nahe, ist mit dir, ist in        Geschlechts sind, wird die Vorstellung von
dir“ (Epistolae 41, 1). Und dann geht Pau-             Zeus als „Vater der Götter und Menschen“
lus noch einen Schritt weiter, indem er                aufgenommen. Auch hier versucht Paulus,
nicht lediglich indirekt Bezüge zwischen               eine Brücke zwischen griechischer Religi-
biblischem Glauben und Philosophie zur                 osität und biblischem Glauben zu bauen,
Sprache bringt, sondern griechische Tradi-             aber auch hier ist zu fragen, ob dadurch
tion direkt zitiert, wenn er sagt: „Denn in            nicht eine grundlegende Differenz zwi-
ihm leben, weben und sind wir; wie auch                schen ihnen überspielt wird. Denn der bib-
einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir              lische Monotheismus und die griechische
sind seines Geschlechts“ (Vers 28). Die                polytheistische Götterwelt sind nicht kom-
eingangs begegnende stoische Dreierfor-                patibel.
mel „in ihm – griechisch: ἐν αὐτῷ – leben,             Das wird spätestens am Ende der Areo-
weben und sind wir“ ist pantheistisch ge-              pagrede deutlich, in dem Paulus seine Zu-
dacht; Gott wird als immanent im Men-                  hörer zur Buße, zur Umkehr aufruft und
schen verstanden. Das ist eindeutig kein               das bevorstehende Gericht Gottes ankün-
biblisch-theologisches Denken. Wenn aber               digt. Paulus begründet diesen Bußruf chris-
die Präposition ἐν nicht lokal, sondern in-            tologisch: „Denn er hat einen Tag festge-
strumental verstanden wird, sodass ἐν                  setzt, an dem er den Erdkreis richten will
αὐτῷ dann nicht bedeutet „in ihm“, son-                mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den
dern „durch ihn“, dann entspricht dies                 er dazu bestimmt hat, und hat jedermann
durchaus biblischer Theologie. Und die                 den Glauben angeboten, indem er ihn von
Präposition ἐν kann – wie ihr hebräisches              den Toten auferweckt hat“ (Vers 31). Die-
                                                       se christologische Begründung des Buß-
Pendent ‫ – ב‬beide Bedeutungen haben. Die
                                                       rufes werden die Zuhörer des Apostels als
Art und Weise, in der Paulus hier griechi-
                                                       befremdlich empfunden haben, denn die
sche Tradition zitiert, ist jedoch mit einem
                                                       Vorstellung einer Auferstehung dessen, der
Fragezeichen zu versehen. Denn es darf
                                                       als Richter aller Menschen fungieren wird,
bezweifelt werden, dass seine griechisch
                                                       steht quer zu ihren Vorstellungen. Hier gibt
denkenden Zuhörer diese unterschiedlichen
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es keine Anknüpfungspunkte, die zur grie-           telgeschichte zu entnehmen ist: „Einige
chischen polytheistischen Religion Brü-             Männer schlossen sich ihm an und wurden
cken bauen. Die überwiegende Reaktion               gläubig; unter ihnen war auch Dionysius,
auf die Areopagrede des Paulus bestand              einer aus dem Rat, und eine Frau mit Na-
dementsprechend aus Spott oder Desinte-             men Damaris und andere mit ihnen“ (Vers
resse: „Als sie von der Auferstehung der            34). Verglichen mit anderen Missionser-
Toten hörten, begannen die einen zu spot-           folgen ist dieses Resultat sicher als ziem-
ten; die andern aber sprachen: Wir wollen           lich bescheiden zu bezeichnen. Als Paulus
dich darüber ein andermal weiterhören“              und Barnabas zum zweiten Mal in der Sy-
(Vers 32), sodass Paulus von dannen zog:            nagoge in Antiochia in Pisidien sprachen,
„So ging Paulus von ihnen“ (Vers 33). Das           hatte dies einen ungleich größeren Erfolg,
Gespräch war beendet. Es war – um es mit            wie im dreizehnten Kapitel der Apostelge-
den Worten von Martin Buber zu sagen –              schichte zu lesen ist. Dort heißt es: „Als
eher eine Vergegnung denn eine Begeg-               das die Heiden hörten, wurden sie froh und
nung. Die an diesem Treffen Beteiligten             priesen das Wort des Herrn, und alle wur-
haben aneinander vorbeigeredet und dazu             den gläubig, die zum ewigen Leben be-
hat Paulus durch seine Art der Gesprächs-           stimmt waren. Und das Wort des Herrn
führung beigetragen – und zwar nicht zu             breitete sich aus in der ganzen Gegend“
knapp.                                              (Verse 48f.). Den Gesprächsbemühungen
Dennoch war das Gespräch, das Paulus auf            des Apostels Paulus auf dem Areopag war
dem Areopag geführt hat, nicht sinnlos; es          dagegen kein dem entsprechender Erfolg
war nicht erfolglos geblieben, wie dem              beschieden. Aber er hat mit seinen Worten
letzten Vers der Darstellung der Areo-              dennoch einige seiner Gesprächspartner
pagrede im siebzehnten Kapitel der Apos-            erreichen und berühren können.

                                           * * *

                      Gedanken zum Monatsspruch im August 2021
       „Neige, HERR, Dein Ohr und höre! Öffne, HERR, Deine Augen
                     und sieh her!“ (2. Könige 19, 16)
                                     von Dorothea Pape

                                                    uns über die Geographie: Assur wollte
„Gott schuf den Krieg, damit die Amerika-           Jerusalem einnehmen und belagerte es,
ner Geographie lernen.“ Mark Twain, US-             absolut siegessicher. Man wollte seine
amerikanischer Schriftsteller, 1835-1910            Landkarten erweitern und neu schreiben.
(Quelle:                   https://beruhmte-        Der Spruch steht im 2. Buch der Könige.
zitate.de/themen/lernen) Ob man überhaupt           Was wissen wir? „Die Bücher über die Zeit
über Kriege in dieser Art Witze machen              der Königinnen und Könige schildern die
kann, ist mir fraglich. Bei Mark Twain ist          Geschichte der monarchischen Herrschaft
es aber irgendwie erträglich. Immerhin              in Israel und Juda: sie setzen in den letzten
lebte er zur Zeit der Befreiungskriege für          Tagen Davids ein, erzählen von der Thron-
die Sklaven in Amerika und beim ersten              nachfolge durch Salomo sowie der Reichs-
Lesen habe ich gelacht. Man sollte die Orte         teilung nach seinem Tod und verfolgen die
kennen… Im Altertum sagte man sogar:                Entwicklung der beiden getrennten Reiche
der Krieg ist der Vater aller Dinge (Herak-         Israel und Juda bis zu ihrem jeweiligen
lit). Nun ja! Der Monatsspruch für den              Untergang.“ (Bibel in gerechter Sprache S.
August wird mitten im Krieg, angesichts             555f.) Sie erzählen, wenn man so will, den
einer großen Bedrohung zum ersten Mal               Zeitraum nach der Errichtung des Großrei-
ausgesprochen, gebetet! Und so nähern wir           ches durch David bis zur Zerstörung des
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Ersten Tempels, bis zur Wegführung der             tern kann? Oder ist es so, als wenn eine
Oberschicht Israels nach Babylonien.               Mutter oder ein Vater in die Hocke gehen
Das Anliegen der Königsbücher ist nicht            und einem Kind auf Augenhöhe zuhören?
so sehr, die Geschichtsschreibung zu do-           Es geht auf jeden Fall nach unten oder in
kumentieren, als vielmehr die Einstellung          die Schräge. Wer das Ohr neigt, wendet
der Herrschenden und des Volkes zum                sich sehr deutlich einem anderen zu… Der
Gott Israels zu „beleuchten“ und die gro-          Befund der Konkordanz (eine Art Wortfin-
ßen, vernichtenden Katastrophen, denen             dungsbuch für die Bibel) für „neigen“ ist
die Menschen in Israel ausgesetzt waren,           interessant. Ich lese u.a.: Der Herr neige
„zu verstehen“. Vielleicht – aber das führt        die Ohren in Ps 17,6; 31,3; 71,2; 86,1. Ps
wohl hier zu weit – wäre so eine Analyse           18,10: er neigte den Himmel und fuhr her-
im Blick auf das Verhältnis zu Gott auch           ab. Ps 40,2 Ich harrte des Herrn, und er
hinsichtlich unserer jüngsten Vergangen-           neigte sich zu mir. … Bis hin dann zu Joh
heit aus heutiger Distanz notwendig, um            19,30: Jesus neigte das Haupt und ver-
die Katastrophen der Weltkriege und die            schied.
millionenfache Ermordung von jüdischen             Dieser kurze Satz aus 2. Könige 19 ist ähn-
Männern, Frauen und                                                    lich wie die Psalmen
Kindern, die Ermordung                                                 ein hymnisches Gebet –
von Sinti und Roma und                                                 das in Form gebrachte
anderer verfolgter Men-                                                Flehen eines denkenden
schen in der heutigen                                                  und redenden Men-
Geschichte zu „beleuch-                                                schen, der in großer Not
ten“. Aber das Ausmaß                                                  ist. Wie auch in den
ist so grauenvoll und                                                  (anderen) Psalmen ha-
riesig, dass man dem                                                   ben diese Worte eine
wohl gar nicht („ein-                                                  existentielle Dimension.
zeln“) begegnen kann.                                                  Der Satz spricht deren
Man beließ es in unserer                                               Sprache. Wer betete?
Kirche nach dem Krieg                                                  Es ist König Hiskija
beim Stuttgarter Schuld-                                               (719-691 v.Chr.), der
bekenntnis. Das hat nicht                                              im Tempel mit Gott
gereicht. Diese Frage ist                                              sprach. Das geschah
aber wichtig und ich spreche darüber mit           gegen Ende seines Lebens, nachdem er fast
meinen Freunden, warum Gott in der                 30 Jahre regiert hatte. Wir lesen in der Bi-
„Christenheit“ damals so „verloren ging“.          bel: Hiskija nahm den Brief aus der Hand
Einer meiner jüdischen Freude, W.G., ant-          der Boten und las ihn. Dann stieg er hinauf
wortete: Das Nazi-Regime erhob ein gan-            zum Haus des Ewigen. Dort breitete
zes System von Unmenschlichkeit und                Hiskija ihn vor dem Ewigen aus. Hiskija
Lüge zur Norm und ließ niemandem eine              betete zum Ewigen und sagte: „Adonai,
Chance, nicht mitzumachen. Die meisten             Gottheit Israels, der du auf den Kerubim
Menschen haben aus Bequemlichkeit und              thronst, du allein bist HErr über alle Kö-
Angst mitgemacht… In der Zeit der Köni-            nigreiche der Erde, du hast Himmel und
ge war das anders… sie konnten schon oft           Erde erschaffen! Neige, Ewiger, dein Ohr
freier entscheiden, ob sie Gott hören woll-        und höre! Öffne, Ewiger, deine Augen und
ten oder nicht.                                    sieh! Höre die Worte Sanheribs, die er mir
Wie werden Ohren geneigt? Geneigte Zu-             gesandt hat, um den lebendigen Gott zu
hörerinnen und Zuhörer tun das mit den             beleidigen. Es ist ja wahr, Ewiger, mit dem
Ohren? Oder gibt es eine direkte Verbin-           Schwert haben die Könige von Assur die
dung von den Ohren bis in die Herzen? Ist          Völker umgebracht und ihre Länder. Ins
damit dieses Neigen des Kopfes zur Seite           Feuer haben sie deren Gottheiten gewor-
gemeint, damit einem jemand ins Ohr flüs-          fen. Ja, aber dies sind ja keine Gottheiten,
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