Wie aus Freunden Follower wurden. Eine kurze Geschichte auto/biographischen Erzählens in sozialen Netzwerken
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penZeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 336–351 Kerstin Wilhelms Wie aus Freunden Follower wurden. Eine kurze Geschichte auto/biographischen Erzählens in sozialen Netzwerken I. Einleitung. Dass das Medium für den Entwurf einer Lebensgeschichte von herausra- gender Bedeutung ist, macht schon der Begriff Biographie deutlich. Das Suffix (von gr. γ ρ άφε ι ν [gráphein] „schreiben“) enthält den Verweis auf die Schriftlichkeit der Lebensnar- ration, die den medialen Ursprung und bis heute den Normalfall auto- und biographischer Lebensentwürfe darstellt. Aber stimmt das eigentlich noch?1 Ich möchte in diesem Aufsatz den Fokus auf neue Medien des Auto- und Biographischen richten und danach fragen, wie sich in der ja noch recht kurzen Geschichte sozialer Medien die Möglichkeiten für das Er- zählen von Lebensgeschichten verändert haben. Dazu formuliere ich zunächst fünf Thesen, die ich im Folgenden durch die Geschichte von Social Media verfolgen werde: 1. Autobiographisches und biographisches Erzählen lassen sich in sozialen Medien nicht trennen. Es ist daher sinnvoll, stattdessen von auto/biographischem Erzählen zu sprechen.2 2. Social Media-Seiten stellen Nutzer:innen begrenzten Spielraum zur kreativen Bearbei- tung ihrer Lebensgeschichten zur Verfügung. Es ist zentral zu untersuchen, wie dieser Spielraum aussieht, da sich in ihm das für soziale Medien typische Spannungsverhält- nis von Individualität und Vergleichbarkeit zeigt. 3. Soziale Medien zeichnen sich zudem durch ein spannungsvolles Verhältnis von Inti- mität und Öffentlichkeit aus, wobei sich hier im historischen Vergleich Wandlungs- prozesse erkennen lassen. 4. Ein weiteres Spannungsverhältnis ist ebenfalls relevant: das von Zusammenhang und Flüchtigkeit bzw. Situativität. Ob und wie aus den einzelnen Posts, die als situative ‚Schnipsel‘ der Lebensgeschichte gelesen werden können und die ich im Folgenden als auto/biographische Akte3 bezeichne, eine zusammenhängende Erzählung wird und wie dauerhaft diese Erzählung ist, verändert sich ebenfalls im Laufe der Zeit. 5. Soziale Medien sind multimediale Projekte, so dass es zu untersuchen gilt, wie der Einsatz verschiedener Medien das Lebensnarrativ prägt. Es geht mir also um die historischen Veränderungsprozesse, an denen sich die kulturellen Anforderungen an auto- und biographisches Erzählen in der Gegenwart ablesen lassen. 1 Bzw. hat es jemals gestimmt? Die Herausgeber des Bandes Automedialität bezweifeln dieses und stellen dar, welche Bedeutung verschiedene Medien für den autobiographischen Selbstentwurf hatten und haben. Vgl. Dünne, Moser (2008). 2 Für diese Auffassung hat bereits McNeill (2012) überzeugend plädiert. 3 Den Begriff entlehne ich Schmitt (2018), der Social Media-Posts als „autobiographical acts“ bezeichnet. © 2022 Kerstin Wilhelms - http://doi.org/10.3726/92171_336 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken | 337 II. The early years. Das, was wir heute als soziale Medien bezeichnen, hat sich aus der Welt der Blogs und ihrer Vernetzung entwickelt. Blogger:innen haben früh begonnen, ihre Weblogs gegenseitig zu verlinken, auf Einträge zu reagieren und so Cluster von miteinander in Verbin- dung stehenden Blogs zu etablieren, die als ‚Blogosphäre‘ bezeichnet werden.4 Social Media hat diesen Trend zur Vernetzung eigener, häufig autobiographisch geprägter Texte mit ande- ren Nutzer:innen weiterentwickelt und die Nutzung vom Führen eines Blogs abgekoppelt. Ein frühes Beispiel hierfür ist MySpace, dessen Aufbau man diese doppelte Funktion als eigene Website und als Kommunikationsmedium noch deutlich anmerkt. Was 2003 zu- nächst als Plattform für Musiker:innen begann und Fans mit ihnen in Verbindung bringen sollte, wurde schnell zu einer Bühne für Selbstdarstellungen und Nutzer:inneninteraktionen.5 Wer in der Zeit zwischen 2003 bis ca. 2010,6 und damit der Hochzeit von MySpace, ein Userprofil ansteuerte, kam zunächst auf die „Profilseite“, die die Nutzer:innen gestalten konnten. Sie funktionierte wie eine eigene Website, ähnlich einem Blog, konnte aber mit verschiedenen Tools, die MySpace zur Verfügung stellte, vielseitig gestaltet werden, ohne dass Coding-Kenntnisse nötig waren. Nutzer:innen konnten sich auf diese Weise einen vergleichsweise individuellen, multimedialen Online-Auftritt zulegen, indem sie aus einer recht großen Menge an bereitgestellten Tools auswählten, was auf ihrer Seite erscheinen sollte, in welcher Farbe usw. Auch eigene Texte, Bilder, Videos konnten so ohne technisches Know-how auf der eigenen Seite eingebunden werden. Wer sich einloggte, hatte zudem eine Art ‚Backstage‘-Bereich hinter diesem öffentlichen Auftritt; einen Newsfeed, wie er bis heute bei den meisten sozialen Medien zu sehen ist. Hier fand die Interaktion mit anderen Nutzer:innen statt, die sich in Form einer Zeitleiste von den neuesten Posts mit darunter stehenden Kommentaren zu älteren Posts zog. Speziell an MySpace war also das titelgebende Bereitstellen des eigenen Raums zur Selbstdarstellung sowie eines eher ‚privaten Raums‘, der von der Seite dann auch mit der etwas merkwür- digen Dopplung „Mein MySpace“ bezeichnet wurde und in dem sich der nur für einen selbst sichtbare Newsfeed befand. Im Newsfeed wurden jedoch nicht nur die eigenen Posts und Kommentare angezeigt, sondern auch die der anderen Nutzer:innen, mit denen man ‚befreundet‘ war. Die „Mein MySpace“-Seite war also auch kein gänzlich ‚privater‘ Bereich, sondern war dialogisch gestaltet. Schon bei MySpace wurden die Weichen für andere soziale Netzwerke, ihre Gestaltung und ihre Funktionen, gestellt, so dass sich viele systematische Aspekte bereits hier beobach- ten und untersuchen lassen. Das eine ist das für auto- und biographisches Erzählen immer wichtige Verhältnis von Fakt und Fiktion. Bei MySpace hatte man nämlich die Möglichkeit, unter einem Pseudonym zu schreiben, sich eine völlig fiktive Figur auszudenken und ihr ein digitales Leben zu geben, mit Daten zur Geburt, zur Lebenssituation und mit der übli- chen Liste von Freunden.7 Soziale Medien können durch die Möglichkeit der vollständigen 4 Zu Blogging-Praktiken der neunziger und nuller Jahre vgl. einschlägig Rak (2005). 5 Vgl. Anastasiadis (2019, 74–81). 6 Danach veränderte sich das Design der Seite grundlegend, als Reaktion auf den rapiden Verlust an User:innen (vgl. Anastasiadis [2019, 81]). Grundlage für meine Ausführungen zu dem früheren Design ist meine Magis- terarbeit aus dem Jahr 2010 mit dem Titel Autobiographische Räume im Netz, die mir nun als Zeitzeugin dient. 7 Es gibt meines Wissens keine Social Media-Plattform, die den Begriff ‚Freunde‘ gendert, daher nutze ich ihn so, wie er tatsächlich auf den Seiten erscheint, als generisches Maskulinum. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
338 | Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken Verschleierung der Offline-Identität, der Maskierung und Täuschung als „Probebühne“8 für das Ausleben verschiedener (Teil-)Identitäten verstanden werden. Das alles machte MySpace, wie viele Online-Formate, eigentlich zu einem autofiktionalen Medium, denn selbst wenn der Name im Profil auf ein reales Individuum in der Welt verweist, so ver- sieht die Tatsache, dass das Erfinden eines Namens überhaupt sanktionsfrei möglich ist, alle Namen, auch jene, die nicht offensichtlich erdacht sind, mit einem Fragezeichen; sie verlieren an Glaubwürdigkeit und taugen nicht mehr als Signatur des „autobiographischen Pakts“,9 den der Text mit den Lesenden schließt. Das Fiktive wird damit zum Normalfall auf MySpace, von dem sich User:innen durch bestimmte Verfahren der Authentifizierung absetzen können. Dazu gehören die Fotos und Profilbilder sowie die Liste der Freunde. Zunächst zu den Fotos: Fotos sind von Anfang an Teil des Auftritts in sozialen Medien, und es haben sich in den vergangenen Jahren diverse Praktiken des Umgangs mit Fotogra- fien entwickelt, von denen die bekannteste vermutlich das Selfie ist. Es entstand aus der Anforderung der Seiten, neben dem Namen ein Bild vom eigenen Gesicht hochzuladen, das dann stets neben den Posts und Kommentaren erscheint und so den geschriebenen Text eng mit dem eigenen Gesicht verknüpft. Das war schon bei MySpace so und hat sich auch in gegenwärtigen Seitendesigns nicht verändert. Der als Garant für Authentizität zweifelhaft gewordene Name wird mit dem Bild als Referenz beglaubigt – eine wiederum zweifelhafte Beglaubigung freilich, denn nicht erst seit Photoshop und Instagram-Filtern ist klar, dass Fotos manipuliert, konstruiert, gestellt und montiert werden können. Fotos, insbesondere Profilbilder, haben aber in sozialen Medien eine zweifache Funktion: Für die Lesenden der Profilseite dient das Foto als Fiktion eines Subjekts ‚hinter‘ dem Text, als Autormaske, die dem Text eine Stimme verleiht, im Sinne von Paul de Man, der genau dieses sprachliche Spiel für die Autobiographie beschrieb und problematisierte.10 Das Foto verfügt über jenes „Übermaß an Referenz“, das benötigt wird, um die „semantische Leere“ des Texts zu kompensieren,11 es stellt aber zugleich die Fiktion dieser Referenzialität aus. Auf diese Weise stellt sich für soziale Medien das für Autobiographien typische Oszillieren von Referenzillusion und dem Offenkundigwerden dieser Illusion her.12 Für die Betreibenden der Profile hat der Online-Auftritt mit dem eigenen Foto hingegen eine identitätsstiftende Funktion, mit der sie ein Bild von sich selbst für sich und andere entwerfen. Das Selfie tritt den User:innen wie ein Spiegelbild entgegen, suggeriert eine Identität der Person vor dem Bildschirm mit diesem Online-Auftritt, von digitaler Figur und realer Person. Der Spiegel ist spätestens seit Jacques Lacan die zentrale Metapher für Subjektbildung und Prozesse der Identifikation. Im Spiegel erfährt sich das Ich als Ganzes, eine Perspektive, die es ohne den Spiegel nie einnehmen kann. Es bedarf also eines Hilfsmittels, um sich ein Bild von sich selbst zu machen, und entsprechender Praktiken, um die Identifikation mit diesem Bild aufrecht zu erhalten.13 Damit steht das Selfie als pars pro toto für das, was auf 8 Roesler (2007, 207). 9 Der autobiographische Pakt ist eine Lesehaltung, die der Text evoziert, indem der Autorname, der Name des Protagonisten und des Erzählers identisch sind. Vgl. Lejeune (21998). 10 Vgl. de Man (1984). 11 Schabacher (2007, 340). 12 Schabacher, (2007, 96). 13 Lacan (1986, 64 f.). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken | 339 sozialen Netzwerkseiten passiert: In ihren Profilen kreieren Nutzende ein – hier durchaus multimedial zu verstehendes – Bild vom Ich, mit dem sich User:innen identifizieren und zu dem sie sich tagtäglich in ein Verhältnis setzen. Social Media-Seiten sind daher zu Recht häufig mit dem von Michel Foucault formulier- ten Schlagwort der techniques de soi, Technologien des Selbst, bezeichnet worden.14 Dabei steht bei diesen Selbstpraktiken die Abhängigkeit von einem bestimmten Medium im Fokus.15 Wie gesagt, ohne externes Medium, in dem ein Selbstbild entworfen wird, gibt es keine Identifikationsprozesse. Christoph Tholen spricht in dem Zusammenhang von einer „medialen Zäsur“ – wir müssen uns in ein externes Medium überführen, um uns selbst zu begegnen.16 Und deshalb ist es so wichtig, sich mit der Art und Weise auseinanderzusetzen, wie die sozialen Medien aufgebaut sind, denn sie stellen die Rahmenbedingungen für das Bild bereit, das Nutzer:innen als autobiographisches Ich entgegen tritt. Relevant ist das nicht nur für MySpace, sondern für alle sozialen Netzwerke, in denen Nutzende Profile erstellen und über sich selbst schreiben. Durchaus passend ist hier die Bezeichnung Lacans für das Spiegelbild als „Ideal-Ich“, das auf „einer fiktiven Linie situiert“17 ist, denn es geht nicht unbedingt um einen bekenntnisorientierten, aufrichtigen Auftritt, wie in der klassi- schen Autobiographie,18 sondern um einen möglichst ansprechenden Internetauftritt. Was aber als ‚möglichst ansprechend‘ gilt, lässt sich an den Strukturen ablesen, die die sozialen Netzwerke zur Verfügung stellen. Für MySpace ist das sicherlich ein möglichst großer Grad an Kreativität sowie die Nähe zur Musik und zur Popkultur. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Nutzung als digitale Bühne für aufstrebende Bands und Musiker:innen die Glanzzeit von MySpace als autobiographischer Plattform noch lange überdauerte (bis dann irgendwann YouTube übernahm). ‚Ein möglichst großer Grad an Kreativität‘ – die Formulierung beinhaltet schon eine Einschränkung der Kreativität, die die Seite selbst setzt. Zum einen ist das begründet in der großen, aber freilich begrenzten Zahl an Widgets und Gadgets, die MySpace zur Verfügung stellte, um die Profilseite zu gestalten. Zudem gab es Voreinstellungen, wie den Ort des Profilbilds, die Informationen zur Person sowie die Chatleiste und die Statusmeldungen, die nicht von der Profilseite entfernt werden konnten. Besonders deutlich fiel bei MySpace die Differenz von kreativem Auftritt vor einer Öffentlichkeit mit der Profilseite und der „Mein MySpace“-Seite auf, die wie eine Hinterbühne funktionierte. Das Design dieser Seite war nicht veränderbar, es sah aus wie der Newsfeed der vielen sozialen Netzwerke, die in den nuller Jahren konkurrierten und von denen sich Facebook schließlich durchsetzte. Ein Archiv für vergangene Posts gab es nicht. Es bestand also keine Möglichkeit, aus der Vielzahl autobiographischer Akte ein Narrativ zu spinnen. Vielmehr war der Status eine kurze Antwort auf die von MySpace ständig in der Eingabeleiste gestellte Frage: ‚Was gibt’s 14 Vgl. Foucault (2005). 15 Vgl. Dünne, Moser (2008, 12 f.). 16 Tholen (2002, 13). 17 Lacan (1986, 64). 18 Mit dem Begriff ‚klassische Autobiographie‘ meine ich jene autobiographischen Texte, die sich in der Tradition von Augustinus, Jean-Jaques Rousseau und anderen als ‚Bekenntnisse‘ verstehen lassen, in Abgrenzung zu z. B. autofiktionalen Texten, bei denen es nicht um die ‚Wahrhaftigkeit‘ der mitgeteilten Lebensgeschichte geht oder in denen diese sogar explizit fragwürdig gestaltet wird. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
340 | Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken Neues?‘ Es ging somit immer nur um das Neue, das Aktuelle, einen Blick zurück gab es nicht. Das teleologische Prinzip der Persönlichkeitsentfaltung, wie es die europäische Autobiographietradition jahrhundertelang gepflegt hatte, wurde hier abgelöst durch ein ahistorisches Subjektkonzept. Egal wie frei oder vorgegeben die Strukturen in sozialen Netzwerken sind, Ziel ist es immer, mit einer gelungenen Selbstpräsentation möglichst viele Verbindungen mit anderen Profilen einzugehen. Bei MySpace hießen diese verknüpften Profile „Freunde“. Die Zahl der Freunde ist bis heute ein Statussymbol, die Likes und Kommentare sind die Währung. Bei MySpace gab es zwei Arten von Kommentaren: Die im „Mein MySpace“-Bereich, die zwar alle Freunde unter dem Post sehen konnten, aber eben nur dieser Kreis, und die Kom- mentare auf der Profilseite, die auch von nicht befreundeten Nutzer:innen gelesen werden konnten. MySpace investierte also recht viel in die Trennung von privat und öffentlich, wobei natürlich auch die ‚privaten‘ Posts und Kommentare öffentlich waren, auch wenn sie nur in einem bestimmten Zirkel angezeigt wurden. Doch dadurch, dass es den sehr stark als ‚öffentlich‘ markierten Bereich der Profilseite gab, wirkte der Newsfeed unter der Überschrift „Mein MySpace“ wie eine private Unterhaltung unter ausgewählten Freunden. Freunde fungierten, neben den Fotos, als Garanten für die Authentizität eines Profils, insbesondere natürlich dann, wenn eine Real-Life-Freundschaft erkennbar war. Die Liste von Freunden auf der Profilseite markierte die Schnittstelle von realem und virtuellem Le- ben. Außerdem fungierten die Profilfotos der Freunde, die neben ihren Namen immer mit angezeigt wurden, als Links auf deren Profilseiten. So waren die Seiten von User:innen und ihren Freunden auf komplexe Weise miteinander verbunden. Der Gebrauch des Worts ‚Seite‘ hat sich im Umgang mit Internetauftritten jedweder Art eingebürgert und suggeriert einen Raum mit begrenztem Umfang, so dass gleichzeitig ein Jenseits dieses Raums behauptet wird. Dieses Jenseits kann durch Links mit der Ausgangsseite verbunden werden – jeder Link stellt ein Portal dar, in dem Sinne, dass der Link immer ein Bestandteil der Seite ist, von der er wegführt, aber zugleich bereits jenes entfernte Element ist, zu dem er führt. Der Link ist kein Zwischenraum, sondern er markiert die Schwelle zu einem anderen Raum in my space. Links sind zugleich assoziative als auch dissoziative Grenzphänomene, indem sie Seiten miteinander verbinden, um im gleichen Zug ihre Differenz zu manifestieren.19 MySpace ist daher kein kohärenter geschlossener Raum, über den die User:innen verfü- gen, wie der Name der Seite suggeriert, sondern ist durchlöchert von Gängen, die in ein Außerhalb, zu den Seiten der Freunde führen. Allein deshalb schon lässt sich nicht sinnvoll von sozialen Netzwerken als ‚Autobiographien‘ sprechen. Es gibt zwar nach wie vor eine Autorstimme, die über sich und andere spricht, aus ihrer Perspektive Figuren entwirft, doch bereits die räumliche Gestaltung der Seite präsentiert den Text anderer im eigenen Text, lässt die autobiographischen und biographischen Bestandteile, die in den Kommentaren erscheinen, zu einer Koproduktion, einer Auto/Biographie verschmelzen. Das Ich, das in sozialen Netzwerken entsteht, ist ein ganz und gar relationales.20 Es ist derart im Netzwerk der Freunde verortet, dass eine Unterscheidung von innen und außen, hier und da, meins und deins keinen Sinn mehr ergibt. 19 Vgl. Shields (2000, 151 f.). 20 Zum Begriff der relationalen Autobiographie vgl. Rüggemeier (2014). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken | 341 III. Der Durchbruch. Dass das relativ freie Format von MySpace sich schließlich gegen die Konkurrenz von Facebook und in Deutschland zunächst vor allem auch StudiVZ nicht durchsetzen konnte, ist bezeichnend. Während MySpace in der Folge hauptsächlich von Künstler:innen, insbesondere Musiker:innen genutzt wurde, um eine digitale, öffentliche Bühne als Anschub ihrer Karrieren zu kreieren,21 verlagerten sich auto/biographische Akte in stärker standardisierte Formate. Als frühe Form war in Deutschland StudiVerzeich- nis (kurz: StudiVZ) sehr beliebt, vor allem natürlich bei Studierenden, es bildeten sich aber schnell Ableger für andere Gruppen, vor allem SchülerVZ. Innerhalb dieser schon vom „Verzeichnis“ benannten sozialen Gruppe gab es weitere Ausdifferenzierungen, so wurde z. B. nach der ‚Immatrikulation‘, nach dem Studienort und der Uni gefragt. Auf der Grundlage dieser Eingrenzungen konnten nun digitale Freundschaften geschlossen werden, die es ermöglichten, das Profil anderer Nutzer:innen einzusehen. Außerhalb dieses Freundeskreises war der Zugriff auf das Profil eingeschränkt. Zudem konnten sich befreundete Nutzer:innen gegenseitig Aufmerksamkeiten zukommen lassen in Form des mit einer etwas merkwürdigen Wortschöpfung benannten „Gruscheln“22. Auf diese Weise war Kommunikation zunächst auf einen als intim inszenierten Kreis beschränkt. StudiVZ wurde schließlich von dem globalen und für alle gesellschaftlichen Gruppen zugänglichen Netzwerk Facebook verdrängt, das allerdings ebenso wie StudiVZ als Mittel zur Vernetzung von Studierenden begann. Mit Facebook endeten die early years der sozia- len Medien. Es setzte eine Monopolisierung ein, die dazu führte, dass im Jahr 2012 eine Milliarde User:innen Facebook nutzten23 und sich auto/biographische Akte aller Bevölke- rungsschichten und Altersgruppen zunehmend in den digitalen Raum verlagerten. Auch Facebook und StudiVZ boten Nutzenden einen Newsfeed, in dem ihre eigenen Posts sowie die Posts und Kommentare ihrer Freunde auftauchten, und eine eigene Seite, die Pinnwand, die ausschließlich die eigenen Posts mit den dazugehörigen Kommentaren versammelte, sowie Informationen zur Person, Fotoalben und eine Liste der Freunde. Anders als MySpace bot diese Seite nur geringen Gestaltungsspielraum. Sie war automatisch generiert, und die Posts wurden in chronologischer Reihenfolge angeordnet. 2011 änderte Facebook das Design, die Pinnwand wurde durch die Chronik ersetzt,24 die die eigenen Posts durch eine blaue Linie verband – eine Art Lebenslinie oder Lebensweg. Einzelne Posts konnten hervorgehoben, andere verborgen werden. Auf diese Weise verband Facebook die einzelnen auto/biographischen Akte zu einer zusammenhängenden Narration. Der Standardmodus aber blieb bestehen: Die neuesten Posts erschienen oben, die älteren rückten weiter nach unten. Zwar ist die blaue Linie inzwischen wieder verschwunden, und die Posts erscheinen nun wieder einfach übereinander, der grundsätzliche Aufbau der Seite aber, bei dem die aktuellen Posts ganz oben stehen, ist geblieben. Dies weist Aktualität als das zentrale Paradigma bei Facebook aus, es geht um die Gegenwart der Online-Persönlichkeit, 21 Vgl. Anastasiadis (2019, 74 f.). 22 Offenbar wurde das Wort seinerzeit als ‚grüßen und kuscheln‘ verstanden. Dem wurde jedoch von Seiten der VZ-Offiziellen widersprochen. Es habe keine Bedeutung und könne von jedem individuell verstanden werden. Vgl. VZ-Log.de (2008). 23 Vgl. Facebook Company Info (2021). 24 Vgl. Facebook Company Info (2021). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
342 | Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken was sich auch daran erkennen lässt, dass das aktuelle Profilbild neben allen Posts, auch neben den älteren, erscheint. Das aktuelle Gesicht ist also das, welches ‚spricht‘, auch wenn der Post möglicherweise schon viele Jahre alt ist. Damit wird die Historizität, die die Chronologie der Posts impliziert, vom aktuellen Ich überlagert und eine Gleichzeitigkeit aller Posts im Hier und Heute suggeriert. Vor einigen Jahren führte Facebook die Erinnerungen-Funktion ein: Ein alter Post wird wieder in den Newsfeed platziert, den die Nutzenden dann mit ihren Freunden teilen können. In dem Fall erscheint der Post in einem blauen Kasten mit dem Hinweis „XY hat eine Erinnerung geteilt“. Aber auch in dieser geteilten Erinnerung verdrängt das aktuelle Profilbild das damalige. Das Verhältnis von Lebensgeschichte und aktuellem Leben, von der für die Auto- und Biographie wichtigen Genese des Subjekts zum gegenwärtigen Ich ist bei Facebook also spannungsreich und widersprüchlich. Auch den Namen ersetzt Facebook in alten Posts, wenn sich dieser ändert. Überhaupt sind Namen bei Facebook eine Erwähnung wert, denn im Gegensatz zu MySpace, Twitter und anderen Formaten weist Facebook nachdrücklich darauf hin, den eigenen Namen zu verwenden und keinen erdachten.25 Daher bespielt Facebook stärker als andere Social Network-Seiten die Schnittstelle von Online- und Offline-Identität, die vor allem durch die Freunde markiert ist, die, wie gesagt, Real Life-Freunde sein sollten. Wenn es um Selbsttechniken geht, haben Freunde in sozialen Medien eine vergleichbare Funktion wie Fotos. Doch während es bei Fotos wichtig ist, die Identität herzustellen, sich mit dem Gesicht im Selfie zu identifizieren wie in Lacans Spiegelstadium, so sind Freunde für die Selbstpraktiken vor allem durch ihre Alterität relevant.26 Für Giorgio Agamben verlegt der Freund als Adressat des autobiographischen Akts die Differenz von Ich und Du als konstitutive Alterität in das Ich hinein: „Der Freund ist kein anderes Ich, sondern ist eine der Selbstheit immanente Alterität, ist Anderer-Werden des Selbst.“27 Da dieser Freund hier in sozialen Netzwerken eine mediale Figuration als Link auf eine andere Seite und als Profilfoto mit Kommentartext im eigenen Newsfeed erfährt, macht es Sinn, diese Freund- schaftsformation, die Agamben beschreibt, als mediale Konfiguration der Seite zu denken. Auf diese Weise ist die Freundschaft auf Facebook unter den Vorzeichen auto/biographischer Medialität zu beschreiben und damit als Ausdruck der für die Selbsttechniken relevanten Externalisierung an ein Medium: Freunde sind externe Medien der Icherzeugung, mit der Funktion, eine Differenz zum eigenen Ich zu etablieren, eine ‚mediale Zäsur‘, mit der Selbst- erkenntnis ermöglicht wird.28 Auto- und Biographisches lassen sich also nicht systematisch trennen, der Freund und seine Äußerungen sind Teil der eigenen Selbstpraktik. Dabei ist ‚der Freund‘ als Singular auf Facebook überhaupt nicht zu denken. In sozialen Medien fächern sich die Freundschaftsbeziehungen zu Netzwerken auf, in denen das Ich navigiert und die sich im Newsfeed manifestieren. Es lohnt sich daher, den Newsfeed genauer zu betrachten und zu schauen, wie diese Selbsterkenntnis im Anderen bei Facebook ermöglicht wird. 25 Vgl. Facebook-Hilfebereich (2021b): „Namen auf Facebook“: „Damit alle Personen wissen, mit wem sie sich verbinden, bitten wir jeden, denselben Namen auf Facebook zu verwenden, den er/sie auch im täglichen Leben verwendet. Möglicherweise bitten wir dich darum, zu bestätigen, dass der von dir auf deinem Facebook-Konto verwendete Name jener ist, den du auch im täglichen Leben verwendest.“ 26 Vgl. Wilhelms (2017, 295 f.). 27 Agamben (2012, 19 f.). 28 Vgl. Wilhelms (2017, 295–298). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken | 343 Es ist nämlich in der Forschung bereits kritisch angemerkt worden, dass der Newsfeed nicht einfach neutral die aktuellsten Posts der Freunde versammelt und in eine chronolo- gische Ordnung bringt. Vielmehr ist hier ein Algorithmus am Werk, der den Nutzenden die Posts anzeigt, für die sie sich am meisten zu interessieren scheinen.29 Wie genau dieser Algorithmus aussieht, ist nicht klar, und aktiv steuern können die Nutzenden ihn auch nicht. Er scheint vom Nutzungsverhalten zu lernen und zeigt im Newsfeed dann vorrangig die Inhalte an, die mit denjenigen verknüpft sind, die die Nutzenden aufgerufen, geteilt oder geliked haben. Wie diese Verknüpfung hergestellt wird, ist nicht erkennbar und nicht steuerbar. Laurie McNeill spricht daher von ‚posthumanen‘ auto/biographischen Praktiken,30 bei denen die Autobiograph:innen keine alleinige Autorität mehr über die Produktionsweise ihres eigenen Texts haben.31 Für die in Auto- und Biographien klassischerweise zum Aus- druck kommende Subjektivität und Ich-Identität hat das zur Folge, dass Lebensnarrationen in sozialen Medien als Ko-Produktionen verstanden werden müssen – nicht nur von den User:innen und ihren Freunden, sondern auch von einer ‚unsichtbaren Hand‘ der künstli- chen Intelligenz. Da autobiographische Texte aber im Sinne von Selbstpraktiken nicht nur ein Darstellungsmodus einer Persönlichkeit gegenüber einem Publikum sind, sondern eine Form der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und der eigenen Identität darstellen, hat dies weitreichende Folgen. Mit Katherine Nelson gesprochen können Unterhaltungen auf Social Media-Plattformen als „Memory Talk“32 verstanden werden, also das, was wir in unserem privaten Umfeld alltäglich mit realen Gesprächspartner:innen machen, wenn wir z. B. erzählen, wie unser Tag war. Memory Talk ist ein wichtiger Teil der auto/biographischen Selbstpraktiken, da es in Auseinandersetzung mit anderen unsere eigene Lebensgeschichte zunächst in Form von kürzen Ausschnitten in eine Narration bringt. Dadurch erhalten unsere Erinnerungen die Form einer Erzählung, und zwar in diskursiver Aushandlung mit Adressat:innen.33 Das Auto/Biographische ist also keine Erfindung der sozialen Medien, sondern eine (analoge) Alltagspraxis. Was aber wichtig ist für das Verständnis des Einflusses von Social Media auf unsere Selbstwahrnehmung, ist das Einprägen von relativ standardisierten Erzählmustern in die eigenen Erinnerungen durch den Memory Talk. Nelson spricht in dem Zusammen- hang auch von einer „kulturellen Patina“, die sich über die eigenen individuellen Erinne- rungsinhalte legt und diese auf spezifische Weise formiert.34 Das Design der Seite und die Eingriffe durch den Algorithmus können als Beitrag zu dieser „kulturellen Patina“ gesehen werden. Wenn also unser Memory Talk in einem stark standardisierten Online-Format wie 29 Vgl. Facebook-Hilfebereich (2021c): „So funktioniert der News Feed“: „Welche Beiträge du weiter oben im News Feed siehst, hängt von deinen Kontakten und Aktivitäten auf Facebook ab. Es kann auch sein, dass die Anzahl der Kommentare, ‚Gefällt mir‘-Angaben und Reaktionen auf einen Beitrag dazu beitragen, dass er weiter oben im News Feed angezeigt wird. Es spielt außerdem eine Rolle, um welche Art von Beitrag es sich handelt, z. B.: Foto, Video oder Status-Update. […] Du kannst Beiträge im News Feed auch nach aktuellen Beiträgen oder Beiträgen deiner Favoriten sortieren, aber der News Feed kehrt später wieder zur Standardeinstellung zurück.“ 30 Vgl. McNeill (2012, 67–70). 31 Vgl. Wilhelms (2017, 319 f.). 32 Vgl. Nelson (2002). 33 Vgl. Nelson (2002, 250–258). 34 Vgl. Nelson (2002, 257). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
344 | Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken Facebook stattfindet, das keine Änderungen am Aufbau der Seite durch die Nutzer:innen zulässt und das den auto/biographischen Austausch durch geheimnisvolle Verknüpfungs- logiken mitsteuert, werden wir dann zu standardisierten, algorithmisch berechenbaren Digitalexistenzen? Es gibt Hinweise aus dem Nutzungsverhalten, vor allem aus neueren sozialen Medien, die darauf hindeuten, dass es einen Trend zu mehr Vergleichbarkeit statt Individualität gibt. Dieser Spur gilt es also in den neueren Formaten weiter nachzugehen. IV. Die Ära des Visuellen. Wie an den vorherigen Ausführungen bereits deutlich gewor- den ist, spielt der räumliche Aufbau der Seite eine große Rolle für die Selbstpräsentation und die Kommunikation in sozialen Medien. Schon früh in der Geschichte des Inter- nets bürgerten sich räumliche Metaphern sowohl für das gesamte Internet an sich (‚Netz‘, ‚Cyberspace‘, ‚Worldwide Web‘, etc.) ein als auch für die Präsentation von Daten im ‚Netz‘ (‚Seiten‘, ‚Homepages‘, etc.) und für das Abrufen dieser Daten, das als Bewegung durch einen virtuellen Raum figuriert wurde (‚surfen‘).35 Dass der Raum für die Ichkonstitu- ierung wichtig ist, hat die neuere Autobiographieforschung gezeigt: Das autobiographi- sche Ich erschreibt sich eine Identität, indem es sich in autobiographische Räume und Orte platziert und durch diese navigiert. Das autobiographische Ich ist somit immer auch ein „topographisches Ich“.36 Der Begriff Topographie ist hier sehr ernst zu nehmen, denn es handelt sich in klassischen Autobiographien um erschriebene, imaginierte Räume der Erinnerung, die aus der Retrospektive ein Lebensnarrativ konstituieren. Diese Orte und Räume sowie ihre Abfolge sind in doppeltem Sinne topoi: Orte der Erinnerung, memo- ria, zu denen sich ein Ich gedanklich bewegt, um dort abgelegte Erinnerungen abzu- rufen, aber eben auch Topoi im Sinne von Gemeinplätzen, die in einer Autobiographie auftauchen und wichtige Gattungsmarker darstellen.37 Die individuelle Erinnerung ist damit immer schon überzeichnet von einer kulturell kodierten Präsentationsweise der au- tobiographischen Lebenserzählung, die sich so tief in unser Verständnis von Leben und Lebensgeschichte eingeprägt hat, dass sich Autobiograph:innen auch dann mit ihr ausein- andersetzen müssen, wenn sie sich eigentlich von ihr abgrenzen wollen. Das Anzitieren der autobiographischen Topik verortet den Text bereits im autobiographischen Kontext und setzt eine bestimmte Lesehaltung in Gang.38 Autobiographische Topographien bestehen also aus erschriebenen Räumen, die als Erinnerungsräume und zugleich als standardisierte, kodierte Kulturräume zu fassen sind. In sozialen Netzwerken spitzt sich dieses Verhältnis zu, indem die räumliche Verfasstheit der Seiten vorgegeben und kaum veränderbar ist und sich zu den Räumen anderer Profile öffnet. Die auto/biographische Dimension von sozialen Netzwerken ist also auch räumlich erkennbar. Dabei ändert sich die Art, wie autobiographische Akte miteinander vernetzt sind, mit dem Aufstieg von Twitter. Hier wird erstmals der Hashtag populär, über den sich nun nicht mehr nur einzelne Gänge in die Seiten anderer Nutzer:innen oder auf Seiten außerhalb der sozialen Medien auftun. Mit Hashtags können auto/biographische Akte von 35 Vgl. Schroer (2006, 254–264). 36 Vgl. Berghaus (2015), Wagner-Egelhaaf (2014), Wilhelms (2018). 37 Vgl. Goldmann (1994). 38 Vgl. Schabacher (2007, 352 f.). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken | 345 einer Vielzahl von User:innen miteinander verknüpft werden. Das ‚Gespräch‘ der Nutzen- den weitet sich damit über den Bereich der verknüpften Profile aus und bildet thematische Knotenpunkte in den sozialen Medien. Damit geht eine Auflösung der als ‚intime‘ Freund- schaftsbeziehungen inszenierten Verknüpfungen einher – aus Freunden werden Follower. Und während man beobachten konnte, dass bei Facebook die Zahl der ‚Freunde‘ begrenzt bleibt,39 so sind bei Twitter Accounts mit mehreren Tausend Followern keine Seltenheit. Das Auto/Biographische öffnet sich also immer mehr hin zu einer Gesprächskultur, bei der die Ich-Stimme als eine von vielen erscheint und sich einerseits so präsentieren muss, dass dies bei möglichst vielen anderen Nutzer:innen auf Zustimmung stößt, und sie andererseits gleichzeitig versuchen muss, möglichst keinen ‚Shitstorm‘ zu verursachen.40 Durch die ex treme Reichweite einzelner autobiographischer Akte, wenn ein Post z. B. mit einem Hashtag versehen ist oder ‚viral‘ geht, d. h. von verschiedenen Nutzer:innen immer wieder geteilt wird, kann eine Äußerung schnell Anstoß erregen, Widerspruch hervorrufen oder in Kontexten zitiert werden, die den Inhalt verzerren. Nutzer:innen machen sich also angreifbar, wenn sie sich derart öffentlich äußern und werden Teil einer nicht immer ‚gesunden‘ Debattenkultur.41 Instagram, das 2010 online ging und seit 2012 zu Facebook gehört, nimmt beide Funk- tionen von Twitter auf, funktioniert aber, anders als Twitter und auch Facebook, vor allem visuell. Hier werden Bilder geteilt und mit Hashtags versehen, die dann kommentiert werden können. Das Räumliche erhält damit eine weitere Sphäre, denn es geht nicht mehr nur um den (immer gleichen) Aufbau der Seite und die Formen der ‚Bewegung‘ in sozialen Netzwerken, sondern auch der abgebildete Raum in den geteilten Fotos, in Landschafts- aufnahmen oder als Hintergrund von Selfies, wird zunehmend relevant. Dabei verschiebt sich der Fokus vom Gesicht (das bei Facebook ja sogar im Namen steht) auf den gesamten Körper der Nutzenden und dessen Platz im Raum. Auf der Jagd nach immer mehr Fol- lowern bildeten sich Professionalisierungstendenzen aus, vorangetrieben u. a. durch das Phänomen der Influencer:innen, welches mittlerweile einen eigenen Marketingbereich darstellt.42 Instagram wurde mehr und mehr zu einer Plattform für Hochglanzbilder, die nicht mehr authentisch wirken sollen, sondern möglichst professionell.43 Dafür stellt die Plattform Filter bereit, die eine einfache Bildbearbeitung ermöglichen. Vielfach wird das Nutzungsverhalten besonders erfolgreicher Profile kopiert, was wohl mit der genannten Gratwanderung von möglichst reichweitenstarkem Auftreten zusammenhängt: Man kopiert, was erfolgreich ist und was keinen Anstoß erregt. Auf diese Weise werden auch die geteilten Inhalte immer ähnlicher. Bspw. werden mittlerweile an touristisch attraktiven Orten ‚Selfie Spots‘ markiert, an denen Fotos aufgenommen werden, die die abgebildeten 39 Dies geschieht zum einen durch Praktiken, die den Freundeskreis begrenzt halten (vgl. Assmann [2012]), aber auch Facebook selbst setzt eine Grenze von 5.000 Freunden (vgl. Facebook-Hilfebereich [2021a]: „Freund- schaften“). 40 Vgl. Martínez, Weixler (2019, 60). 41 Dabei ist „Healthy Conversations“ gleich der erste Eintrag unter „Our Priorities“ auf der Twitter-Homepage. Vgl. Twitter (2021). 42 Zum Phänomen der Influencer:innen vgl. Nymonen, Schmitt (2021). Löwe (2019) widmet sich den ‚Erzäh- lungen‘ von Influencer:innen aus narratologischer Sicht. 43 Auch die Bilder von Jugendlichen, die die professionellen Bilder von Influencer:innen und Pop-Stars imitieren, wirken professionell. Vgl. Mühl (2016, 22 f.). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
346 | Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken Personen vor den immer gleichen Hintergründen in ähnlichen Posen abbilden.44 Martínez und Weixler deuten dies als Ausdruck des Begehrens, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der das Gemeinsame wichtiger ist als Individualität: „Zugehörigkeit und damit einhergehend eine möglichst breite Aufmerksamkeit ist dem Shared Self heute daher viel wichtiger als eine subkulturell breit ausdifferenzierte Individualität früherer Generationen und Jugend- kulturen.“45 Es ist natürlich nicht messbar, welchen Einfluss Instagram und Co. auf eine Entwicklung der Identitätsbildung jenseits sozialer Medien haben – wenn es aber stimmt, dass sich User:innen in ihren Online-Profilen wie in einem Lacan’schen Spiegel entgegen- treten, in dem sie sich als sie selbst erkennen, dann können die Auswirkungen von sozialen Medien auf die Ichkonstituierung eigentlich kaum unterschätzt werden.46 Eine weitere Neuerung, die Instagram von Snapchat47 übernommen hat, ist das Einfügen von ‚Stories‘ in das eigene Profil, die automatisch nach 24 Stunden wieder gelöscht werden. Der Name ‚Story‘ suggeriert einen narrativen Zusammenhang der einzelnen geposteten Fotos (ähnlich der einstigen blauen Linie bei Facebook), die jedoch keine dauerhafte Lebensnarration darstellen sollen, keinen Lebensweg erzählen sollen, sondern flüchtige Momentaufnahmen, die nicht dazu gedacht sind, das Profil der Nutzenden dauerhaft zu gestalten.48 Das Narrative geht somit einher mit dem Prinzip der Flüchtigkeit. Da, wo soziale Medien einen Zusammenhang der einzelnen autobiographischen Akte behaupten, muss dieser Zusammenhang scheinbar gleich wieder durchgestrichen werden, um stattdessen das Aktuelle zu figurieren. Die ‚Story‘ ist keine 24 Stunden alt, ist aktuelles Geschehen und nur für diese Jetztzeit überhaupt von Bedeutung. Was also mit dem Ersetzen alter Profilbilder durch das immer aktuelle Selfie begann, wird durch die ‚Stories‘ fortgeschrieben und radi- kalisiert: Geschichten aus dem eigenen Leben sind nur für das Hier und Jetzt relevant und erhalten so noch stärker den Eindruck eines Memory Talk, einer flüchtigen Unterhaltung ohne dauerhafte mediale Speicherung. Inzwischen ist es allerdings möglich, einzelne Stories langfristig im Profil anzuzeigen, so dass sich thematische Cluster ergeben. Das Profil teilt sich damit in verschiedene ‚Stories‘ und die Posts, die in den Newsfeeds erscheinen. ‚Stories‘ bekommen auf diese Weise eine ähnliche Funktion wie Fotoalben bei Facebook, die ebenfalls thematisch geordnet werden können, jedoch ohne einen narrativen Zusammenhang zu behaupten. Dass ausgerechnet Instagram den Begriff ‚Stories‘ nutzt, um zu suggerieren, dass mit Bildern Geschichten erzählt werden, ist auffällig und stellt die Narratologie vor Heraus- forderungen.49 Was hier geschieht, haben Martínez und Weixler in Anlehnung an Michael Bamberg und Alexandra Georgakopoulou als „Small Stories“ bezeichnet.50 Arnaud Schmitt 44 Vgl. Martínez, Weixler (2019, 49–51). 45 Martínez, Weixler (2019, 63). 46 Vgl. Kreknin (2019, 560). 47 Snapchat ist ein Instant-Messaging-Dienst, der es erlaubt, Medien mit anderen zu teilen, die nach kurzer Zeit automatisch wieder gelöscht werden. Snapchat führte die hier beschriebene Story-Funktion ein, die schnell von weiteren Diensten und Plattformen übernommen wurde. Vgl. Martínez, Weixler (2019, 56). 48 ‚Das Internet vergisst nicht‘, heißt es, und so sind auch die Stories bei Instagram nicht wirklich verschwunden. Sie werden in einem Archiv hinterlegt, das aber nur die User:innen sehen können. Vgl. Instagram-Hilfebereich (2021): „Stories“. 49 Wie mit digitalen Fotoalben Geschichten erzählt werden, untersucht Mayer (2020). 50 Vgl. Martínez, Weixler (2019, 61). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken | 347 hingegen lehnt die Auffassung von sozialen Medien als autobiographischen Erzählungen ab, weil er die ästhetische Geschlossenheit vermisst, die eine Autobiographie von einzelnen autobiographischen Akten unterscheidet.51 Ich würde hier das Argument von Gabriele Schabacher für die Topik der Autobiographie übernehmen und behaupten wollen, dass das Narrative allein durch das Anzitieren, z. B. durch den Begriff ‚Stories‘ oder durch die blaue Linie bei Facebook, auf den Plan gerufen wird. Während man sich sicherlich darüber streiten kann, ob ein einzelnes Foto mit einigen Hashtags darunter eine Geschichte erzählt – was sowieso nur in einer Einzelfallanalyse zu klären ist –, so kann man doch sehen, dass Profilseiten, ‚Stories‘ etc. alle mindestens einen Ort haben, an dem eine Sammlung aus einzelnen auto/biographischen Akten zu einem Ganzen zusammengezogen und als Erzählung markiert wird. Ob diese Seiten tatsächlich etwas im narratologischen Sinne ‚erzählen‘, ist erst einmal nebensächlich, wichtig ist, dass sie einen Erzählzusammenhang behaupten und damit das Erzählen auch in sozialen Medien zur zentralen Technik auto/ biographischer Lebensdarstellungen machen. Es geht aber bei diesem Erzählen nicht um die Genese eines Subjekts im traditionellen Sinne – trotz blauer Lebenslinie. Das Erzählte ist immer nur im Moment aktuell, es verliert seine Bedeutung über die Gegenwart hinaus.52 Somit ist der Titel dieses Themenheftes für soziale Medien besonders bedeutsam: Auto/ biographisches Erzählen in der Gegenwart ist in sozialen Medien immer ein Erzählen der Gegenwart. Der bislang letzte Evolutionsschritt der sozialen Medien verdrängt das Schriftliche fast vollständig und ersetzt es durch bewegte Bilder. Was mit Vlogs (Video-Blogs) begann, wurde bereits bei MySpace wichtig: Videos. Wurden bei MySpace Videos jedoch als Teil des Auftritts auf der Profilseite eingebunden und bei Facebook im Newsfeed geteilt, so haben sich mittlerweile soziale Medien konstituiert, die nur noch auf dem Teilen und Kommentieren von Videomaterial basieren. Das erfolgreichste und bekannteste Format ist YouTube, das aktuellste und für diese kurze Geschichte des auto/biographischen Erzählens in sozialen Medien spannendste ist allerdings TikTok, denn hier kulminieren einige Trends, die ich zuvor versucht habe, aufzuzeigen. TikTok ist das jüngste soziale Netzwerk, nicht nur, weil es erst 2018 online ging, sondern auch, weil es die jüngsten Nutzer:innen hat.53 Zwar kann man noch immer Profilen folgen und Follower sammeln,54 allerdings betonen Martínez und Weixler zu Recht, dass das Wirken des Algorithmus viel offensichtlicher und prominenter platziert wird.55 In der Browser-Version wird noch über einer dem Newsfeed vergleichbaren Seite, auf denen die Kurzvideos der abonnierten Profile angezeigt werden („Folge ich“), als Startseite die 51 Vgl. Schmitt (2018, 478). Schmitt definiert in diesem Aufsatz, dass die Autobiographie, um sich von einer Sammlung autobiographischer Akte zu differenzieren, ein geschlossenes ästhetisches Objekt sein muss. Unab- hängig davon, ob man dieser Auffassung zustimmt, würde ich mit Blick auf meine bisherigen Ausführungen festhalten, dass soziale Medien durchaus solch ein geschlossenes ästhetisches Artefakt produzieren, nur wird es nicht durch die einzelnen User:innen hergestellt, sondern durch den Automatismus der Seiten. 52 Vgl. Martínez, Weixler (2019, 62). 53 Laut Statista nutzen weltweit 698 Mio. Menschen gegenwärtig TikTok. Dabei fällt die Nutzungsquote bei über 15jährigen deutlich ab. Vgl. Statista (2021). 54 Vgl. abweichend dazu Martínez, Weixler (2019, 63). 55 Vgl. Martínez, Weixler (2019, 63). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
348 | Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken Funktion „Für dich“ angezeigt, eine Seite, auf der nicht nur die Inhalte der Profile ange- zeigt werden, denen die Nutzer:innen folgen, sondern Videos, die ein Algorithmus auf der Basis der bisherigen Aktivitäten und eingegebenen Interessen auswählt.56 Ähnlich wie bei Instagram werden die Videos mit einem kurzen Titel und vielen Hashtags versehen, es gibt die Möglichkeit, Videos zu liken, zu kommentieren, Kommentare zu lesen und den Sound eines Videos in einem Playback zu ‚zitieren‘. Auf diese Weise ist die Auseinandersetzung mit den Inhalten anderer User:innen noch um ein weiteres Format ergänzt: Im eigenen Video taucht nun die Stimme einer anderen Person auf, zu der die User:innen ihre Lippen bewegen. Das Auto/Biographische, das sich von Beginn an als Spezifikum sozialer Medien findet, wird hier also neu zugespitzt. Welche Kriterien der Algorithmus anlegt, um Videos und Nutzer:innen zusammenzubringen, ist dabei genauso undurchsichtig wie bei Facebook und Co., wird aber durch die noch stärkere Verschränkung von fremdem und eigenem Inhalt weitaus wichtiger. Worauf die User:innen auf ihrer Startseite stoßen, wird nun nicht mehr nur durch die eigens hergestellten Verknüpfungen bestimmt, sondern automatisch. Das Posthumane bekommt bei TikTok also eine ganz neue Bühne und löst das Ich aus dem Zirkel der Freund- und auch der Followerschaft heraus. Inhalte anderer werden nicht mehr nur mit Kommentar versehen im eigenen Profil geteilt, sondern sie verschmelzen als Klangspuren mit dem Video vom eigenen Gesicht und eigenen Körper. V. Fazit. Am Ende dieser kleinen Geschichte des auto/biographischen Schreibens in sozialen Medien möchte ich auf meine eingangs formulierten Thesen zurückkommen und versu- chen, einige Trends zu skizzieren, die sich aus der historischen Beobachtung ergeben haben. 1. Auto/biographisches Erzählen entfaltet sich in sozialen Medien zunehmend in Interak- tion zwischen User:innen, ihren Lesenden und dem Algorithmus, so dass der Schräg strich symbolisch für den Algorithmus als posthumanen biographischen Erzähler steht, dessen Einfluss und Sichtbarkeit zunimmt. Die auto/biographische Interaktion wird zunehmend automatisch gesteuert und ist damit nicht mehr in den Händen der pro- duzierenden und kommentierenden Nutzer:innen. Das kann problematisch sein, denn ‚automatisch‘ bedeutet nicht ‚neutral‘, ‚wertfrei‘. Algorithmen sind von Menschen ge- schaffene Codes, die möglicherweise Vorstellungen von dem, was lebensgeschichtlich relevant ist, perpetuieren. Diese Vorstellungen sind kulturell geprägt, und so könnte es zum Problem werden, dass die meisten sozialen Medien im Silicon Valley von weißen US-Amerikaner:innen und Europäer:innen programmiert werden. Denn dann können soziale Medien – düster formuliert – als kulturkoloniale Projekte gelesen werden, die die kulturelle Hegemonie eines spezifischen Kulturkreises im globalen Kontext zementie- ren, indem sich kulturell formierte Vorstellungen von Lebenserzählungen in die Selbst entwürfe der Individuen überall auf dem Globus einschleifen und diese präformieren. Man kann das aber natürlich auch positiv sehen und hier eine globale, transkulturelle Gesellschaft im Entstehen beobachten. Wie sich das ausgestaltet, ob als Hegemonie 56 In der Smartphone App werden die Funktionen oben nebeneinander dargestellt, wobei allerdings der „Für dich“-Bereich beim Öffnen der App zuerst angezeigt wird. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Kerstin Wilhelms: Auto/biographisches Erzählen in sozialen Netzwerken | 349 oder als transkulturelle Weltkultur, wird ganz praktisch davon abhängen, wie divers die Entscheidungsstellen in der Programmierung der Seiten in Zukunft besetzt werden und wie viele verschiedene kulturelle Vorstellungen von Lebensgeschichtlichkeit und Individualität gleichberechtigt im Design der Seiten formiert werden. Bislang lässt sich jedenfalls beobachten, dass die Tendenz zum Narrativen, zur Herstellung eines irgend- wie gearteten Zusammenhangs der einzelnen auto/biographischen Akte, ungebrochen ist. Wie stark dieser narrative Rahmen, den die Seiten kreieren, in einer bestimmten Kultur verankert ist, müsste noch untersucht werden. 2. Mit diesem Punkt hängt die Gestaltbarkeit des eigenen Online-Auftritts eng zusammen. Es gibt anscheinend eine Tendenz zu mehr Vergleichbarkeit, mehr Standardisierung der geteilten Inhalte, nicht nur durch das Design der Seite, auch durch die Fotos, die Orte, an denen die Fotos aufgenommen wurden, und die Posen, in denen sich die Menschen abbilden. Wenn es tatsächlich so ist, dass die jüngere Generation eher Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit inszeniert als subkulturelle Abgrenzung, wie sie bei früheren Generati- onen wichtig war, dann ist es wohl nicht von der Hand zu weisen, dass soziale Medien hier eine Rolle spielen, auch wenn der tatsächliche Einfluss schwer zu messen ist. 3. Soziale Medien zeichnen sich zudem durch ein spannungsvolles Verhältnis von In- timität und Öffentlichkeit aus, wobei ein Trend weg von intimen Kommunikati- onszirkeln, hin zu öffentlichen ‚Bühnen‘ auszumachen ist, was sich vor allem an der Veränderung der Bezeichnung von ‚Freunden‘ zu ‚Followern‘ erkennen lässt. Einen großen Einfluss auf die zuvor genannte Tendenz zu standardisierten Online-Auftrit- ten hat auch die Notwendigkeit, möglichst viele Follower zu erreichen und gleichzeitig keinen Anstoß zu erregen. Man orientiert sich an dem, was erfolgreich ist. 4. Auto/biographische Akte in sozialen Medien sind situativ und aktuell. Der Trend, einzelne auto/biographische Akte zu (auch visuellen) Erzählungen zusammenzufüh- ren, wird konterkariert von dem gleichzeitig stattfindenden Trend, auto/biographische Akte zunehmend flüchtig zu gestalten. Die blaue Linie bei Facebook ist verschwunden, dafür gibt es jetzt ‚Stories‘, die zwar schon in der Benennung einen narrativen Zusam- menhang der einzelnen Posts behaupten und diesen durch das chronologische Ein- blenden inszenieren, aber sie sind zugleich vergänglich, werden nach wenigen Stunden automatisch wieder gelöscht. Man kann also festhalten, dass sich der zunehmende Trend zum Lebenszusammenhang mit Vergänglichkeit paart. 5. Es gibt einen Trend zur Visualität, weg von der Schriftlichkeit, und damit verbun- dene Veränderungen des ‚Erzählens‘ von Lebensgeschichten. Dass aber nach wie vor ein Erzählen zumindest suggeriert wird, ist signifikant, auch wenn der Erzählzusam- menhang zunehmend visuell gestiftet wird, also z. B. durch die Abfolge des Einblen- dens einzelner Posts oder durch die blaue Linie als ‚Erzählfaden‘. In diesem Erzählen wird das die eigene Narration immer stärker mit den Inhalten anderer verflochten, es entsteht eine komplexe Landschaft aus Verweisen (Links und Hashtags) und Zitaten (geteilte Inhalte, Playbacks). Die Interaktion mit anderen User:innen bewegt sich aus den Kommentarspalten heraus und wird zum Teil der eigenen Inhalte. Das auto/bio- graphische Erzählen, und damit sei wiederum der Bogen zur ersten These geschlagen, gestaltet sich also in sozialen Medien als ein Trialog aus User:innen, ihren Followern bzw. Freunden und dem Algorithmus. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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