Wie der digitale Zwilling die Entwicklung beschleunigt

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Wie der digitale Zwilling die Entwicklung beschleunigt
aus ke NEXT 2021, Ausgabe 4

                            Trend- und Praxisbeitrag

                            Wie der digitale Zwilling die
                            Entwicklung beschleunigt
                            Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau können stark vom Konzept des digital
                            Twin (DT) profitieren. Zugleich sind noch viele Hürden zu überwinden: Dazu gehören
                            die neue, domänenübergreifende Zusammenarbeit, andere Skills in Entwicklung und
                            Konstruktion, aber auch bisher fehlende Standards.

                            M
                                        it dem digitalen Zwilling rückt der Lebenszy-
                                        klus von Komponenten und Anlagen in den
                                        Vordergrund“, sagt Daniel Stock, Group Lea-
                            der IT Architectures for Digital Production am Fraun-
                            hofer IPA. Das Industrial Internet Consortium definiert
                            einen digitalen Zwilling „als formelle digitale Repräsen-
                            tation eines Assets, Prozesses oder Systems, die Attribute
                            und Verhalten dieser Entität erfasst, die für die Kommu-
                            nikation, Speicherung, Interpretation oder Verarbeitung      „Die Anforderungen an bestimmte Skills steigen
                            in einem gewissen Kontext geeignet sind“. Und hier wird      – der digitale Zwilling ist eine zusätzliche, komple-
                            es schon komplex, denn es gibt eine ganze Reihe unter-       xe Technologie, für die Infrastruktur und Anwen-
                            schiedlicher Repräsentationen, erklärt Stock: „Es kann       dungen nötig sind. Qualifizierung und Schulung
                            sich um ein physikalisches Simulationsmodell handeln,
                                                                                         der Anwender sind deshalb wesentlich.“
                            das physikalisches Verhalten richtig simuliert – damit
Ausgangsbasis für           lässt sich im Änderungsmanagement schauen was pas-           Daniel Stock, Group Leader IT Architectures for Digital
die Modellerstellung                                                                     Production am Fraunhofer IPA
                            siert, wenn ein Element einer Anlage ausgetauscht wird.
mit Fe.screen-sim
ist der Import von
­Daten aus der
 ­mechanischen
  ­Konstruktion.
         Bild: F.EE GmbH
Wie der digitale Zwilling die Entwicklung beschleunigt
Schwerpunkt Automatisierung für die Handhabung

Genauso ist aber auch eine Betrachtung als Echtzeitab-                                      Das Fraunhofer IPA
bild der Anlage denkbar, bei dem Daten in Echtzeit ge-                                      bietet Demonstrato-
wonnen und mit einem Simulationsmodell gekoppelt                                            ren zum Thema DT:
werden.“ Wieder andere Ausprägungen des digital Twin                                        Hier sind Prozessver-
                                                                                            lauf und Fehlerzu-
sind 3D-Visualisierung, zum Beispiel der gesamten Fab-
                                                                                            stände der Anlage in
rik, oder Simulation.                                                                       einer Webanwen-
    Aus Sicht von Peter Scheller, PreSales Manager Engi-                                    dung zu sehen, die
neering bei Siemens, wird mit dem digital Twin die                                          sich aus den Digital-
Verzahnung in die Produktion hinein viel enger: „Die                                        Twin-Daten speist.
digitalen Zwillinge der Produktion können ständig auf                                          Bild: Fraunhofer IPA
das aktuelle Modell des Produkts referenzieren und so-
mit schon in der der frühen Produktentwicklungsphase
eine Parallelisierung der Entwicklung der Produktions-
umgebung bis hin zur virtuellen Inbetriebnahme erlau-
ben.“ Die Simulation von Produktverhalten und Pro-
duktionsprozess ermögliche eine Reduzierung der Feh-
ler und einen gut abgestimmten Produktionsstart. Zu-
dem könnten Produktionsstätten optimal ausgelastet
werden, da die Rüstzeiten durch die
digitale Validierung der Bearbei-
tungsprozesse wie CAM stark redu-
ziert werden können. Beim DT des
Produkts setzt Siemens nach eige-
nen Angaben auf einen rein 3-D-
orientierten Prozess, der das Wis-
sen in Modellen verankern und
Dokumente wie die 2-D-Zeichnun-
gen obsolet machen soll.

Hohes Effizienzpotenzial
„Die zukünftigen Entwickler kön-
nen sich auf die Aufgabe der Um-
setzung von Kundenanforderungen
konzentrieren und mit modellba-
sierten Lösungen technische Dinge
umsetzen, die in einer 2-D-Zeich-
nungswelt nicht möglich sind“, ist
sich Scheller sicher. „Wenn der di-
gital Twin lebt und genutzt wird,
lassen sich die realen Informatio-
nen aus dem Produkt für neue Ser-
vices wie Condition Monitoring
oder Preventive Maintenance nut-
zen“, erklärt Dr. Carsten Matysczok,
Senior Expert beim Beratungshaus
Unity. Zudem liefere der digital
Twin auch deutlich schnelleres
Feedback, wo es Probleme gibt.
„Die Identifikation von Änderun-
gen für die nächste Serie oder Up-
date-Notwendigkeiten erfolgt deut-
lich schneller – eine frühzeitige
Reaktion kann hier auch dazu bei-
tragen, dass sich teure Rückholak­
tionen vermeiden lassen“, so Dr.
Matysczok. Auch Trends hinsicht-
lich der Qualität würden früher
sichtbar. Wenn zum Beispiel klar
wird, dass sich Teile schneller als
geplant abnutzen, lasse sich schnell
gegensteuern, bevor Reklamations-
prozesse entstehen.
    Im Maschinen- und Anlagen-
umfeld könnte mit dem digital
Twin auch nachvollzogen werden,
Wie der digitale Zwilling die Entwicklung beschleunigt
Schwerpunkt Automatisierung für die Handhabung

                                                                                        „Es gibt nicht den einen digital Twin.
                                                                                        Stattdessen ist es wichtig, sich vorab
                                                                                        darüber bewusst zu sein, wer den digi-
                                                                                        tal Twin nutzen wird und welche Daten
                                                                                        für diese Person relevant sind. So benö-
                                                                                        tigt beispielsweise ein Konstrukteur
                                                                                        mehr und andere Daten als eine Person
                                                                                        aus dem Vertrieb.“
                                                                                        Markus Hannen, Vice President Go-To-Market
                                                                                        bei PTC
Digitale Zwillinge
lassen sich auf der
IoT-Plattform Thing-       welche Funktionen überhaupt genutzt werden und sinn-         schleunigt werden: So könnten auch Mitarbeiter anderer
Worx von PTC abbil-        voll sind – schließlich kostet jede Funktion Geld und        Abteilungen oder Standorte immer an allen Ideen zu-
den, dabei unter-          Weiterentwicklungsaufwand. „In den Digital-Twin-             sammenarbeiten.
stützt Vuforia für         Konzepten werden frühzeitig 3D-Modelle entwickelt,               Die Hauptherausforderung liegt aus Sicht von Exper-
Augmented Reality          das unterstützt einerseits beim Simultaneous Enginee-        ten ganz klar darin, dass alle Domänen enger zusammen
bei der Arbeit.            ring, andererseits kann die Produktion diese Daten früh      rücken und ein gemeinsames Verständnis, gleiche Be-
Bild: PTC Vuforia          nutzen, um Betriebsmittel zu entwickeln und zu planen“,      grifflichkeiten und eine einheitliche Plattform brauchen.
Aerospace                  führt auch der Unity-Experte an.                             „Viele Unternehmen arbeiten derzeit daran, eine Har-
                                                                                        monisierung der Definitionen und Begrifflichkeiten
                           Traditionelles Prototyping oft nicht mehr nötig              zwischen den fachlichen Bereichen zu erreichen. Die
                           Aus Sicht von Daniel Stock beschleunigt der digitale         Einigung auf einen einheitlichen, standardisierten digi-
                           Zwilling die Prozesse insbesondere, weil Prototypen oft      tal Twin spart erhebliche Komplexitätskosten“, sagt Da-
                           obsolet werden. Die digitale Simulation ist auch deutlich    niel Stock. Der größte Wert entsteht dann, wenn der
                           schneller als 3-D-Druck, der das Prototyping bereits         Lebenszyklus nicht nur intern, sondern auch über die
                           verändert hat: Es ist nur eine andere Parametrisierung       Prozesse beim Kunden hinweg gesamtheitlich betrachtet
                           nötig. Wo früher physische Prototypen unverzichtbar          wird, damit Erfahrung aus den digitalen Services wie
                           waren, hilft das virtuelle Abbild, Schwachstellen und        Predictive Maintenance direkt wieder in die Entwick-
                           Optimierungspotenziale zu identifizieren, bevor das          lung einfließt.
                           Produkt in der Realität existiert. Der virtuelle Raum            Damit eine domänenübergreifende Zusammenarbeit
                           wird dadurch zu einer Art Testlabor, glaubt man bei          funktioniert, muss jedoch die Datenbasis stimmen. „Es
                           Dassault. „Dieses Vorgehen spart nicht nur Zeit und          gibt nicht den einen digital Twin. Stattdessen ist es wich-
                           Geld, sondern schont auch physikalische Ressourcen,          tig, sich vorab darüber bewusst zu sein, wer den digital
                           was Unternehmen dabei hilft, ihre Wertschöpfungskette        Twin nutzen wird und welche Daten für diese Person
                           nachhaltiger zu gestalten und den eigenen ökologischen       relevant sind. So benötigt beispielsweise ein Konstruk-
Das Bild zeigt ein         Fußabdruck zu verkleinern“, gibt Dr. Darko Sucic zu          teur mehr und andere Daten als eine Person aus dem
Beispiel für einen         bedenken, Director Delmia Technical Sales bei Dassault       Vertrieb“, konstatiert Markus Hannen, Vice President
­digitalen Zwilling        Systèmes. Mithilfe digitaler Zwillinge auf einer zentralen   Go-To-Market beim PLM-Hersteller PTC. Damit der
 von Siemens.
                           Datenplattform sollen Prozesse demnach deutlich be-          digital Twin zielgerichtet genutzt werden könne, müss-
          Bild: Siemens

                                                                                        „Es kommen deutlich mehr Felddaten auf die
                                                                                        ­Unternehmen zu. Es braucht das Know-how, sie
                                                                                         zu analysieren und wirklich zu verstehen, damit
                                                                                         das Projekt nicht zum Datengrab wird.“
                                                                                        Dr. Carsten Matysczok, Senior Expert
                                                                                        bei Unity
Wie der digitale Zwilling die Entwicklung beschleunigt
Schwerpunkt Automatisierung für die Handhabung

                                                „Die zukünftigen Entwickler können              „Entwicklungsabteilungen, die ge-
„Dieses Vorgehen spart nicht nur Zeit
                                                sich auf die Aufgabe der Umsetzung              wohnt sind, einzelne Stadien nur frei-
und Geld, sondern schont auch physi-
                                                von Kundenanforderungen kon-                    zugeben, wenn alles komplett abgesi-
kalische Ressourcen, was Unternehmen
                                                zentrieren und mit modellbasierten              chert ist, müssen sich auf einen „Proud-
dabei hilft, ihre Wertschöpfungskette
                                                Lösungen technische Dinge umsetzen,             to-Share“-Gedanken und das Teilen von
nachhaltiger zu gestalten und den
                                                die in einer 2D-Zeichnungswelt nicht            Entwürfen in frühen Phasen einstellen.“
eigenen ökologischen Fußabdruck
                                                möglich sind.“                                  Jörg Greitemeyer,
zu verkleinern.“
                                                Peter Scheller, PreSales Manager Engineering    Senior-Geschäftsfeldleiter
Dr. Darko Sucic, Director Delmia Technical      bei Siemens                                     bei Unity
Sales bei Dassault Systèmes

ten die benötigten Daten an den jeweiligen Stellen ver-     System. Die Steuerungssoftware kann so gleich in Dev­
fügbar sein, ohne die Nutzer zu überfordern. Letztlich      Ops-Prozesse und moderne Versionierungs- und Ent-
geht es beim Thema DT wohl auch nicht ohne einen            wicklungstools eingebunden werden.
Kulturwandel. „Der digital Twin schafft mehr Transpa-
renz, das kann auch mal wehtun“, so formuliert es Jörg      Wo die Reise hingeht
Greitemeyer, Senior-Geschäftsfeldleiter bei Unity: „Ent-    Vom Modell, mit dem zukünftiges Verhalten prognos-
wicklungsabteilungen, die gewohnt sind, einzelne Sta­       tiziert wird, bis hin zur smarten, wandelbaren Fabrik,
dien nur freizugeben, wenn alles komplett abgesichert       die sich autonom anpasst: In den äußerst unterschied-
ist, müssen sich dann auf einen „Proud-to-Share“-Ge-        lichen Anwendungsszenarien für digitale Zwillinge
danken und das Teilen von Entwürfen in frühen Phasen        müssen oft Insel-Lösungen genutzt und zusammenge-
einstellen.“                                                steckt werden, berichtet Carsten Matysczok. Die
                                                            Schnittstellen seien dabei regelmäßig ein Problem,
Neues Skillset gefragt                                      zudem müsse mit den Security-Anforderungen bei
Generell ist eine höhere Technologiekompetenz für           der Öffnung der Produktion in Richtung Cloud um-
Digital-Twin-Konzepte in der Organisation notwendig,        gegangen werden. Datenintegrität wird bei der Ver-
von der Sensorik über beispielsweise Simulationsmo-         knüpfung vieler Quellen ebenfalls zum K.-o.-Krite­
delle und Daten. „Es kommen deutlich mehr Felddaten         rium. DT-Projekte sind als strategische Investitions-
auf die Unternehmen zu. Es braucht das Know-how, sie        vorhaben zu betrachten, weiß Jörg Greitemeyer: „Un-
zu analysieren und wirklich zu verstehen, damit das         ternehmen können keinen kleinen Piloten für 50 000
Projekt nicht zum Datengrab wird“, stellt Matysczok         Euro aufbauen, um direkt End-to-End-Effekte mit ei-
fest. Auch Daniel Stock meint: „Die Anforderungen an        nem digital Twin zu erzielen. Vielmehr müssen sich
bestimmte Skills steigen – der digitale Zwilling ist eine   Unternehmen strategisch mit dem Thema auseinan-
zusätzliche, komplexe Technologie, für die Infrastruk-      der setzen.“ Deshalb gelte es, Bottom-up zu schauen,
tur und Anwendungen nötig sind. Qualifizierung und          was die richtigen Anwendungen sind und welchen
Schulung der Anwender sind deshalb wesentlich.“ Es          Kunden damit Nutzen geboten werden kann. Zugleich
brauche Mitarbeitende, die in der Lage sind, mit unter-     sei eine Top-down-Sicht und das Engagement des
schiedlichen Tools umzugehen, Informationen zu mo-          Managements gefragt.
dellieren und implizites sowie explizites Wissen zu             Bisher gibt es keinen verbindlichen Standard, auch
Konstruktion, Entwurf und Anwendungsprozessen in            wenn unter Hochdruck daran gearbeitet wird, beispiels-
Informationen zu gießen, die von anderen verstanden         weise im Rahmen der Asset Administration Shell (AAS)
werden können.                                              der Plattform Industrie 4.0 und der Industrial Digital
    Doch vor allem ist der digital Twin ein Softwarethe-    Twin Association, die von vielen großen Playern mitent­
ma: Hier haben viele Maschinenbauer, die vor allem in       wickelt wird. Ein Standard soll in der ersten Version bis
der Mechatronik unterwegs sind, oft noch Nachholbe-         Ende des Jahres bereitstehen, in den nächsten drei bis
darf, beispielsweise bei Hochsprachen für die Anlagen-      fünf Jahren könnte er sich in der Fläche etablieren,
steuerung, weiß Stock. Das gilt insbesondere auch bei       schätzt Daniel Stock: „Wenn sich Unternehmen die Mü-
Tools, die sich im Cloud-Umfeld bewährt haben. Mit der      he machen, in Infrastruktur, Anwendungen und Ausbil-
passenden Cloud-Infrastruktur as a Service lassen sich      dung zu investieren, dann muss das verlässlich sein und
jedoch viele Komplexitätsprobleme wieder einfangen, so      über alle Unternehmen hinweg gleich gestaltet werden.“
der Fraunhofer-Experte. Ein wichtiges Thema, das eben-      Für KMU seien die Kosten eine der größten Hürden. In
falls immer mehr Einzug in Maschinenbau, Produktion         der Forschung ist man deshalb bemüht, innovative Lö-
und Entwicklung Einzug hält: Die Steuerung wird nicht       sungen zu entwickeln, mit denen sich diese Herausfor-
mehr als geschlossenes proprietäres System umgesetzt,       derungen in den Griff bekommen lassen.             aru n
sondern auf X86- oder ARM-Architektur als Embedded                     Daniela Hoffmann, freie Autorin für ke NEXT
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