Wie die Ungerechtigkeit triumphierte - Von Emmanuel Saez und Gabriel Zucman - Blaetter .

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Wie die Ungerechtigkeit
                       triumphierte
                       Von Emmanuel Saez und Gabriel Zucman

                   I  mmer mehr Menschen sind der Ansicht, dass die Wirtschaft in den ent-
                      wickelten Ländern nicht zum Wohle der Arbeiter- und teilweise ebenso
                   wenig zu dem der Mittelschicht funktioniert. Diese Auffassung wird vermut-
                   lich nirgends so vehement vertreten, und das aus guten Gründen, wie in den
                   Vereinigten Staaten – wo das Einkommen der Arbeiterschicht seit 1980 stag-
                   niert, wo die Lebenserwartung fällt, wo die Ultrareichen weniger Steuern
                   zahlen als Lehrer und einfache Angestellte, und wo junge Erwachsene ihr
                   Erwerbsleben mit enormen Schulden beginnen.
                      Wie aber kam die Regierung eines Landes, das jahrzehntelang hohe Ein-
                   kommen mit 90 Prozent besteuert hatte, Mitte der 1980er Jahre auf den
                   Gedanken, dass stattdessen 28 Prozent besser wären? Wie kam es, dass
                   Ronald Reagan an jenem 22. Oktober 1986 den Tax Reform Act durch seine
                   Unterschrift in Kraft setzen konnte, womit die USA, die jahrelang Vorreiter
                   bei der quasikonfiskatorischen Besteuerung hoher Einkommen gewesen
                   waren, alsbald den niedrigsten Spitzensteuersatz in der industrialisierten
                   Welt ansetzen würden? Und wie kam es, dass nach drei Wochen Plenarde-
                   batte der Gesetzentwurf im Senat mit 97 zu 3 Stimmen angenommen wurde?
                   Denn die Demokraten Ted Kennedy, Al Gore, John Kerry und Joe Biden
                   stimmten damals alle enthusiastisch mit Ja.
                      Dabei war das Gesetz in der Bevölkerung keineswegs sonderlich popu-
                   lär. Aber man kann schwerlich übertreiben, auf welch hohe Begeisterung
                   es unter den politischen und intellektuellen Eliten des Landes stieß. Für sie
                   repräsentierte es den Triumph der Vernunft – den Sieg des Allgemeinwohls
                   über das Eigeninteresse und den Beginn einer neuen Ära von Wachstum und
                   Wohlstand. Mittlerweile gilt das Gesetz dagegen weithin als eine der Haupt-
                   ursachen für die explosionsartige Zunahme der Ungleichheit. Und dennoch
                   denken diejenigen, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, bis
                   heute gerne an jenen Moment zurück. Für die Parteigänger unter den Ökono-
                   men an amerikanischen Universitäten kommt es einer beruflichen Verpflich-
                   tung gleich, auf die Verdienste des Gesetzes hinzuweisen. Diese fundamen-
                   tale Kehrtwende von 1986 spiegelt teilweise dramatische Veränderungen in

                   * Der Beitrag basiert auf dem dritten Kapitel von „Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und
                     Ungleichheit im 21. Jahrhundert“, dem neuen Buch von Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, das
                     soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Übersetzung aus dem Englischen: Frank Lachmann.

                                                                         Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2020

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                   Politik und Ideologie wider, die zu Reagans Wahlsieg sechs Jahre zuvor bei-
                   getragen hatten – und die in erheblichem Maße bis heute anhalten. Indem sie
                   die Anti-Steuer-Rhetorik des Südens aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg reak-
                   tiviert und ihr einen modernen Anspruch verliehen hatte, war es der Repu-
                   blikanischen Partei gelungen, eine Allianz aus gut verdienenden Wählern
                   im ganzen Land und weißen Südstaatlern zu schmieden. Die seit ihrer Grün-
                   dung im Jahr 1947 von der Mont Pèlerin Society vertretenen Vorstellungen
                   von einem schlanken Staat, verkörpert im Jahr 1964 durch den Präsident-
                   schaftskandidaten Barry Goldwater und in den 1970er Jahren weiter verbrei-
                   tet durch ein Netzwerk konservativer Stiftungen, hatten ihren Weg in den
                   Mainstream gefunden und wurden zu den politisch vorherrschenden Ideen.

                      Die Regierung schützt das Eigentum

                   Nach dieser Ideologie besteht die primäre Aufgabe von Regierungen darin,
                   Eigentumsrechte zu schützen. Der wichtigste Wachstumsmotor sind die nach
                   Profitmaximierung strebenden Unternehmen, die ihre Steuerlast zu mini-
                   mieren versuchen. Dieser Weltanschauung zufolge „gibt es so etwas wie die
                   Gesellschaft nicht. Es gibt bloß individuelle Männer und Frauen“, so Reagans
                   wichtigste Mitstreiterin, die britische Premierministerin Margret Thatcher.1
                   Für den atomisierten Einzelnen bedeutet Steuern zu zahlen einen Totalver-
                   lust zu erleiden, der einem legalisierten Raub gleichkommt.
                      Und tatsächlich prangerte Reagan bei seiner Ansprache auf dem Rasen des
                   Weißen Hauses, den Füller im Anschlag, ein Steuersystem an, das „uname-
                   rikanisch“ geworden sei. Sein „steil progressiver Charakter“ habe „das wirt-
                   schaftliche Leben des Einzelnen in seinem Innersten getroffen“. Das neue
                   Gesetz sei dagegen „das beste Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen,
                   das jemals aus dem Kongress der Vereinigten Staaten hervorgegangen ist“.2
                      Doch allein deswegen wäre Reagans Steuerreform wohl nicht durch den
                   von den Demokraten kontrollierten Kongress gekommen – ganz zu schwei-
                   gen davon, dass sie mit einer so überwältigenden Mehrheit im Senat ange-
                   nommen worden wäre. Hinter ihrem Siegeszug steckte noch etwas anderes.
                   Sowohl Reagan als auch den Demokraten zufolge, die den Gesetzentwurf
                   begrüßt hatten, blieb dem Gesetzgeber gar keine andere Wahl. Die Einkom-
                   mensteuer war ein einziges Chaos, der Missbrauch hatte ungeheure Aus-
                   maße angenommen. In dieser Situation blieb der Regierung angeblich nur
                   eins: die Steuersätze senken und gleichzeitig Schlupflöcher schließen, um
                   die geringeren Einnahmen wettzumachen. Der Tax Reform Act von 1986 ver-
                   anschaulicht damit exemplarisch, wie ein System progressiver Besteuerung
                   stirbt. Es geht nicht demokratisch zugrunde, es wird nicht vom Wählerwil-
                   len zerlegt, sondern es wird bewusst zugrunde gerichtet. Wenn man sich die

                   1 Margaret Thatcher im Interview mit dem britischen Magazin „Woman‘s Own“ im September 1987,
                     www.margaretthatcher.org/document/ro6689.
                   2 Ronald Reagan, Bemerkungen vor der Unterzeichnung des Tax Reform Act am 22. Oktober 1986,
                     www.americanrhetoric.com.

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                   meisten der größten Rücknahmen progressiver Besteuerung ansieht, stößt
                   man stets auf ein bestimmtes Muster: Als Erstes nimmt die Steuerumgehung
                   massiv zu. Dann folgt die Klage von Regierungen, die Reichen zu besteuern
                   sei unmöglich geworden. Anschließend werden deren Steuersätze gekürzt.
                      Diese Spirale zu begreifen – Wie kommt es überhaupt zur Steuervermei-
                   dung? Und warum gebieten die Regierungen ihr nicht Einhalt? – ist entschei-
                   dend, um die bisherige Geschichte der Steuern zu verstehen und um eine
                   steuergerechtere Zukunft zu schaffen.

                      Der Preis für eine zivilisierte Gesellschaft

                   In der simplifizierten Welt der Ökonomen ist der Steuervollzug eine einfache
                   Angelegenheit: Um sicherzustellen, dass die Menschen zahlen, muss man
                   lediglich mit regelmäßigen Steuerprüfungen drohen, Steuerhinterzieher
                   bestrafen und ein unkompliziertes Steuersystem ohne Schlupflöcher etablie-
                   ren. Diese Dinge sind zweifellos wichtig und nötig. Wenn Steuerhinterzieher
                   mit großer Wahrscheinlichkeit entdeckt werden und hohe Strafen zu erwar-
                   ten haben, werden weniger Menschen betrügen. Weist die Steuergesetz-
                   gebung hingegen zahlreiche Ausnahmen für Sonderinteressen auf, dann
                   werden mehr und mehr Menschen den Fiskus zu umgehen versuchen.
                      In der wirklichen Welt aber braucht es mehr als unkomplizierte Gesetze
                   und gewissenhafte Prüfer, damit die Besteuerung funktioniert. Nötig ist ein
                   System geteilter Überzeugungen: dass kollektives Handeln Vorzüge hat (die
                   Vorstellung, dass wir wohlhabender sind, wenn wir unsere Ressourcen bün-
                   deln, statt isoliert zu handeln); dass dem Staat bei der Organisation dieses
                   kollektiven Handelns eine zentrale Rolle zukommt; und dass die Demokratie
                   wertvoll ist. Wenn diese Überzeugungen dominieren, kann sogar das pro-
                   gressivste Steuersystem überdauern. Wenn sie sich aber nicht durchsetzen,
                   werden die entfesselten und legitimierten Kräfte der Steuerumgehung selbst
                   die raffiniertesten Steuerbehörden in die Knie zwingen und die beste Steuer-
                   gesetzgebung aushebeln.
                      Diese Geschichte – zunächst die Akzeptanz und schließlich die Aufgabe
                   des Glaubens an das kollektive Handeln – ist die des wahrscheinlich progres-
                   sivsten Steuersystems der Weltgeschichte, einer Hinterlassenschaft des New
                   Deal. Es besteuerte erfolgreich 30 Jahre lang die Reichen – nicht nur auf dem
                   Papier, sondern tatsächlich. Die 80- bis 90prozentigen Spitzensteuersätze
                   bei der Einkommensteuer, die von den 1930er bis in die 1970er Jahre galten,
                   betrafen zwar absichtlich nur wenige Personen. Doch wenn man alle Steuern
                   zusammennimmt, überstiegen die effektiven Steuersätze für die sehr Wohl-
                   habenden 50 Prozent. Die Steuerhinterziehung war unter Kontrolle.
                      In den 1930er Jahren entwickelte Franklin D. Roosevelt als Erster jene
                   Strategie des Steuervollzugs, die Steuerhinterziehung und -vermeidung in
                   den folgenden Jahrzehnten in Schach halten sollte. Er stattete die Bundes-
                   steuerbehörde IRS mit den nötigen rechtlichen Befugnissen und finanziellen
                   Mitteln aus, um den Geist der Steuergesetzgebung durchzusetzen. Wichti-

                                                                     Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2020

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                   ger noch: Er nahm sich Zeit, um den Menschen zu erklären, warum Steuern
                   wichtig waren. Er appellierte an die Moral und zeigte Steuerhinterziehern
                   die kalte Schulter: „Richter Holmes3 hat gesagt: ‚Steuern sind das, was wir
                   für eine zivilisierte Gesellschaft bezahlen‘ [jene Worte, die über dem Ein-
                   gang zum Hauptsitz des Internal Revenue Service in Washington, DC, pran-
                   gen]. Zu viele aber möchten die Zivilisation zum Sonderpreis haben.“ So for-
                   mulierte es Roosevelt in seiner Rede vor dem Kongress am 1. Juni 1937: Von
                   der Eindämmung der Steuerhinterziehung hing die Zivilisation ab. Und bis
                   in die 1970er Jahre hinein begrenzten soziale Normen wie diese tatsächlich
                   die Nachfrage unter den Steuerzahlern nach zweifelhaften Tricks und Knif-
                   fen. Gesetze und Regulierungen, die diese Normen explizit machten, hielten
                   die meisten US-Bürger davon ab, Schlupflöcher im Bundessteuergesetz aus-
                   zunutzen.
                      Das Steuersystem des New Deal war nicht perfekt. Die wichtigste Schwä-
                   che bestand darin, dass Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften von
                   den 1930er Jahren bis zum Jahr 1986 geringer besteuert wurden als andere
                   Einkommensarten. Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften liegen
                   immer dann vor, wenn ein Vermögenswert – wie zum Beispiel Unterneh-
                   mensanteile – teurer verkauft wird, als er erworben wurde. Der resultierende
                   Profit wird in den USA zwar dem zu versteuernden Einkommen zugerechnet,
                   aber steuerlich begünstigt. Als der Spitzensatz bei der Einkommensteuer
                   die 90-Prozent-Marke überschritt, wurden Gewinne aus privaten Veräuße-
                   rungsgeschäften mit nur 25 Prozent besteuert.4 Man kann über die Vor- und
                   Nachteile ermäßigter Steuersätze auf diese Profite streiten. Ein offensicht-
                   licher Mangel einer solchen Politik besteht aber darin, dass sie die Wohlha-
                   benden dazu animiert, ihr Einkommen in Form von Gewinnen aus privaten
                   Veräußerungsgeschäften statt als Dividenden oder Arbeitseinkommen zu
                   erzielen. Sie eröffnet Möglichkeiten zur Steuervermeidung.
                      Angesichts der hohen Spitzensteuersätze in den Nachkriegsjahrzehnten
                   liegt natürlich die Vermutung nahe, dass die Steuerumgehung außer Kont-
                   rolle geriet. Die Reichen werden der Verlockung ja sicher nicht widerstanden
                   haben, aus steuerlichen Gründen ihre hoch besteuerten Arbeitseinkommen
                   und Dividenden in weniger besteuerte Gewinne aus privaten Veräußerungs-
                   geschäften zu transformieren.
                      Doch schauen wir uns die Daten an: Seit 1986 machen Gewinne aus pri-
                   vaten Veräußerungsgeschäften jährlich 4,1 Prozent des durchschnittlichen
                   Nationaleinkommens aus. Von 1930 bis 1985, als die Spitzensteuersätze für
                   diese Profite deutlich niedriger waren als die für reguläres Einkommen –
                   und daher auch die Anreize zur Umdeklarierung regulärer Einkommen in
                   Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften viel größer waren –, lag der
                   entsprechende Wert bei 2,2 Prozent. Trotz massiver steuerlicher Begüns-

                   3 Gemeint ist Oliver Wendell Holmes Jr., von 1902 bis 1932 Richter am Obersten Gerichtshof der Ver-
                     einigten Staaten; Anm. d. Übers.
                   4 Seit 1922, als die ermäßigten Steuersätze auf Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften ein-
                     geführt wurden, lag der höchste Steuersatz für die langfristigen dieser Profite immer unter 40 Pro-
                     zent. Der Höchstsatz belief sich von 1942 bis 1964, der Ära der quasikonfiskatorischen Spitzensätze
                     bei der Einkommensteuer, auf 25 Prozent.

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                   tigung waren die Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften in den
                   Jahrzehnten nach dem Krieg also gering. Einige wohlhabende Steuerzah-
                   ler werden ihr reguläres Einkommen damals sicher in Gewinne aus priva-
                   ten Veräußerungsgeschäften umgegliedert haben, doch im großen Maßstab
                   geschah dies nicht.
                      Warum nicht? Weil es die Regierungen nicht erlaubten. Es gibt nicht unend-
                   lich viele Möglichkeiten, reguläre Einkommen wie Gewinne aus privaten
                   Veräußerungsgeschäften aussehen zu lassen. Die wichtigste Strategie waren
                   Aktienrückkäufe. Wenn Unternehmen Anteile an sich zurückkaufen, hat
                   dies, ebenso wie die Ausschüttung von Dividenden, den Effekt, dass Barmit-
                   tel aus den Firmen in die Taschen der Anteilseigner fließen. Der wesentliche
                   Unterschied zwischen den beiden Arten von Auszahlungen sind ihre steuer-
                   lichen Folgen: Aktienrückkäufe generieren Gewinne aus privaten Veräuße-
                   rungsgeschäften für die Anteilseigner, die den Unternehmen ihre Anteile
                   verkaufen. Vor 1982 waren Aktienrückkäufe illegal. Die gesellschaftliche
                   Norm, so wie sie in Gesetzen Gestalt angenommen hatte, lautete, dass Firmen
                   Gewinne in Form von Dividenden an ihre Eigentümer auszahlen sollten. Und
                   Dividenden unterlagen der progressiven Einkommensbesteuerung.5

                      Die Strategie der Steuervermeidung

                   Eine weitere Möglichkeit, wie Wohlhabende Steuern vermeiden konnten,
                   bestand darin, von ihren Arbeitgebern Einkommen in Form steuerfreier
                   Sachzuwendungen zu beziehen: Firmenjets, luxuriös ausgestattete Büros,
                   opulente Essen, Firmen-„Seminare“ auf Cape Cod oder in Aspen und so wei-
                   ter. Diese Dinge sind schwerer zu beziffern als Gewinne aus privaten Veräu-
                   ßerungsgeschäften. In den zeitgenössischen Berichten über den Lebensstil
                   von Führungskräften in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren finden sich
                   jedoch keine Belege dafür, dass solche Sachleistungen besonders häufig oder
                   umfangreich gewesen wären. Der Ökonom Challis Hall untersuchte kurz
                   nach dem Zweiten Weltkrieg die Entlohnung von Führungskräften. Er kam
                   zu dem Schluss, dass „Ausgaben, welche die Kosten für die leitenden Ange-
                   stellten tatsächlich verringern und ein zusätzliches Einkommen darstellen,
                   von großen Firmen nur in einem vernachlässigbaren Umfang übernommen
                   werden“.6 Nun, heute dinieren CEOs nicht unbedingt sparsam. Auch bei der
                   Nutzung firmeneigener Jets sind sie nicht gerade zurückhaltend. Aber bis zu
                   den 1980er Jahren war ein verschwenderischer Umgang mit Firmengeldern
                   für Manager einfach keine gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise.
                      Tricks und Kniffe zur Steuervermeidung kamen zwar regelmäßig auf, wur-
                   den aber rasch untersagt. 1935 wurde der Spitzensteuersatz bei der Einkom-
                   mensteuer durch den Revenue Act auf 79 Prozent angehoben, den bislang

                   5 Die Ökonomen, blind für diese gesellschaftliche Norm, konnten nicht begreifen, warum Firmen
                     Dividenden zahlten, und nannten dies das „Dividendenrätsel“.
                   6 Vgl. Challis A. Hall, Effects of Taxation on Executive Compensation and Retirement Plans, Bd. 3,
                     Boston 1951, S. 54.

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                   höchsten Satz. Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes suchten die Rei-
                   chen nach Möglichkeiten, sich vor ihren neuen Abgaben zu drücken. Nach
                   seiner Rede an den Kongress im Jahr 1937 ließ Roosevelt dem Parlament
                   einen Brief des damaligen Finanzministers Henry Morgenthau Jr. zukom-
                   men, der acht Instrumente zur Steuervermeidung auflistete, die sich ver-
                   breitet hatten und sofort verboten werden sollten. Das erste davon war „die
                   Methode, Steuern zu umgehen, indem ausländische persönliche Holding-
                   gesellschaften auf den Bahamas, in Panama, Neufundland und an anderen
                   Orten gegründet werden, wo die Steuern niedrig und das Gesellschaftsrecht
                   lasch ist“.7 1936 hatten reiche US-Amerikaner Dutzende Offshore-Briefkas-
                   tenfirmen gegründet, denen sie das Eigentum an ihrem Aktienbestand und
                   ihren Anleiheportfolios übertrugen. Diese Briefkastenfirmen strichen dann
                   anstelle ihrer leibhaftigen Eigentümer Dividenden und Zinsen ein und ent-
                   zogen sich damit der Besteuerung in den Vereinigten Staaten. Die Regierung
                   reagierte darauf schnell mit einer Gesetzesänderung, mit der dieses Vor-
                   gehen ausdrücklich untersagt wurde. Von 1937 an wurde sämtliches Ein-
                   kommen, das von ausländischen Holdings unter der Kontrolle von US-Ame-
                   rikanern erwirtschaftet wurde, unmittelbar in den USA steuerpflichtig. Der
                   Besitz ausländischer Holdinggesellschaften aus Gründen der Steuervermei-
                   dung wurde damit auf einen Schlag sinnlos.
                      Auf ähnliche Weise hatte in den 1960er Jahren eine wachsende Zahl rei-
                   cher US-Bürger das Recht zum eigenen Vorteil genutzt, indem sie steuerlich
                   absetzbare wohltätige Spenden an private Stiftungen zahlten, die sie selbst
                   kontrollierten. „Wohltätig“ waren diese Spenden indes nicht: Die Stiftungen
                   ließen ihre finanziellen Zuwendungen ihren Gründern, deren Familien oder
                   Freunden zukommen oder machten politisch motivierte Geschenke. Der
                   Tax Reform Act von 1969 griff hart gegen solche missbräuchlichen Prakti-
                   ken durch und erzielte unmittelbar Ergebnisse: Innerhalb von nur wenigen
                   Jahren, nämlich von 1968 bis 1970, brach die Zahl neu gegründeter privater
                   Stiftungen um 80 Prozent ein. In der Folge dieser Reform gingen die „wohl-
                   tätigen“ Spenden der Reichen dauerhaft um 30 Prozent zurück.8
                      Roosevelts Strategie funktionierte so lange, wie die nachfolgenden Regie-
                   rungen das Glaubenssystem aus der Ära des New Deal aufrechterhielten.
                   Das änderte sich in den frühen 1980er Jahren. „Die Regierung ist nicht die
                   Lösung unseres Problems, die Regierung ist das Problem“, so der berühmte
                   Ausspruch Reagans in seiner Antrittsrede im Januar 1981.9 Sollte so man-
                   cher dazu verlockt sein, die Steuer zu umgehen, könne ihm kein Vorwurf
                   gemacht werden, denn die Steuersätze waren hoch und damit „unamerika-
                   nisch“. In der neuen Ideologie, die in den frühen 1980er Jahren die USA im
                   Sturm eroberte, wurde die Steuerumgehung zu einer patriotischen und – da
                   dem wiederbelebten libertären Credo zufolge galt, dass „Besteuerung Raub

                   7 Joint Committee on Tax Evasion and Avoidance, Report of the Joint Committee on Tax Evasion and
                     Avoidance, S. 1.
                   8 Vgl. Gabrielle Fack und Camille Landais (Hg.), Charitable Giving and Tax Policy. A Historical and
                     Comparative Perspective, Oxford 2016, Abb. 4.5 und 4.7.
                   9 Ronald Reagan, Amtsantrittsrede vom 20. Januar 1981, www.reaganfoundation.org/media/r28614/
                     inaguration.pdf.

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Wie die Ungerechtigkeit triumphierte 63

                   ist“ – auch zu einer moralischen Pflicht. Bis in die 1970er Jahre hatten die
                   Regierungen die Steuervermeidungsindustrie bekämpft. Nach dem Einzug
                   Reagans ins Weiße Haus 1981 konnte sie mit staatlichem Segen agieren. Der
                   Irrsinn mit den Steuersparmodellen konnte beginnen.
                      Wobei „Irrsinn“ das Ausmaß dessen, was sich abspielte, nicht einmal
                   ansatzweise einfängt. Die Industrie verzeichnete ein explosionsartiges
                   Wachstum. Ein ganzes Netzwerk aus Finanzunternehmern, Promotern und
                   Beratern stürmte auf den Markt. Einige Anbieter verlangten von ihren Mit-
                   arbeitern eine neue Idee pro Woche.10 Sie sprudelten über vor Kreativität und
                   brachten bahnbrechende Verfahren zur Steuerumgehung hervor. Für jedes
                   besonders unverfrorene Verfahren, das vom IRS untersagt wurde, entstan-
                   den gleich mehrere neue, die im „Wall Street Journal“ und in den Finanztei-
                   len führender Zeitungen beworben wurden wie Zahnpasta. Die Magie der
                   Marktwirtschaft war vollkommen entfesselt; der Wettbewerb ließ die Preise
                   für solche Steuersparpläne purzeln. Und wie bei jedem anderen Produkt in
                   einer Marktwirtschaft bereicherte auch deren Erfindung sowohl ihre Her-
                   steller als auch die Konsumenten: Finanziers, Promoter und Berater strichen
                   Provisionen ein, und die Steuervermeider erhöhten ihre Nettoprofite. Auf
                   diese Weise entstanden große Mengen von Mehrerträgen, wie die Ökono-
                   men diese Gewinne nennen. Allerdings mit einem kleinen Haken, denn diese
                   Mehrerträge wurden Dollar für Dollar auf Kosten der übrigen Gesellschaft
                   erzielt.

                      Der Urknall der Steuerumgehung

                   Das ikonische Produkt der Reagan-Ära – der iPod der Steuerumgehung,
                   wenn man so will – wurde als Steuersparmodell (tax shelter) bekannt. Es
                   funktionierte wie folgt: Die Einkommensteuer erlaubt es den Steuerpflich-
                   tigen, Unternehmensverluste mit jeder Art von Einkommen zu verrechnen.
                   Die Steuervermeidungsindustrie begann daher, Investitionen in Unterneh-
                   men zu verkaufen, deren einziger Vorzug darin bestand, dass sie Verluste
                   machten. Diese Unternehmen waren keine regulären Gesellschaften, son-
                   dern Partnerschaften und unterlagen als solche nicht der Körperschaftsteuer.
                   In einer Partnerschaft wird der Gewinn jedes Jahr auf die Investoren (die
                   Partner) aufgeteilt und deren eigenem Einkommen hinzugerechnet (oder,
                   im Falle eines Verlusts, davon abgezogen) und unterliegt der persönlichen
                   Einkommensteuer. Wer immer in diese verlustbringenden Partnerschaften
                   investierte, konnte einen Anteil am Verlust für sich beanspruchen. Ein sehr
                   gut verdienender Angestellter konnte zum Beispiel mit einem zehnprozenti-
                   gen Anteil an einer Partnerschaft, die einen Verlust von einer Million Dollar
                   machte, 100 000 Dollar von seinen Einkünften abziehen und seine Einkom-
                   mensteuer entsprechend reduzieren. Gleiches galt für eine wohlhabende
                   Einzelperson, die ihr Einkommen aus Zinsen oder Dividenden bezog.
                   10 Ben Wang, Supplying the Tax Shelter Industry. Contingent Fee Compensation for Accountants
                      Spurs Production, in: „Southern California Law Review“, 76 /2002, S. 1237-1273, hier: S. 1252.

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                   Einige dieser Partnerschaften waren Scheinfirmen ohne jede wirtschaftli-
                   che Betätigung. Ihr Daseinsgrund bestand allein darin, fiktive Buchverluste
                   zu verzeichnen, die in die Steuererklärungen ihrer Eigentümer übertragen
                   werden konnten. Andere waren echte Geschäftsbetriebe, die tatsächlich
                   profitabel waren, aber aufgrund bestimmter Klauseln im Steuerrecht, wie
                   zum Beispiel großzügigen Abschreibungsregelungen für die Öl-, Gas- und
                   Immobiliensektoren, steuerliche Verluste erzeugten. Das erste Steuergesetz
                   der Reagan-Ära, der Economic Recovery Tax Act von 1981, erlaubte es Unter-
                   nehmen, ihre Vermögenswerte schneller abzuschreiben, was die Effektivität
                   dieser Art von Steuersparmodell erheblich steigerte.
                      Die Steuersparindustrie entstand zwar schon ein paar Jahre vor Reagans
                   Amtsantritt, erlebte ihren wahren Boom aber erst in den frühen 1980er
                   Jahren. Werfen wir einen Blick auf die Zahlen: Im Jahr 1978 entsprach die
                   Summe von Verlusten aus Partnerschaften, die in persönlichen Einkommen-
                   steuererklärungen angegeben wurden, vier Prozent des Gesamteinkom-
                   mens vor Steuern des obersten einen Prozents. Zunächst stieg sie nur lang-
                   sam an, dann aber exponentiell und entsprach im Jahr 1986 dem Gegenwert
                   von zwölf Prozent des Einkommens des obersten einen Prozents – der höchste
                   Stand, der jemals in der Geschichte der Einkommensteuer in den USA zu ver-
                   zeichnen war. Von 1982 bis 1986 überstiegen die von den Investoren in Steu-
                   ersparmodellen gemeldeten fiktiven Verluste die Gesamtprofite, die durch
                   echte Partnerschaften im ganzen Land erwirtschaftet wurden.11 Jawohl, so
                   ist es: Die Gesamtsumme des in den Steuererklärungen angegebenen Netto-
                   einkommens aus Partnerschaften – Profite minus Verluste – war negativ, ein
                   wahrlich einzigartiges Phänomen. Sogar während der Großen Depression
                   war das nicht so. 1982 war ein Rezessionsjahr, doch von 1983 bis 1986 erholte
                   sich die Wirtschaft und wuchs schnell. Das Steuersparen hatte hingegen ein
                   so enormes Ausmaß erreicht, dass ganze Industrien, vom Immobilien- bis
                   zum Ölsektor, dem Anschein nach Verluste machten – Buchverluste, die vom
                   persönlichen Einkommen ihrer Eigentümer steuerlich absetzbar waren.
                      Die Konsequenz: Die Einnahmen aus der Einkommensteuer brachen ein.
                   Bis Mitte der 1980er Jahre hatten die Einnahmen aus den Einkommensteu-
                   ern auf Bundesebene – der persönlichen und der körperschaftlichen – antei-
                   lig zum Nationaleinkommen ihren niedrigsten Stand seit der Rezession von
                   1949 erreicht, einem der stärksten Abschwünge in der modernen US-ameri-
                   kanischen Geschichte. Das Haushaltsdefizit der USA stieg derweil zwischen
                   1982 und 1986 auf über fünf Prozent des Nationaleinkommens an, den höchs-
                   ten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg.
                      Diese explosionsartige Zunahme der Steuerumgehung stärkte letztlich
                   Reagans Position in den Verhandlungen über den Tax Reform Act von 1986. Zu
                   jenem Zeitpunkt war das Defizit so hoch, dass die Demokraten darauf bestan-
                   den, Veränderungen an dem Gesetzentwurf dürften den Haushalt nicht noch
                   mehr belasten. Reagan kam der Forderung nach: Die Steuersätze wurden

                   11 Diese Berechnungen wurden von den Verfassern anhand öffentlich zugänglicher Steuerdaten
                      angestellt, die von der Abteilung für Einkommensstatistik des Internal Revenue Service (IRS) ver-
                      öffentlicht wurden.

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Wie die Ungerechtigkeit triumphierte 65

                   zwar gesenkt, doch weil gleichzeitig Steuersparmodelle verboten wurden,
                   sollten keine weiteren Verluste entstehen. Vorbei waren die Zeiten, in denen
                   ein fiktiver Buchverlust von 100 000 Dollar ein reales Einkommen von 100 000
                   Dollar verschwinden lassen konnte. Unternehmensverluste konnten von die-
                   sem Zeitpunkt an nur noch mit Unternehmensgewinnen verrechnet werden.
                     Angesichts des Ausmaßes, das das Steuersparen Mitte der 1980er Jahre
                   erreicht hatte, versprach das Stopfen dieses Schlupflochs Milliardeneinnah-
                   men. Und tatsächlich funktionierte es. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes
                   machten die Partnerschaften wie von Zauberhand keine Verluste mehr. Die
                   Gesamtsumme der Verluste aus Partnerschaften, die das oberste eine Pro-
                   zent zu verzeichnen hatte, sank von zwölf Prozent ihres Einkommens vor
                   Steuern auf fünf Prozent im Jahr 1989 und auf drei Prozent im Jahr 1992. In
                   den frühen 1990er Jahren waren die Steuersparmodelle verschwunden.

                      Steuervermeidung versus Steuerhinterziehung – eine verfehlte Diskussion

                   Märkte sind die mächtigste bisher erfundene Institution zur Befriedigung
                   der unzähligen menschlichen Wünsche und die effizienteste Methode, um
                   unterschiedliche Produkte bereitzustellen, die auf die sich wandelnden
                   Bedürfnisse von Milliarden von Individuen reagieren. Aber sie sind intrin-
                   sisch völlig frei von jeder Sorge um das Allgemeinwohl. Dieselben Märkte,
                   die uns immer schnellere Mobiltelefone und immer besser schmeckende
                   Frühstücksflocken liefern, können, ohne mit der Wimper zu zucken, auch
                   Dienstleistungen ohne oder mit negativem gesellschaftlichen Wert liefern
                   – Dienstleistungen, die einen Teil der Gesellschaft bereichern und einen
                   anderen oder sogar uns alle kollektiv ärmer werden lassen. Der Steuerver-
                   meidungsmarkt ist ein Beispiel dafür. Er erwirtschaftet nicht einen einzigen
                   Dollar an Wert. Er macht die Reichen auf Kosten des Staates reicher – und das
                   heißt auf unser aller Kosten. Hinter jeder Steuerumgehungsepidemie steht
                   nicht eine plötzliche Abneigung gegen das Besteuertwerden in der Bevölke-
                   rung, sondern ein Kreativschub auf dem Markt für Steuertricks.
                      Natürlich sind nicht alle Dienstleistungen, die Steueranwälte und Steuer-
                   beratungsfirmen anbieten, von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus
                   betrachtet wertlos. Manche helfen Einzelpersonen und Unternehmen, das
                   Steuerrecht zu verstehen, Unklarheiten aufzuklären oder, noch einfacher,
                   Steuerformulare in ihrem Namen auszufüllen. Diese Angebote sind alle legi-
                   tim. Doch Produkte hervorzubringen, die keinen anderen Zweck erfüllen, als
                   geschuldete Steuern zu kürzen, unterscheidet sich nicht sehr davon, Werk-
                   zeuge für einen Einbruch zu verkaufen. Jedenfalls wurden solche Aktivitä-
                   ten vor 1980 noch so behandelt: Der Markt für Steuertricks galt als absto-
                   ßend; man ließ nicht zu, dass er wuchs und gedieh. Kein Markt existiert in
                   einem luftleeren Raum – Regierungen entscheiden, welche es geben darf
                   und welche nicht, oder zumindest, welche von ihnen streng reguliert werden.
                   Steuervermeidung zu tolerieren, ist eine Entscheidung, die Regierungen
                   treffen. Was uns zu einer Reihe interessanter Fragen führt. Die erste Frage

                                                               Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2020

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66 Emmanuel Saez und Gabriel Zucman

                   lautet: Wenn das Umgehen von Steuern schlicht Diebstahl ist, wie verleiht
                   sich die Steuerumgehungsindustrie dann Legitimität?

                      Schuld soll nur der Staat sein, der Steuerschlupflöcher lässt

                   Die Rhetorik, die Tricksereien bei den Steuern billigt, reicht in den USA bis zu
                   den Anfängen der progressiven Besteuerung zurück. 1933 machte die „New
                   York Times“ öffentlich, dass J. P. Morgan – einer der Titanen des Reichtums in
                   Amerika – keine Einkommensteuer für die Jahre 1931 und 1932 gezahlt hatte.
                   Der Senatsausschuss für das Bankenwesen nahm ihn ins Visier, woraufhin
                   der Finanzier ob der Beschämung von Steuertricksern durch die Demokraten
                   und Roosevelt zusehends ungehaltener wurde.12 Deren Vergehen in seinen
                   Augen? Steuerhinterziehung und Steuervermeidung in einen Topf zu werfen.
                   Steuerhinterziehung verstieß gegen das Gesetz; alle waren sich einig, dass sie
                   schlecht war. Aber Steuervermeidung brach kein Gesetz. Sie bestand einfach
                   nur darin, Schlupflöcher zu nutzen, um mehr vom eigenen Einkommen zu
                   behalten. Es gab, wie er betonte, keine moralische Verpflichtung dazu, Steuer-
                   schlupflöcher zu meiden. Die Verantwortung lag bei der Regierung: Wenn
                   Schlupflöcher existierten, dann hatten die Politiker sie zu stopfen. Bis dahin
                   war denjenigen, die schlau genug waren, sie sich zunutze zu machen, nichts
                   vorzuwerfen. Es ist also keine Überraschung, dass Morgan stets insistierte, er
                   selbst vermeide lediglich Steuern, habe aber nie welche hinterzogen.
                      Diese Rechtfertigung liegt auch heute noch den Verteidigungsstrategien
                   der Steuerumgehungsindustrie zugrunde. Doch sie war schon falsch, als J. P.
                   Morgan sich ihrer bediente, und sie ist es immer noch. Warum?
                      Weil das US-amerikanische Recht – wie das der meisten anderen Länder
                   auch – eine Reihe von Vorschriften enthält, die unter der Bezeichnung „Eco-
                   nomic Substance Doctrine“ (zu Deutsch etwa: Grundsatz der wirtschaftli-
                   chen Substanz; Anm. d. Übers.) bekannt sind und jede Transaktion für ille-
                   gal erklären, die keinen anderen Zweck verfolgen als den, die Steuerschuld
                   zu verringern. Jeder weiß, dass der Markt für Steuertricks den Regierungen
                   immer einen Schritt voraus sein wird, denn es ist unmöglich, die unzähligen
                   Arten und Weisen vorauszuahnen, auf die hoch bezahlte und hoch motivierte
                   Steuerberater versuchen werden, das Gesetz zu umgehen. Deshalb erklärt
                   die Economic Substance Doctrine bereits vorbeugend solche Transaktionen
                   für ungültig, die keinem anderen Zweck als der Steuervermeidung dienen. In
                   Scheinpartnerschaften investieren, um steuerlich absetzbare Buchverluste
                   zu generieren? Briefkastenfirmen auf den Bermudas gründen, mit dem ein-
                   zigen Ziel, der Steuer zu entgehen? Selbst wenn solche Transaktionen nicht
                   ausdrücklich gesetzlich untersagt sind, so verletzen sie doch den erwähnten
                   Grundsatz und sind als solche illegal.
                      Natürlich kann es schwer zu ermitteln sein, warum einzelne Steuerpflich-
                   tige bestimmte Transaktionen vornehmen. Manchmal dienen Maßnahmen,
                   12 Vgl. Joseph J. Thorndike, Historical Perspective. Pecora Hearings Spark Tax Morality, Tax Reform
                      Debate, in: „Tax Notes 101” (10. November 2003).

                   Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2020

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Wie die Ungerechtigkeit triumphierte 67

                   die eindeutig wie Steuertricks aussehen, auch einem legitimen wirtschaftli-
                   chen Ziel. Regierungen nutzen zudem das Steuersystem, um bestimmte Akti-
                   vitäten zu fördern, zum Beispiel Investitionen in kommunale Anleihen (deren
                   Zinszahlungen in den Vereinigten Staaten steuerfrei sind). Solche Anreize zu
                   schaffen, ist oft schlechte Politik – weil dies das Steueraufkommen aus zwei-
                   felhaften Gründen verringert, häufig unter dem Druck von Interessengrup-
                   pen –, aber sie für sich auszunutzen, ist nicht verwerflich. Insofern hatte J. P.
                   Morgan recht. Das Problem ist nur, dass ein großer Teil der angeblich „voll-
                   kommen legalen“ Steuertricksereien, wie die Gründung von Briefkasten-
                   firmen auf kleinen tropischen Inseln, offenkundig die Economic Substance
                   Doctrine verletzt und daher gegen geltendes Recht verstößt.13

                      Die Politik und die Grenzen des Steuervollzugs

                   Was uns zur zweiten grundlegenden Frage bringt: Wenn viele Transaktionen,
                   die die Steuereinnahmen um Milliarden reduzieren, in Wirklichkeit illegal
                   sind, warum werden sie dann nicht vor Gericht problematisiert? Was hält den
                   Staat davon ab, den Grundsatz der wirtschaftlichen Substanz durchzusetzen?
                     Um dieses Rätsel zu verstehen, müssen wir mit der Tatsache beginnen, dass
                   die Steuerbehörden unmöglich alle verdächtigen Transaktionen überprüfen
                   können. Hier besteht also zunächst einmal ein grundlegendes Informations-
                   problem: Es braucht Zeit, sich mit dem Universum von Tricks und Kniffen
                   bekannt zu machen, die überall auftauchen, und die Steuervermeidungsin-
                   dustrie kann die Prüfungskapazitäten des IRS mit Leichtigkeit überfordern.
                   1980 waren beim Bundessteuergericht der USA 5000 Fälle im Zusammen-
                   hang mit Steuersparmodellen anhängig; 1982, als der Steuerumgehungs-
                   wahn an Fahrt aufnahm, hatte sich diese Zahl auf 15 000 Fälle verdreifacht.14
                   Innerhalb weniger Monate musste das Gericht sich mit Tausenden unter-
                   schiedlicher Steuerspartricks vertraut machen, die entstanden waren, und
                   über sie urteilen – eine unmögliche Aufgabe.
                     Außerdem gibt es ein Ressourcenproblem. Die am meisten steueraversen
                   US-Bürger geben insgesamt Milliarden von Dollar jährlich für die Ausarbei-
                   tung ihrer Steueroptimierungsstrategien aus, und diese Summe wird immer
                   größer. Die personellen und monetären Ressourcen des IRS sind geringer
                   und schrumpfen sogar noch. Das macht es nicht nur schwieriger, Trick-
                   sereien aufzudecken, sondern auch, illegale Transaktionen zu untersuchen,
                   zu verfolgen und letztlich für nichtig zu erklären. Selbst wenn ein zweifel-
                   hafter Trick identifiziert wird, können gutbetuchte Steuerpflichtige die bes-
                   ten Anwälte (darunter auch ehemalige Politiker) engagieren, um sich vertei-
                   digen zu lassen. Sie können den Rechtsstreit auf Jahre ausdehnen und ihre
                   Chancen auf einen Sieg vor Gericht massiv erhöhen.
                   13 David Cay Johnstons Buch Perfectly Legal. The Covert Campaign to Rig Our Tax System to Benefit
                      the Super Rich – and Cheat Everybody Else (New York 2003), stellt die Zunahme der Steuervermei-
                      dung der Reichen seit Mitte der 1970er Jahre dar.
                   14 Vgl. Dennis J. Ventry, Tax Shelter Opinions Threatened the Tax System in the 1970s, in: „Tax Notes“
                      111 (22. Mai 2006), S. 947.

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68 Emmanuel Saez und Gabriel Zucman

                   In einer idealen Welt würde der IRS auf die Kräfte der Selbstregulierung
                   innerhalb der Steuerplanungsindustrie setzen. Steueranwälte und Steuerbe-
                   rater würden hohen ethischen Standards folgen und es als Teil ihrer beruf-
                   lichen Pflichten betrachten, dem Geist des Gesetzes zur Durchsetzung zu
                   verhelfen; sie würden keine Steuertricks vermarkten, die dem Grundsatz der
                   wirtschaftlichen Substanz zuwiderlaufen. Das Problem ist aber, dass diese
                   Anwälte und Berater eben gerade von den Förderern und Anwendern von
                   Steuertricks bezahlt werden und somit vor einem ernsthaften Interessenkon-
                   flikt stehen.

                      Entscheidend ist der politische Wille

                   Dieses Problems lässt sich gut mit einem Handel veranschaulichen, der sich
                   seit den 1980er Jahren entwickelt hat. Dabei werden aggressive Steuertricks
                   zusammen mit schriftlichen juristischen Stellungnahmen verkauft, die ihre
                   voraussichtliche Legalität feststellen. Diese Stellungnahmen dienen faktisch
                   als eine Betrugsversicherung, mit der sich Steuervermeider vor einer mög-
                   lichen Strafe schützen für den Fall, dass die von ihnen angewendeten Metho-
                   den vom IRS als gesetzeswidrig beurteilt werden. Steueranwälte sind durch
                   Ethikrichtlinien (und ihr Gewissen) verpflichtet, eine faire rechtliche Ein-
                   schätzung abzugeben. Doch in die Beurteilung, ob ein Steuertrick in einem
                   Graubereich eher am schwarzen oder am weißen Rand anzusiedeln ist, geht
                   ein Gutteil an subjektiver Meinung ein, und wenn die monetäre Belohnung
                   groß genug ist, dann kann die Versuchung, die „richtige“ Einschätzung
                   abzugeben – also diejenige, die noch den schmutzigsten Plan reinwäscht –,
                   überwältigend sein.
                      Schließlich kann es, was vielleicht am wichtigsten ist, auch am politischen
                   Willen zum Steuervollzug mangeln. Der eindeutigste Fall in diesem Zusam-
                   menhang ist der langsame Tod der Nachlasssteuer. Während die Einnahmen
                   aus der Nachlass- und Schenkungssteuer sich in den frühen 1970er Jahren
                   noch auf 0,2 Prozent des Nettovermögens der privaten Haushalte beliefen,
                   haben sie seit 2010 gerade einmal 0,03 bis 0,04 Prozent pro Jahr erreicht –
                   ein Rückgang um mehr als den Faktor fünf. Ein Teil dieser Reduktion ist der
                   Anhebung von Freibeträgen und der Absenkung des Spitzensteuersatzes
                   (von 77 Prozent im Jahr 1976 auf 40 Prozent heute) geschuldet, doch der aller-
                   größte Teil ist auf einen Zusammenbruch des Steuervollzugs zurückzufüh-
                   ren. 1975 nahm der IRS bei 65 Prozent der 29 000 größten im Vorjahr einge-
                   reichten Nachlasssteuererklärungen Prüfungen vor. 2018 wurden nur noch
                   8,6 Prozent der 34 000 im Jahr 2017 eingereichten Nachlasssteuererklärun-
                   gen geprüft.15
                      Verließen wir uns auf die Vermögensangaben in den Erklärungen der
                   letzten Jahre, müssten wir den Eindruck gewinnen, dass es entweder quasi
                   gar keine reichen Menschen in den USA gibt oder dass sie niemals sterben,
                   15 Diese Statistiken zur Steuerprüfung werden jährlich vom IRS veröffentlicht und sind online verfüg-
                      bar unter: www.irs.gov/pub/irs-soi/r8databk.pdf.

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Wie die Ungerechtigkeit triumphierte 69

                   so umfassend war die Kapitulation des Steuervollzugs. Wenn wir diesen
                   Angaben glauben, dann ist der Wohlstand in den Vereinigten Staaten heute
                   gleichmäßiger verteilt als in Frankreich, Dänemark und Schweden.16 Stirbt
                   eine Person auf der „Forbes“-Liste der 400 reichsten US-Amerikaner, beläuft
                   sich das als ihr Nachlass angegebene Vermögen im Durchschnitt nur auf die
                   Hälfte des von „Forbes“ geschätzten tatsächlichen Vermögens.17

                      Damit endlich wieder die Gesellschaft von Steuern profitiert

                   Was ist hier passiert? Nachlasssteuervermeidung gab es schon immer. Doch
                   die Regierungen sind das Problem mit wechselndem Enthusiasmus ange-
                   gangen, und seit den 1980er Jahren waren die diesbezüglichen Bemühun-
                   gen, vorsichtig ausgedrückt, minimal. Von ihren Gegnern als „Todessteuer“
                   geschmäht, ist die Nachlasssteuer die einzige Bundessteuer, die auf Vermö-
                   gen erhoben wird. Sie ist außerdem von allen Abgaben auf Bundesebene die
                   progressivste; seit ihrer Einführung waren über 90 Prozent der Bevölkerung
                   von ihr befreit.18 Als solche war sie eines der Hauptangriffsziele jener anti-
                   egalitären Ideologie, die das Eigentum sakralisiert und die die amerikani-
                   sche Politik seit den 1980er Jahren geprägt hat. Es ist unmöglich, den Erfolg
                   der heutigen Nachlasssteuerplanungsindustrie – die Ausbreitung „wohltäti-
                   ger“ Treuhandgesellschaften, den Missbrauch von Wertabschlägen, ganz zu
                   schweigen von den gut dokumentierten Beispielen für unverhohlenen (und
                   strafrechtlich nicht verfolgten) Betrug19 – unabhängig von diesem politi-
                   schen Kontext zu verstehen.
                      Was folgt aus alledem? Die Politik bestimmt die Prioritäten des Steuer-
                   vollzugs. Und die wichtigste dieser Entscheidungen ist die, ob man weiter-
                   hin Transaktionen tolerieren will, die ausschließlich dem Zweck dienen, die
                   eigene Steuerschuld zu schmälern – oder ob man wieder der Economic Sub-
                   stance Doctrine zur Geltung verhilft, damit endlich auch wieder die Gesell-
                   schaft von wirtschaftlichen Vermögenstransaktionen im Milliarden- oder
                   Millionenbereich profitiert.

                   16 Es ist möglich, auf die Vermögensverteilung unter der Gesamtbevölkerung aus Erbschaftsteuer-
                      statistiken mittels der Estate Multiplier Method zu schließen, bei der das Vermögen zum Zeitpunkt
                      des Todes reziprok mit der Sterblichkeitsrate je nach Alter, Geschlecht und Vermögen multipliziert
                      wird. Vgl. zu einer detaillierten Diskussion und Bewertung dieses Verfahrens Emmanuel Saez und
                      Gabriel Zucman, Wealth Inequality in the United States Since 1913. Evidence from Capitalized
                      Income Tax Data, in: „Quarterly Journal of Economics”, 131/2 (2016), S. 519-578.
                   17 Vgl. Brian Raub u.a., A Comparison of Wealth Estimates for America’s Wealthiest Decedents Using
                      Tax Data and Data from the Forbes 400, in: „Proceedings. Annual Conference on Taxation and Minu-
                      tes of the Annual Meeting of the National Tax Association”, 103rd Annual Conference on Taxation
                      (2010), S. 128-135.
                   18 Vgl. Wojciech Kopczuk und Emmanuel Saez, Top Wealth Shares in the Unit­ed Stares, 1916-2000.
                      Evidence from Estate Tax Returns, in: „National Tax Journal“, Teil 2 (2004), S. 445-487, Tabelle 1,
                      Spalte 2.
                   19 Donald Trump ist ein anschauliches Beispiel für einen Fall von Nachlasssteuerumgehung, wie es
                      die „New York Times“ dokumentiert hat (vgl. David Barstow u.a., Trump Engaged in Suspect Tax
                      Schemes as He Reaped Riches From His Father, in: „The New York Times“, 2.10.2018.).

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