Flüchtlingspolitik Ein Jahr nach Lampedusa - Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich - wofür?
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standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie Flüchtlingspolitik Ein Jahr nach Lampedusa Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich – wofür? Arian Schiffer-Nasserie 85 Weltrekord! Über 50 Millionen Menschen So geht das Sterben rekordverdächtig waren laut UNHCR im vergangenen Jahr auf weiter. Entgegen aller öffentlichen Ver- der Flucht – mehr als je zuvor seit Weltkrieg lautbarungen hat das Flüchtlingselend Nummer 2 und allein sechs Millionen mehr also offenbar doch viel mehr mit den vi- als im Vorjahr. Ein kleiner Teil der Flüchtenden talen Interessen der europäischen Staa- erreichte die Außengrenzen der EU und ver- ten zu tun, als dies Politik-, Presse-, und suchte Mauern, Zäune und Seegrenzen ohne Kirchenvertreter öffentlich wahrhaben Erlaubnis des Staatenbündnisses zu überwin- wollen. Wenngleich die vielen Grenztoten den. der EU – im Unterschied zu den etwa 200 Etwas mehr als ein Jahr liegt die „Flüchtlings- Maueropfern in 40 Jahren DDR-Geschich- katastrophe“ von Lampedusa bereits zurück. te – nicht zur Verurteilung eines Staats An öffentlicher Anteilnahme, an zur Schau oder gar eines ganzen Staatenbünd- gestellter Scham, Trauer und Betroffenheits- nisses herangezogen werden dürfen und bekundungen der europäischen Eliten hatte ein Schluss auf das ökonomische System es danach ja keinesfalls gemangelt. Sogar des Westens unerwünscht ist, so ist Kri- politische Konsequenzen wurden in Aussicht tik doch erlaubt und wird auch geäußert: gestellt: Alles sollte anders werden. Davon Europaweit werfen Flüchtlings- und Kir- will man ein Jahr später kaum noch etwas chengruppen, Linke und Menschenrecht- wissen. ler den Verantwortlichen Abschottung Allein seit dem 3. Oktober 2013 kostete der vor. Sie konstatieren, dass die EU keinen Versuch der unerlaubten Einreise mehr als Schutz für Flüchtlinge, sondern Schutz 3000 Menschen das Leben. Das ist ebenfalls vor Flüchtlingen betreibe. Öffentlich ver- Rekord. Die meisten von ihnen ertranken im urteilt werden die Repräsentanten der EU Mittelmeer – und das während einer flücht- für ihre angeblich „unterlassene Hilfeleis- lingspolitischen Sonderphase, in der die itali- tung“ (vgl. etwa H. Prantl in der Süddeut- enische Küstenwache die Seenotrettung von schen Zeitung vom 7. 10. 2013) und ihre Flüchtlingen noch vor deren Abwehr stellte. „Verantwortungslosigkeit“. Innerhalb eines Jahres rettete das Programm Der vorliegende Beitrag will die hier an- „Mare Nostrum“ nach Angaben der Regie- gerissenen Aspekte in zwei Teilen genauer rung in Rom und gegen den Willen der Bun- untersuchen. Teil eins geht der Frage nach, desrepublik, die sich an den Kosten nicht be- warum und wofür die Flüchtlinge und ihr teiligen wollte, zum Preis von ca. 9 Mio. Euro massenhafter Tod an den EU-Außengren- monatlich immerhin 120.000 Menschenle- zen – allen öffentlichen Beteuerungen ben. Das Nachfolgeprogramm „Triton“ be- zum Trotz – offenbar unvermeidlich sind. müht sich denn inzwischen auch wieder ganz Teil zwei behandelt die öffentliche Aus- im Sinne der Bundesregierung um die ge- einandersetzung und Kritik nach der so wünschte Abschreckung, Abschottung und genannten „Flüchtlingskatastrophe von Abschiebung; mit den bekannten Folgen. Lampedusa“ anhand von drei Beispielen.
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie Teil I – Fluchtursachen und Flüchtlings- thematisierten Fluchtursachen zu betrach- politik Wenn in Deutschland über die Lage ten. Sie sind dazu geeignet, einige grundle- von Flüchtenden, über Flüchtlingskatastro- gende Illusionen der Diskussion in Frage zu phen und Flüchtlingspolitik nachgedacht stellen. Es wird sich zeigen, dass das Flücht- und gestritten wird, dann zeichnen sich bei lingselend keinesfalls auf vermeidbares Fehl- aller Kontroversität zwei als selbstverständ- verhalten der Beteiligten zurückzuführen lich unterstellte Vorannahmen ab: ist – also auch nicht durch moralisierende 86 Foto: Patryk Witt/Zentrum für Politische Schönheit Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit, 2014 Die erste geht davon aus, das Flüchtlings- Appelle an die vermeintlich Schuldigen zu elend müsse eigentlich nicht sein, wenn nur bewältigen ist – sondern regelrecht syste- alle Beteiligten – also die Flüchtlinge aus den matische Ursachen hat. Die zentrale These Armuts- und Kriegsregionen selbst, die Re- lautet: Die Flüchtlinge und ihre leichenträch- gierungen ihrer Herkunftsländer, die Schleu- tige Abwehr sind für die ökonomischen, ser, Frontex und die (un)verantwortlichen Po- politischen und militärischen Interessen der litiker der EU – ihrer Verantwortung korrekt EU unvermeidlich. Dies soll im Folgenden nachkämen. Auf diesem festen Glaubenssatz bewiesen werden. baut die deutsche Diskussion mit viel Empha- se auf und es wird munter je nach politischer Ökonomisch sind die Flüchtlinge für den Position darum gerechtet, wem die Schuld europäischen Kapitalismus unvermeid- für den massenhaften Tod auf dem Meer lich, zu geben sei. Die Antworten fallen den po- 1. weil die EU – Deutschland vorneweg litischen Standpunkten entsprechend, also – mit überlegenen Unternehmen und sub- leider in aller Regel äußerst gehässig, aus. ventionierten Waren die afrikanischen und Vorannahme zwei diskutiert Deutschland arabischen Ökonomien erfolgreich kaputt ausschließlich als Aufnahme- und Helferland konkurriert und den betroffenen Men- oder zumindest als potentielle Schutzmacht schen damit ihre Lebensgrundlage nimmt. für die Bedrängten dieser Welt. Flüchtlings- Dies geschieht durch die Zerstörung tra- feinde und Flüchtlingsfreunde teilen ein- ditioneller Wirtschaften und Märkte, wo trächtig auch diesen Grundsatz – um auf diese noch vorhanden sind (zum Beispiel dessen Basis wild darüber zu streiten, ob durch den Export von Hühnchenflügeln Deutschland schon viel zu viele Flüchtlinge und Schlachtabfällen aus Niedersachen aufnehme oder aber seiner humanitären in die Märkte Zentralafrikas). Oder durch Verantwortung ganz unzureichend gerecht die Ruinierung der heimischen Unterneh- werde. men, insbesondere der verarbeitenden In Anbetracht solcher Gewissheiten erscheint Gewerbe (zum Beispiel der Fischindustrie es angezeigt, zunächst die in der deutschen des Maghreb), die dann ihrerseits keinen Flüchtlingsdiskussion bezeichnend wenig Gebrauch mehr von den eigentumslosen
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie Arbeitskräften machen, so dass die abhän- den eigenen Gelderwerb kümmern zu dür- gig Beschäftigten ihrer Existenzgrundlage fen, die tatsächliche Möglichkeit dazu in beraubt sind, ihrer Heimat keineswegs einschließt., 2. weil die Lebensmittel bzw. fruchtbaren 5. weil die Überflüssigen seit der Eurokrise Böden (zum Beispiel die Palmölplantagen in selbst als Wanderarbeiter und Erntehelfer der Elfenbeinküste, Rosen aus Kenia, Erd- in der EU weniger gebraucht werden. Und nüsse aus dem Senegal usw.), die Fischfang- dort, wo sie weiterhin beschäftigt werden, gebiete (Beispiel Mauretanien) und die Roh- besteht die bittere Ironie ihres „Glücks“ da- stoffvorkommen ihrer Heimat (zum Beispiel rin, dass sie mit ihren Dritte-Welt-Löhnen Uran aus Niger, Tschad und Mali) exklusiv kombiniert mit der Produktivität europä- der Verwertung westlicher Kapitale dienen ischer Betriebe unfreiwillig dazu beitragen, – und damit der örtlichen Bevölkerung als den auswärtigen Erfolg Europäischer Unter- Lebensgrundlage entzogen werden, nehmen und damit die Ruinierung der hei- 3. weil die Menschen vor Ort zwar genau mischen Ökonomie ihrer Herkunftsländer wie die abhängig Beschäftigten in Euro- weiter voran zu treiben, 87 Exkurs zu den Fortschritten der freiheitlichen Weltordnung Man kann es gar nicht oft genug betonen: Freiheit – nicht Zwang charakterisiert das Elend der Überflüssigen in der heutigen Weltordnung! Wurden zu Kolonialzeiten die Arbeitssklaven zwangsweise in Ketten und auf Kosten ihrer europäischen und amerikanischen Anwender über das Meer geschifft, so ist die Situation im Zeitalter der globalen Geltung von Freiheit und Eigentum weit fortgeschritten: Die ehemaligen Sklaven rudern inzwischen selber! Und zwar aus eigenem Entschluss und auf eigene Kosten als freie und eigentumslose Personen. Die ehe- maligen Kolonial- und Sklavenhalterstaaten in Europa und Nordamerika, inzwischen allesamt Hüter der universellen Menschenrechte, können bequem nach eigenem Bedarf entscheiden, ob und wem sie die Gnade gewähren, in ihren Ländern den privaten Reichtum ihrer Unterneh- men zu mehren. Wenn schon nicht in der Vermeidung von Not und Leid, so sind die neuen Weltordnungsmächte ihren historischen Vorgängern zumindest bezüglich dieser freiheitlichen und grundsoliden Herrschaftstechnik weit überlegen ... pa in Ermangelung alternativer Lebens- 6. weil Weltbank und IWF darauf beste- grundlagen existenziell darauf angewiesen hen, dass die arabischen und afrikanischen sind, von einem Arbeitgeber angewendet Staaten die Ernährung ihrer Völker nicht zu werden, um leben zu können, im Un- subventionieren dürfen, wenn sie weiterhin terschied zu europäischen Arbeitnehmern vom Westen Kredit wollen. (Die Liste ließe aber in der Regel als Lohnabhängige nicht sich leider noch fortsetzen.) gebraucht werden, sich in der Konkurrenz um Lohnarbeit folglich immer weiter un- Politisch sind die Flüchtlinge eine not- terbieten und deshalb massenhaft verelen- wendige Folge westlicher Weltordnung, den, 1. weil nicht geduldet wird, wenn sich 4. weil sie also für das kapitalistische Ge- die Überflüssigen in ihrer Not gegen ihre schäft in der großen Masse schlicht über- politische Herrschaft auflehnen oder ande- flüssig sind, d.h. „Überbevölkerung“, die ren politischen Mächten zuwenden, sofern stört, wo immer sie rumvegetiert und des- dies den Ordnungsvorstellungen europä- halb nicht selten ein Fall für die Armuts-, ischer und amerikanischer Mächte wider- Kriminalitäts-, und Aufstandsbekämpfung spricht. Historisch war dies in der Phase der durch Polizei, Militär und Ordnungspoli- Entkolonialisierung der Fall, als sich viele tik werden. Mit anderen Worten: Weil die Befreiungsbewegungen der gerade ent- Freiheit, die den ehemaligen Kolonisierten stehenden Dritten Welt Hilfe suchend an gewährt wird, sich selbstverantwortlich um die alternative Weltmacht UdSSR oder die
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie junge Volksrepublik China wandten und 7. weil sie Putschs gegen antiwestliche Re- dafür direkt (Korea, Vietnam, Laos, Kam- gierungen, die auf demokratischem Wege bodscha, Algerien, Simbabwe usw.) oder an die Macht gekommen sind, und dazuge- indirekt (Kuba, Chile, Nicaragua, Angola, hörige Militärdiktaturen offen unterstützen Namibia, Mocambique, Palästina, Ägypten, (Algerien) oder zumindest decken und mili- Syrien usw.) mit Stellvertreterkriegen, Mi- tärisch ausrüsten (Ägypten). lizen und Embargos vom Westen bekämpft wurden. Heute ist das der Fall, wenn ent- Und militärisch sind Flüchtlinge Teil der sprechende Staaten oder Bewegungen ihr „Kollateralschäden“ des westlichen En- Heil in der ökonomischen Erschließung gagements, durch China, durch Bündnisse und Bei- 1. weil die USA und die EU-Staaten überall standsbekundungen mit den „Schurken“ dort, wo diese friedliche Diplomatie nicht aus- der Weltordnung, insbesondere Russland, reicht, um ihre Interessen durchzusetzen, ent- Iran, Kuba, Venezuela und Nordkorea oder weder im Alleingang, im NATO-Bündnis oder in der Hinwendung zum politischen Islam in einer Koalition der Willigen zur offenen entdecken, Kriegführung übergehen, Söldnertruppen zu- 88 2. weil EU und USA die Verzweifelten in sammenstellen oder gleich selber „Luftschlä- Afrika, im Nahen und Mittleren Osten in ge erteilen“, bombardieren, einmarschieren Zentralasien für ihre Einflussnahme auf die und besetzen. Und das alles bekanntlich nur Regionen zu instrumentalisieren suchen – um die „Zivilbevölkerung zu schützen“. und westliche Regierungen die Aufstände Die Flüchtenden sind also tatsächlich die der Überflüssigen – je nach Bedarf – gegen ebenso unerwünschte wie unvermeidliche unliebsame Regierungen unterstützen oder Konsequenz der ökonomischen, politischen unterdrücken (Syrien, Libyen, Libanon, Iran, und militärischen Konkurrenzanstren- Ägypten usw.), gungen der EU-Staaten, ihrer Verbündeten 3. weil sie, wo dies zur Durchsetzung der und ihrer Unternehmen. Die Flüchtenden eigenen Interessen opportun erscheint, zur sind der auch in den Metropolen wahr- ethnischen und religiösen Spaltung ganzer nehmbare Ausdruck der Ruinierung weiter Staaten beitragen und die dafür nötigen Teile der Welt durch die herrschende Welt- Kriege finanzieren (früher Eritrea, heute Su- ordnung. dan, Irak, Syrien), so dass ethnische Säube- rungen und Vertreibungen die zwangsläufige Flüchtlingspolitik an den Grenzen der Konsequenz sind, Europäischen Union Schließlich werden 4. weil die Staaten des Westens unliebsame die Überflüssigen und Vertriebenen dann Bewegungen und Organisationen bespitzeln, noch Opfer der ebenfalls für die EU-Staaten verfolgen, ihre Mitglieder und deren Angehö- notwendigen Grenz- und Flüchtlingspolitik: rige foltern, sie mit Drohnen beschießen, sie Wenn nämlich diese viel zitierte „Zivilbevöl- von Milizen vernichten lassen usw. (Jemen, kerung“, auf die sich die westlichen Staaten Pakistan, Somalia, Afghanistan...), so gerne bei ihren Kriegsbegründungen be- 5. weil sie befreundete und verbündete rufen, den oben aufgezählten Horror über- Regime bei ihrer Kriegführung unterstützen lebt und aus ihrer Verzweiflung und Ohn- (Saudi-Arabien, Khatar, Arabische Emirate, macht den Schluss zieht, nach Europa oder Jordanien, Türkei usw.), d.h. Diktaturen, De- Nordamerika zu fliehen, dann muss diese mokratien, Monarchien und Gottesstaaten Zivilbevölkerung erfahren, dass die „huma- für ihre Beiträge zur westlichen Weltordnung nitäre Hilfe“ des Westens so nicht gemeint aus- und aufrüsten und so von sich abhängig war. machen, Als Flüchtlinge stoßen sie an die Außengren- 6. weil sie mit Wirtschaftsembargos und Blo- zen der Europäischen Union und dürfen nicht ckaden die Lage der Völker in unliebsamen Staa- einreisen. Der sichere und unkomplizierte Zu- ten weiter zu verschlechtern suchen (allein dem gang mit Fähren und Fluggesellschaften von Irak-Embargo der USA, politisch gegen S. Hus- ihren Heimatländern aus – die ja nicht selten sein gerichtet, fielen durch Mangelernährung zugleich beliebte Destinationen des Ferntou- und fehlende Medikamente 500.000 irakische rismus sind – bleibt ihnen ohne rechtlichen Kinder zum Opfer), um sie in Hungeraufstän- Aufenthaltstitel der EU verwehrt. Jede Hoff- den gegen ihre Regierung aufzubringen, nung der „unschuldigen Zivilbevölkerung“,
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie der „schutzlosen Männer, Frauen und Kin- Kapitalwachstum ist die wirtschaftliche der“ auf legale und sichere Weise diesem Grundlage der politischen Macht der Bun- Horror zu entgehen, wird durch ein her- desrepublik wie aller marktwirtschaftlicher metisches Grenzregime zunichte gemacht. Staaten. Von der KiTa über die Autobahn bis Der Versuch, es auf unerlaubte Weise doch zum Panzer kauft sich der moderne Staat zu tun, also illegal einzureisen, kostet dann die Mittel seiner Politik. Deshalb setzen weiteren Tausenden das Leben. sich deren Regierungen parteiübergreifend Es ist insofern auch konsequent, dass Fischer für Wachstum ein. Denn nur wenn private nicht helfen und vorbeifahrende Container,- Unternehmen aus ihrem Geld mehr Geld und Kreuzfahrtschiffe die Ertrinkenden nicht machen, bekommen die Lohnabhängigen retten, ihre Hilferufe nicht erhören, da den überhaupt Arbeit und Gehalt, machen die Rettern möglicherweise Strafe droht. Es ist Unternehmen Gewinne, findet Handel und auch nur folgerichtig, dass Überlebende an- Kreditgeschäft statt. Und nur dann kann geklagt werden und Fluchthelfer mit hohen der Fiskus all diese privaten Einnahmequel- Strafen rechnen müssen, noch bevor alle len, ganz besonders den Lohn, besteuern, Leichen beseitigt sind, damit kein falsches d.h. teilweise enteignen, verstaatlichen und Signal an jene ergeht, die auf der anderen schließlich auf das so geschaffene Steuer- 89 Seite des Meeres noch leben.1 aufkommen seine Verschuldungsfähigkeit gründen. Wachstum, das schon seinem Zwischenfazit Die Flüchtlinge sind notwen- Begriff nach maßlos ist, muss deshalb sein: dig, weil die Ruinierung der Existenzgrundla- Wachstum ist die Staatsräson bürgerlicher gen der eigentumslosen Massen in der Drit- Herrschaft. Je mehr desto besser. Auf die ten Welt zwar nicht der Zweck, aber doch menschlichen und natürlichen Grenzen des die unvermeidliche Folge der europäischen kapitalistischen Wachstums nehmen moder- Wachstumspolitik und ihrer außenpolitisch- ne Staaten in ihrer Sozial- und Umweltpolitik militärischen Flankierung ist. Der Zuzug der deshalb nur dann Rücksicht, wenn sie sich Überflüssigen in die EU ist unerwünscht und davon „nachhaltig“ noch mehr Wachstum folglich vom Gesetzgeber verboten, weil versprechen. Und in ihrer Wirtschafts- und sie in den Zentren nicht gebraucht werden, Außenpolitik setzen sie sich deshalb dafür also nur eine Belastung und Gefährdung der ein, dass auch die nationalstaatlichen Gren- inneren Ordnung darstellen. Die Toten an zen ihrer eigenen Herrschaft keine Grenzen den EU-Außengrenzen sind die zivilen Opfer der kapitalistischen Akkumulation darstellen. dieses Erfolgswegs des Europäischen Staa- Im Unterschied zu der eher idealistischen tenbündnisses. Forderung der radikalen Flüchtlingsfreunde gilt hier wirklich: Grenzen auf für alle! Näm- Die politökonomische Notwendigkeit lich für ausländische Rohstoffe, für Waren, des EU-Imperialismus Die oben darge- Geld, Kapital und ggf. auch für ausländische stellte ökonomische, politische und mili- Arbeitskräfte, wenn diese für die nationale tärische Ruinierung ganzer Weltgegenden Bilanz wachstumsdienlich sind. Damit die durch die EU, ihre Verbündeten und ihre staatlichen Grenzen ihre wachstumsbe- Unternehmen ist – die nötige Unbefangen- schränkende Wirkung verlieren und der ka- heit vorausgesetzt – kaum zu übersehen. pitalistische Erfolg ihrer Unternehmer mög- Und Deutschland ist innerhalb der EU deren lichst globale Ausmaße annimmt, bemühen größter Nutznießer und folglich auch eine sich Politiker mit aller Macht um die Konver- treibende Kraft entsprechender Machen- tibilität ihrer Landeswährungen, Zollbestim- schaften. Will man nicht von der theoretisch mungen, Handelsverträge, Abkommen und 1 Zu dieser Strategie unbefriedigenden Idee von lauter „Fehlent- so weiter. Sie sind also nicht die ohnmäch- gehört es auch, wicklungen“ und „Verstößen“ ausgehen, so tigen Opfer, sondern die mächtigen Akteure zum Zwecke der stellt sich die Frage: Warum betreiben kapi- und im Falle der Bundesrepublik auch die Abschreckung in den Herkunfts- und talistisch erfolgreiche Staaten, in diesem Fall Profiteure der allseits beschworenen Globa- Transitländer Filme also die Staaten der EU, eine so grauenvolle lisierung! über den qualvollen Tod der Flüchtlinge zu Politik? Die Antwort kann im Rahmen dieses zeigen, die diesseits Beitrages nur in stark komprimierter Form Stichwort EU-Binnenmarkt Sowohl in- des Mittelmeeres den Fernsehzuschauer in ihrem politökonomischen Kern gegeben nerhalb Europas als auch weltweit soll eher nicht zugemutet werden: deutsches Kapital auf Kosten auswärtiger werden sollen.
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie Konkurrenten expandieren und damit auch setzung durch die Staaten mit erfolgreicher auf Kosten anderer Staaten wachsen. Entge- Kapitalakkumulation. Es ist insofern kein gen aller Beteuerungen von Unternehmern, Zufall, dass die kapitalistisch erfolgreichen Politikern und Volkswirtschaftlern ist die Staaten zugleich auch die politischen globale Konkurrenz nämlich weder eine Hauptakteure auf der Welt sind. Denn je harmonische Einrichtung der „internationa- größer und erfolgreicher das akkumulierte len Arbeitsteilung“ noch eine unsichtbare, Kapital bereits ist, desto größer wird das aber segensreiche „Hand“, die zum gemein- Bedürfnis nach globaler Expansion. Zu- samen Nutzen aller Teilnehmer wirkt. Die Er- gleich liefern die weit entwickelten kapita- gebnisse der deutschen Konkurrenzanstren- listischen Unternehmen ihren Staaten die Exkurs zum Pazifismus von SPD, Grünen und Linkspartei Die Parteigeschichte der deutschen Sozialdemokratie als großes Drama des 20. Jahrhunderts, 90 die Geschichten der Grünen und der Linkspartei als zunehmende Farce; sie alle geben für die o.g. Behauptung die praktische Anschauung. Sie belegen nämlich ebenso die sozial- und frie- denspolitische Ernsthaftigkeit der genannten Parteien in ihrer stürmischen Gründungsphase als auch den mühevollen Weg hin zu einer realpolitischen Kraft, die sich zur Regierungsfähig- keit des deutschen Kapitalismus vorgearbeitet hat und die dafür nötigen Härten selbstbewusst vertritt. Das hat einen logischen Grund: Wer sich vornimmt, den Kapitalismus im Interesse seiner Opfer zu regieren, die politische Macht in der Bundesrepublik also im Namen der Armen und Entrechteten zu erobern, der muss eben auch auf die ökonomische Grundlage dieser Macht und ihre weltweiten Verwertungs- bedingungen Rücksicht nehmen. Das schließt zahlreiche innen- und außenpolitische Rück- sichtslosigkeiten gegen genau jene Adressaten der sozialen, ökologischen und pazifistischen Machtausübung ein, die man im Ausgangspunkt zu beglücken gedachte. Die interne Begründung für solche Härten auf den entsprechenden Parteitagen verweist ganz systemimmanent darauf, dass mit einer kriselnden Ökonomie, mit Massenarbeitslosigkeit und leeren Staatskassen auch niemand gedient sei und außenpolitisch ein „robustes Auftreten“ unumgänglich sei, gerade um die hohen Werte der Partei zu verteidigen. Was der Sache nach das Eingeständnis ist, dass sich die bürgerliche Staatsgewalt entgegen der anfänglichen Par- teiideale doch nicht einfach zu einer Hilfseinrichtung für ihre Opfer umwidmen lässt, wollen die sozialen Demokraten natürlich genau umgekehrt verstanden wissen; nämlich so, dass ihre Brutalitäten letztendlich nur die realpolitische Vervollkommnung ihrer pazifistischen Ideale seien. Ein solcher politischer Reifungsprozess von der außerparlamentarischen Protest- zur parlamentarischen Oppositions- und schließlich kriegsbereiten Regierungspartei braucht seine Zeit und geht nicht ohne Ausgrenzung von so genannten „Spinnern“ oder „Fundamentalisten“ ab, die darauf insistieren, dass der Kapitalismus „System hat“, also nicht parlamentarisch zu verbessern, sondern revolutionär zu überwinden ist ... gungen sind vielmehr innerhalb der EU (z.B. finanziellen Mittel und die technisch-militä- gegenüber Griechenland) als auch global rische Ausrüstung, um das imperialistische – z.B. im Verhältnis zur sog. Dritten Welt zu Bedürfnis erfolgreich durchzusetzen. Der besichtigen. kapitalistische Erfolg auf dem Weltmarkt und die Durchsetzung als nationalstaatli- Weil sich das angestrebte grenzüber- che Weltmacht bedingen sich also wech- schreitende Wachstum somit gegen an- selseitig. dere Staaten und deren Kapitalwachstum Das war es also, was der ehemalige Bun- richtet, bedarf es der diplomatischen, po- despräsident Horst Köhler – vielleicht et- litischen und notfalls militärischen Durch- was ungeschickt – bei einem Interview für
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie das Deutschlandradio am 22. Mai 2010 im Funktionserfordernis in nationalstaatlich re- Hinblick auf künftige Kriegseinsätze der gierten und erfolgreich wachsenden Markt- Bundeswehr seinem Volk sagen wollte: wirtschaften, das deren Politiker machtvoll „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt gegen andere Staaten durchsetzen und da- wir auf dem Wege sind, doch auch in der für die eigene Bevölkerung rücksichtslos in Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Anspruch nehmen. Land unserer Größe mit dieser Außenhandels- orientierung und damit auch Außenhan- Teil II – Flüchtlingspolitischer Diskurs delsabhängigkeit auch wissen muss, dass Die steigenden Flüchtlingszahlen sind also ein im Zweifel, im Notfall auch militärischer Resultat der außenpolitischen Durchsetzung Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen des Wachstumsprogramms für den Standort zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, Deutschland. Weil die Flüchtlinge und ihr zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten massenhafter Tod ebenso unerwünscht wie zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch unvermeidlich sind, wird ihr Leid in der poli- auf unsere Chancen zurückschlagen nega- tischen Öffentlichkeit tiv durch Handel, Arbeitsplätze und Ein- • in „normalen“ Zeiten verharmlost oder kommen. Alles das soll diskutiert werden geleugnet und kommt höchstens als Rand- 91 und ich glaube, wir sind auf einem nicht notiz in den großen Zeitungen vor; so schlechten Weg. […] Es wird wieder • in Zeiten besonders großer Leichenberge sozusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei direkt vor der eigenen Küste wird das Elend Soldaten, möglicherweise auch durch Un- als „Drama“ oder „Tragödie“ skandalisiert fall mal bei zivilen Aufbauhelfern. […] Man und damit gleichsam das alltägliche Ster- muss auch um diesen Preis sozusagen sei- ben als Normalität affirmiert; ne am Ende Interessen wahren. […]“ (Horst • mit staatlichen Ehren und unter Tränen Köhler am 22. Mai 2010 in einem Interview und aufrichtiger Anteilnahme der EU-Pro- mit dem Deutschlandradio) minenz bedacht, während die Grenzsi- Und das weiß auch der aktuelle Bundesprä- cherung gleichzeitig verschärft ausgebaut sident Gauck, wenn er von einer größeren wird; „Verantwortung“ Deutschlands in der Welt • und bei Bedarf derart umgedeutet, dass spricht. sich die Politik im Namen der „Bekämpfung Die nationalstaatlich verfasste Marktwirt- der Fluchtursachen vor Ort“ einen neuen schaft ist also der zwingende politökono- Auftrag zu noch mehr wirtschaftlicher, po- mische Grund für jene Maßnahmen, die litischer und militärischer „Verantwortung oben in groben Zügen dargelegt wurden. in der Welt“ erteilt. Es sind also gerade nicht die Einstellungen Bereits diese verlogenen Diskurse von Poli- oder Denkweisen der Regierenden wie tik und Presse werfen ein Licht darauf, dass Chauvinismus, Eurozentrismus, Paternalis- die erste und die vierte Gewalt offenbar ein mus (deren Existenz in Teilen der Elite des- Bewusstsein davon haben, dass es für die halb überhaupt nicht bestritten werden Staatsräson der Bundesrepublik keine grund- muss). Imperialismus ist auch keine Frage legende Alternative im Umgang mit Flüchtlin- der friedenspolitischen Ernsthaftigkeit der gen gibt. Anhand von drei Beispielen, näm- 2 Die Beurteilung von politischen Parteien. Der aggressive und zer- lich anhand der öffentlichen Stellungnahmen Kriegen im Hinblick auf deren Rechtferti- störerische Charakter des außenpolitischen von Politik, Presse und Pro Asyl soll dieser gung, die so beliebte Engagements kapitalistischer Gewinner- Diskurs nun näher betrachtet werden. Unterscheidung zwi- schen fremder böser staaten ist überhaupt keine Frage guter und eigener guter oder schlechter Politik, friedliebender oder 1. „Scham und Trauer“ – die Selbstinsze- Gewalt (bei Linken ist es manchmal auch aggressiver Parteiprogramme. nierung der Macht Konfrontiert mit der öf- anders herum), die Erst recht ist Imperialismus – um diesen al- fentlichen Empörung nach dem hundertfa- Frage, wem auf dem ten und beinahe tabuisierten Begriff noch chen Tod der Flüchtlinge vor Lampedusa am imperialistischen Schlachtfeld unsere einmal zu verwenden – kein Spezifikum 3. Oktober 2013 betreibt Bundespräsident Sympathie gebührt besonders „böser“ Nationen, die je nach Gauck am Folgetag anlässlich der Verleihung – all diese Anstren- gungen zeugen Standpunkt wahlweise in den USA, Großbri- des Bundesverdienstkreuzes zum Tag der überhaupt nur vom tannien, China, Japan oder in Deutschland Deutschen Einheit im Schloss Bellevue eine parteilichen Nachvoll- zug der praktischen ausgemacht werden.2 Der skizzierte Impe- gekonnte Selbstanklage, bei der er – im- imperialistischen rialismus ist schlicht ein politökonomisches merhin gelernter Pfarrer – mit der größten Konkurrenz.
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie Selbstverständlichkeit alle seine Bürger – ob ohnehin über jeden Zweifel erhaben, erlei- arm, ob reich, ob mächtig oder ohnmächtig den aber ausgerechnet am Nationalfeiertag – geradezu gleichmacherisch mitverantwort- durch den massenhaften Tod vor Lampe- lich macht: dusa einen Imageschaden, so dass ein we- „Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör nig Scham, Trauer und Betroffenheit dem zu gewähren, sind wesentliche Grundlagen zur moralischen Gemeinschaft verklärten unserer Rechts- und Werteordnung. Zuflucht Staatswesen gar nicht schlecht zu Gesicht 92 Foto: Patryk Witt/Zentrum für Politische Schönheit Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit, 2014 Suchende sind Menschen – und die gestrige steht. Das sieht auch der parteivorsitzende Tragödie zeigt das – besonders verletzliche Sozialdemokrat Gabriel so und lässt in Bild Menschen. Sie bedürfen des Schutzes. Weg- am Sonntag wissen, um wen er sich Sorgen zuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in macht: einen vorhersehbaren Tod, das missachtet „Was auf Lampedusa passiert, ist eine große unsere europäischen Werte.“ Schande für die Europäische Union.“(zitiert Damit gibt der Bundespräsident das Muster nach SZ vom 5. 10. 2013) der öffentlichen Befassung vor. Gemäß der Nachdem die Stirn den Erfordernissen ent- selbst formulierten Anklage lautet der Vor- sprechend ein paar Momente in dunklen wurf auf unterlassene Hilfeleistung bei der Sorgenfalten verharrt, kann der eingangs Rettung der Flüchtlinge. Bereits durch diese zitierte Präsident am Ende derselben Rede Anklage ist die Bundesrepublik von jeglicher übrigens auch schon wieder frohlocken: „Ich ursächlichen Verantwortung sowohl für die weiß schon jetzt, dass ich mich im nächs- Not der Flüchtlinge in ihren Heimatländern ten Jahr um diese Zeit mit einem Lächeln als auch für die tödlichen Konsequenzen ihrer an diesen Tag erinnern werde.“ Flucht frei gesprochen. Überhaupt bezichtigt Ebenso realpolitisch wie hochideologisch der oberste Repräsentant der Bundesrepu- greift der damalige Innenminister Friederich blik Deutschland keineswegs den Staat, dem (CSU) den Vorwurf der unterlassenen Hilfe- er vorsteht, sondern großzügig seine Ehren- leistung auf und erteilt sich selbst, seinem gäste in ihrer Rolle als Rechts- und Wertege- Ministerium und seinen Beamten den einzig meinschaft. Die angesprochenen Werte sind systemgemäßen Auftrag für einen verbes- zwar nicht weiter erläuterungsbedürftig und serten Flüchtlingsschutz: „Fest steht, dass
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie wir noch stärker die Netzwerke organisier- 2. „Krokodilstränen der Politik“ – die An- ter und ausbeuterischer Schleusungskrimi- klage der kritischen Presse Entgegen der nalität bekämpfen müssen.“ (SZ vom 5. 10. geheuchelten Warnung etwa der ehemaligen 2013) Dies freilich, ohne deren Geschäfts- Ausländerbeauftragen der Bundesregierung grundlage, immerhin die eigene Flüchtlings- Maria Böhmer (CDU), das Mittelmeer dürfe politik, auch nur in Betracht, geschweige kein Massengrab werden, beginnt Heribert denn in Zweifel zu ziehen, so dass sich die Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 7. nächsten Toten auch schon am Folgetag ein- 10. 2013 den Kommentar „Das Boot ist leer“ stellen. mit einer bewussten Entgegensetzung: „Grenzen auf für alle!“ – Exkurs zur Kritik der radikalen Flüchtlingsfreunde Wollen die wenigen ernsthaften Kritiker dieses tödlichen Programms wirklich bei der ebenso bornierten wie unrealistischen Forderung stehen bleiben, dass die Staaten, die dieses globa- le Elend samt lokaler Flüchtlingspolitik zu verantworten haben, ausgerechnet ihre Grenzen 93 für jene öffnen sollen, mit denen Staat und Kapital schon in ihrer Heimat nichts anzufangen wissen? Wollen sie ihre Kritik nicht auf die Ursachen der Not und deren Verursacher richten, sondern die Täter erst fälschlich zu Rettern verklären, um diese schließlich wegen unterlassener Hilfeleistung moralisch anzuklagen? Und wäre es – einmal davon abgesehen, dass die europäischen Regierungen solche Forde- rungen aus den genannten Gründen ablehnen müssen – überhaupt sinnvoll und wünschens- wert, alle Opfer der globalen Weltordnung die Chance zu eröffnen, mit den bereits ortsan- sässigen Armen um eine Wohnung im segensreichen Moloch deutscher, französischer oder britischer Slums zu konkurrieren, darum zu streiten, wer dort die Klos von McDonalds oder die Flure deutscher Ämter und Behörden putzen darf oder sich mit iberischen Arbeitslosen darum zu schlagen, wer auf den Plantagen spanischer Agrarkonzerne die Chance bekommt, Pestizide zu inhalieren? Wohl eher nicht ... Ganz ähnlich melden sich die meisten Politi- „Das Mittelmeer ist (!) ein Massengrab. Die ker in Deutschland und der EU zu Wort. Ihren toten Flüchtlinge sind Opfer unterlassener Streit über die Dublin II- bzw. Dublin III-Ver- Hilfeleistung; womöglich handelt es sich ordnung, also über die Lastenverteilung bei auch um Tötung durch Unterlassen. Sie sind der Flüchtlingsabwehr, die Internierung der jedenfalls Opfer der europäischen Flücht- Flüchtlinge in meist privatisierten Lagern, lingspolitik, der Politik des Friedensnobel- über Prozessdurchführung und Abschie- preisträgers von 2012, der Europäischen bung inszenieren sie unter Berufung auf die Union. In dieser Politik hat die Abwehr von Katastrophe auf einem Innenministergipfel Menschen Vorrang vor der Rettung von im Oktober 2013 in Brüssel als Lehren aus Menschen. [...] Hilfe gilt als Fluchtanreiz. den schrecklichen Ereignissen von Lampe- Deshalb ist sie verboten, deshalb wird sie dusa. Am Ende der Konferenz bleibt alles bestraft, deshalb nimmt die EU-Politik den beim Alten. Deutschland setzt sich gegen Tod der Flüchtlinge fatalistisch hin. [...] Die Italien, Spanien und Griechenland durch, Tränen, die nun angesichts des Massentodes die auch weiterhin als Erstaufnahmeländer vor Lampedusa zerdrückt werden, sind Kro- größtenteils die Flüchtlingsabwehr im Inte- kodilstränen; und die Reden dieser Politiker resse Deutschlands zu bewältigen haben. sind Krokodilsreden. Der Tod der Flüchtlinge Ganz nebenbei gelingt den versammelten ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er gehört Demokraten unter Mithilfe der meisten Leit- zur Abschreckungsstrategie, die der Haupt- medien dabei die Umdefinition vom töd- inhalt dieser Politik ist.“ (Hervorh. d. Verf.) lichen Problem der Flüchtlinge zum Flücht- Prantl beschönigt nichts und er differenziert. lingsproblem der EU! So weit, so brutal, so An Stelle einer pauschalisierenden Kollek- konsequent ... tivverurteilung nach dem Motto „Wir alle“
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie nennt er das entscheidende Subjekt beim der Flüchtlinge an der durchaus wirkungs- Namen: Die EU-Politik und ihre karrierebe- vollen Politik gescheitert. Wie kommt es wussten Vertreter! Prantl kennt die Priori- zu dieser – zunächst einmal „nur“ sachlich täten der Flüchtlingspolitik und sogar ihren verkehrten – Kritik? Zweck, wenn er festhält: „In dieser Politik Menschenrechts- und Hilfsorganisationen hat die Abwehr von Menschen Vorrang vor stellen sich offenbar vor, Flüchtlingspolitik der Rettung von Menschen. [...] Der Tod der habe eigentlich (!) dem Schutz für Flüchtlinge Flüchtlinge ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik. und nicht dem Schutz vor Flüchtlingen zu die- Er gehört zur Abschreckungsstrategie, die nen. Über Asyl- und Menschenrechte werden der Hauptinhalt dieser Politik ist.“ Schließ- also Ideale, d.h. Wunschvorstellungen entwi- lich ist auch die Schlussfolgerung aus seiner ckelt und es wird erwartet, dass der real exi- Anklage am Ende des zitierten Kommen- stierende Staat diese zu verwirklichen habe.3 tars durchaus beachtlich: „In einem Flug- Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklich- blatt der Weißen Rose hieß es einst: ‚Zer- keit, nämlich die tödliche Abschottungspolitik reißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den – Pro Asyl macht die deutsche Öffentlichkeit Ihr um Euer Herz gelegt.’ Diese Sätze aus darauf beharrlich und durchaus dankens- 94 furchtbarer Zeit sind keine Sätze nur für das werter Weise aufmerksam – wird nicht als Museum des Widerstandes, sie haben ihre wörtliche und durchaus erfreuliche Ent-Täu- eigene Bedeutung in jeder Zeit – auch in schung über die eigenen Ideale genommen, 3 Dabei könnte schon unserer!“ sondern moralisch enttäuscht zur Kenntnis Art. 16 GG Absatz 1 Dennoch ist sein Hauptvorwurf verkehrt. genommen, ganz nach dem Motto: ‚Der „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ Denn der Vorwurf der „unterlassenen Hilfe- Staat wird Aufgaben, die er selbst zwar gar hellhörig machen, leistung“ der Festung Europa geht nicht nur nicht verfolgt, aber an die ich, d.h. Pro Asyl, stellt er doch klar, dass der Gesetzgeber bei Gauck brutal an der Sache vorbei. Die EU gerne glaube, gar nicht gerecht! Er entspricht nicht die Not der tut nicht zu wenig beim Flüchtlingsschutz. nicht meinen höheren Idealen über ihn.’ Flüchtenden, sondern nur den von ihm zu Die EU produziert die Flüchtlinge. Kein Wun- Bei aller Kritik an der politischen Wirklich- definierenden Tatbe- der und überhaupt kein Widerspruch ist es keit lässt man sich den guten Glauben an stand der „politischen“ daher zu ihrem Auftrag, wenn sie die Opfer die segensreichen Aufgaben der politischen Verfolgung durch auswärtige, meist ihrer eigenen Erfolgsstrategie nicht haben Gewalt, der man unterworfen ist, nicht von ihm als feindlich will! Im Gegenteil: Die Öffnung der Gren- nehmen. Heraus kommt eine Kritik, die als eingestufte Souveräne zum Anlass für eine zen für die unendlich vielen Verzweifelten, Hass-Liebe bezeichnet werden kann. Bei al- Asylrechtsgewährung die der Westen von den Philippinen bis Haiti ler Kritik an den real existierenden Politikern nimmt. Vom Stand- punkt des Überlebens- von Afghanistan bis Mali durch seinen Erfolg bleibt man unerschütterlicher Parteigänger willens der Flüchten- global erst in Not bringt, stünde tatsächlich jenes Staates, dessen Interessen die Politiker den jedenfalls wäre im Widerspruch zum Erfolg dieser Staaten vertreten. die sachlich ohnehin kaum haltbare Unter- und ihren realen Höchstwerten – Dollar und Um das an einem zweiten Beispiel zu ver- scheidung zwischen Euro. deutlichen: Auch Pro Asyl wirft dem deut- politischen und wirt- schaftlichen Flucht- schen Innenminister „Verantwortungslosig- gründen gänzlich 3. „Scheitern der europäischen Flücht- keit“ vor, wenn dieser mit all seiner Macht unerheblich. Dass die Inschutznahme von lingspolitik“ – die Kritik von Pro Asyl in der EU für Dublin II und III und eine ver- politisch Verfolgten „PRO ASYL fordert einen völligen Neube- schärfte Flüchtlingspolitik eintritt. Wie dies? weniger der Sorge um ginn in der Flüchtlingspolitik Europas. Die – möchte man fragen, wo doch ganz offen- deren Wohlergehen als vielmehr der damit Abschottungspolitik der beiden letzten sichtlich ist, dass der Minister bewusst und intendierten Verurtei- Dekaden ist gescheitert. Der tausend- öffentlich für seine Ziele eintritt? Offenbar lung der Verfolger- staaten geschuldet fache Tod von Flüchtlingen an den Au- will man sich die Macht demokratischer ist, ist denn auch ßengrenzen Europas bedeutet den mo- Politiker nicht als Macht über das Leben jedermann sofort klar, wenn sich andere, ralischen Bankrott der Flüchtlings – und anderer (in diesem Fall der Flüchtlinge) vor- möglicherweise sogar Menschenrechtspolitik der EU“ (Presseer- stellen, sondern als Verantwortung für die feindliche Staaten wie klärung Pro Asyl 4. 10. 2013) Untergebenen. Auch hier wird die gegentei- z. B. Russland im Falle Edward Snowdens Pro Asyl spricht angesichts der Toten vor lige Erfahrung nicht zum Anlass zunächst ei- dieses außenpoli- Lampedusa in seiner Presseerklärung vom ner Selbstkritik, die eigene Idealisierung der tischen Kampfmittels bedienen. (Vgl. Scheitern der europäischen Flüchtlings- Macht betreffend, genommen, sondern im dazu A. Krölls „Das politik. Dabei ist – zumindest nüchtern be- Gegenteil der Macht vorgeworfen, dass sie Grundgesetz – ein Grund zum Feiern?“ trachtet – offensichtlich nicht die Flücht- einmal mehr nicht so gut war, wie man an Hamburg 2009) lingspolitik der EU, sondern das Leben sie zu glauben bereit ist.
standpunkt : sozial 3/2014 Arian Schiffer-Nasserie Bei den charakterisierten Denkmustern handelt es sich um Fälle eines enttäuschten Staatsidealismus. Der ist und bleibt bei aller Enttäuschung ein Idealismus. Ein 95 Wunschdenken, die eigene Staatsgewalt und ihre menschenrechtlichen Prinzipien betreffend. Die Folge ist der folgenlose und gerade darin staatstragende Ruf nach guten Gesetzen, verantwortungsvollen Po- litikern, unverbrauchten Parteien. Und ge- nau das ist das Material, mit dem immer neue, unverbrauchte Politikergenerationen ihre Konkurrenz um die Macht im kapita- listischen Nationalstaat betreiben und bei ihren potentiellen Wählern geschickt den Idealismus der Verantwortung gegen den Realismus der Macht ausspielen ... Statt eines Fazits: Erbauliches zur Weih- nachtszeit! Ein Mann, der etwas davon versteht, predigt seinen Bundesschäfchen öffentlich-rechtlich zu Weihnachten: „Machen wir unser Herz nicht eng mit der Feststellung, dass wir (!) nicht jeden (!), der kommt, in unserem Land aufnehmen kön- nen. Ich weiß ja, dass dieser Satz sehr, sehr (!) richtig ist. Aber zu einer Wahrheit (!) wird er doch erst, wenn wir zuvor unser Herz gefragt haben, was es uns sagt, wenn wir die Bilder der Verletzten und Verjagten ge- sehen haben. Tun wir wirklich schon alles, was wir tun könnten?“ (Weihnachtsanspra- che des Bundespräsidenten 2013; Hervorhe- bung d. Verf.) Der betroffene Blick auf die „Verletzten und Verjagten“, die natürlich mit der eigenen Politik nichts zu tun haben; die gekonnt be- klommene Frage, ob „wir“ auch genug hel- fen – sie gehören einfach dazu. Nämlich zur Arian Schiffer-Nasserie, Prof. Dr., unterrichtet Po- litikwissenschaft an der Evangelischen Fachhoch- Pflege des Glaubens an die höheren Werte schule R-W-L in Bochum. Schwerpunkte: Migra- und des guten Gewissens einer imperialis- tions- und Sozialpolitik sowie Rassismusforschung. tischen Nation. schiffer-nasserie@efh-bochum.de
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