Flüchtlingspolitik Ein Jahr nach Lampedusa - Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich - wofür?

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standpunkt : sozial 3/2014                                                                       Arian Schiffer-Nasserie

Flüchtlingspolitik
Ein Jahr nach Lampedusa
Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich – wofür?

                                                              Arian Schiffer-Nasserie
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Weltrekord! Über 50 Millionen Menschen             So geht das Sterben rekordverdächtig
waren laut UNHCR im vergangenen Jahr auf           weiter. Entgegen aller öffentlichen Ver-
der Flucht – mehr als je zuvor seit Weltkrieg      lautbarungen hat das Flüchtlingselend
Nummer 2 und allein sechs Millionen mehr           also offenbar doch viel mehr mit den vi-
als im Vorjahr. Ein kleiner Teil der Flüchtenden   talen Interessen der europäischen Staa-
erreichte die Außengrenzen der EU und ver-         ten zu tun, als dies Politik-, Presse-, und
suchte Mauern, Zäune und Seegrenzen ohne           Kirchenvertreter öffentlich wahrhaben
Erlaubnis des Staatenbündnisses zu überwin-        wollen. Wenngleich die vielen Grenztoten
den.                                               der EU – im Unterschied zu den etwa 200
Etwas mehr als ein Jahr liegt die „Flüchtlings-    Maueropfern in 40 Jahren DDR-Geschich-
katastrophe“ von Lampedusa bereits zurück.         te – nicht zur Verurteilung eines Staats
An öffentlicher Anteilnahme, an zur Schau          oder gar eines ganzen Staatenbünd-
gestellter Scham, Trauer und Betroffenheits-       nisses herangezogen werden dürfen und
bekundungen der europäischen Eliten hatte          ein Schluss auf das ökonomische System
es danach ja keinesfalls gemangelt. Sogar          des Westens unerwünscht ist, so ist Kri-
politische Konsequenzen wurden in Aussicht         tik doch erlaubt und wird auch geäußert:
gestellt: Alles sollte anders werden. Davon        Europaweit werfen Flüchtlings- und Kir-
will man ein Jahr später kaum noch etwas           chengruppen, Linke und Menschenrecht-
wissen.                                            ler den Verantwortlichen Abschottung
Allein seit dem 3. Oktober 2013 kostete der        vor. Sie konstatieren, dass die EU keinen
Versuch der unerlaubten Einreise mehr als          Schutz für Flüchtlinge, sondern Schutz
3000 Menschen das Leben. Das ist ebenfalls         vor Flüchtlingen betreibe. Öffentlich ver-
Rekord. Die meisten von ihnen ertranken im         urteilt werden die Repräsentanten der EU
Mittelmeer – und das während einer flücht-         für ihre angeblich „unterlassene Hilfeleis-
lingspolitischen Sonderphase, in der die itali-    tung“ (vgl. etwa H. Prantl in der Süddeut-
enische Küstenwache die Seenotrettung von          schen Zeitung vom 7. 10. 2013) und ihre
Flüchtlingen noch vor deren Abwehr stellte.        „Verantwortungslosigkeit“.
Innerhalb eines Jahres rettete das Programm        Der vorliegende Beitrag will die hier an-
„Mare Nostrum“ nach Angaben der Regie-             gerissenen Aspekte in zwei Teilen genauer
rung in Rom und gegen den Willen der Bun-          untersuchen. Teil eins geht der Frage nach,
desrepublik, die sich an den Kosten nicht be-      warum und wofür die Flüchtlinge und ihr
teiligen wollte, zum Preis von ca. 9 Mio. Euro     massenhafter Tod an den EU-Außengren-
monatlich immerhin 120.000 Menschenle-             zen – allen öffentlichen Beteuerungen
ben. Das Nachfolgeprogramm „Triton“ be-            zum Trotz – offenbar unvermeidlich sind.
müht sich denn inzwischen auch wieder ganz         Teil zwei behandelt die öffentliche Aus-
im Sinne der Bundesregierung um die ge-            einandersetzung und Kritik nach der so
wünschte Abschreckung, Abschottung und             genannten „Flüchtlingskatastrophe von
Abschiebung; mit den bekannten Folgen.             Lampedusa“ anhand von drei Beispielen.
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                                  Teil I – Fluchtursachen und Flüchtlings-          thematisierten Fluchtursachen zu betrach-
                                  politik Wenn in Deutschland über die Lage         ten. Sie sind dazu geeignet, einige grundle-
                                  von Flüchtenden, über Flüchtlingskatastro-        gende Illusionen der Diskussion in Frage zu
                                  phen und Flüchtlingspolitik nachgedacht           stellen. Es wird sich zeigen, dass das Flücht-
                                  und gestritten wird, dann zeichnen sich bei       lingselend keinesfalls auf vermeidbares Fehl-
                                  aller Kontroversität zwei als selbstverständ-     verhalten der Beteiligten zurückzuführen
                                  lich unterstellte Vorannahmen ab:                 ist – also auch nicht durch moralisierende

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                                  Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit, 2014

                                  Die erste geht davon aus, das Flüchtlings-        Appelle an die vermeintlich Schuldigen zu
                                  elend müsse eigentlich nicht sein, wenn nur       bewältigen ist – sondern regelrecht syste-
                                  alle Beteiligten – also die Flüchtlinge aus den   matische Ursachen hat. Die zentrale These
                                  Armuts- und Kriegsregionen selbst, die Re-        lautet: Die Flüchtlinge und ihre leichenträch-
                                  gierungen ihrer Herkunftsländer, die Schleu-      tige Abwehr sind für die ökonomischen,
                                  ser, Frontex und die (un)verantwortlichen Po-     politischen und militärischen Interessen der
                                  litiker der EU – ihrer Verantwortung korrekt      EU unvermeidlich. Dies soll im Folgenden
                                  nachkämen. Auf diesem festen Glaubenssatz         bewiesen werden.
                                  baut die deutsche Diskussion mit viel Empha-
                                  se auf und es wird munter je nach politischer     Ökonomisch sind die Flüchtlinge für den
                                  Position darum gerechtet, wem die Schuld          europäischen Kapitalismus unvermeid-
                                  für den massenhaften Tod auf dem Meer             lich,
                                  zu geben sei. Die Antworten fallen den po-        1. weil die EU – Deutschland vorneweg
                                  litischen Standpunkten entsprechend, also         – mit überlegenen Unternehmen und sub-
                                  leider in aller Regel äußerst gehässig, aus.      ventionierten Waren die afrikanischen und
                                  Vorannahme zwei diskutiert Deutschland            arabischen Ökonomien erfolgreich kaputt
                                  ausschließlich als Aufnahme- und Helferland       konkurriert und den betroffenen Men-
                                  oder zumindest als potentielle Schutzmacht        schen damit ihre Lebensgrundlage nimmt.
                                  für die Bedrängten dieser Welt. Flüchtlings-      Dies geschieht durch die Zerstörung tra-
                                  feinde und Flüchtlingsfreunde teilen ein-         ditioneller Wirtschaften und Märkte, wo
                                  trächtig auch diesen Grundsatz – um auf           diese noch vorhanden sind (zum Beispiel
                                  dessen Basis wild darüber zu streiten, ob         durch den Export von Hühnchenflügeln
                                  Deutschland schon viel zu viele Flüchtlinge       und Schlachtabfällen aus Niedersachen
                                  aufnehme oder aber seiner humanitären             in die Märkte Zentralafrikas). Oder durch
                                  Verantwortung ganz unzureichend gerecht           die Ruinierung der heimischen Unterneh-
                                  werde.                                            men, insbesondere der verarbeitenden
                                  In Anbetracht solcher Gewissheiten erscheint      Gewerbe (zum Beispiel der Fischindustrie
                                  es angezeigt, zunächst die in der deutschen       des Maghreb), die dann ihrerseits keinen
                                  Flüchtlingsdiskussion bezeichnend wenig           Gebrauch mehr von den eigentumslosen
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Arbeitskräften machen, so dass die abhän-         den eigenen Gelderwerb kümmern zu dür-
gig Beschäftigten ihrer Existenzgrundlage         fen, die tatsächliche Möglichkeit dazu in
beraubt sind,                                     ihrer Heimat keineswegs einschließt.,
2. weil die Lebensmittel bzw. fruchtbaren         5. weil die Überflüssigen seit der Eurokrise
Böden (zum Beispiel die Palmölplantagen in        selbst als Wanderarbeiter und Erntehelfer
der Elfenbeinküste, Rosen aus Kenia, Erd-         in der EU weniger gebraucht werden. Und
nüsse aus dem Senegal usw.), die Fischfang-       dort, wo sie weiterhin beschäftigt werden,
gebiete (Beispiel Mauretanien) und die Roh-       besteht die bittere Ironie ihres „Glücks“ da-
stoffvorkommen ihrer Heimat (zum Beispiel         rin, dass sie mit ihren Dritte-Welt-Löhnen
Uran aus Niger, Tschad und Mali) exklusiv         kombiniert mit der Produktivität europä-
der Verwertung westlicher Kapitale dienen         ischer Betriebe unfreiwillig dazu beitragen,
– und damit der örtlichen Bevölkerung als         den auswärtigen Erfolg Europäischer Unter-
Lebensgrundlage entzogen werden,                  nehmen und damit die Ruinierung der hei-
3. weil die Menschen vor Ort zwar genau           mischen Ökonomie ihrer Herkunftsländer
wie die abhängig Beschäftigten in Euro-           weiter voran zu treiben,

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                 Exkurs zu den Fortschritten der freiheitlichen Weltordnung

Man kann es gar nicht oft genug betonen: Freiheit – nicht Zwang charakterisiert das Elend
der Überflüssigen in der heutigen Weltordnung! Wurden zu Kolonialzeiten die Arbeitssklaven
zwangsweise in Ketten und auf Kosten ihrer europäischen und amerikanischen Anwender
über das Meer geschifft, so ist die Situation im Zeitalter der globalen Geltung von Freiheit und
Eigentum weit fortgeschritten: Die ehemaligen Sklaven rudern inzwischen selber! Und zwar
aus eigenem Entschluss und auf eigene Kosten als freie und eigentumslose Personen. Die ehe-
maligen Kolonial- und Sklavenhalterstaaten in Europa und Nordamerika, inzwischen allesamt
Hüter der universellen Menschenrechte, können bequem nach eigenem Bedarf entscheiden,
ob und wem sie die Gnade gewähren, in ihren Ländern den privaten Reichtum ihrer Unterneh-
men zu mehren. Wenn schon nicht in der Vermeidung von Not und Leid, so sind die neuen
Weltordnungsmächte ihren historischen Vorgängern zumindest bezüglich dieser freiheitlichen
und grundsoliden Herrschaftstechnik weit überlegen ...

pa in Ermangelung alternativer Lebens-            6. weil Weltbank und IWF darauf beste-
grundlagen existenziell darauf angewiesen         hen, dass die arabischen und afrikanischen
sind, von einem Arbeitgeber angewendet            Staaten die Ernährung ihrer Völker nicht
zu werden, um leben zu können, im Un-             subventionieren dürfen, wenn sie weiterhin
terschied zu europäischen Arbeitnehmern           vom Westen Kredit wollen. (Die Liste ließe
aber in der Regel als Lohnabhängige nicht         sich leider noch fortsetzen.)
gebraucht werden, sich in der Konkurrenz
um Lohnarbeit folglich immer weiter un-           Politisch sind die Flüchtlinge eine not-
terbieten und deshalb massenhaft verelen-         wendige Folge westlicher Weltordnung,
den,                                              1. weil nicht geduldet wird, wenn sich
4. weil sie also für das kapitalistische Ge-      die Überflüssigen in ihrer Not gegen ihre
schäft in der großen Masse schlicht über-         politische Herrschaft auflehnen oder ande-
flüssig sind, d.h. „Überbevölkerung“, die         ren politischen Mächten zuwenden, sofern
stört, wo immer sie rumvegetiert und des-         dies den Ordnungsvorstellungen europä-
halb nicht selten ein Fall für die Armuts-,       ischer und amerikanischer Mächte wider-
Kriminalitäts-, und Aufstandsbekämpfung           spricht. Historisch war dies in der Phase der
durch Polizei, Militär und Ordnungspoli-          Entkolonialisierung der Fall, als sich viele
tik werden. Mit anderen Worten: Weil die          Befreiungsbewegungen der gerade ent-
Freiheit, die den ehemaligen Kolonisierten        stehenden Dritten Welt Hilfe suchend an
gewährt wird, sich selbstverantwortlich um        die alternative Weltmacht UdSSR oder die
standpunkt : sozial 3/2014                                                                                Arian Schiffer-Nasserie

                                  junge Volksrepublik China wandten und             7. weil sie Putschs gegen antiwestliche Re-
                                  dafür direkt (Korea, Vietnam, Laos, Kam-          gierungen, die auf demokratischem Wege
                                  bodscha, Algerien, Simbabwe usw.) oder            an die Macht gekommen sind, und dazuge-
                                  indirekt (Kuba, Chile, Nicaragua, Angola,         hörige Militärdiktaturen offen unterstützen
                                  Namibia, Mocambique, Palästina, Ägypten,          (Algerien) oder zumindest decken und mili-
                                  Syrien usw.) mit Stellvertreterkriegen, Mi-       tärisch ausrüsten (Ägypten).
                                  lizen und Embargos vom Westen bekämpft
                                  wurden. Heute ist das der Fall, wenn ent-         Und militärisch sind Flüchtlinge Teil der
                                  sprechende Staaten oder Bewegungen ihr            „Kollateralschäden“ des westlichen En-
                                  Heil in der ökonomischen Erschließung             gagements,
                                  durch China, durch Bündnisse und Bei-             1. weil die USA und die EU-Staaten überall
                                  standsbekundungen mit den „Schurken“              dort, wo diese friedliche Diplomatie nicht aus-
                                  der Weltordnung, insbesondere Russland,           reicht, um ihre Interessen durchzusetzen, ent-
                                  Iran, Kuba, Venezuela und Nordkorea oder          weder im Alleingang, im NATO-Bündnis oder
                                  in der Hinwendung zum politischen Islam           in einer Koalition der Willigen zur offenen
                                  entdecken,                                        Kriegführung übergehen, Söldnertruppen zu-
88                                2. weil EU und USA die Verzweifelten in           sammenstellen oder gleich selber „Luftschlä-
                                  Afrika, im Nahen und Mittleren Osten in           ge erteilen“, bombardieren, einmarschieren
                                  Zentralasien für ihre Einflussnahme auf die       und besetzen. Und das alles bekanntlich nur
                                  Regionen zu instrumentalisieren suchen            – um die „Zivilbevölkerung zu schützen“.
                                  und westliche Regierungen die Aufstände           Die Flüchtenden sind also tatsächlich die
                                  der Überflüssigen – je nach Bedarf – gegen        ebenso unerwünschte wie unvermeidliche
                                  unliebsame Regierungen unterstützen oder          Konsequenz der ökonomischen, politischen
                                  unterdrücken (Syrien, Libyen, Libanon, Iran,      und      militärischen    Konkurrenzanstren-
                                  Ägypten usw.),                                    gungen der EU-Staaten, ihrer Verbündeten
                                  3. weil sie, wo dies zur Durchsetzung der         und ihrer Unternehmen. Die Flüchtenden
                                  eigenen Interessen opportun erscheint, zur        sind der auch in den Metropolen wahr-
                                  ethnischen und religiösen Spaltung ganzer         nehmbare Ausdruck der Ruinierung weiter
                                  Staaten beitragen und die dafür nötigen           Teile der Welt durch die herrschende Welt-
                                  Kriege finanzieren (früher Eritrea, heute Su-     ordnung.
                                  dan, Irak, Syrien), so dass ethnische Säube-
                                  rungen und Vertreibungen die zwangsläufige        Flüchtlingspolitik an den Grenzen der
                                  Konsequenz sind,                                  Europäischen Union Schließlich werden
                                  4. weil die Staaten des Westens unliebsame        die Überflüssigen und Vertriebenen dann
                                  Bewegungen und Organisationen bespitzeln,         noch Opfer der ebenfalls für die EU-Staaten
                                  verfolgen, ihre Mitglieder und deren Angehö-      notwendigen Grenz- und Flüchtlingspolitik:
                                  rige foltern, sie mit Drohnen beschießen, sie     Wenn nämlich diese viel zitierte „Zivilbevöl-
                                  von Milizen vernichten lassen usw. (Jemen,        kerung“, auf die sich die westlichen Staaten
                                  Pakistan, Somalia, Afghanistan...),               so gerne bei ihren Kriegsbegründungen be-
                                  5. weil sie befreundete und verbündete            rufen, den oben aufgezählten Horror über-
                                  Regime bei ihrer Kriegführung unterstützen        lebt und aus ihrer Verzweiflung und Ohn-
                                  (Saudi-Arabien, Khatar, Arabische Emirate,        macht den Schluss zieht, nach Europa oder
                                  Jordanien, Türkei usw.), d.h. Diktaturen, De-     Nordamerika zu fliehen, dann muss diese
                                  mokratien, Monarchien und Gottesstaaten           Zivilbevölkerung erfahren, dass die „huma-
                                  für ihre Beiträge zur westlichen Weltordnung      nitäre Hilfe“ des Westens so nicht gemeint
                                  aus- und aufrüsten und so von sich abhängig       war.
                                  machen,                                           Als Flüchtlinge stoßen sie an die Außengren-
                                  6. weil sie mit Wirtschaftsembargos und Blo-      zen der Europäischen Union und dürfen nicht
                                  ckaden die Lage der Völker in unliebsamen Staa-   einreisen. Der sichere und unkomplizierte Zu-
                                  ten weiter zu verschlechtern suchen (allein dem   gang mit Fähren und Fluggesellschaften von
                                  Irak-Embargo der USA, politisch gegen S. Hus-     ihren Heimatländern aus – die ja nicht selten
                                  sein gerichtet, fielen durch Mangelernährung      zugleich beliebte Destinationen des Ferntou-
                                  und fehlende Medikamente 500.000 irakische        rismus sind – bleibt ihnen ohne rechtlichen
                                  Kinder zum Opfer), um sie in Hungeraufstän-       Aufenthaltstitel der EU verwehrt. Jede Hoff-
                                  den gegen ihre Regierung aufzubringen,            nung der „unschuldigen Zivilbevölkerung“,
standpunkt : sozial 3/2014                                                                         Arian Schiffer-Nasserie

der „schutzlosen Männer, Frauen und Kin-          Kapitalwachstum ist die wirtschaftliche
der“ auf legale und sichere Weise diesem          Grundlage der politischen Macht der Bun-
Horror zu entgehen, wird durch ein her-           desrepublik wie aller marktwirtschaftlicher
metisches Grenzregime zunichte gemacht.           Staaten. Von der KiTa über die Autobahn bis
Der Versuch, es auf unerlaubte Weise doch         zum Panzer kauft sich der moderne Staat
zu tun, also illegal einzureisen, kostet dann     die Mittel seiner Politik. Deshalb setzen
weiteren Tausenden das Leben.                     sich deren Regierungen parteiübergreifend
Es ist insofern auch konsequent, dass Fischer     für Wachstum ein. Denn nur wenn private
nicht helfen und vorbeifahrende Container,-       Unternehmen aus ihrem Geld mehr Geld
und Kreuzfahrtschiffe die Ertrinkenden nicht      machen, bekommen die Lohnabhängigen
retten, ihre Hilferufe nicht erhören, da den      überhaupt Arbeit und Gehalt, machen die
Rettern möglicherweise Strafe droht. Es ist       Unternehmen Gewinne, findet Handel und
auch nur folgerichtig, dass Überlebende an-       Kreditgeschäft statt. Und nur dann kann
geklagt werden und Fluchthelfer mit hohen         der Fiskus all diese privaten Einnahmequel-
Strafen rechnen müssen, noch bevor alle           len, ganz besonders den Lohn, besteuern,
Leichen beseitigt sind, damit kein falsches       d.h. teilweise enteignen, verstaatlichen und
Signal an jene ergeht, die auf der anderen        schließlich auf das so geschaffene Steuer-                                   89
Seite des Meeres noch leben.1                     aufkommen seine Verschuldungsfähigkeit
                                                  gründen. Wachstum, das schon seinem
Zwischenfazit Die Flüchtlinge sind notwen-        Begriff nach maßlos ist, muss deshalb sein:
dig, weil die Ruinierung der Existenzgrundla-     Wachstum ist die Staatsräson bürgerlicher
gen der eigentumslosen Massen in der Drit-        Herrschaft. Je mehr desto besser. Auf die
ten Welt zwar nicht der Zweck, aber doch          menschlichen und natürlichen Grenzen des
die unvermeidliche Folge der europäischen         kapitalistischen Wachstums nehmen moder-
Wachstumspolitik und ihrer außenpolitisch-        ne Staaten in ihrer Sozial- und Umweltpolitik
militärischen Flankierung ist. Der Zuzug der      deshalb nur dann Rücksicht, wenn sie sich
Überflüssigen in die EU ist unerwünscht und       davon „nachhaltig“ noch mehr Wachstum
folglich vom Gesetzgeber verboten, weil           versprechen. Und in ihrer Wirtschafts- und
sie in den Zentren nicht gebraucht werden,        Außenpolitik setzen sie sich deshalb dafür
also nur eine Belastung und Gefährdung der        ein, dass auch die nationalstaatlichen Gren-
inneren Ordnung darstellen. Die Toten an          zen ihrer eigenen Herrschaft keine Grenzen
den EU-Außengrenzen sind die zivilen Opfer        der kapitalistischen Akkumulation darstellen.
dieses Erfolgswegs des Europäischen Staa-         Im Unterschied zu der eher idealistischen
tenbündnisses.                                    Forderung der radikalen Flüchtlingsfreunde
                                                  gilt hier wirklich: Grenzen auf für alle! Näm-
Die politökonomische Notwendigkeit                lich für ausländische Rohstoffe, für Waren,
des EU-Imperialismus Die oben darge-              Geld, Kapital und ggf. auch für ausländische
stellte ökonomische, politische und mili-         Arbeitskräfte, wenn diese für die nationale
tärische Ruinierung ganzer Weltgegenden           Bilanz wachstumsdienlich sind. Damit die
durch die EU, ihre Verbündeten und ihre           staatlichen Grenzen ihre wachstumsbe-
Unternehmen ist – die nötige Unbefangen-          schränkende Wirkung verlieren und der ka-
heit vorausgesetzt – kaum zu übersehen.           pitalistische Erfolg ihrer Unternehmer mög-
Und Deutschland ist innerhalb der EU deren        lichst globale Ausmaße annimmt, bemühen
größter Nutznießer und folglich auch eine         sich Politiker mit aller Macht um die Konver-
treibende Kraft entsprechender Machen-            tibilität ihrer Landeswährungen, Zollbestim-
schaften. Will man nicht von der theoretisch      mungen, Handelsverträge, Abkommen und
                                                                                                      1 Zu dieser Strategie
unbefriedigenden Idee von lauter „Fehlent-        so weiter. Sie sind also nicht die ohnmäch-         gehört es auch,
wicklungen“ und „Verstößen“ ausgehen, so          tigen Opfer, sondern die mächtigen Akteure          zum Zwecke der
stellt sich die Frage: Warum betreiben kapi-      und im Falle der Bundesrepublik auch die            Abschreckung in
                                                                                                      den Herkunfts- und
talistisch erfolgreiche Staaten, in diesem Fall   Profiteure der allseits beschworenen Globa-         Transitländer Filme
also die Staaten der EU, eine so grauenvolle      lisierung!                                          über den qualvollen
                                                                                                      Tod der Flüchtlinge zu
Politik? Die Antwort kann im Rahmen dieses                                                            zeigen, die diesseits
Beitrages nur in stark komprimierter Form         Stichwort EU-Binnenmarkt Sowohl in-                 des Mittelmeeres den
                                                                                                      Fernsehzuschauer
in ihrem politökonomischen Kern gegeben           nerhalb Europas als auch weltweit soll              eher nicht zugemutet
werden:                                           deutsches Kapital auf Kosten auswärtiger            werden sollen.
standpunkt : sozial 3/2014                                                                             Arian Schiffer-Nasserie

                                  Konkurrenten expandieren und damit auch         setzung durch die Staaten mit erfolgreicher
                                  auf Kosten anderer Staaten wachsen. Entge-      Kapitalakkumulation. Es ist insofern kein
                                  gen aller Beteuerungen von Unternehmern,        Zufall, dass die kapitalistisch erfolgreichen
                                  Politikern und Volkswirtschaftlern ist die      Staaten zugleich auch die politischen
                                  globale Konkurrenz nämlich weder eine           Hauptakteure auf der Welt sind. Denn je
                                  harmonische Einrichtung der „internationa-      größer und erfolgreicher das akkumulierte
                                  len Arbeitsteilung“ noch eine unsichtbare,      Kapital bereits ist, desto größer wird das
                                  aber segensreiche „Hand“, die zum gemein-       Bedürfnis nach globaler Expansion. Zu-
                                  samen Nutzen aller Teilnehmer wirkt. Die Er-    gleich liefern die weit entwickelten kapita-
                                  gebnisse der deutschen Konkurrenzanstren-       listischen Unternehmen ihren Staaten die

                                                 Exkurs zum Pazifismus von SPD, Grünen und Linkspartei

                              Die Parteigeschichte der deutschen Sozialdemokratie als großes Drama des 20. Jahrhunderts,
90                            die Geschichten der Grünen und der Linkspartei als zunehmende Farce; sie alle geben für die
                              o.g. Behauptung die praktische Anschauung. Sie belegen nämlich ebenso die sozial- und frie-
                              denspolitische Ernsthaftigkeit der genannten Parteien in ihrer stürmischen Gründungsphase
                              als auch den mühevollen Weg hin zu einer realpolitischen Kraft, die sich zur Regierungsfähig-
                              keit des deutschen Kapitalismus vorgearbeitet hat und die dafür nötigen Härten selbstbewusst
                              vertritt. Das hat einen logischen Grund:
                              Wer sich vornimmt, den Kapitalismus im Interesse seiner Opfer zu regieren, die politische
                              Macht in der Bundesrepublik also im Namen der Armen und Entrechteten zu erobern, der muss
                              eben auch auf die ökonomische Grundlage dieser Macht und ihre weltweiten Verwertungs-
                              bedingungen Rücksicht nehmen. Das schließt zahlreiche innen- und außenpolitische Rück-
                              sichtslosigkeiten gegen genau jene Adressaten der sozialen, ökologischen und pazifistischen
                              Machtausübung ein, die man im Ausgangspunkt zu beglücken gedachte.
                              Die interne Begründung für solche Härten auf den entsprechenden Parteitagen verweist ganz
                              systemimmanent darauf, dass mit einer kriselnden Ökonomie, mit Massenarbeitslosigkeit und
                              leeren Staatskassen auch niemand gedient sei und außenpolitisch ein „robustes Auftreten“
                              unumgänglich sei, gerade um die hohen Werte der Partei zu verteidigen. Was der Sache nach
                              das Eingeständnis ist, dass sich die bürgerliche Staatsgewalt entgegen der anfänglichen Par-
                              teiideale doch nicht einfach zu einer Hilfseinrichtung für ihre Opfer umwidmen lässt, wollen
                              die sozialen Demokraten natürlich genau umgekehrt verstanden wissen; nämlich so, dass ihre
                              Brutalitäten letztendlich nur die realpolitische Vervollkommnung ihrer pazifistischen Ideale
                              seien. Ein solcher politischer Reifungsprozess von der außerparlamentarischen Protest- zur
                              parlamentarischen Oppositions- und schließlich kriegsbereiten Regierungspartei braucht seine
                              Zeit und geht nicht ohne Ausgrenzung von so genannten „Spinnern“ oder „Fundamentalisten“
                              ab, die darauf insistieren, dass der Kapitalismus „System hat“, also nicht parlamentarisch zu
                              verbessern, sondern revolutionär zu überwinden ist ...

                                  gungen sind vielmehr innerhalb der EU (z.B.     finanziellen Mittel und die technisch-militä-
                                  gegenüber Griechenland) als auch global         rische Ausrüstung, um das imperialistische
                                  – z.B. im Verhältnis zur sog. Dritten Welt zu   Bedürfnis erfolgreich durchzusetzen. Der
                                  besichtigen.                                    kapitalistische Erfolg auf dem Weltmarkt
                                                                                  und die Durchsetzung als nationalstaatli-
                                  Weil sich das angestrebte grenzüber-            che Weltmacht bedingen sich also wech-
                                  schreitende Wachstum somit gegen an-            selseitig.
                                  dere Staaten und deren Kapitalwachstum          Das war es also, was der ehemalige Bun-
                                  richtet, bedarf es der diplomatischen, po-      despräsident Horst Köhler – vielleicht et-
                                  litischen und notfalls militärischen Durch-     was ungeschickt – bei einem Interview für
standpunkt : sozial 3/2014                                                                        Arian Schiffer-Nasserie

das Deutschlandradio am 22. Mai 2010 im          Funktionserfordernis in nationalstaatlich re-
Hinblick auf künftige Kriegseinsätze der         gierten und erfolgreich wachsenden Markt-
Bundeswehr seinem Volk sagen wollte:             wirtschaften, das deren Politiker machtvoll
„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt     gegen andere Staaten durchsetzen und da-
wir auf dem Wege sind, doch auch in der          für die eigene Bevölkerung rücksichtslos in
Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein   Anspruch nehmen.
Land unserer Größe mit dieser Außenhandels-
orientierung und damit auch Außenhan-            Teil II – Flüchtlingspolitischer Diskurs
delsabhängigkeit auch wissen muss, dass          Die steigenden Flüchtlingszahlen sind also ein
im Zweifel, im Notfall auch militärischer        Resultat der außenpolitischen Durchsetzung
Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen      des Wachstumsprogramms für den Standort
zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege,       Deutschland. Weil die Flüchtlinge und ihr
zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten      massenhafter Tod ebenso unerwünscht wie
zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch      unvermeidlich sind, wird ihr Leid in der poli-
auf unsere Chancen zurückschlagen nega-          tischen Öffentlichkeit
tiv durch Handel, Arbeitsplätze und Ein-         • in „normalen“ Zeiten verharmlost oder
kommen. Alles das soll diskutiert werden            geleugnet und kommt höchstens als Rand-                                   91
und ich glaube, wir sind auf einem nicht            notiz in den großen Zeitungen vor;
so schlechten Weg. […] Es wird wieder            • in Zeiten besonders großer Leichenberge
sozusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei           direkt vor der eigenen Küste wird das Elend
Soldaten, möglicherweise auch durch Un-             als „Drama“ oder „Tragödie“ skandalisiert
fall mal bei zivilen Aufbauhelfern. […] Man         und damit gleichsam das alltägliche Ster-
muss auch um diesen Preis sozusagen sei-            ben als Normalität affirmiert;
ne am Ende Interessen wahren. […]“ (Horst        • mit staatlichen Ehren und unter Tränen
Köhler am 22. Mai 2010 in einem Interview           und aufrichtiger Anteilnahme der EU-Pro-
mit dem Deutschlandradio)                           minenz bedacht, während die Grenzsi-
Und das weiß auch der aktuelle Bundesprä-           cherung gleichzeitig verschärft ausgebaut
sident Gauck, wenn er von einer größeren            wird;
„Verantwortung“ Deutschlands in der Welt         • und bei Bedarf derart umgedeutet, dass
spricht.                                            sich die Politik im Namen der „Bekämpfung
Die nationalstaatlich verfasste Marktwirt-          der Fluchtursachen vor Ort“ einen neuen
schaft ist also der zwingende politökono-           Auftrag zu noch mehr wirtschaftlicher, po-
mische Grund für jene Maßnahmen, die                litischer und militärischer „Verantwortung
oben in groben Zügen dargelegt wurden.              in der Welt“ erteilt.
Es sind also gerade nicht die Einstellungen      Bereits diese verlogenen Diskurse von Poli-
oder Denkweisen der Regierenden wie              tik und Presse werfen ein Licht darauf, dass
Chauvinismus, Eurozentrismus, Paternalis-        die erste und die vierte Gewalt offenbar ein
mus (deren Existenz in Teilen der Elite des-     Bewusstsein davon haben, dass es für die
halb überhaupt nicht bestritten werden           Staatsräson der Bundesrepublik keine grund-
muss). Imperialismus ist auch keine Frage        legende Alternative im Umgang mit Flüchtlin-
der friedenspolitischen Ernsthaftigkeit der      gen gibt. Anhand von drei Beispielen, näm-          2 Die Beurteilung von
politischen Parteien. Der aggressive und zer-    lich anhand der öffentlichen Stellungnahmen         Kriegen im Hinblick
                                                                                                     auf deren Rechtferti-
störerische Charakter des außenpolitischen       von Politik, Presse und Pro Asyl soll dieser        gung, die so beliebte
Engagements kapitalistischer Gewinner-           Diskurs nun näher betrachtet werden.                Unterscheidung zwi-
                                                                                                     schen fremder böser
staaten ist überhaupt keine Frage guter                                                              und eigener guter
oder schlechter Politik, friedliebender oder     1. „Scham und Trauer“ – die Selbstinsze-            Gewalt (bei Linken
                                                                                                     ist es manchmal auch
aggressiver Parteiprogramme.                     nierung der Macht Konfrontiert mit der öf-          anders herum), die
Erst recht ist Imperialismus – um diesen al-     fentlichen Empörung nach dem hundertfa-             Frage, wem auf dem
ten und beinahe tabuisierten Begriff noch        chen Tod der Flüchtlinge vor Lampedusa am           imperialistischen
                                                                                                     Schlachtfeld unsere
einmal zu verwenden – kein Spezifikum            3. Oktober 2013 betreibt Bundespräsident            Sympathie gebührt
besonders „böser“ Nationen, die je nach          Gauck am Folgetag anlässlich der Verleihung         – all diese Anstren-
                                                                                                     gungen zeugen
Standpunkt wahlweise in den USA, Großbri-        des Bundesverdienstkreuzes zum Tag der              überhaupt nur vom
tannien, China, Japan oder in Deutschland        Deutschen Einheit im Schloss Bellevue eine          parteilichen Nachvoll-
                                                                                                     zug der praktischen
ausgemacht werden.2 Der skizzierte Impe-         gekonnte Selbstanklage, bei der er – im-            imperialistischen
rialismus ist schlicht ein politökonomisches     merhin gelernter Pfarrer – mit der größten          Konkurrenz.
standpunkt : sozial 3/2014                                                                                 Arian Schiffer-Nasserie

                                  Selbstverständlichkeit alle seine Bürger – ob   ohnehin über jeden Zweifel erhaben, erlei-
                                  arm, ob reich, ob mächtig oder ohnmächtig       den aber ausgerechnet am Nationalfeiertag
                                  – geradezu gleichmacherisch mitverantwort-      durch den massenhaften Tod vor Lampe-
                                  lich macht:                                     dusa einen Imageschaden, so dass ein we-
                                  „Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör       nig Scham, Trauer und Betroffenheit dem
                                  zu gewähren, sind wesentliche Grundlagen        zur moralischen Gemeinschaft verklärten
                                  unserer Rechts- und Werteordnung. Zuflucht      Staatswesen gar nicht schlecht zu Gesicht

92

                                                                                     Foto: Patryk Witt/Zentrum für Politische Schönheit
                                  Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit, 2014

                                  Suchende sind Menschen – und die gestrige       steht. Das sieht auch der parteivorsitzende
                                  Tragödie zeigt das – besonders verletzliche     Sozialdemokrat Gabriel so und lässt in Bild
                                  Menschen. Sie bedürfen des Schutzes. Weg-       am Sonntag wissen, um wen er sich Sorgen
                                  zuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in     macht:
                                  einen vorhersehbaren Tod, das missachtet        „Was auf Lampedusa passiert, ist eine große
                                  unsere europäischen Werte.“                     Schande für die Europäische Union.“(zitiert
                                  Damit gibt der Bundespräsident das Muster       nach SZ vom 5. 10. 2013)
                                  der öffentlichen Befassung vor. Gemäß der       Nachdem die Stirn den Erfordernissen ent-
                                  selbst formulierten Anklage lautet der Vor-     sprechend ein paar Momente in dunklen
                                  wurf auf unterlassene Hilfeleistung bei der     Sorgenfalten verharrt, kann der eingangs
                                  Rettung der Flüchtlinge. Bereits durch diese    zitierte Präsident am Ende derselben Rede
                                  Anklage ist die Bundesrepublik von jeglicher    übrigens auch schon wieder frohlocken: „Ich
                                  ursächlichen Verantwortung sowohl für die       weiß schon jetzt, dass ich mich im nächs-
                                  Not der Flüchtlinge in ihren Heimatländern      ten Jahr um diese Zeit mit einem Lächeln
                                  als auch für die tödlichen Konsequenzen ihrer   an diesen Tag erinnern werde.“
                                  Flucht frei gesprochen. Überhaupt bezichtigt    Ebenso realpolitisch wie hochideologisch
                                  der oberste Repräsentant der Bundesrepu-        greift der damalige Innenminister Friederich
                                  blik Deutschland keineswegs den Staat, dem      (CSU) den Vorwurf der unterlassenen Hilfe-
                                  er vorsteht, sondern großzügig seine Ehren-     leistung auf und erteilt sich selbst, seinem
                                  gäste in ihrer Rolle als Rechts- und Wertege-   Ministerium und seinen Beamten den einzig
                                  meinschaft. Die angesprochenen Werte sind       systemgemäßen Auftrag für einen verbes-
                                  zwar nicht weiter erläuterungsbedürftig und     serten Flüchtlingsschutz: „Fest steht, dass
standpunkt : sozial 3/2014                                                                          Arian Schiffer-Nasserie

wir noch stärker die Netzwerke organisier-        2. „Krokodilstränen der Politik“ – die An-
ter und ausbeuterischer Schleusungskrimi-         klage der kritischen Presse Entgegen der
nalität bekämpfen müssen.“ (SZ vom 5. 10.         geheuchelten Warnung etwa der ehemaligen
2013) Dies freilich, ohne deren Geschäfts-        Ausländerbeauftragen der Bundesregierung
grundlage, immerhin die eigene Flüchtlings-       Maria Böhmer (CDU), das Mittelmeer dürfe
politik, auch nur in Betracht, geschweige         kein Massengrab werden, beginnt Heribert
denn in Zweifel zu ziehen, so dass sich die       Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 7.
nächsten Toten auch schon am Folgetag ein-        10. 2013 den Kommentar „Das Boot ist leer“
stellen.                                          mit einer bewussten Entgegensetzung:

      „Grenzen auf für alle!“ – Exkurs zur Kritik der radikalen Flüchtlingsfreunde

Wollen die wenigen ernsthaften Kritiker dieses tödlichen Programms wirklich bei der ebenso
bornierten wie unrealistischen Forderung stehen bleiben, dass die Staaten, die dieses globa-
le Elend samt lokaler Flüchtlingspolitik zu verantworten haben, ausgerechnet ihre Grenzen                                     93
für jene öffnen sollen, mit denen Staat und Kapital schon in ihrer Heimat nichts anzufangen
wissen? Wollen sie ihre Kritik nicht auf die Ursachen der Not und deren Verursacher richten,
sondern die Täter erst fälschlich zu Rettern verklären, um diese schließlich wegen unterlassener
Hilfeleistung moralisch anzuklagen?
Und wäre es – einmal davon abgesehen, dass die europäischen Regierungen solche Forde-
rungen aus den genannten Gründen ablehnen müssen – überhaupt sinnvoll und wünschens-
wert, alle Opfer der globalen Weltordnung die Chance zu eröffnen, mit den bereits ortsan-
sässigen Armen um eine Wohnung im segensreichen Moloch deutscher, französischer oder
britischer Slums zu konkurrieren, darum zu streiten, wer dort die Klos von McDonalds oder die
Flure deutscher Ämter und Behörden putzen darf oder sich mit iberischen Arbeitslosen darum
zu schlagen, wer auf den Plantagen spanischer Agrarkonzerne die Chance bekommt, Pestizide
zu inhalieren? Wohl eher nicht ...

Ganz ähnlich melden sich die meisten Politi-      „Das Mittelmeer ist (!) ein Massengrab. Die
ker in Deutschland und der EU zu Wort. Ihren      toten Flüchtlinge sind Opfer unterlassener
Streit über die Dublin II- bzw. Dublin III-Ver-   Hilfeleistung; womöglich handelt es sich
ordnung, also über die Lastenverteilung bei       auch um Tötung durch Unterlassen. Sie sind
der Flüchtlingsabwehr, die Internierung der       jedenfalls Opfer der europäischen Flücht-
Flüchtlinge in meist privatisierten Lagern,       lingspolitik, der Politik des Friedensnobel-
über Prozessdurchführung und Abschie-             preisträgers von 2012, der Europäischen
bung inszenieren sie unter Berufung auf die       Union. In dieser Politik hat die Abwehr von
Katastrophe auf einem Innenministergipfel         Menschen Vorrang vor der Rettung von
im Oktober 2013 in Brüssel als Lehren aus         Menschen. [...] Hilfe gilt als Fluchtanreiz.
den schrecklichen Ereignissen von Lampe-          Deshalb ist sie verboten, deshalb wird sie
dusa. Am Ende der Konferenz bleibt alles          bestraft, deshalb nimmt die EU-Politik den
beim Alten. Deutschland setzt sich gegen          Tod der Flüchtlinge fatalistisch hin. [...] Die
Italien, Spanien und Griechenland durch,          Tränen, die nun angesichts des Massentodes
die auch weiterhin als Erstaufnahmeländer         vor Lampedusa zerdrückt werden, sind Kro-
größtenteils die Flüchtlingsabwehr im Inte-       kodilstränen; und die Reden dieser Politiker
resse Deutschlands zu bewältigen haben.           sind Krokodilsreden. Der Tod der Flüchtlinge
Ganz nebenbei gelingt den versammelten            ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er gehört
Demokraten unter Mithilfe der meisten Leit-       zur Abschreckungsstrategie, die der Haupt-
medien dabei die Umdefinition vom töd-            inhalt dieser Politik ist.“ (Hervorh. d. Verf.)
lichen Problem der Flüchtlinge zum Flücht-        Prantl beschönigt nichts und er differenziert.
lingsproblem der EU! So weit, so brutal, so       An Stelle einer pauschalisierenden Kollek-
konsequent ...                                    tivverurteilung nach dem Motto „Wir alle“
standpunkt : sozial 3/2014                                                                                Arian Schiffer-Nasserie

                                  nennt er das entscheidende Subjekt beim           der Flüchtlinge an der durchaus wirkungs-
                                  Namen: Die EU-Politik und ihre karrierebe-        vollen Politik gescheitert. Wie kommt es
                                  wussten Vertreter! Prantl kennt die Priori-       zu dieser – zunächst einmal „nur“ sachlich
                                  täten der Flüchtlingspolitik und sogar ihren      verkehrten – Kritik?
                                  Zweck, wenn er festhält: „In dieser Politik       Menschenrechts- und Hilfsorganisationen
                                  hat die Abwehr von Menschen Vorrang vor           stellen sich offenbar vor, Flüchtlingspolitik
                                  der Rettung von Menschen. [...] Der Tod der       habe eigentlich (!) dem Schutz für Flüchtlinge
                                  Flüchtlinge ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik.   und nicht dem Schutz vor Flüchtlingen zu die-
                                  Er gehört zur Abschreckungsstrategie, die         nen. Über Asyl- und Menschenrechte werden
                                  der Hauptinhalt dieser Politik ist.“ Schließ-     also Ideale, d.h. Wunschvorstellungen entwi-
                                  lich ist auch die Schlussfolgerung aus seiner     ckelt und es wird erwartet, dass der real exi-
                                  Anklage am Ende des zitierten Kommen-             stierende Staat diese zu verwirklichen habe.3
                                  tars durchaus beachtlich: „In einem Flug-         Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklich-
                                  blatt der Weißen Rose hieß es einst: ‚Zer-        keit, nämlich die tödliche Abschottungspolitik
                                  reißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den        – Pro Asyl macht die deutsche Öffentlichkeit
                                  Ihr um Euer Herz gelegt.’ Diese Sätze aus         darauf beharrlich und durchaus dankens-
94                                furchtbarer Zeit sind keine Sätze nur für das     werter Weise aufmerksam – wird nicht als
                                  Museum des Widerstandes, sie haben ihre           wörtliche und durchaus erfreuliche Ent-Täu-
                                  eigene Bedeutung in jeder Zeit – auch in          schung über die eigenen Ideale genommen,
     3 Dabei könnte schon         unserer!“                                         sondern moralisch enttäuscht zur Kenntnis
     Art. 16 GG Absatz 1          Dennoch ist sein Hauptvorwurf verkehrt.           genommen, ganz nach dem Motto: ‚Der
     „Politisch Verfolgte
     genießen Asylrecht“          Denn der Vorwurf der „unterlassenen Hilfe-        Staat wird Aufgaben, die er selbst zwar gar
     hellhörig machen,            leistung“ der Festung Europa geht nicht nur       nicht verfolgt, aber an die ich, d.h. Pro Asyl,
     stellt er doch klar,
     dass der Gesetzgeber         bei Gauck brutal an der Sache vorbei. Die EU      gerne glaube, gar nicht gerecht! Er entspricht
     nicht die Not der            tut nicht zu wenig beim Flüchtlingsschutz.        nicht meinen höheren Idealen über ihn.’
     Flüchtenden, sondern
     nur den von ihm zu
                                  Die EU produziert die Flüchtlinge. Kein Wun-      Bei aller Kritik an der politischen Wirklich-
     definierenden Tatbe-         der und überhaupt kein Widerspruch ist es         keit lässt man sich den guten Glauben an
     stand der „politischen“      daher zu ihrem Auftrag, wenn sie die Opfer        die segensreichen Aufgaben der politischen
     Verfolgung durch
     auswärtige, meist            ihrer eigenen Erfolgsstrategie nicht haben        Gewalt, der man unterworfen ist, nicht
     von ihm als feindlich        will! Im Gegenteil: Die Öffnung der Gren-         nehmen. Heraus kommt eine Kritik, die als
     eingestufte Souveräne
     zum Anlass für eine          zen für die unendlich vielen Verzweifelten,       Hass-Liebe bezeichnet werden kann. Bei al-
     Asylrechtsgewährung          die der Westen von den Philippinen bis Haiti      ler Kritik an den real existierenden Politikern
     nimmt. Vom Stand-
     punkt des Überlebens-
                                  von Afghanistan bis Mali durch seinen Erfolg      bleibt man unerschütterlicher Parteigänger
     willens der Flüchten-        global erst in Not bringt, stünde tatsächlich     jenes Staates, dessen Interessen die Politiker
     den jedenfalls wäre          im Widerspruch zum Erfolg dieser Staaten          vertreten.
     die sachlich ohnehin
     kaum haltbare Unter-         und ihren realen Höchstwerten – Dollar und        Um das an einem zweiten Beispiel zu ver-
     scheidung zwischen           Euro.                                             deutlichen: Auch Pro Asyl wirft dem deut-
     politischen und wirt-
     schaftlichen Flucht-                                                           schen Innenminister „Verantwortungslosig-
     gründen gänzlich             3. „Scheitern der europäischen Flücht-            keit“ vor, wenn dieser mit all seiner Macht
     unerheblich. Dass die
     Inschutznahme von
                                  lingspolitik“ – die Kritik von Pro Asyl           in der EU für Dublin II und III und eine ver-
     politisch Verfolgten         „PRO ASYL fordert einen völligen Neube-           schärfte Flüchtlingspolitik eintritt. Wie dies?
     weniger der Sorge um         ginn in der Flüchtlingspolitik Europas. Die       – möchte man fragen, wo doch ganz offen-
     deren Wohlergehen
     als vielmehr der damit       Abschottungspolitik der beiden letzten            sichtlich ist, dass der Minister bewusst und
     intendierten Verurtei-       Dekaden ist gescheitert. Der tausend-             öffentlich für seine Ziele eintritt? Offenbar
     lung der Verfolger-
     staaten geschuldet           fache Tod von Flüchtlingen an den Au-             will man sich die Macht demokratischer
     ist, ist denn auch           ßengrenzen Europas bedeutet den mo-               Politiker nicht als Macht über das Leben
     jedermann sofort klar,
     wenn sich andere,
                                  ralischen Bankrott der Flüchtlings – und          anderer (in diesem Fall der Flüchtlinge) vor-
     möglicherweise sogar         Menschenrechtspolitik der EU“ (Presseer-          stellen, sondern als Verantwortung für die
     feindliche Staaten wie       klärung Pro Asyl 4. 10. 2013)                     Untergebenen. Auch hier wird die gegentei-
     z. B. Russland im Falle
     Edward Snowdens              Pro Asyl spricht angesichts der Toten vor         lige Erfahrung nicht zum Anlass zunächst ei-
     dieses außenpoli-            Lampedusa in seiner Presseerklärung vom           ner Selbstkritik, die eigene Idealisierung der
     tischen Kampfmittels
     bedienen. (Vgl.              Scheitern der europäischen Flüchtlings-           Macht betreffend, genommen, sondern im
     dazu A. Krölls „Das          politik. Dabei ist – zumindest nüchtern be-       Gegenteil der Macht vorgeworfen, dass sie
     Grundgesetz – ein
     Grund zum Feiern?“
                                  trachtet – offensichtlich nicht die Flücht-       einmal mehr nicht so gut war, wie man an
     Hamburg 2009)                lingspolitik der EU, sondern das Leben            sie zu glauben bereit ist.
standpunkt : sozial 3/2014                                                                                Arian Schiffer-Nasserie

Bei den charakterisierten Denkmustern
handelt es sich um Fälle eines enttäuschten
Staatsidealismus. Der ist und bleibt bei
aller Enttäuschung ein Idealismus. Ein                                                                                              95
Wunschdenken, die eigene Staatsgewalt
und ihre menschenrechtlichen Prinzipien
betreffend. Die Folge ist der folgenlose
und gerade darin staatstragende Ruf nach
guten Gesetzen, verantwortungsvollen Po-
litikern, unverbrauchten Parteien. Und ge-
nau das ist das Material, mit dem immer
neue, unverbrauchte Politikergenerationen
ihre Konkurrenz um die Macht im kapita-
listischen Nationalstaat betreiben und bei
ihren potentiellen Wählern geschickt den
Idealismus der Verantwortung gegen den
Realismus der Macht ausspielen ...

Statt eines Fazits: Erbauliches zur Weih-
nachtszeit! Ein Mann, der etwas davon
versteht, predigt seinen Bundesschäfchen
öffentlich-rechtlich zu Weihnachten:
„Machen wir unser Herz nicht eng mit der
Feststellung, dass wir (!) nicht jeden (!), der
kommt, in unserem Land aufnehmen kön-
nen. Ich weiß ja, dass dieser Satz sehr, sehr
(!) richtig ist. Aber zu einer Wahrheit (!) wird
er doch erst, wenn wir zuvor unser Herz
gefragt haben, was es uns sagt, wenn wir
die Bilder der Verletzten und Verjagten ge-
sehen haben. Tun wir wirklich schon alles,
was wir tun könnten?“ (Weihnachtsanspra-
che des Bundespräsidenten 2013; Hervorhe-
bung d. Verf.)
Der betroffene Blick auf die „Verletzten und
Verjagten“, die natürlich mit der eigenen
Politik nichts zu tun haben; die gekonnt be-
klommene Frage, ob „wir“ auch genug hel-
fen – sie gehören einfach dazu. Nämlich zur        Arian Schiffer-Nasserie, Prof. Dr., unterrichtet Po-
                                                   litikwissenschaft an der Evangelischen Fachhoch-
Pflege des Glaubens an die höheren Werte           schule R-W-L in Bochum. Schwerpunkte: Migra-
und des guten Gewissens einer imperialis-          tions- und Sozialpolitik sowie Rassismusforschung.
tischen Nation.                                    schiffer-nasserie@efh-bochum.de
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